Kategorie: Kiel.Gaarden

[Eine Momentaufnahme #2… ]

(Ende Januar 2016): Kiel ist gerade wie eine nasse dunkle glitschige angegammelte Holzplanke mit Nieselregen und eine handvoll Wind darüber. Gegenüber wird matt weißes Kiosklicht auf verschmierten Fenstern zurückgeworfen. Ich drehe doch noch die Heizung an und schalte die Lampe auf der Arbeitsplatte aus. Angenehm ist die Stille und die Dunkelheit. Wenn ich jetzt in die Straße hinunterschaue, glimmt auf ein paar Pflastersteinen noch dunkelrote Farbe spiegelbildlich auf einer dünn-kalten Wasserschicht. Eine tiefe Schlaflust rieselt in den psychischen Apparat. Was ich gerade noch wahrnehme – oder wie es sich anfühlt, dass die Zeit mich verändert – all das nehme ich mit auf die Matratze. Dann warte ich ab, in welche Gedankenspurrillen ich noch hinein rutsche, bevor dann nichts mehr für mich zu erinnern ist, bevor es weitergeht. Bevor ich morgen früh den Becher Kaffee mit ein paar Tropfen Sahne umrühre, bevor sich die Augen im ersten Moment noch nicht richtig scharf stellen.

[Bericht aus dem Hinterhof (06.06.2015)… ]

Kiel. Im Niemannsweg rauschen die Bäume ehrwürdig ruhig im Wind, die Borderline-Patienten sind ja auf offener Straße nicht zu sehen. Jeder Stadtteil hat seine Selbstverständlichkeit. Düsternbrook hält sich daran. Das Fahrrad klappert. Die abschüssige Kurve noch, dann zieht es mich wieder auf das Ostufer.
Auch auf dieser Seite der Kieler Förde ergeht man sich im Erfüllen von vorhersehbarem: von der Eckkneipe gegenüber brüllt ein Mann (wie alt mag er sein?) um die fünfzig mit versoffenem Ton einer Frau hinterher. Er bewirft alsdann die Dame mit einer vollen Flasche Bier, die Dame (schlau genug) ist aber schon um die Häuserecke verschwunden und entwichen. Der Flaschenwurf war um zwei Sekunden alkoholverzögert und auch nich zielgenau. Die noch mit dem silbernen Kronkorken verzierte braune Flasche prallt in leicht gebogener Bahn auf die Kühlerhaube von einen VW-Polo. Akustisch ein kurzes Znack-(Pause)-Zrotz-Klock-Klock-Geräusch. Eine kleine Delle im Lack. Eigentlich ist gar nichts passiert. Schon ist wieder Ruhe in der Medusastraße.
Das alte Rad klappert nun gesteigert beim überfahren des Kantsteins – und trägt mich weiter zu einer kleinen Pizzeria. Runter vom Rad. Bin in der Gutenbergstraße – gar nicht weit weg vom Schrevenpark.
Direkt neben mir geht ein hölzernes Garagentor auf. Ich sitze bereits auf einem Gartenstuhl in einem Hinterhof. Vom Holz und der Machart her betrachtet, könnte das knarrende Tor vielleicht in den 30iger Jahren zusammengebaut worden sein. Ein kleiner aber beleibter Bestattungsunternehmer mit stark augenvergrößernder Brille und schwarzer Anzugshose betritt das hinterhöfische Als-ob-Theater. Ein paar tapsige Schritte von kleinen breiten Füßen. Der Gang hat etwas marionettenhaftes. Doch die Füße, in Kunstleder und Gummisohle gebettet, haben keine Fäden und Ösen. Mit einer etwas zu engen und zugeknöpften Weste schiebt der Herr Bestatter den schwarz-rot-gold verzierten Kaffeebecher vor sich langsam über die mit etwas Unkraut umzingelten Kopfsteinpflaster. Er nimmt einen kleinen Schluck aus seinem nur noch mäßig dampfenden Deutschland-Becher. Der Herr in Schwarz sagt recht laut „ja, ja, ja…“. Ich frage mich dabei, ob er seine Worte an sich selbst, an niemanden, oder an mich adressiert hat. Möglicherweise weiß er es selber nicht genau. Wir sehen uns an. Er wagt sich noch zwei weitere Schritte zum Als-ob-Bühnenzentrum vor. Hinter ihm das geöffnete Garagentor. Dahinter nur noch dunkler Schatten. Noch ein mal entkommt seinem Mund ein „Ja, ja, ja.“
Die Sonne brennt auf den weißen Campingtisch. Ich fühle die Hitze auf dem Gesicht. Der Sommer 2015 hat begonnen. Es ist so hell, dass ich die Augen ein wenig zukneifen muss. Selbstvergessen und etwas verlegen nicke ich dem Mann samt seinem patriotischen Becher zu, schweige und esse das nächste Stück Pizza mit der Hand. Ich schließe die Augen ganz. Noch vor ein paar Minuten fuhr ich an einem Kiosk vorbei. Ein in der Sonne glänzender BMW liegt auf der linken Seitentür vor einem Zebrastreifen. Ein Polizist spricht in sein Funkgerät: „…ja zwei junge Männer, sie sind weggelaufen, ich brauche noch einen Wagen hier…“ – das Blaulicht des Notarztwagens geht fast unter, denn der Himmel ist ja schon so voller Blaulicht.
Schon will mir jemand freundlich auf dem Gehweg eine alte Kleinbildkamera verkaufen, die aussieht als wäre sie samt Schutzhülle und Bedienungsanleitung aus dem Nord-Ostseekanal gefischt worden. Die Kamera sieht mich halb erblindet an und ich höre das kurze Stöhnen einer verlotterten Weltseele.

[Unter der Balustrade… ]

Kiel. Kalter Regen und vereinzelt Schnee. Der schmilzt gleich wieder auf dem Gehsteig. Es ist dunkel auf nassen Straßen. Ein neues Jahr hat begonnen. Ich will noch eine Geschichte kopieren. Im Laden ist es warm. Der Laden hat ein paar Neonröhren an der Decke. Ich öffne die Klappe. Die Tür geht auf. Das Kopiergerät verstellt mir den Blick. Langsam versuche ich mich bodennah um 90 Grad zu drehen und zu fokussieren. Noch jemand muss hereingekommen sein. Für den lächelnden Ladeninhaber an der Ladentheke neben der Kasse müssten wir zwei Kunden sichtbar sein. Er kann alles sehen, wie bei einem beleuchteten Aquarium. Ich sehe immer noch nichts. Schriftzeichen von gesprochenen Worten fliegenden auf mich zu, ohne das ich die Ausmündung der Buchstaben zu Gesicht bekomme hätte. Jetzt kann ich einen Mund sehen. Da sind auch noch zwei Augen mit der Frau dazu. Was ist das für ein seltener Blick? Der Blick geleitet das weibliche Wesen als ganzes sanft wie einen Fisch durch das Wasser. Was ich sehe sind zwei wechselhafte und auch unterschiedliche Augen. Das bedeutet: das eine Auge schließt sich stärker und schneller als das andere beim sprechen. „Passiert es dir ganz von allein? – Weißt du etwas von der dynamischen Ausdrucksstärke deiner Augen? – Machst du es mit Berechnung?“ Sie schiebt den nun geschlossen Mund etwas nach rechts und macht eine kurze Pause: „Ja, das ist schon auch meine ungewollte Wirkung – ich habe das meistens beim Sprechen und beim Blinzeln – ich weiß davon, aber nicht immer.“ Und wieder, mitten in der Unterhaltung, sekundenlangsam bewegt sich der Lidschlag bei den Worten unterschiedlich. „Kann man so etwas üben? – Oder ist so etwas angeboren?“ Sie sagt: „Sieh genau hin!“ – Ihr Mund öffnet sich. Es tanzen weitere Sätze. Die Buchstabenkolonnen fluten taumelnd hinaus. Die Worte füllen zwar nur den oberen Rand meiner DIN A4 Seite, aber ich habe ihren Text immerhin abgefangen. Ich zeige ihr das Blatt Papier: „Wie findest du die Schrift?“ Jetzt bekomme ich eine Lächeln geschenkt. Es tropft und ich schäme mich für meine Haare, die wegen des Schneeregenwassers noch etwas triefen. Sie sagt: „Du hast zu sehr auf meinen Mund geachtet. Es geht aber auch um die Augen. Ich mache es noch ein mal, sieh genau hin!“ – Ich sehe jetzt die Letter direkt vor den unterschiedlich schnell herabfahrenden Augenlidern. Wäre ich ein A, ein B, oder ein C – oder ein Wort – ich wäre in Gefahr auseinander zu brechen. „Ich gebe auf. Ich verstehe es nicht. Warum können wir nicht zur Vereinfachung die Sexualität in der Ontologie verschachteln?“. Sie lacht mich mit geschlossenem Mund lautlos aus – und nickt dann langsam. „Du meinst die Dinge gesondert betrachten? – Du meinst das Reale? – Du meinst den unauflösbaren Rest, der in dem Imaginären und des Symbolischen nicht aufgeht? – Zwischen Mensch und Mensch?“ Ich betrachte den Kachelboden: „Zum Beispiel bleibt ein Teil vom realen Glänzen deiner Tränenflüssigkeit am Seienden ganz allgemein haften. Irgendwann werde ich eine Geschichte darüber schreiben, diese Geschichte hier, um mir diesen Glanz wieder aus dem Kopf zu jagen.“ Sie sagt: „Okay, versuchen wir es noch einmal – ich zeige dir meine Augenwelle noch einmal in Zeitlupe.“ Sie legt sich über den Fotokopierer und zeigt mir die unsymmetrische Wellenbewegung. Der Ladenbesitzer macht dabei eine kleine gelbe Dose auf, springt über die Theke, tanzt wie nichts über die Leitz Aktenordner, Radiergummis und Filzbuntstifte landet im Mittelgang und streut uns Fischfutter in die Luft.
Natürlich, das alles glaubt kein Mensch – aber die fliegend lachende Spöttertruppe, die himmelhochjauzende Lachbande mit ihren Instrumenten, die kennt so etwas. Sie flogen wärend der Geschichte gerade über den Vinetaplatz. Sie sahen abwechselnd durch die kleine Fensterluke des Copyshops. Dann suchten sie sich einen Balkon und drängten sich unter die Balustrade. Denn nicht mal die musikalischen Himmelsbanditen mögen den Kiel-Gaardener Schneeregen.

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