[Bruce Lee der Wörter… ]

[…] Sartre war besessen von der Idee, dass man sich seine Lage bewusst machen muss, um frei entscheiden zu können. Er war durchdrungen von der Gewissheit, dass alles mit allem zusammen hängt, dass der Einzelne millionenfach definiert ist, dass man also, beschränkt man sich auf sein Fach, notwendig ein Idiot bleibt. Er wollte kein Idiot bleiben. Vielleicht war er nicht neugierig, aber er nahm das „Erkenne Dich selbst!“ so genau, dass es fast nichts gab, das er nicht wissen musste, um wenigstens das Gefühl zu haben, sich und seine Lage erkannt zu haben. Dass diese Lage sich ständig änderte, dass auch er selbst nicht der Gleiche blieb, war ihm bewusst wie wenigen. Seine Aufsätze veröffentlichte er unter dem Titel „Situationen“. Er liebte es, sich als jemanden zu sehen, der es verstand, in jeder dieser Situationen exakt das Richtige zu tun. Es kam ihm darauf an, die ganze Wucht der Lage auszunutzen für die Eroberung einer kleinen Freiheit. Er war der Bruce Lee der Wörter, die er abzuschmecken und auszunutzen liebte, deren trügerischen Reizen er oft erlag, die er aber niemals mit der Wirklichkeit verwechselte.

Aus: „Besessen vom Ich“ von Arno Widmann (Dienstag, 21. Juni 2005)
Quelle: www.berlinonline.de/berliner-zeitung/feuilleton/459432.html

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[…] Der Direktor des Pariser „Figaro“ machte den Vorschlag, man solle Sartre exkommunizieren und anschließend auf dem Vorplatz von Notre-Dame verbrennen. Den Existentialismus verglichen Kritiker mit einer Kloake, durch die man nur auf Stelzen waten könne. Sartre, dessen „Durst nach Martyrium“ den Zeitgenossen auffiel, mag ein morbides Vergnügen an diesen Beschimpfungen gefunden haben. Skandalös wirken die meisten gegen Sartre gerichteten Haßtiraden heute nicht mehr – eher wie versteinerte Exkremente.
[…] Zu seinen Lebzeiten triumphierte die Philosophie Sartres nicht nur in den Hörsälen, sondern auch in den Jazzkellern und Cafés von Saint-Germain-des-Prés. Ihrer Trivialisierung zur Lebensform einer kettenrauchenden Bohème leistete ihr Autor dabei selbst Vorschub – unterstützt von Simone de Beauvoir und einer großen „Familie“ von Freunden und Anhängern. Man hat Sartre falsch in Erinnerung, wenn man in ihm vorwiegend einen humorlosen und verkniffenen Doktrinär sieht. Sartre lebte ein Leben voller Schabernack; er wollte lieber für einen Hanswurst gehalten werden als für einen Unterpräfekten.
[…] Am 19. April 1980 wurde er auf dem Pariser Friedhof Montparnasse begraben. Zehntausende folgten seinem Sarg. Was Sartre den Trauernden bedeutete, brachte in seiner Antwort ein kleiner Junge zum Ausdruck, den ein Passant fragte, warum so viele Menschen auf der Straße seien: „Wir demonstrieren gegen Sartres Tod.“
Quelle:www.welt.de
Aus: „Er kam als Autor auf die Welt“ von Wolf Lepenies (21. Juni 2005)

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[…] In Frankreich gilt das Diktum: Lieber mit Sartre irren als mit Aron Recht behalten. Lieber mit Jean-Paul Sartre an eine bessere Gesellschaft glauben, auch wenn sie nur zu einem hohen Preis und am Ende vielleicht gar nicht zu verwirklichen ist. Lieber Unrecht haben, aber daran glauben als mit Raymond Aron Recht behalten, mit diesem lange Zeit als konservativ verschmähten Philosophen und Soziologen, der weit vor dem Schwarzbuch des Kommunismus die ideologische Verblendung der Linken geißelte und den Kommunismus als „Opium der Intellektuellen“ bezeichnete.

[…] Sartre und Arons Streit ist ein politischer, aber auch ein persönlicher. Er ist Beispiel dafür, wie aus engen Freunden unerbittliche Feinde werden können. Beide waren Jahrgang 1905. Sartre war am 21. Juni geboren worden, Aron am 14. März. Beide besuchten die renommierte Ecole Normale Supérieure, wo sie sich gegenseitig schworen, beim Ableben des anderen dessen Nachruf zu schreiben. Gemeinsam gründeten sie eine Zeitschrift, Les Temps Modernes.

[…] In diesem Jahr, zum 100. Geburtstag der beiden Denker, wird das „Match Sartre-Aron“, wie ein Nachrichtenmagazin titelte, in den französischen Medien noch einmal neu aufgelegt. Mit Abstand betrachtet ist die Sache klar. Stellt man die politischen Analysen gegenüber, sieht Sartre blass aus. Denn mit Sartre irren heißt, die Diktatoren des 20. Jahrhunderts verteidigen. Stalin, Mao, Chruschtschow, Tito, Pol Pot. Es heißt Fidel Castro verehren. Und bedeutet auch: Gewalt philosophisch legitimieren. Kurz, die Bilanz seiner Fehleinschätzungen, seiner ideologisch verblendeten Legitimationen ist beträchtlich. So beträchtlich, dass der linke Nouvel Observateur unlängst provokativ fragte: „Muss man Sartre verbrennen?“ Und doch ist es Sartre, der eindeutig als Gewinner aus diesem Match hervorgeht […] Vermutlich schon deshalb, weil man sich an ihm und seinem Werk noch immer und immer wieder reiben kann.
Quelle:www.fr-aktuell.de/
Aus: „Sartre brennt“ von MARTINA MEISTER (21.06.2005)

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