Schlagwort: Steig in das Traumboot der Liebe

[Wie Sie nur leicht die Augenbrauen hochzog… ]

Als für uns jungen Brüder die Welt noch nicht ganz so zerrissen und zerbröckelt zu sein schien, hatten wir eine selbst gebastelte Schiffsschaukel im Garten. Die Schiffschaukel war eine alte Holzleiter, die mit dünnem Tau horizontal an einen Ast einer Zierkirsche befestigt war.
Wuchtvoll gab ich meinem Bruder Anschwung – hoch flog die Schiffschaukel – und wir beide jauchzten vor Freude. Diese Art von Begeisterung vermisse ich manchmal.

Morgens haben Julia und ich kaum Zeit. Was hast du geträumt? – Ich weiß es auch nicht mehr. Im Bett mit dem Becher Kaffee hatte mich noch die Vermutung überrumpelt, ob ich vielleicht nur die Erinnerung an den Film Amarcord (Fellini, 1973) oder Casanova (Fellini, 1976) zu lieben begonnen habe, dabei ist das Urteil schnell bei der Hand – das da heißt: die Liebe gelte natürlich dem Film selbst. Was aber, wenn dieses warm orange glühende Gefühl nur dem Filmecho der eigenen Erinnerung gilt – und eben nicht dem Dargebotenen konkreten Film im erlebten Moment. Die eigene Nase fühlt sich seltsam an, der Kampf gegen die Erkältung ist nahe der Nasenscheidewand im vollen Gange.

Das Karlstal liegt noch in der Morgendunkelheit. Ihre langen mittelblonden Haare waren etwas ungeordnet und die Stoffturnschuhe hatten beide ein kleines kleines Loch an der Fußspitze. So richtig bekam ich auch die Augen noch nicht auf. Der Moment, wenn wir morgens über die Gablenzbrücke schaukeln ist durch das Lichtergeschimmer auf der Kieler Förde ein kurzer Mikro-Glückssprudel auf der Netzhaut.
Diese mittlere Drehscheibe des Gelenkbuses (umgangssprachlich oft auch als „Schlenki“, „Schlenker“ oder „Ziehharmonikabus“ bezeichnet [*]) gab mir für kurze zeit den Blick auf die Gesichtshälfte einer wild entschlossenen Frau frei. Ihr dunkelbrauner rechter Auge Blick stach für einen Moment mit Nachdruck in mich hinein, dann drehte sich das Busgelenk wider. Wie sollte ich erfahren, welcher Gedanke oder welches Gefühl dem so ernst entschlossenem Ausdruck in ihrem Gesicht zugrunde liegt. Ich habe auch nicht die zweite Hälfte ihres Gesichtes gesehen.

An der Haltestelle Hummelwiese, ist es im Nieselregen ratsam den Jackenkragen hoch zu schlagen. Jemand schaut kurz noch mal unauffällig in den Haltestellen Mülleimer.
Die Linie 41 ist voll – erst an der Endhaltestelle fällt mir auf, das ich eine ästhetische Abscheu gegen Rollkoffer hege, subkutan steigert es sich bis hin zur unausgesprochenen Aggression. Lachend über so viel eigenen Müdigkeitsblödsinn ziehe ich den Kragen noch etwas höher in das Gesicht und erinnere mich daran, wie Endira nur leicht die Augenbrauen hochzog, als die Ladentür auf ging und eine Kundin sich in einen fauchenden nach Schwefel stinkenden Drachen verwandelte. Der Drachen fauchte zwei mal mit Feuerfunken eine gesteigerte Wut hinaus: es ging eigentlich darum, das die Biogänse auf dem Plakat an der Tür wohl ermordet werden für das Weihnachtsfest. Und wie geschmacklos es wäre, diese dem Tode geweihten Tiere auch noch an die Ladentür zu hängen. Wohlgemerkt: das Bild der Biogänse war der Auslöser. Ihre ganze Lebenswut fauchte, die zum Drachen gewordene Kundin, Endira an der Kasse entgegen. Endira bleibt ruhig, freundlich und hold. Sie hat mit dem Plakat an der Tür eigentlich auch gar nichts zu tun und zieht meinen Joghurt über den Kassenscanner. Die Ladentür Schlägt wieder zu, der Drache war wieder eine Frau geworden, die etwas zu hastig mit ihren Kindern in den Wagen steigt. Ich sehe noch durch das Türglas. Der Einkaufswagen rechts neben mir, der für das Pfandglas, hat den Wutausbruch mit seiner eisernen Stille ertragen – doch nach ein paar Sekunden der Ratlosigkeit singt er leise:

Steig in das Traumboot der Liebe
fahre mit mir nach Hawaii
dort auf der Insel der Schönheit
wartet das Glück auf uns Zwei …

Ich hätte vielleicht doch ganz den Mund halten sollen – am Tisch vor dem Sektglas mit Peggy. Jeder hat eine andere Familie. Heute lässt sich vielleicht mehr den je, „die Familie“ nicht mehr verallgemeinern. Eigentlich auch gar nicht so schlecht. Verallgemeinerung macht manchmal undeutlich um was es eigentlich vielleicht geht.