[Die Konstruktion von Situationen]

[…] «Unser Hauptgedanke ist der einer Konstruktion von Situationen – d.h. der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft.» [….] Die Konstruktion von Situationen eröffnet neue Möglichkeiten des Alltags, d.h. eine Befreiung von den festgelegten Strukturen und mechanisierten Prozessen unserer Lebenswirklichkeit.

[…] Subversive Spiellaune verbindet sich hier mit strenger Planung – Debord geht soweit, für die Konstruktion dieser Situationen eigentliche Drehbücher vorzuschlagen. Die spielerische Lust an der Zerstörung alles Hergebrachten und die pathetische Vision einer besseren Welt verbinden sich zur eigentümlichen Tonlage der «ernsten Parodie», die sich durch alle Texte und Aktionen der Situationisten zieht.

Es wäre jedoch ein Irrtum, die situationistische Sehnsucht nach einer Rückgewinnung der Lebenswirklichkeit im Sinne des Rousseauschen «Zurück zur Natur» zu interpretieren. Sie teilen das Wissen der radikalen Romantiker, dass vor den Pforten des Paradieses ein Cherubim mit flammendem Schwert steht, der jede Rückkehr verwehrt. Sie wählen im Gegenteil die Flucht nach vorne, indem sie die Lebenskonstruktion als solche akzeptieren.

[…] Das Umherschweifen ist eine Bewegungsart, die sich durch ihre Ziel- und Planlosigkeit, durch ihre Absage an die Hörigkeit ausgetretener Pfade, ihren Verzicht auf alle bisherigen Bewegungs- und Handlungsmotive den funktionalisierten Zwing-Strukturen der Stadt entzieht, ja diese zweckentfremdet. Mit der Methode des Umherschweifens soll die Stadt als Erfahrungs- und Erlebnisraum ausgelotet und auf ihre Möglichkeiten zur Konstruktion von Situationen befragt werden. So lassen sich Zonen der verdichteten Erlebensintensität ausmachen, welche zumeist nichts mit den städtischen Achsen und Knotenpunkten zu tun haben müssen. Eine kleine Gasse oder irgendeine Ecke können auf einem psychogeographischen Stadtplan viel grösseres Gewicht erhalten als eine Hauptverkehrsader. Solche «heisse» Zonen bilden auch die idealen Orte für wiederholte Interventionen, welche zur Kreation neuer Situationen führen können.

[Aus: „New Babylon. Aufstieg und Fall der Stadt Paris Zwischen Second Empire und 1968“ – Abhandlung von Juri Steiner von Zürich / Quelle: http://www.dissertationen.unizh.ch/2003/steiner/dissjst.pdf

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