[…] Deutschland wirkt als intellektuelle Wirklichkeit in fremden Ländern tatsächlich angenehm, angenehm langweilig nämlich.
[…] daß die 68er Bewegung gar nicht wußte, auf welche Potentiale sie gesetzt hatte. Was bspw. unter Psychoanalyse-Rezeption abgelaufen ist, war immer ein Witz. Man hat all das, was in der Lacan-Schule – leider völlig hermetisch – entwickelt worden ist (Freuds Begriff des Unbewußten, das unbewußte Subjekt) niemals ernst genommen. Von diesen wirklichen Sprengsätzen der Psychoanalyse hat hierzulande fast niemand etwas begriffen.
[…] Alle „bösen Buben“ der jüngeren Geistes-geschichte – denken Sie nur an C. Schmitt und M. Heidegger oder E. Jünger und A. Gehlen – sind für eine Phänomenologie der Gegenwart viel spannender und aktueller als die guten Menschen des Humanismus. Zugespitzt gesagt: Das Dogma der Erbsünde ermöglicht einen schärferen Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit als der universalistische Glaube an die Solidarität einer „Menschheit“. Letztlich unterscheiden sich ja alle Gesellschaftstheorien in der Antwort auf die simple Frage: Sind Menschen von Natur aus gut (solidarisch, konsensfreudig) oder böse (aggressiv, machtwillig)? Alle „guten“, menschenfreundlichen oder ethisch anspruchsvollen Theorien sind anachronistisch geworden, alle „bösen“ Theorien haben dagegen eine brennende Aktualität bekommen. Denn „das Böse“ hat gesiegt: der Kapitalismus, der Marktwettbewerb, der Konsumismus. Anstatt darüber zu erschrecken und uns in humanistische Sackgassen zu manövrieren, sollten wir versuchen, diese bösen Theorien so zu instrumentieren, daß sie im Sinne einer Dialektik der Gegenaufklärung in eine Phänomenologie der Gegenwart umschlagen.
[…] Es handelt sich hier um zwei komplementäre Verfahrensweisen. Natürlich bin ich – ich verstehe mich auch nach wie vor als Aufklärer – am Abbau von Illusionen interessiert. Aber die größten Illusionen, die uns das Denken und das Leben verbauen, sind die Illusionen der Aufklärung selbst. Das meinte ich auch mit Abklärung. Abklärung meint nichts anderes als Abbau von Illusionen. Nur geht es nicht mehr um die Illusionen der politischen Wirklichkeit, sondern es geht um die Illusionen der Theorien, die wir über diese Wirklichkeit aufgestellt haben. Das größte Problem des Denkens heute scheint mir, überhaupt zu sehen, was ist. Wir schleppen eine Menge überalteter Theorien mit uns herum, in denen wir uns immer noch rituell bewegen und die uns den Blick verstellen. Komplementär zu diesem Abbau von Illusionen wäre eine Artisten-Strategie, die das Ästhetische als eine Dimension des Experimentierens und des Arbeitens mit dem Schein selber begreift. Kunst ist für mich eine Sonde der Wirklichkeitserforschung. Die Künstler müßten endlich vom Elfenbeinturm in den Kontrollturm wechseln.
[…] Sie sollten ihre ästhetische Experimentaltechniken zur Wirklichkeitserforschung, aber nicht zum Entwerfen von alternativen Welten benützen. Das machen Medien viel besser und perfekter. Kunst hat durch ihre poetisch-ästhetische Lizenz die einmalige Chance, die Wirklichkeit selber experimentell zu durchdringen. Da Schein nicht mehr der Gegenbegriff von Wirklichkeit ist, kann sie Strategien des Scheins entwerfen. Seit Nietzsche wissen wir, daß die Wirklichkeit nichts anderes ist als eine Überlagerung verschiedener Formen von Schein.
Tolerant und rücksichtsvoll handeln, aber gefährlich denken.
Aus: „Der heuchlerische Kulturbetrieb“ (Norbert Bolz im Interview von Rudolf Maresch; Datum ?) / Quelle: http://www.rudolf-maresch.de/interview/1.pdf
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