[Hirn-Stradivari und Geigenbauindustrie]

[…] Ein System beherrschen heißt tatsächlich, ihm in einem bestimmten Augenblick einen wohldefinierten Zustand zuzuweisen und dabei alle anderen möglichen Zustände auszuschließen.

In diesem Sinne können wir den Begriff der Steuerung vor allem auffassen als eine Neutralisierung vom Zufall abhängiger Handlungen, also als einen Kampf gegen den Zufall: Während das betrachtete System unter dem Spiel des Zufalls einen „beliebigen“ Zustand hätte, will ihm der Lotse einen im voraus festgesetzten Zustand anweisen.
[…] Die Zirkularität von Bewegungen wird in der Kybernetik als Selbstreferenz beschrieben. Die Lenkung eines Schiffs über ein Steuerruder wird kontrolliert am Verhalten des gelenkten Schiffes, auf das wiederum die nächsten Lenkbewegungen reagieren. Statt einer Reaktion auf die Umwelt, das Meer, die Strömung, findet eine Reaktion auf den Aufbau des Schiffes statt. Verantwortlich für die Lenkbewegungen ist nicht irgendein Wellenschlag, sondern das auf der Bauart des Schiffes beruhende Verhalten.
[…] Beim täglichen Erwachen (noch dramatischer nach Vollnarkosen) „vergegenwärtigt“ sich der Mensch. Der morgendliche Selbstfindungsprozess, Primordium genannt, kann blitzschnell erfolgen, oder es kann mehrere Sekunden oder Minuten, im Extrem sogar Stunden dauern, „ehe man ganz da ist“. Was dabei geschieht, ist im Einzelnen noch nicht geklärt. Jedoch dürften sich zumindest sieben Teilvergegenwärtigungen für das volle Wachbewusstsein zusammenschließen.
Psychisches ist zwar, wie die Psychophysiologie zeigt, von dem Instrument Gehirn abhängig, aber wie etwa der Geigenvirtuose ein Meisterstück auf seinem Instrument spielen kann, während andere nur stümperhafte Melodien zuwege bringen, so sind wir alle gehalten, mehr aus unserem Instrument Gehirn herauszuholen. Psychisches ist unser Eigentum an „Selbst“. Unser Denken ist kein bloßes Erzeugnis unseres Gehirns, das wie die Melodie eines Geigenautomaten mechanisch hergestellt wird, sondern wir sind die selbstverantwortlichen Schöpfer unseres Psychischen. Im besten Fall ist der Mensch ein Virtuose an einer Hirn-Stradivari, im schlechtesten Fall ein Versager an einem Massenprodukt der Geigenbauindustrie, wobei immer schwer zu sagen ist, wer Schuld ist, der Spieler oder das Instrument.

Quelle: „Kybernetik – die Wurzeln
Aus: „Werner Stangls Arbeitsblätter“ (Stand 16.07.2005)
http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert