[Gemäßigte Entrissenheit #4… ]

Es geht über die kleine Brücke auf den Drammenweg. Ich bin in Kiel Mettenhof. Verwaschen weiße Hochhäuser an der Seite. Das Fahrrad gleitet leise klappernd über den sich ruhig biegenden roten Klinkerstein. Der Himmel grau. Der Wind kalt. Der alte Mann mit einem kleinen Hund tritt höflich zur Seite. Ein flüchtiges ‚Danke‘, ein kurzes Lächeln blitzt zurück. Der Boden ist feucht und die Büsche sind kahl. Der Junge auf dem Roller schaut nicht auf. Er singt eine halb verschluckte Melodie für sich selbst. Fast hätte ich links auf den Rasen fahren müssen. Zuletzt schaut er doch noch auf. Ich sacke in mich hinein. Ich erinnere mich, wie es war, wie verträumt verloren die Welt sein kann, wenn man 12 ist. Der Blick ins Irgendwo. Geborgene Verlassenheit. Die Momente fliegen dahin, ohne dass einem die Verletzlichkeit der Zeit zu Bewusstsein kommt. Die Verletzlichkeit die am meisten darin liegt, dort nie wieder hin zu können. Als ginge man in Gedanken durch die Wohnung der längst verstorbenen Großmutter. Das Haus ist verkauft, aber alle Gegenstände, die Wanduhr, der runde Esstisch, die Treppe in den Keller, der hölzerne Getränkewagen, alles ist noch da. Für ein oder zwei Sekunden.
Eine Viertelstunde später geht es in die Herzog-Friedrich-Straße. Da fragt jemand nach Geld. Er habe kein Zuhause. Unsere Augen treffen sich und wir müssen ein bisschen lachen, wie absurd das alles ist. Mir fällt der Motorradfahrer an der Raststädte ein, der kurz eine kleine Tasse Kaffee trinkt und mit einem 50 Euroschein bezahlt und sagt „stimmt so“. Die Bedienung lächelt und zieht die Augenbrauen nach oben. Dieser Motorradfahrer gehört für mich zusammengeklebt mit der etwas verrückten Alten. Er ist ihre Rückseite. Sie steht im düsteren „SKY“ Supermarkt am Alfons-Jonas Platz. Hinten beim surrenden Kühlregal auf den Fliesen. Draußen ist es schon dunkel. Das lange graue Haar fällt ihr seitlich ins Gesicht und sie zählt durch ihre Brillengläser die 10 Cent Stücke in der Hand, um zu prüfen, ob der Joghurt noch drin ist.
Und in den letzten Jahren sind die Kopfsteinpflasterstraßen in Kiel Gaarden zu eng geworden, um die immer breiter werden Autos in beide Richtungen durchzulassen. Lichthupend geben sich die kleinen Menschen in ihren großen Autos Zeichen, während ein paar nassgeregnete Zeitungsseiten vom „Kieler Express“ in der Medusastrasse auf dem Bürgersteig kleben.

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