Schlagwort: Gaarden

[Samstag morgen 9:16 – Linie 31… ]

Samstag morgen 9:16 – die Linie 31 setzt sich in Bewegung. Ich höre hinter mir eine reife Dame sagen: „Ja, ich muss oft an die Zeit zurück denken…“ – unwillkürlich entsteht vor meinem inneren Auge das Bild eines Gehirns, welches in einer durchsichtigen Lösung von komprimierter Zeit schwimmt – drumherum stehen Damen mit weiß gelocktem Haar in weißen Kitteln. Sie nehmen das Gehirn genau in Augenschein – hin und wieder sagen sie: Was für eine Zeit!
Zurück in der Gegenwart schweift der Blick durch das Fenster nach draußen – Haltestelle Karlstal im Stadtteil Kiel Gaarden. Würde ich hier nicht um die Ecke wohnen, ich würde den Ort vermissen. Dieser Ort ist eine öffentliche Wunde, in der geschminkten Welt von Beauty-Tips und Diät-Vorschlägen. Ein Schützengraben zur Abwehr der durchtränkenden Harmlosigkeit von Produktbeschreibungen . Hier am SKY Supermarkt Karlstal logiert ein Hofstaat von Alkies und Junkies mit einem kleinen Tross von illustren Mitstreitern und verbreiten ihre Idee von Öffentlichkeit. Aufregung, Wut, Lügen, Hoffnung, Enttäuschung, hier ein dreckiges Lachen, dort ein hilfloser Blick, hier ein großes Versprechen, dort ein heimliches Verschwinden. Wer macht den Hofnarren und wer ist das Gesetz. Bei den regelmäßig anberaumten Polizeidurchsuchungen obliegt es ihnen dann, die verschwitzten Taschen auszulehren und den Inhalt eben dieser fein säuberlich – unter den unterschwellig genervten wie auch strengen und leicht angespannten Blicken der Gesetzeshüter – auf dem Bürgersteig auszubreiten. Trotz alledem, so scheint es mir, ergeht es ihnen an der Mauer wie einer zerrütteten Familie, die bei allem Ungemach und nackter Gewallt zum Trotz, soweit es irgend möglich ist, zusammenhält. Sollte nicht ein schwacher Moment der mächtigen Suchtkrankheit alle Bemühungen unnachgiebig hinwegspülen. Dort an der Mauer direkt am Supermarkt, dort wo der Zigarettenautomaten hängt – ist eine Zuflucht in mitten von zerklüfteter Seelenlandschaft.
Ich sehe eine müde junge Frau mit Kinderwagen und ihren 3 Kindern die sich ungeduldig hin und her bewegen, ein Typ mit dunkler Sonnenbrille neben ihr. Er gibt sich mühe unangreifbar zu wirken – die drei alten Männer weiter links mit Bierflaschen und grau melierten Bärten kaum noch. Mittendrin laufen ein paar 1-Euro Arbeiter in neongelben Westen durch die Szenerie. Auf ihren Westen steht für alle gut sichtbar: Gaarden Aktiv. Sie laufen mit einer Mülltüte und einem Müllgreifer die Bürgersteige entlang. Manche haben sich aber auch einen Hackenporsche besorgt, auf dem sie die Mülltüte ziehen können. Es gibt verschiedenste Modelle – heute zum Beispiel sehe ich zum ersten mal das Model Umgebauter-Einkaufswagen.
Vorne beim Busfahrer gibt es wieder Ärger. Ein kleiner Mann mit osteuropäischen Akzent ist in einer mir unbekannten Angelegenheit ungehalten und macht sich verbal Luft. Der Busfahrer gibt noch ein „Das ist eben ihr Problem“ zum Besten. Neben mir ein alter Mann sagt für alle hörbar: „Es hat doch keinen Zweck, sag‘ einfach Salemaleikum und vergiss die Sache…“ – der kleine Mann schenkt meinem Sitznachbar keinerlei Aufmerksamkeit und setzt sich mit versteinertem Gesicht neben ein junges Mädchen das hypnotisiert mit ihrem Handy spielt. Jetzt kommt uf der gegenüberliegenden Sitzbank ein Rentner in Fahrt: „Ich habe 25 Jahre gearbeitet – die Nachtschichten sind viel schneller rumgegangen – 20:00 bis 6:00 Uhr – die Kollegen kamen immer mit Kaffeedurst – ich hab ihnen immer den Kaffee hingestellt. So ging die Zeit viel schneller rum als am Tag.“