[Aufklärung und Wirklichkeitsbezug #1 … ]

L’ombre de Marguerite apparaissant à Faust (‚Der Schatten von Marguerite erscheint Faust‘)
Faust-Illustrationen Eugène Delacroix (1798 – 1863) | via

“ … Die Übergänge zwischen „Erscheinungen“ unterschiedlichster Art wie Schemen, dem Geist eines Toten, den Geistern der Ahnen oder Gespenstern, von Spukgestalten oder Dämonen vielfältigster Gestalt oder von Teufeln und Engeln jeder Art bis hin zu „Visionen“ sonstigen Inhalts mit stimmlichen und dann zumeist als „Offenbarungen“ oder „Verkündigungen“ aufgefassten Erlebnissen sind fließend. …“ | https://de.wikipedia.org/wiki/Erscheinung (Dezember 2018)

“ … Eine rein objektive Welt, die vor oder außerhalb der Sinngebung liegt, zu dem das Denken, das Geistige überhaupt hinzutreten müsste, wird von Cassirer genau so abgelehnt wie die Vorstellung einer einfachen Gegebenseinsweise der Welt. …“ | Christoph Asmuth (Fichte-Studien, 2010)

Aus einer Kolumne von Georg Seeßlen (11.11.2020): „Was von Trump bleibt: Wahn und Wirklichkeit“ – – – “ … Ein beunruhigend großer Teil unserer Mitmenschen scheint entschlossen, Personen, Ideen, Bewegungen zu folgen, die weder rational zu erklären noch moralisch zu rechtfertigen sind. Besonders erschreckend ist das, wenn man Menschen, denen man lange freundschaftlich verbunden war, sozusagen über Nacht an eines dieser antirationalen und antiethischen Milieus verliert. Der Bruch mit der großen Erzählung von Demokratie und Rechtsstaat, Aufklärung und Humanismus, Wirklichkeit und Wissenschaft geht mitten durch die Familien, die Nachbarschaften, die Arbeitswelten, die Vereine. Oft ist dieser Bruch so fundamental, dass es kaum zur Versöhnung kommen kann. …“| https://taz.de/Was-von-Trump-bleibt/!5723946/

Matthew D. Lieberman (05.01.2017): “ … Unser raffiniertes Wahrnehmungssystem bewältigt seine zahllosen Kalküle so rasant, dass wir gar nicht realisieren, wie viele Spezialeffekt-Teams im Hintergrund tätig sind, um uns eine scheinbar lückenlose Erfahrung vorzugaukeln. … der naive Realismus könnte die heimtückischste unentdeckte Quelle von Konflikten und deren Fortdauern sein. Vom Streit zwischen Israeli und Palästinensern über denjenigen zwischen Republikanern und Demokraten in den USA bis hin zu den Kleinkriegen über Impfungen – in jedem Fall hindert uns die eigene, wundersame Konstruktion der Realität daran, all die nicht minder wundersamen Realitätskonstruktionen ringsum wahrzunehmen und zu verstehen. …“ | https://www.nzz.ch/feuilleton/naiver-realismus-ich-das-mass-aller-dinge-ld.138043 (Übersetzung aus dem Englischen: Angela Schader) | https://de.wikipedia.org/wiki/Naiver_Realismus

“ … [»In welchem Sinn genau gibt es viele Welten? Was unterscheidet echte von unechten Welten? Woraus bestehen sie? Wie werden sie erzeugt? Welche Rolle spielen Symbole bei der Erzeugung? Und wie ist das Erschaffen von Welten auf das Erkennen bezogen?« Diese Fragen untersucht Nelson Goodman in seinem Buch Ways of Worldmakmg. [Zu: ‚Weisen der Welterzeugung‘ (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (Deutsch) 26. Februar 1990]] … [Nelson Goodman] löst das logische Dilemma, wonach zwei Weltbeschreibungen in sich widerspruchslos und in diesem Sinne wahr sein können, sich aber einander widersprechen, dahingehend auf, dass diese beiden Beschreibungen nicht die gleiche, sondern zwei verschiedene Welten beschreiben. Beispielsweise sind sowohl: „die Erde bewegt sich“, als auch: „die Erde steht still“ beide wahr, abhängig vom jeweiligen Bezugsrahmen. Ein Astronom, der kosmische Bewegung untersucht, untersucht eine Erde, die sich bewegt. Ein Wächter mit dem Befehl, Gefangene zu erschießen, sobald sie sich bewegen, wird dies eher nicht tun, „weil sie sich mit hoher Geschwindigkeit um die Sonne bewegt haben“. Es handelt sich um zwei verschiedene Weltversionen. …“ | https://de.wikipedia.org/wiki/Nelson_Goodman (2. Juni 2020)

Michael Stausberg (18.10.2020): “ … Als der Supreme Court dann entschied, dass es verfassungswidrig sei, ein verpflichtendes Schulgebet zu haben an amerikanischen Schulen, war das wie ein Donnerschlag in die amerikanische Gesellschaft hinein. …“ | Aus: „Heilsbringer im 20. Jahrhundert: Von Bob Marley bis zum Dalai Lama“ | https://www.deutschlandfunkkultur.de/buch-ueber-heilsbringer-im-20-jahrhundert-von-bob-marley.1278.de.html?dram:article_id=485923

Linda Hinz (Dienstag, 05.01.2016): “ … Mit der „Rache Gottes“ drohte der geistliche Führer des Iran, Ayatollah Ali Chamenei, dem Königreich Saudi-Arabien. Der saudische Außenminister hingegen verkündete, dass „die Aggression und das Böse vom Iran“ ausgehe. … Oft wird die Rivalität auf die unterschiedlichen Glaubensrichtungen innerhalb des Islam zurückgeführt. … Doch Husseini stellt klar: „Es handelt sich keineswegs um einen rein religiösen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten – sondern es geht vor allem um die Macht in der Region.“ … “ | https://www.focus.de/politik/ausland/krise-in-der-arabischen-welt/rache-gottes-eskalation-zwischen-iran-und-saudi-arabien-das-steckt-hinter-der-erzfeindschaft_id_5190831.html

Christian Thomas (11.07.2020): “ … wegen der „ungehemmten Steigerung seiner Macht“, der „Gotteseskalation“ (Blumenberg), sah sich der vom Glauben fallende Mensch der Neuzeit umso mehr auf sich selbst zurückgeworfen. … „Der menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umständlich, verzögert, selektiv und vor allem ‚metaphorisch‘, schreibt Blumenberg … Mit dem Einbruch des vormaligen, des vormodernen Himmels ging auch der Absturz des Glaubens einher. Die so überschwänglichen wie maßlosen Sinnentwürfe der Theologie und der Metaphysik haben eine gnadenlose Leerstelle hinterlassen. …“ | https://www.fr.de/kultur/literatur/woran-sind-13829008.html

Hella Camargo (10.11.2020): “ … In Pakistan gibt es strenge Gesetze gegen Blasphemie, die hohe Strafen bis hin zur Todesstrafe für Gotteslästerungen und die Verletzung religiöser Gefühle vorsehen. …“ | https://hpd.de/artikel/pakistan-sicherheitsmann-erschiesst-bankmanager-wegen-vermeintlicher-blasphemie-18670

Hugo Stamm (10.11.2020): “ … Da sitzt ein verängstigt wirkender Teenager mit scheuen Rehaugen, stammelt in „Hauchdeutsch“ unfertige Sätze ins Mikrophon und erklärt uns die Welt samt dem Universum. Und die esoterische Gemeinde in den deutschsprachigen Ländern hängt ihr gebannt an den Lippen. Willkommen im Kosmos der 18-jährigen Christina von Dreien, die eigentlich Meier heißt. … Im Newsletter von Mitte Mai mit dem Titel „Entscheide dich für die Liebe“ interpretierte das Esoterik-Starlett die Pandemie als Folge der Transformation: „Die Erde ist mitten in ihrem Prozess der Schwingungserhöhung. Diese Transformation betrifft nicht nur die Erde, sondern auch andere Planeten und das ganze Universum. (…) Es gibt Kräfte, ich nenne sie ja auch ‚das Unlicht‘, die versuchen, mittels Angst und Leid die Schwingung der Menschheit möglichst tief zu halten.“ … Christina Meier ist mit ihren kruden Ideen und kosmischen Botschaften in guter Gesellschaft. So organisierten esoterische Kreise eine weltweite kollektive Meditation, um dem Virus den Garaus zu machen. Am 5. April 2020 um 4:45 Uhr soll die gleichzeitige Meditation von einer Million Menschen zur „endgültigen Auslöschung des Coronavirus“ geführt haben. In einer Anleitung dazu hieß es, die Meditierenden sollen sich eine Lichtsäule vorstellen, die von der kosmischen Zentralsonne zu den Zentralsonnen aller Galaxien in diesem Universum verteilt werde. Die Teilnehmer müssten auf dieses Licht meditieren, das in unser Sonnensystem eintrete und dann durch alle Wesen auf dem Planeten zum Mittelpunkt der Erde gelange. Das solle die Viren killen. …“ | https://hpd.de/artikel/esoterikstar-corona-chance-18671

Susanne Beiweis (10.06.2013): “ … Richten wir den Blick auf die Renaissance, so entfaltet sich ein Panorama von Denkern, in deren Werken der Magie ein wichtiger Platz zukommt. Zu dieser Gruppe zählten Philosophen wie Pico della Mirandola, Agrippa von Nettesheim und John Dee. Eine maßgebliche Quelle für ihre Untersuchungen bildete das 1489 erschienene Werk „De vita libri tres“ des florentinischen Arztes, Philosophen und Priesters Marsilio Ficino. Die Drei Bücher des Lebens handelten naturphilosophische und medizinische Themen ab, die mit astrologischem und astral-magischem Wissen verwobenen wurden. Das Buch war ein großer Publikumserfolg, wie 26 Auflagen in den 150 Jahren nach der Ersterscheinung zeigen. …“ | https://sciencev2.orf.at/stories/1719189/index.html

Sebastian Leber / Werner van Bebber (09.10.2020): “ … Glaubt man Andrea Partisch, ist ihre Energiearbeit eine „sehr exklusive und hochwertige“. Schließlich hantiere sie mit der „Energie der Plejaden“, dies sei eine „ganz besonders feine, hoch frequentierte, mit der es möglich ist, ganz schnell energetisch zu arbeiten“. Sie sei sehr dankbar, dass sie diese Gabe besitze und so Menschen glücklich machen könne. … Sie betreibt zudem einen Onlineshop, in dem sie Produkte verkauft wie den „Aura Chakren Reiniger Pro“, ein handtellergroßes Stück Glas mit sieben pinken Kugeln drauf. Andrea Partisch behauptet, sie habe diesen Gegenstand „speziell energetisiert“, weshalb er Energiefelder neu ausrichten könne. Der „Aura Chakren Reiniger Pro“ kostet 120 Euro. …“ | Aus: „“Ich bin schon bei dir im Energiefeld“: Was die Deutschen so an Esoterik fasziniert“ | https://plus.tagesspiegel.de/reichsbuerger-und-bachblueten-wieso-die-esoterik-in-krisenzeiten-boomt-54641.html

Jens Bisky (Oktober 2020): “ … In „Feuer der Freiheit“ erklärt [Eilenberger] die ungewöhnliche Auswahl seiner vier Heldinnen [Ayn Rand, Simone de Beauvoir, Simone Weil und Hannah Arendt] mit einer Einsicht, die ihnen gemeinsam gewesen sein soll: Sie hätten sich, jede für sich, als „grundlegend anders in die Welt gestellt“ erfahren. …“ | https://www.sueddeutsche.de/kultur/wolfram-eilenberger-feuer-der-freiheit-anders-in-die-welt-gestellt-1.5075753

Angela Gutzeit (08.11.2020): “ … die Zivilisation, das europäische Erbe, das gesellschaftliche Miteinander, die individuelle Existenzweise, gekoppelt an die Frage, wie unter diesen Bedingungen Liebe, Leben und Denken miteinander verbunden werden können. Für die Frauen ist es, wie Eilenberger sie darstellt, ein Philosophieren im freien Flug. Ein „Denken ohne Geländer“ wie es bei Arendt so treffend heißt. Philosophieren ohne akademische Einbindung, ohne materielle Absicherung. Im Falle der sozialrevolutionären Mystikerin Simone Weil geht das bis zur Selbstauslöschung. … „Am Beispiel der Berlinerin Rahel Varnhagen ging [Hannah Arendt] … Identitätsdynamiken einer deutschen Jüdin und Intellektuellen zur Wende des 18. und 19. Jahrhunderts nach. (…) Exemplarisch für ein ganzes Zeitalter ist Rahels Fall für Arendt [ ] insofern, als in ihrer Lebenssituation zwei Formen erforderten Muts miteinander kollidierten: der aufklärerische Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und sich in diesem Sinne als Vernunftwesen autonom zu bestimmen, sowie der Mut anzuerkennen, dass die Freiheit dieses Selbstentwurfs stets von geschichtlichen wie kulturellen Verhältnissen bedingt bleibt, von denen sich kein Individuum völlig distanzieren kann.“ … “ | https://www.deutschlandfunk.de/wolfram-eilenberger-feuer-der-freiheit-denken-in-finsteren.700.de.html?dram:article_id=486924

Thomas Palzer (01.12.2019): “ … In einer ebenso umfassenden wie detaillierten Studie widmet sich der britische Historiker Mark Sedgwick [der] esoterischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Ihr Titel „Gegen die moderne Welt“ zitiert ein Werk des italienischen „Barons“ und Faschisten Julius Evola … In „Gegen die moderne Welt“ heißt es: „Die 1960er Jahre waren zweifellos ein Hauptwendepunkt des kulturellen und intellektuellen Lebens des Westens im 20. Jahrhundert, vielleicht waren sie sogar entscheidender als die Zeit im Ersten Weltkrieg. Nach den 1960er Jahren waren der Traditionalismus und der Westen ganz anders als zuvor. …“ [… Und … ] verzweigt stellt sich im 20. Jahrhundert die Geschichte der Seele dar, wie der Religionswissenschaftler Kocku von Stuckrad sie in seiner Untersuchung in allen möglichen Bezügen aufspürt und rekonstruiert – bei C.G.Jung und in der transpersonalen Psychologie, im politischen und nationalistischen Umfeld, in der Quantenphysik und der damit einhergehenden Renaissance einer Naturphilosophie, die von der „Seele der Planeten“ und einer „Vielzahl der Welten“ spricht – und in den ökologischen Bewegungen, die empfänglich dafür sind, die Erde zu sakralisieren. … [es wird] deutlich, dass die säkulare Moderne nie wirklich modern gewesen ist, denn nur scheinbar und an der Oberfläche ist sie durchweg verweltlicht. In Wahrheit treffen wir überall noch auf Restbestände magischen, mystischen, animistischen, okkultistischen und orphischen Denkens. … „Gegen die moderne Welt“ wie „Die Seele im 20. Jahrhundert“ [Kocku von Stuckrad] sind zwei Kulturgeschichten, die sich, so können wir am Ende festhalten, auf eine zwar unbeabsichtigte, gleichwohl aber erhellende Weise ergänzen. Gerade in der gegenwärtigen Lage, vor deren Horizont der westliche Lebensstil problematisch geworden ist, sind wir zurückverwiesen an die Vergangenheit, um an ihr die Zukunft neu zu bemessen. Das heißt aber nicht, dass die Zukunft in der Vergangenheit läge – es heißt nur, dass die Vergangenheit nicht nur nicht tot ist – sie ist noch nicht einmal vergangen. …“ | https://www.deutschlandfunk.de/mark-sedgwick-gegen-die-moderne-welt-noch-einmal-die-krise.700.de.html?dram:article_id=464327

“ … Hans-Christoph Zimmermann: Herr Gabriel, in Ihrem neuen Buch wollen Sie nichts Geringeres, als eine neue Erkenntnistheorie zu formulieren. Dabei spielen Begriffe wie „Fiktion“ und „Imaginäres“ eine wichtige Rolle. Ist das angesichts von Fake News und Verschwörungstheorien, die momentan überall wie Pilze aus dem Boden schießen, nicht ein riskantes Unterfangen?
Markus Gabriel: Der Hauptgedanke des Buchs besagt, dass unser mentales Leben als freie geistige Lebewesen immer Elemente von Schein aufweist, also Elemente wie Ideologie, Propaganda, ästhetische Erfahrung und so weiter. Es gibt zwar in der philosophischen Tradition vor allem Wahrheitstheorien, aber es gibt bisher kaum Täuschungstheorien. Und deswegen greift das Buch jetzt dieses Thema auf. Die hochaktuellen, brandgefährlichen Fake News und Verschwörungstheorien sind zwar das Ergebnis der modernen sozialen Medien. Doch letztlich stehen wir nicht vor der Wahl zwischen begründeten Expertenmeinungen einerseits und Fake News andererseits. Denn all diese Modellierungen unserer Situation haben immer auch fiktive Anteile. Es gibt keinen Wissensanspruch von freien geistigen Lebewesen bezüglich ihrer eigenen Situation, der vollständig frei von Schein wäre. … Die Situationen, in denen wir uns befinden, sind immer tief geprägt von Fiktivem. Hätten wir keine Fiktionen, gäbe es überhaupt gar kein sinnvolles Leben, sondern nur zusammenhanglose Erlebnis-Fragmente. … Als die Menschen erstmals einen Löwen an die Wand malten, anstatt ihn nur zu jagen, begann mit dieser Repräsentation ihrer selbst eigentlich die Menschheitsgeschichte. …“ | „Wir täuschen uns“ (13.06.2020) | [Markus Gabriel, geb. 1980, lehrt als Professor für Erkenntnistheorie und Philosophie der Neuzeit an der Universität Bonn. 2013 erschien sein Buch ‚Warum es die Welt nicht‘ gibt bei Ullstein. ‚Fiktionen‚ erschien 2020 bei Suhrkamp | https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wir-taeuschen-uns

Christoph Asmuth: “ … In der Moderne, so sagt man, seien ganze Wertesysteme ins Wanken geraten. Es koexistierten jetzt ganz heterogene Lebensstile und Interessen … Die eine Welt kann als Vielheit von Welten betrachtet werden, die vielen Welten als eine. Das ist alles eine Frage der Betrachtungsweise (Goodman, 1998, S. 14). Der konkrete Blick indessen zeigt ein anderes Bild. Die verschiedenen Welten sind disparat. Entscheidend für Goodman ist dabei, dass sich viele Symbolwelten nicht ineinander transformieren lassen. Es gibt viele Weltversionen, die sich nicht ineinander übersetzen lassen. Es gibt keine Regeln, keine festen Korrelationen, um Wissenschaften wie Physik, Biologie und Psychologie fest aufeinander zu beziehen. Die Sichtweisen von Künstlern auf die Welt offenbaren jeweils ganz verschiedene Weltansichten, verschiedene Welten in verschiedenen, heterogenen, disparaten Symbolisierungen. Deshalb muss Goodman einen realistischen Wahrheitsbegriff ablehnen, der auf einer Übereinstimmung einer Weltversion mit der Welt beruht. Goodman sieht, dass viele Symbolsysteme einfach nebeneinander bestehen können. Bei einigen von ihnen spielt der Wahrheitsbegriff jedoch keine Rolle, etwa in der Kunst. Die Bilder der Kunst lassen sich nicht mit einer vorgefundenen Wirklichkeit abgleichen: Einerseits sind Kunstbilder nicht immer realistisch, andererseits gibt es nicht figurative Kunst, die überhaupt keine Gegenstände darstellt noch darstellen will (Goodman,1998, S. 33). […] Dass er trotzdem keineswegs der sog. postmodernen Beliebigkeit das Wort redet, macht die Stärke seines Entwurfs aus. So betont Goodman: »Die Bereitschaft, alternative Welten anzuerkennen, kann zwar befreiend sein und Hinweise auf neue Forschungswege geben, aber wem alle Welten gleich willkommen sind, wird keine erbauen« (Goodman, 1998, S. 36). […] Nelson Goodmans Idee einer symbolischen Welterzeugung war keinesfalls neu. Goodman hat das auch nie behauptet. Vielmehr bezieht er sich an vielen Stellen mehr oder minder explizit auf die Philosophie der symbolischen Formen, die Ernst Cassirer am Beginn des 20. Jahrhunderts entworfen hat. Tatsächlich entwickelt auch Cassirer eine Theorie, welche die verschiedenen Zugangsweisen zur Wirklichkeit durch Symbolisierungsweisen beschreibt. Darin kommt das Interesse Cassirers an der vergleichenden Kulturwissenschaft, an der Philosophie des Mythos und der Sprache ebenso zum Ausdruck wie die Geschichtlichkeit des philosophischen Denkens selbst. Aber im Gegensatz zu Goodman betont Cassirer zwei wesentliche Momente: die Geschichtlichkeit und die Systematik der symbolischen Formen. Ganz im Sinne Goodmans und – wie wir sehen werden – ganz im Sinne Fichtes entwickelt Cassirer seinen Begriff der symbolischen Form Jenseits aller dualistischen Auffassungen von Epistemologie und Hermeneutik, [so] forciert Cassirer den Gedanken einer ineinander verwobenen Konstituierung von Sinn und Objekt. Welt und Sinngebung der Welt sind unablösbar aneinander gebunden. Eine rein objektive Welt, die vor oder außerhalb der Sinngebung liegt, zu dem das Denken, das Geistige überhaupt hinzutreten müsste, wird von Cassirer genau so abgelehnt wie die Vorstellung einer einfachen Gegebenseinsweise der Welt. Vielmehr tritt die Welt erst hervor in den »verschiedene[n] Modalitäten der Sinngebung« (Cassirer, PhsF, III, 234). Dies sind die symbolischen Formen. Der Symbolbegriff tritt bei Cassirer daher in einer erweiterten Bedeutung auf. Er ist nicht mehr für die Ästhetik reserviert, wie etwa bei Schelling und Hegel, sondern bezeichnet die Energie des Geistes, »durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeicheninnerlich zugeeignet wird« (Cassirer, 1956, S. 175). Diese geistige Energie ist notwendig, denn die symbolischen Formen sind dem Verfließen in der Zeit abgerungen. Das Bewusstsein ist, so Cassirer, in der Zeit und durch die Zeit gebunden. Alle Eindrücke sind dadurch im Fluss. Im Bewusstsein sind stets nur einmalige Eindrücke, eine permanente Bewegung des Einzelnen aus Einzelnem in Einzelnes. Das Allgemeine ist dadurch nur gegen das Besondere, gegen Fließen der Zeit, durch eine Energieleistung hervorzubringen. Es entsteht eine Kluft, ein unaufhebbarer Gegensatz. Eine neue konkrete Einheit wird als geistige Mitte zwischen dem geistigen Gehalt und dem Fließen der Eindrücke gefordert. »Dieser Prozeß stellt sich überall dort dar, wo das Bewußtsein sich nicht damit begnügt, einen sinnlichen Inhalt einfach zu haben, sondern wo es ihn aus sich heraus erzeugt. Die Kraft dieser Erzeugung ist es, die den bloßen Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalt zum symbolischen Inhalt gestaltet.« (Cassirer, 1956, S.177) Cassirer nennt in der Philosophie der symbolischen Formen fünf Formen: die Sprache, die wissenschaftliche Erkenntnis, den Mythos, die Kunst und die Religion (Cassirer, PhsF, I, S. 3 f.). Alle seien Erzeugnisse der geistigen Kultur. Sie seien trotz aller Diversität ihrer inneren Struktur doch Glieder »eines einzigen großen Problemzusammenhangs,- zu mannigfachen Ansätzen, die alle auf das eine Ziel bezogen sind, die passive Welt der bloßen Eindrücke […] zu einer Welt des reinen geistigen Ausdrucks umzubilden« (Cassirer, PhsF, I, S. 51). …“ | Quelle: Christoph Asmuth: „Wie viele Welten braucht die Welt? – Goodman, Cassirer, Fichte“ (Fichte-Studien, 2010) | https://www.christoph-asmuth.de/system/files/inline-files/CassirerGoodmanFichte.pdf

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