• Welcome to LINK ACCUMULATOR. Please log in.

[Zur Geschichte (Bruhstuecke) ... ]

Started by Link, December 27, 2008, 05:07:42 PM

Link

Quote[...] Die deutsche Kolonialgeschichte muss heute auch als Fantasiegeschichte des Kolonialen beschrieben werden. Warum? Das Wissen der Kolonisatoren war aus einem Mix an Überlieferungen und neuen Erkenntnissen zusammengesetzt. Sie besaßen ein Eigenleben und spielten bei der Konfrontation zwischen ,,Eigenem" und ,,Fremdem" jeweils eine entscheidende Rolle. Denn Vorwissen, das von vornherein kulturell und emotional hoch codiert war – etwa die Vorstellungen von ,,edlen Wilden" oder spiegelbildlich von ,,gefährlichen Kannibalen" –, wurde mit den vermeintlichen Realitäten in den Kolonien fortlaufend abgeglichen. Dabei wurden tatsächliche oder ,,gefühlte" Abweichungen in neue Bilder übersetzt.

Deutschland erlebte zwischen den 1880er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg eine Phase aktiver Kolonialpolitik. Sie war länger, als man gemeinhin glaubt, jedoch kürzer als die vieler kolonialer Konkurrenznationen. Als ,,Weltaneignung" hat die Kolonialisierung jedoch eine lange vor- und außerstaatliche Geschichte. Sie reicht von der Sammlung von Wissen über die Erforschung, die Benennung und die Kartierung bis zu dem, was man mit ,,Erschließung" umschrieben hat, also die überwiegend ökonomische Nutzbarmachung fremder Gebiete.

Der Wettlauf um die Erforschung der letzten weißen Flecken auf den Landkarten war im 19. Jahrhundert mit dem Ehrgeiz einer Totalerfassung der ,,Welt" verknüpft. Dieser Begriff wurde insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für viele Deutsche zu einem zentralen Referenzpunkt. Die imperialistisch Imprägnierten wollten deutsche ,,Weltpolitik" betreiben und musterten infolgedessen alles auf einer globalen Ebene ab, um für Deutschland einen ,,Platz an der Sonne" zu fordern.

Politisch relevant wurde dies erst, als sich das Wissen mit konkreten Handels- und Machtinteressen verband und die koloniale Agitation über Vereine und Organisationen begann, bestimmenden Einfluss auf die Politik des jungen Deutschen Kaiserreiches zu nehmen. Hieraus entwickelte sich eine ,,imperialistische Imagination", die nicht immer mit Fantasien der Unterwerfung einhergehen musste, sondern ein breites Spektrum an Antrieben und Motivationen umfasste: originäre Neugier gegenüber dem Unbekannten, eine Faszination für das Neue und das ,,Exotische", bisweilen auch für das Erotische. Einige der von Fernweh Geplagten sprachen sogar von einer ,,Tropensehnsucht".

Zur imperialistischen Grundüberzeugung gehörte es aber auch, zwischen höher- und minderwertigen, stärker oder weniger entwickelten, fortschrittlichen und rückschrittlichen Völkern zu unterscheiden. Das dichotomische Denken des christlichen Abendlandes prägte den Denkstil des modernen Imperialismus grundlegend, nur dass sich der Missionsgedanke im Laufe der Zeit immer stärker von der christlichen Bekehrung ablöste und auf die ,,Segnungen" der westlichen Zivilisation übertrug.

Diejenigen Forscher, die im 19. Jahrhundert unter großer Anteilnahme einer weltweiten Öffentlichkeit Erkundungen ins Landesinnere Afrikas oder Asiens vornahmen, hatten ihrerseits nicht von vornherein zu einem rationalen Verständnis von Land und Leuten beigetragen. Vielmehr waren auch sie Irrtümern und Wahrnehmungsverzerrungen ausgesetzt, weil sie nicht selten ,,im Tropenfieber" reisten und oft auf eine unkontrollierte Weise berichten konnten, die eher den medialen Sensationsgelüsten entgegenkam als einer nüchternen Erkenntnis.

Aus solchen Fantasieräumen in der Ferne entstanden nach und nach populärkulturelle Geschäftsmodelle. Namentlich die Völkerschauen haben hierauf aufgesattelt und die Schaulust eines Publikums befriedigt, das durch Hörensagen neugierig geworden war. Alle populären Bildmedien haben hieran angeknüpft und über exotisierende Darstellungen ein Interesse hervorgerufen, das sich oft oberflächlich als ein dokumentarisches darstellte, meist aber die immer gleichen Stereotypen aufrief. Diese koloniale Bilderwelt war weit über das Ende der deutschen Kolonialzeit, ja sogar weit über 1945 hinaus wirksam.

Es erscheint paradox, aber mit großer Wahrscheinlichkeit hat Deutschland die größte Zahl an Kolonialbegeisterten in genau dem Moment besessen, in dem das offizielle Ende der deutschen Herrschaft über ,,seine" Kolonien besiegelt wurde. 1919 war jedenfalls eine große Empörung gegen diejenigen Bestimmungen des Versailler Vertrags zu mobilisieren, welche die vormals von Deutschen beherrschten Regionen in Übersee betrafen.

Dies führte zu einer Art von ,,Phantomschmerz", vorhandene koloniale Fantasien wurden weiter geschürt, der ,,koloniale Gedanke" in der deutschen Bevölkerung wachgehalten. Dazu wurden weiterhin Völkerschauen veranstaltet, Kolonialausstellungen organisiert, zahlreiche Broschüren und Bücher geschrieben, deren bekanntestes der voluminöse Roman ,,Volk ohne Raum" des vormaligen ,,Deutsch-Südwesters" Hans Grimm war. Dessen Titel missbrauchten die Nationalsozialisten dann als Schlachtruf, um kontinentale Expansionsansprüche in Osteuropa zu begründen.

Die Gewinnung von deutschem ,,Lebensraum" im Osten, also in Polen und dem Gebiet der Sowjetunion, war nach 1933 zunächst eine Minderheitenposition. Doch unter dem Einfluss namhafter Nationalsozialisten, nicht zuletzt Adolf Hitler selbst, geriet der koloniale Revisionismus immer stärker in die politische Defensive. Spätestens 1943 wurden alle kolonialen Planungen regierungsseitig untersagt. Der berühmte Afrika-Feldzug des Generals Erwin Rommel hatte nicht der Wiedergewinnung von Kolonien gegolten, sondern der strategischen Schwächung der alliierten Gegner.

Die Ideologie der Ostexpansion war deutlich radikaler und brutaler als die der Kolonialzeit. Sie nahm auf einheimische Bevölkerungen keine Rücksicht, sondern entledigte sich ihrer in einem vorgeblichen Lebenskampf der Rassen. Was den kaiserzeitlichen Imperialismus stets begleitet hatte, nämlich mehr oder weniger subtile Formen von Angeboten an andere Länder und Regionen, sich von deutscher Kultur und deutschem ,,Wesen" positiv beeinflussen zu lassen, spielte hier keine Rolle mehr.

Die deutschen Ziele der Zwischenkriegs- und der Kriegszeit für eine Ausweitung des ,,Lebensraums" schlugen letztlich in ihr Gegenteil um, sodass Deutschland nach 1945 nicht nur auf den kleinsten Raum seiner nationalen Existenz zusammenschrumpfte, sondern zusätzlich noch geteilt und besetzt wurde.

Die ersten zwei Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg konnte man in Deutschland so tun, als ginge einen die Kolonialzeit nichts (mehr) an. Fixierungen auf das ,,Andere" waren von den Vorgängen jenseits des Eisernen Vorhangs fast vollständig absorbiert. Die Unterstellung von Imperialismus und Kolonialismus erfolgte durch den jeweiligen Gegner im Kalten Krieg, worin erneut viele Fantasien eingewoben waren. Zudem waren in Deutschland nun bestimmte Redeweisen, mit denen man sich zu anderen Völkern in Bezug setzte, diskreditiert. Offen rassistische oder kolonialistische Forderungen zu stellen, war nicht mehr die Situation der Deutschen. Stärker noch als nach dem Ersten Weltkrieg nährten sie vielmehr die Fantasie, nun selbst Objekt von kolonisatorischen Bemühungen von außen zu sein, also ,,amerikanisiert" oder ,,sowjetisiert" zu werden.

Dabei kam Deutschland der frühe Verlust der Kolonien durchaus zugute, denn es galt inzwischen in vielen derjenigen Länder, die einer Dekolonisation zustrebten, als ,,kolonial unbelastet". Nach dem Muster des eigenen Wiederaufbaus und der ökonomischen Integrationspolitik des Marshallplans konnte die Bundesrepublik im Windschatten der Weltpolitik und ausgestattet mit dem Nimbus eines ,,Wirtschaftswunderlandes" in Ländern der ,,Dritten Welt" daher eine erfolgreiche außenwirtschaftliche Angebotspolitik verfolgen.

Dennoch brachte der Versuch, den Kolonialimperialismus durch eine beherzte Entwicklungspolitik zu ersetzen, das Problem neu entstehender Abhängigkeiten nicht aus der Welt. Zu den nachhaltigen Kolonial-Fantasien gehört es bis heute, die Bevölkerungen des ,,Globalen Südens" als grundlegend defizitär und rückständig zu kennzeichnen.

Die Bundesbürger selbst konnten sich durch das Radio, das Fernsehen, die Illustrierten und die Fernreisen nach 1945 der entferntesten Regionen, Völker und Ereignisse bemächtigen. Ferien im Ausland erlaubten nicht nur eine teilnehmende Beobachtung des Anderen, sondern auch eine Aneignung des Exotischen, seinen individuellen Rückimport nach Deutschland sowie eine umfassende Erweiterung der persönlichen Horizonte. Die Deutschen wurden – auch hierbei extrem – bald zu Reiseweltmeistern. Nicht immer ist dabei die Bereitschaft, sich auf das Fremde einzulassen, besonders ausgeprägt: Wie die Eroberer und Kolonisatoren bringen natürlich auch Urlauber ihre Vorstellungen und Voreinstellungen mit. Bisweilen suchen sie auf Reisen gar nicht das Fremde, sondern einen Platz an der Sonne, der Deutschland dennoch möglichst gleicht.

Der Kolonialismus schlich sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert in die Wahrnehmungsmuster von ,,Welt" ein, und er prägt unser Denken in Teilen bis in die Gegenwart. Seit einigen Jahren sind immer mehr (post)koloniale Relikte erforscht und aufgedeckt worden, sodass man sich heute ein weitaus umfassenderes Bild davon machen kann, wie stark und in wie vielen Verästelungen sich koloniale Fantasien über lange Zeiträume hinweg niedergeschlagen haben. Der deutsche Kolonialismus wird seit vielen Jahren zu einem überwiegend selbstkritischen bis negativen Bezugspunkt der deutschen und europäischen Geschichte umcodiert. Dabei ist nicht auszuschließen, dass erneut Fantasien und Projektionen eine Rolle spielen.

Der Autor Dirk van Laak ist Professor für deutsche und europäische Geschichte des 19. bis 21. Jahrhunderts an der Universität Leipzig. Sein Artikel beruht auf einem Beitrag zum Sammelband ,,Deutschland Postkolonial? Die Gegenwart der imperialen Vergangenheit" (hrsg. von Marianne Bechhaus-Gerst und Joachim Zeller), der soeben im Berliner Metropol Verlag erschienen ist.


Aus: "Der lange Schatten der Tropensehnsucht" Dirk van Laak (04.01.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/wissen/deutscher-kolonialismus-der-lange-schatten-der-tropensehnsucht/23825568.html

Link

QuoteAm 5. Januar 1919 beginnt in #Berlin der #Spartakusaufstand. Die #SPD verteidigt die Demokratie – auch mit Hilfe des Militärs. #OnThisDay


https://twitter.com/vorwaerts/status/1081168621454458880

Quote[...] Der Mord an Rosa Luxemburg und ­ihrem politischen Weggefährten Karl Liebknecht am 15. Januar 1919 markiert den vorläufigen Höhepunkt des Konflikts zwischen gemäßigter Sozialdemokratie und radikaler Linken, der in den Monaten nach der Novemberrevolution blutig eskaliert. ... Die undurchsichtige Rolle, die Noske bei der Ermordung spielt, sowie die nur halbherzige Verurteilung der Tat durch die SPD-Regierung beschäftigen bis heute die Historiker und sind immer wieder Anlass für kontroverse Diskussionen. Das Blutvergießen ist indes noch längst nicht vorbei: Im März 1919 sterben allein in Berlin mehr als 1.200 Arbeiter bei der gewaltsamen Niederschlagung von Generalstreiks für revolutionäre Ziele.

... Die tiefe Entfremdung, ja mehr noch Feindschaft zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten wird die Geschichte der Weimarer Republik entscheidend prägen und zu ihrem Scheitern beitragen. Mit dem wachsenden Einfluss der sowjetischen Bruderpartei unter Stalin fährt die KPD einen konsequent anti-parlamentarischen Kurs gegen die Weimarer Demokratie. Immer wieder propagiert sie ein Zusammengehen der beiden Arbeiterparteien (,,Volksfront"), in Wahrheit geht es ihr aber nur um taktische Manöver. 1929 schließt sich die KPD der Sozialfaschismusthese an, nach der die SPD auf eine Stufe mit den Faschisten zu stellen und daher als Hauptfeind zu betrachten sei. Ein gemeinsamer Abwehrkampf gegen den heraufziehenden Nationalsozialismus wird dadurch endgültig verhindert.


Aus: "Spartakusaufstand: Der blutige Kampf um die junge Republik" Marcel Böhles (04. Januar 2019)
Quelle: https://www.vorwaerts.de/artikel/spartakusaufstand-blutige-kampf-um-junge-republik

Quote
Das große Elend der Sozialdemokratie
Hannes Ditholdt hat am 4. Januar 2019 - 20:47 kommentiert

Nach dem zehnten geistigen folgte mit der Zustimmung zu den Kriegskredieten der erste praktische Verrat. Und spätestens seit der Novemberrevolution hat der Sozialdemokratismus seine menschenverachtende Fratze der ganzen Welt offenbart.

Keine Frage, dass die Sozialfaschismus-These ein Fehler war, aber man stelle sich die Emotionen der aufrichtigen Genossen vor, nachdem die SPD lieber mit Protofaschisten auf Arbeiter schießt, als für den Sozialismus zu wirken!

In 20 Jahren in Gewerkschaft hab ich viele Menschen kennengelerrnt, viele gute. Aber die SPler in den Führungspositionen, die die jeden Kampf am liebsten sofort abwürgen wollen, die sind der Feind in den eigenen Reihen.

Quote
"Spartakusaufstand"
Armin Christ hat am 5. Januar 2019 - 8:59 kommentiert

Korrekt muss das Januaraufstand heißen; der intelektuelle Spartakusbund hatte vielleicht 1000 Mitglieder. Die Hundertausenden die da beteiligt waren forderten nichts anderes als die Umsetzungs es Programms der SPD. Vorsitzender des Revolutionsausschuß war Georg Ledebour (Weder Spartakus noch KPD). Für die Massaker am 6. Dezember war Otto Wels (!?!) verantwortlich. Ebert +Co. züchteten in Ihrer Querfront mit monarchistischen Generälen, unbewußt die Vorläufer von SA und SS. Der Luxemburg/Liebknecht Mörder Hauptmann Papst sagt später, daß ohne die Duldung durch Ebert + Co. die Morde nicht möglich gewesen wären. Noskes Schießbefehl - März 1919 ? Und 1 Jahr später der Kapp-Lüttwitz-Putsch. Ebert + Co. flohen nach Stuttgart - loyale Armeeverbände gab es nicht - ein spontaner Generalstreik machte dem Putsch nach 5 Tagen ein Ende. Und kaum wars vorbei mobilisierten Ebert Co. die gleichen Putschistenverbände gegen die "Rote Ruhr Armee". Eine juristische Aufarbeitung des Putsches unterblieb.
Kann man die Verbitterung Vieler gegen die SPD verstehen ? Den Stalinschen Unfug der KPD kann ich allerdings genauso wenig gutheißen wie die Politik Eberts + Co.


-

Quote[...] Es ist so einfach, sich lustig zu machen über diese Demonstration. Immer am zweiten Sonntag des Jahres, also nah dran am Jahrestag der Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts am 15. Januar 1919, zieht die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration zur Gedenkstätte der Sozialisten auf dem Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde. Es geht pünktlich los, der Abstand zwischen den einzelnen Blöcken wird penibel eingehalten, politisch völlig irrelevante Splittergruppen haben hier ihren Auftritt des Jahres, ein Mao- oder Stalinbild findet sich auch immer irgendwo. Hipsterberlin ist sehr weit weg.

Es ist einfach, sich über dieses jährliche Spektakel mit sinkender Teilnehmerzahl lustig zu machen. Man kann sich aber auch umhören unter denjenigen, die daran teilnehmen. Vielleicht bei denen, die weiter hinten laufen, nicht in einem der organisierten Blöcke. Bei denen, die selber mit einigen der Parolen, die hier gerufen werden, ihre Probleme haben und den Kopf schütteln angesichts so viel Folk­lore. Und die trotzdem mitgehen an den meist eisigen Sonntagmorgen im Januar, die ehemalige Stalinallee entlang, und am Ende eine Nelke ablegen auf einer der Tafeln in dem Rondell der Gedenkstätte.

Wenn man sich also umhört unter diesen Teilnehmern und fragt, warum sie hier sind, dann antworten viele, dass dieses Gedenken an Luxemburg, Liebknecht und die anderen ermordeten Sozialisten ihnen persönlich viel bedeute. Nicht nur wegen der Dinge, die Liebknecht und Luxemburg getan, geschrieben und gesagt haben.

Sondern auch, weil dieses Gedenken selbst ein politischer Akt ist: Die Ermordung der beiden marxistischen, antimilitaristischen Politiker wurde jahrelang vertuscht. Noch heute gibt es insbesondere zu der Frage, wer für diese die politische Verantwortung trug, höchst unterschiedliche Auffassungen, insbesondere zur historischen Mitschuld der SPD. Erst vor wenigen Tagen wurde das wieder anschaulich, als die Redaktion der SPD-Zeitung auf Facebook und Twitter schrieb, es sei der Spartakusaufstand selbst gewesen, der zum Tod Luxemburg und Liebknechts geführt habe, während die SPD damals ,,mit Hilfe des Militärs" die Demokratie verteidigt habe.

Sich an den Tod Luxemburgs und Liebknechts zu erinnern als das, was er war, nämlich ein heimtückischer Mord rechtsradikaler Militärs mit Billigung der politischen Führung, ist also an sich schon ein politischer Akt, weil diese Lesart bis heute gegen eine Geschichtsschreibung der Herrschenden erkämpft werden muss.

Und es sind nicht nur offensichtliche politische Entgleisungen wie die der Vorwärts-Redaktion, gegen die dieses Gedenken verteidigt werden muss. Es ist auch eine Form des Erinnerns, die man gerade in den Super-Gedenkjahren 2018 und 2019 vielerorts finden kann: Da werden Liebknecht und insbesondere Luxemburg zu Popfiguren, zu Rosa und Karl, die irgendwie toll sind, aber auch für nichts weiter stehen als ein Quäntchen Revolutionsromantik.

Die Ereignisse von 1918/1919 werden personalisiert und damit gleichzeitig entpolitisiert: Durch die Verengung auf Luxemburg und Liebknecht bei deren gleichzeitiger Reduzierung auf unterkomplexe Popstars wird etliches unsichtbar. Etwa die politischen Bedingungen des Januaraufstands 1919, der bei Weitem nicht nur ein Werk der Spartakusgruppe war. Unsichtbar werden auch die vielen anderen Ermordeten des Jahres 1919. Unsichtbar wird die Rolle des Militärs, der Regierung, der Justiz, der Presse.

Verschwinden diese strukturellen Zusammenhänge aus dem Blick, verschwindet auch, was uns die Geschehnisse von damals heute sagen können. Fern und isoliert erscheinen sie dann, aus einer ganz, ganz anderen Zeit.

Doch das ist falsch.

Natürlich, 2019 ist beileibe nicht 1919, um das festzustellen reicht der oberflächlichste Blick. Und plumpe, historisch nicht haltbare Vergleiche zwischen damals und heute helfen niemandem weiter. Und doch kann die Vergegenwärtigung der aktuellen politischen Situation einen Resonanzraum bilden, in dem die Ereignisse von damals anders zum Schwingen kommen, als sie es ohne ihn täten, und umgekehrt.

Auch heute wird insbesondere eine kosmopolitische Linke zum Hassobjekt der völkischen Rechten – ein Bild, das sich dann ergibt, wenn man die Ermordeten des Jahres 1919 in den Blick nimmt, gerade auch über Luxemburg und Liebknecht hinaus. Viele von ihnen sind heute weitgehend in Vergessenheit geraten: Wolfgang Fernbach, bereits am 11. Januar von Regierungstruppen erschossen. Leo Jogiches, langjähriger Lebensgefährte Luxemburgs, im März 1919 im Gefängnis in Moabit ermordet. Eugen Leviné, im Juni im Münchener Gefängnis getötet. Alle drei stammten aus jüdischen Familien. Konterrevolutionäre Flugblätter der damaligen Zeit strotzen vor Antisemitismus.

Auch heute richten sich reaktionäre Kräfte gegen die progressiven Errungenschaften der letzten Jahre oder Jahrzehnte, indem diese als extern, als nicht zugehörig markiert werden. Damals versuchte die Rechte, die Errungenschaften von 1918 als von außen kommend zu konstruieren, auch das ein Grund für die starke Verbindung von Konterrevolution und Antisemitismus: Mit dem echten deutschen Volk habe das alles nichts zu tun.

Die Verschwörungstheorie vom Juden George Soros, der Massenmigration nach Europa finanziere und auf der ganzen Welt als von außen kommender Störer Gesellschaften durch liberalen Verfall spalten wolle, ist ein aktuelles Beispiel für dieses rechte Denkmuster.

Auch heute gibt es Fälle, in denen die Presse zu großen Teilen ungeprüft übernimmt, was die Sicherheitsbehörden verlautbaren, wie sich erst diese Woche wieder beobachten ließ. Am Tag nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts verbreitete das Wolffsche Telegrafenbüro eine Meldung, die fast wortgleich war mit der Erklärung der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die die Morde durchgeführt hatte – und die meisten Zeitungen übernahmen diese Agenturmeldung ungeprüft.

Auch heute gibt es rechten Terror. Auch heute gibt es rechten Terror, der von Sicherheitsbehörden mindestens gedeckt, wenn nicht sogar befördert wird, von staatlichen Stellen vertuscht. Und das gilt nicht nur für den NSU. Die, die davon betroffen sind, wissen das.

Für viele aber, die von diesem rechten Terror und insbesondere den staatlichen Verstrickungen nicht betroffen sind, sind diese Tatsachen auch heute noch eine unbequeme, eine ungemütliche Wahrheit, so wie es auch unbequem und ungemütlich ist, zu fragen, was uns die Ereignisse von damals über heute sagen und umgekehrt. Ungemütlich ist auch die Beschäftigung mit der Ernsthaftigkeit, der Konsequenz der damaligen Revolutionäre – nicht nur derer, die mit flammenden Reden berühmt geworden sind, sondern auch derer, die in jahrelanger Organisationsarbeit in den Fabriken überhaupt erst die Basis für die massenhaften Streiks und Aufstände geschaffen haben. Denn sich diese Ernsthaftigkeit zu vergegenwärtigen, kann einem auch die eigene Inkonsequenz vor Augen führen.

Wie viel bequemer ist es da, sich etwa aus dem Werk Luxemburgs nur dieses eine Zitat herauszunehmen, das davon handelt, dass Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden sei. Wie viel bequemer, dessen damalige Aussagekraft dann so lange zu verwässern, bis nichts mehr übrig bleibt, als dass man doch irgendwie für alles Toleranz aufbringen müsse, dass das Wichtigste sei, die AfD nur ja nicht von irgendeinem ,,demokratischen Diskurs" auszuschließen. Wie viel bequemer, sich darauf zurückzuziehen, dass nichts, aber auch gar nichts von dem, was damals passiert ist, im Heute wiederzufinden sei, schließlich haben wir doch jetzt das Grundgesetz, und dass etwa die Sicherheitsbehörden lügen oder selbst vor Gericht nicht immer Recht gesprochen wird, das gibt es schlicht nicht mehr.

Sich der enormen Errungenschaften des Heute bewusst zu sein, zu denen selbstverständlich auch das Grundgesetz zählt, und trotzdem nicht in diese Bequemlichkeit zu verfallen, ja sogar aktiv gegen sie anzukämpfen, kann sehr ermüdend sein. So wie es ermüdend sein kann, das Andenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gegen entpolitisierenden Personenkult und Geschichtsverdrehung zu verteidigen.

Aber gleichzeitig kann man aus diesem Gedenken auch Kraft schöpfen für genau diese Kämpfe – und deswegen kann es sich trotz allem auch sehr richtig anfühlen, eine Nelke durch einen kalten Vormittag im Januar zu tragen.


Aus: "100 Jahre Luxemburg und Liebknecht - Ungemütliches Gedenken" Malene Gürgen, Redakteurin taz.berlin (11. 1. 2019)
Quelle: http://www.taz.de/100-Jahre-Luxemburg-und-Liebknecht/!5559801/

QuoteHaresu

Was doch vor allem auffällt ist wie umkämpft das Thema weiterhin ist. Nach 100 Jahren könnte dies eigentlich überraschen, offensichtlich aber muss sich die bürgerliche Sozialdemokratie immer noch und auch weiterhin an diesem Thema abarbeiten. Dabei schrammt man gerne reichlich knapp an der Rechtfertigung der Morde vorbei, sie gelten im allgemeinen als bedauerliche Begleitumstände einer notwendigen Abwehr eines antiparlamentarischen wenn nicht antidemokratischen Aufstandes. Gerne wird behauptet, man habe damals die Demokratie gerettet, mit Wirkung bis heute hin. Letzteres ist natürlich Unsinn, denn die nie wirklich lebendig gewordene und schwach gebliebene Demokratie von Weimar hat ja ziemlich schnell und wohl auch folgerichtig zu Hitler geführt und von dem mussten wir uns dann erst einmal wieder befreien lassen. Man muss sich jedenfalls fragen, ob der damalige Aufstand nicht vielleicht doch auch eine vergebene Chance darstellt, oder andernfalls, ob er wirklich so gefährlich war und wieso seine Niederschlagung heute immer noch so vehement verteidigt werden muss.


Quotefinches

Sehr gut dokumentiert in "Der Verrat" von Sebastian Haffner. Gemeint ist der Verrat der SPD an der Arbeiterklasse. Haffner war selbst Parteimitglied.


Link

#42
"Matrosen - und Arbeiteraufstand, Rätebewegung und die Politik Gustav Noskes"
Klaus Kuhl - 9. November 2018, Seminar IG Metall Küst
http://kurkuhl.de/docs/novemberrev_IGM-folien_181109_v01_gekuerzt.pdf

---

"NS-Regime in Wien: Im Haus des Terrors" Niko Wahl (1. Februar 2019)
Im Wiener Landesgericht wurde 1947, zwei Jahre nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur, eine Ausstellung mit dem Titel Tausend Gestapohelfer werden gesucht eröffnet. 1000 Fotoporträts von Verdächtigen waren zu sehen und ein Modell des ehemaligen Luxushotels Metropol, in dem die Nationalsozialisten die Gestapo-Leitstelle Wien untergebracht hatten. Die Fotos und das Modell sollten es Zeugen und Opfern ermöglichen, möglichst genaue Aussagen zu den NS-Tätern zu machen, die für die Nachkriegsjustiz ansonsten nur schwer zu überführen waren.
Während die Ausstellung gezeigt wurde, standen immer noch ruinenhafte Überreste des ehemaligen Hotels, das bei Bombenangriffen im Jänner und März 1945 schwer beschädigt worden war. Der größte Teil der Akten und Karteien war jedoch längst nicht mehr vorhanden – die Gestapo hatte einen großen Teil des belastenden Beweismaterials in den Heizkesseln des Hauses vernichtet. Basierend auf den wenigen überlieferten Beständen und der Forschung der letzten Jahre stellt jetzt ein neues Buch der Historiker Elisabeth Boeckl-Klamper, Thomas Mang und Wolfgang Neugebauer Struktur und Aufgabenbereiche der Wiener Gestapo vor, welche die größte regionale Leitstelle im "Dritten Reich" darstellte. ...
Täglich wurden bis zu 500 Menschen zur Einvernahme in die Gestapo-Zentrale vorgeladen oder nach erfolgter Festnahme eingeliefert. Karl Ebner, der Stellvertretende Gestapo-Leiter, sprach später zynisch von einem "Parteienverkehr" von insgesamt über 50.000 Personen. Aus den Hotelzimmern waren Büros und Verhörräume geworden, im Erdgeschoss und im Keller wurden Häftlingszellen errichtet. Die ehemalige Personaltreppe diente nun als Häftlingsstiegenhaus und war bis zum 5. Stock vergittert, damit die verzweifelten Verfolgten an einem Sprung in die Tiefe gehindert wurden.
Der "Parteienverkehr" betraf ein breites Panorama: politische Gegner der NS-Diktatur, Juden, Widerstandskämpfer, sogenannte Asoziale und "Arbeitsunwillige", Leute, die feindliche Radiosender gehört hatten, Homosexuelle und Personen, die verbotene Beziehungen zu Kriegsgefangenen unterhalten oder sich gegen das Regime ausgesprochen hatten und denunziert worden waren. ...
Die Arbeit der Gestapo radikalisierte sich zusehends. Auf die Massenverhaftungen und Exzesse der Anfangszeit folgten gezielte Verhaftungen und KZ-Deportationen sowie eine zunehmend härtere Gangart in der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung, des kommunistischen Widerstandes und schließlich der zahlreichen vor allem osteuropäischen Zwangsarbeiter in Wien.
Die schärfste Waffe der Gestapo war der Einsatz von V-Leuten und Spitzeln – der Großteil des organisierten Widerstandes war von ihnen unterwandert und wurde mit ihrer Hilfe ausgeforscht und zerschlagen. ...
https://www.zeit.de/2019/06/ns-regime-wien-gestapo-dienststelle-unterdrueckung-widerstand

--

Walter Grab (* 17. Februar 1919 in Wien; † 17. Dezember 2000 in Tel Aviv) war ein israelischer Historiker. Walter Grab entstammte einer gutbürgerlichen Familie. Nach dem Abitur 1937 studierte er ein Semester Jura u. a. bei Heinrich Mitteis an der Universität Wien. Nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich emigrierte er 1938 nach Palästina. Das Verhältnis zu seiner neuen Heimat Israel blieb ein Leben lang distanziert. Grab gefielen weder die Sprache noch die Kultur noch die israelische Politik. Bis 1962 war er Grossist im Geschäft seiner Eltern. Grab studierte an der Hebräischen Universität Jerusalem und an den Universitäten Tel Aviv und Hamburg Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft. 1965 promovierte er in Hamburg bei Fritz Fischer über Demokratische Strömungen in Hamburg und Schleswig-Holstein 1792–1799. Von 1965 bis 1970 war er Dozent für Neuere europäische Geschichte an der Universität Tel Aviv. 1970 wurde er dort außerordentlicher und 1972 ordentlicher Professor. 1971 gründete er das Institut für Deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv und war bis zu seiner Emeritierung 1986 dessen Leiter und Herausgeber von dessen Jahrbuch. 1977/1978 und 1984/1985 hatte er Gastprofessuren in Duisburg und Hamburg. Die Universität Duisburg verlieh ihm 1985 den Ehrendoktor-Titel, 1994 erhielt er die Ehrenmedaille der Bundeshauptstadt Wien in Gold.
Seine Schwerpunkte waren die Erforschung demokratischer Strömungen in Deutschland von der Französischen Revolution bis zur Revolution von 1848/49, Heinrich Heine sowie Probleme deutsch-jüdischer Emanzipationsgeschichte.
https://de.wikipedia.org/wiki/Walter_Grab

22. Jahrgang | Nummer 3 | 4. Februar 2019
Walter Grab 100 von Mario Keßler, New York
Zu erinnern ist an den israelischen Historiker Walter Grab, der am 17. Februar 1919 in Wien geboren wurde und am 17. Dezember 2000 in Tel Aviv starb. Die Französische Revolution und ihr Widerschein in Deutschland, die demokratischen Bewegungen im Vormärz, das Schicksal der deutschen und österreichischen Juden sowie die Chancen und Perspektiven der Arbeiterbewegung waren die Schwerpunkte seiner Forschung, die in zwanzig Büchern ihren Ausdruck fanden. ...
https://das-blaettchen.de/2019/02/walter-grab-100-47115.html

"Walter Grab" (28. Dezember 2000)
In seinem spannend erzählten Buch Ein Volk muß seine Freiheit selbst erobern zieht er 1984 in einer Reihe von Porträts und Einzelstudien die Summe seiner Arbeit. Es sagt alles über unsere pausbäckige, hohlbirnige "Berliner Republik", dass dieses Werk, das in jeden Bücherschrank gehört, heute nicht mehr lieferbar ist. ...
https://www.zeit.de/2001/01/Walter_Grab


"Rezension: Sachbuch : Und wünschte, kein Bürger zu sein" (01.04.2000)
Die Geschichte des deutschen Judentums ist für das Verständnis der Moderne bedeutsam, weil sich an ihr das Scheitern mancher Utopien studieren lässt. Ein Jude, der 1919 in Wien geboren wurde und 1938 nach Palästina fliehen musste, in den sechziger Jahren bei Fritz Fischer über demokratische Strömungen im Hamburg zur Zeit der Französischen Revolution promovierte und in Tel Aviv zu einem Pionier der deutschen Jakobinerforschung wurde, bietet da reiches Anschauungsmaterial. ...
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezension-sachbuch-und-wuenschte-kein-buerger-zu-sein-11304122.html

Link

"US-Flieger: Vergessene Opfer der NS-Lynchjustiz" Karin Krichmayr (15. Juni 2018)
Hunderte alliierte Fliegersoldaten wurden von einer aufgestachelten Menschenmenge gelyncht. Viele andere sind bis heute vermisst ... In der letzten Kriegsphase nutzte die NS-Propaganda die Angst vor den immer intensiveren Fliegerangriffen der Alliierten und rief zu einer kollektiven Rache an den "Terrorfliegern" auf. "Die Piloten wurden als Verbrecher und Ungeheuer dargestellt, die Frauen und Kinder töten und Kulturgüter zerstören", schildert Goll. Im Mai 1944 erklärte die NS-Regierung Lynchjustiz offiziell als legitim. "Es wurde explizit zur Gewalt aufgerufen, ohne Konsequenzen für die Täter", sagt Goll. ...
https://derstandard.at/2000081556412/US-Flieger-Vergessene-Opfer-der-NS-Lynchjustiz

Quote
AcaZ 18. Juni 2018, 12:22:06

mich wundert es nicht dass Piloten so behandelt wurden, schließlich haben die allierten mit dem gezielten bombardieren der Zivilbevölkerung absichlich auch zivilisten (demoralisierung) getötet - Kriegsverbrechen. die damalige Zeit war eben alles andere als "menschlich".


Quote

Artefix

19. Juni 2018, 14:08:34

Ich kann nur die Worte "aufrechnen" und "relativieren" nicht mehr hören. Die Alliierten haben bewusst den Tod von Zivilisten durch Massenbombardierungen herbeigeführt. Auch wenn z.B. ein Familienvater den Mörder seiner Tochter im Gerichtssaal erschießt, ist es zwar verständlich, aber trotzdem Mord.


Quote
König657
17. Juni 2018, 00:37:21

... Ich bin echt bestürzt über die Postings hier und das fehlende Mitgefühl. Die Flieger sind nicht nach Europa gekommen, um Frauen und Kinder zu ermorden, sondern um gegen Nazi-Deutschland zu kämpfen, um uns von den Nazis zu befreien. Wie anders würde Europa heute aussehen, wenn diese Menschen nicht ihr Leben eingesetzt hätten. Und dann gibt es über 70 Jahre später hier Leute, die tatsächlich sagen: naja, die werden den Tod schon verdient haben. Merkt ihr nicht, daß ihr Mord rechtfertigt?


-

"Die Motive hinter den NS-Gewaltexzessen" Karin Krichmayr (7. April 2019)
Wie sind Menschen fähig, derart grausame Massaker zu verüben, wie es während des Nationalsozialismus geschah? Historiker untersuchen die Gründe für das Eskalieren von Gewalt ... welche Motive spielten dabei eine Rolle? Fragen wie diese hat Daniel Brewing von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen in einer umfassenden Studie untersucht. Diese rückt ein bisher vernachlässigtes Kapitel der NS-Geschichte in den Mittelpunkt: die Massaker an der nichtjüdischen polnischen Zivilbevölkerung. Bis heute steht diese spezielle Form von Gewalt Brewing zufolge "im Schatten von Auschwitz" – so lautet auch der Titel des Buches, mit dem der Historiker die Randzonen der NS-Gewaltgeschichte ausleuchtet. ...
https://derstandard.at/2000100810383-1317/Die-Motive-hinter-den-NS-Gewaltexzessen

Quote
YesWeScan

das Land der Dichter und Denker wurde zum Land der Richter und Henker.


Quote
takezo 18. Juni 2018, 10:10:12

Ich verstehe zum Teil den Hass der Bevölkerung, aber auch, dass der Pilot einfach nur seinen Befehlen gehorcht hat. Es war eine dunkle Zeit, für beide Seiten. Aufarbeitung ist wichtig, aber Schuldzuweisungen bringen nichts.


Quote
Hammurapi1

Wenn ich mir die Hasskommentare anschaue.. ... die man auf diversen Seiten auf Facebook findet (die Nähe zur FPÖ ist natürlich immer rein zufällig), von ich mir sicher dass man bereits genügend Individuen gefunden hätte, die erstklassige KZ-Aufseher abgeben würden und mit einer Freude den Gashahn aufdrehen würde.
In der Schule habe ich mich immer gefragt wie Menschen so etwas nur machen können. Der Rechtsruck spätestens seit 2015 und der immense Hass, der seither umhergeifert hat es mich verstehen lassen.
Es gibt einfach massenhaft niederträchtige Menschen, die nur darauf warten von lupenreinen Rassisten für ihre Zwecke instrumentalisiert zu werden.


...


Link

#44
"Widerstandskämpfer im Ruhestand"
Dokumentation – 70 min., F 1985. Ein Film von Mosco Leví Boucault. Deutsche Synchronisation »Der Film rekonstruiert die Aktivitäten, Organisation und Zerschlagung der jüdischen Abteilung der FTP-MOI (Francs-tireurs et partisans – main d'œuvre immigrée), die vor allem in Paris massiven bewaffneten Widerstand gegen die deutschen Besatzer leistete und deren Mitglieder zunächst nur durch das berühmte Nazi-Propagandaplakat ,,Affiche rouge" Namen und Gesicht bekamen. Als ,,Des ,terroristes' à la retraite" 1985 auf dem französischen Fernsehsender Antenne 2 ausgestrahlt wurde, provozierte er heftige Kontroversen. Dabei ging es in erster Linie nicht um die so lang vernebelte französische Kollaboration (hier hatte ja insbesondere Marcel Ophüls schon 1969 mit seinem Dokumentarfilm ,,Das Haus nebenan" Vorarbeit geleistet), sondern um das Verhältnis der französischen Kommunisten zu ihren, meist zugewanderten, jüdischen Kampfgefährten: Der durch den Film geäußerte Verdacht allerdings, der PCF – die der FTP-MOI übergeordnete Kommunistische Partei Frankreichs – hätte die Gruppe im Verlauf des Jahres 1943 aus nationalistischen Motiven auflaufen lassen und damit ihren Verfolgern ausgeliefert, scheint heute, folgt man beispielsweise den Autoren von ,,L'Affiche Rouge – Immigranten und Juden in der französischen Résistance" (Verlag Schwarze Risse, 1994), weitgehend ausgeräumt. Dem neuesten Forschungsstand Rechnung tragend wurde der Film deshalb nachträglich durch Schnitte in seinen Aussagen etwas entschärft und um einige Minuten gekürzt. Was dann vom Film immerhin noch übrig bleibt, ist schlicht und ergreifend: eine Würdigung des jüdischen Widerstandes, die lange Zeit auf sich warten ließ.«
https://youtu.be/Uqg11c7SUik | http://dokarchiv.blogsport.de/2017/02/10/des-terroristes-a-la-retraite-widerstandskaempfer-im-ruhestand/

-


"Gabriel Bach: "Er war so besessen, dass er sich sogar über Hitler hinwegsetzte""
Am 11. April 1961 begann der Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator der Schoah. Gabriel Bach, stellvertretender Ankläger, kam ihm sehr nah. Und an seine Grenzen.
Interview: Ron Ulrich (11. April 2019)
https://www.zeit.de/kultur/2019-04/gabriel-bach-prozess-adolf-eichmann-kindheit-flucht/komplettansicht


-

"Mira Kimmelman, Holocaust survivor, speaker and author, dies at 95" Kristi L Nelson Knoxville News Sentinel (Published 11:23 AM EDT Apr 19, 2019)
What Mira Ryczke Kimmelman survived as a young European Jewish woman during the Holocaust could only be called horrific. For 20 years, she couldn't even speak of it. ... She was 15 years old and living with her parents, Moritz and Eugenia, and younger brother Benno near Danzig, now Gdansk on the Polish coast, at the start of World War II. Already expelled from school because she was Jewish, and threatened by the members of Hitler Youth who blocked the synagogue doors to beat Jews coming for services, she was among those driven from town two days after the war started in 1939. ...
https://eu.knoxnews.com/story/life/2019/04/18/mira-kimmelman-oak-ridge-holocaust-survivor-dies/3507033002/


"Zum Tod von Mira Kimmelman : Das Mädchen und sein Foto" Katja Petrowskaja (01.05.2019)
Danzig, 1930: ein Mädchen auf dem Weg zur Einschulung. Mira Ryczke-Kimmelman wird dieses Foto immer bei sich tragen, im Warschauer Getto, in den Konzentrationslagern Majdanek, Auschwitz, Bergen-Belsen. Jetzt ist sie gestorben, mit 95 Jahren. ...
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/katja-petrowskaja-ueber-die-holocaust-ueberlebende-mira-ryczke-kimmelman-16160573.html




Link

#45
"Erinnerungskultur : "Auf subtile Weise mit dem NS-Regime kooperiert"" Interview: Kilian Trotier (8. Mai 2019)
74 Jahre sind seit dem Zweiten Weltkrieg vergangen. Doch ausgerechnet die Geschichtsvereine haben die Zeit immer noch nicht aufbereitet – dabei kooperierten sie selbst mit dem NS-Regime. Der Historiker Gunnar B. Zimmermann hat erforscht, wie sich der Verein für Hamburgische Geschichte unterm Hakenkreuz verhalten hat. "Bürgerliche Geschichtswelten im Nationalsozialismus" heißt seine über 700 Seiten starke Studie. Hier erzählt er, was er über die Hamburger Historiker und Archivare herausgefunden hat. ...
https://www.zeit.de/hamburg/2019-05/geschichtsverein-hamburg-ns-zeit-gunnar-zimmermann

-

They Shall Not Grow Old ist ein dokumentarischer Film von Peter Jackson über den Ersten Weltkrieg, der am 16. Oktober 2018 im Rahmen des London Film Festivals seine Premiere feierte. Jackson verwendete hierfür historisches Filmmaterial, das er kolorierte und dem er Stimmen hinzufügte. Die Fernsehpremiere war am 11. November 2018 auf BBC Two. In den Vereinigten Staaten lief der Film am 17. Dezember 2018 in den Kinos an. Am 27. Juni 2019 folgte der Kinostart in Deutschland.
https://de.wikipedia.org/wiki/They_Shall_Not_Grow_Old

They Shall Not Grow Old – New Trailer – Now Playing In Theaters
https://youtu.be/IrabKK9Bhds

Director Peter Jackson on his new WW1 documentary film (10.10.2018)
https://youtu.be/OXMhv7E0o7c

-

Quote[...] Der Reichstagsbrand war der Brand des Reichstagsgebäudes in Berlin in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933. Der Brand beruhte auf Brandstiftung. Am Tatort wurde Marinus van der Lubbe festgenommen. Bis zu seiner Hinrichtung beharrte van der Lubbe darauf, den Reichstag allein in Brand gesetzt zu haben. Seine Alleintäterschaft schien bereits vielen Zeitgenossen unwahrscheinlich und wird weiterhin kontrovers diskutiert. Kritiker der Alleintäterthese vermuten eine unmittelbare Tatbeteiligung der Nationalsozialisten.

Unbestritten sind die politischen Folgen. Bereits am 28. Februar 1933 wurde die Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat (Reichstagsbrandverordnung) erlassen. Damit wurden die Grundrechte der Weimarer Verfassung de facto außer Kraft gesetzt und der Weg freigeräumt für die legalisierte Verfolgung der politischen Gegner der NSDAP durch Polizei und SA. Die Reichstagsbrandverordnung war eine entscheidende Etappe in der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur.  ...

Im Zuge der Forschungen über die Anfänge des LKA in Niedersachsen tauchte im Jahre 2019 im Nachlass von Fritz Tobias die Eidesstattliche Erklärung des SA-Mannes Hans-Martin Lennings aus dem Jahre 1955 auf, in der dieser erklärt, er habe van der Lubbe zum Reichstag gefahren. Zu diesem Zeitpunkt habe es dort bereits nach Brand gerochen und es seien Rauchschwaden zu sehen gewesen. Später hätten er und seine Kameraden gegen die Verhaftung van der Lubbes protestiert, weil er seinen Beobachtungen nach nicht der Brandstifter habe gewesen sein können. Daraufhin seien seine Kameraden und er in Schutzhaft genommen worden ,,und mussten einen Revers unterschreiben mit dem Inhalt, dass wir von nichts etwas wissen".[53][54][55][56] Sven Felix Kellerhoff hält diese Darstellung für unglaubwürdig, da sie den Ermittlungsakten widerspreche. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Reichstagsbrand (27. Juli 2019)

"Neues zum Reichstagsbrand: Die ,,Legende" vom Einzeltäter wackelt erheblich" Conrad von Meding im Gespräch mit Axel Rahmlow (Beitrag vom 26.07.2019)
https://www.deutschlandfunkkultur.de/neues-zum-reichstagsbrand-die-legende-vom-einzeltaeter.1008.de.html?dram:article_id=454909

Quote[...] Dem Dokument aus den Archiven des Amtsgerichts Hannover zufolge, aus dem das Redaktionsnetzwerk Deutschland zitiert, sagte der ehemalige SA-Mann, er habe van der Lubbe, der einen benommenen Eindruck machte, mit einem Auto von einem SA-Lazarett zum Reichstag gefahren. Bei der Ankunft dort sei ihm und seinen Kollegen aufgefallen, «dass ein eigenartiger Brandgeruch herrschte und dass auch schwache Rauchschwaden durch die Zimmer hindurchzogen».

Später, so erklärt der SA-Mann in seiner Versicherung, deren beglaubigte Abschrift der Deutschen Presse-Agentur vorliegt, hätten er und seine Kameraden gegen die Verhaftung van der Lubbes protestiert. «Weil nach unserer Überzeugung van der Lubbe unmöglich der Brandstifter gewesen sein konnte, da ja nach unseren Feststellungen der Reichstag schon in Brand gesetzt sein musste, als wir van der Lubbe dort ablieferten».

Wegen ihres Protestes seien seine Kameraden und er in Schutzhaft genommen worden «und mussten einen Revers unterschreiben mit dem Inhalt, dass wir von nichts etwas wissen». Später seien fast alle erschossen worden, die zum engeren Kreis der am Reichstagsbrand beteiligten Personen gehörten. Er selber, so der SA-Mann in seiner Erklärung, sei gewarnt worden und in die Tschechoslowakei geflüchtet. Die SA war eine paramilitärische Organisation der Nazi-Partei.

Die Nazis nutzten den Brand am 27. Februar 1933, um Notverordnungen gegen den «kommunistischen Aufstand» zu erlassen und die politischen Grundrechte außer Kraft zu setzen. Mit der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes verwandelte sich Deutschland dann vollends in eine Diktatur.

Die eidesstattliche Erklärung stammt von Hans-Martin Lennings (1904-1962), der sie 1955 notariell abfassen ließ für den Fall einer damals diskutierten posthumen Wiederaufnahme des Prozesses gegen van der Lubbe. Das Amtsgericht Hannover bestätigte der dpa am Freitag die Authentizität des Dokuments.

Marinus van der Lubbe, der aussagte, das Feuer im Reichstag mit Kohleanzündern allein gelegt zu haben, wurde im Dezember 1933 vom Leipziger Reichsgericht wegen Hochverrats und Brandstiftung zum Tode verurteilt und später hingerichtet. Das 1934 vollstreckte Todesurteil gegen van der Lubbe hob die Bundesanwaltschaft erst 2007 auf.

Nach dem Krieg blieb bei vielen Deutschen die Überzeugung, die Nazis hätten das Feuer gelegt. Erst Ende der 1950er Jahre gewann die These neue Nahrung, van der Lubbe allein habe den Reichstag angezündet. Der hannoversche Hobbyforscher Fritz Tobias vertrat diese Überzeugung, unterstützt vom Historiker Hans Mommsen. Der «Spiegel» startete eine Serie, in der Tobias seine Theorien über Lubbes Alleintäterschaft darlegte. Für Herausgeber Rudolf Augstein erhielt die «Jahrhundert-Legende» über eine Beteiligung der Nazis am Komplott damit den «Todesstoß».

Ausgerechnet im Nachlass von Hobbyforscher und Ex-Verfassungsschützer Tobias, so berichtet das Redaktionsnetzwerk Deutschland, sei nun eine Kopie der eidesstattlichen Erklärung des SA-Mannes entdeckt worden. Dieser hat die Erklärung demnach beiseite geschoben, um seine Alleintäter-These aufrecht zu erhalten.

Damit schützte er, wie das RND schreibt, de facto Männer, die in der NS-Zeit im Staatsdienst waren und in der Nachkriegszeit Karriere machten. Dazu habe der Kriminalbeamte Walter Zirpins gehört, der van der Lubbe verhört und die Ermittlungsprotokolle geschrieben hatte und 1951 Leiter des Landeskriminalpolizeiamts in Niedersachsen wurde, einem Vorgänger des heutigen LKA. Da das LKA derzeit seine Vergangenheit aufarbeitet, stieß es im Nachlass von Tobias auf die Erklärung.


Aus: "Erklärung legt NS-Beteiligung am Reichstagsbrand nahe" (26.07.2019)
Quelle: https://www.welt.de/regionales/berlin/article197502515/Erklaerung-legt-NS-Beteiligung-am-Reichstagsbrand-nahe.html


Link

Quote[...] Er brauche kein Schloss, sagte Georg Friedrich Prinz von Preußen im Sommer 2005. Ihm sei wichtig, dass seine Familie als Institution wahrgenommen werde, und das ginge auch, wenn er "mit Laptop im Café" sitze. Von Preußen, sagte er damals Cicero, "bleibt vor allem der kulturelle Nachlass meiner Vorfahren und ich bemühe mich, diesen möglichst komplett zu erhalten. Ich bin nicht der junge Schnösel, der mit dem Lieferwagen vorfährt, um Museen auszuräumen. Ganz im Gegenteil." Das ist 14 Jahre her. Nun aber wurden Informationen aus den Verhandlungen der öffentlichen Hand mit den Hohenzollern publik, die den Verdacht nähren, es ginge dem Herrn Prinz von Preußen in erster Linie um ein Schloss und kräftigen Reibach.

Seit mehreren Jahren laufen Gespräche zwischen den Ländern Berlin und Brandenburg sowie dem Bund einerseits und dem Haus Hohenzollern andererseits über das Eigentum an Kunst- und Sammlungsgegenständen, Archivalien, Memorabilien, Immobilien. In einem ersten Schritt wurde geprüft, worüber überhaupt verhandelt werden muss. Das war aufwendig und geschah, so sagen Beteiligte, in konstruktiver Atmosphäre. Dann aber, im Frühjahr dieses Jahres, übermittelte das Haus Hohenzollern, dem Georg Friedrich Prinz von Preußen seit 1994 vorsteht, Maximalforderungen, verlangte eine Entschädigung für enteignete Schlösser wie Schloss Rheinsberg, wünschte dauerhaftes, unentgeltliches Wohnrecht in Schloss Cecilienhof, in der Potsdamer Villa Liegnitz oder in Schloss Lindstedt, erhob Anspruch auf Gemälde, Skulpturen, Münzen, Möbel - etwa die kostbaren aus der Werkstatt David Roentgens, und vieles mehr aus dem Besitz der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, der Stiftung preußischer Kulturbesitz und des Deutschen Historischen Museums, insgesamt eine Zahl im vierstelligen Bereich. "Geht's noch?", hätten sich die Vertreter der öffentlichen Hand angesichts dieser Forderungen gefragt, sagt einer von ihnen. Die Familie hoffe offenbar, wenn sie jetzt hohe Forderungen stelle, werde man sich später schon in der Mitte treffen.

Druck übt sie unter anderem durch die zahlreichen Werke aus ihrem Besitz aus, die als Leihgaben in öffentlichen Museen hängen. Die Leihverträge dafür ließ sie 2015 auslaufen. Sie könnte die Werke also jederzeit kurzfristig abziehen. Was die Familie aber offenbar nicht berücksichtigt hat, ist die schon jetzt große öffentliche Empörung, die noch lauter würde, wenn sie die an öffentliche Häuser verliehenen Werke dort tatsächlich von den Wänden nehmen ließe.

Markus Hennig, der die Hohenzollern in der Auseinandersetzung anwaltlich vertritt, sagte der SZ, es handele sich um "ganz normale zivilrechtliche Ansprüche". Auch habe man keineswegs die Absicht, die Museen leer zu räumen und die Objekte privat zu "verwerten".

Nach Prüfung und Beratungen schrieb Günter Winands aus dem Haus der Kulturstaatsministerin im Juni 2019 an den Hohenzollern-Chef, "dass wir - die Vertreter Berlins, Brandenburgs und des Bundes sowie der drei Kultureinrichtungen - übereinstimmend in den von Ihnen übersandten Unterlagen keine hinreichend geeignete Grundlage für erfolgversprechende Verhandlungen sehen". Dennoch wolle man sich am 24. Juli wieder treffen.

Auch wenn die Forderungen der Hohenzollern in den drei Einrichtungen weniger als 0,1 Prozent der Sammlungen betreffen, wären die Verluste doch schmerzhaft. Gestritten wird etwa um eine der großartigen Stadtansichten Eduard Gaertners oder das Porträt Joachims II. von Lucas Cranach dem Jüngeren. Nicht hinzunehmen wäre die verlangte Ausgliederung von Teilen des Königlichen Hausarchivs und der fürstlichen Bibliotheken. Der Historiker Thomas Stamm-Kuhlmann, der eine Biografie Friedrich Wilhelms III., des Königs der Reformzeit, verfasst und die Tagebücher des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg ediert hat, betont, wie wichtig der freie Zugang zu den Nachlässen im Hausarchiv sei. Das Gesetz von 1926, mit dem der damals sozialdemokratisch regierte Freistaat Preußen und das Haus Hohenzollern die Vermögensfragen regelte, sah eine gemeinsame Verwaltung des Archivs vor. Aber wäre die Familie derzeit in der Lage, die Hälfte der Kosten zu übernehmen, wie es 1926 vereinbart war?

Ein zentraler Streitpunkt ist das Hohenzollernmuseum. Es wurde 1877 im Berliner Schloss Monbijou eröffnet und bot eine das Herrscherhaus verklärende Darstellung des höfischen Lebens. Nach der erzwungenen Abdankung Wilhelms II. blieb es geschlossen, bis man sich darauf einigte, dass die Objekte im Besitz der Hohenzollern verbleiben sollten, der Staat das Museum wieder eröffnen werde und die Sammlungsgegenstände als Leihgaben erhalte. Die DDR ließ das im Krieg schwer beschädigte Schloss abreißen, die Objekte kamen in Museen und zur Schlösserverwaltung. Um das Jahr 2004 gab es Pläne, in Charlottenburg ein neues Hohenzollernmuseum einzurichten, aber daraus wurde nichts. Nun wünschen die Hohenzollern nicht nur die Errichtung eines Hohenzollernmuseums, sondern auch Einfluss auf dieses, also auf die mit Steuergeld zu bezahlende Geschichtsdarstellung. Darauf einzugehen hieße, das kultur- und geschichtspolitische Selbstverständnis der Republik infrage zu stellen. "Ich glaube, noch der Konservativste im Bund sagt dazu: Ihr tickt ja wohl nicht richtig", meint einer der an den Verhandlungen Beteiligten.

Bereits in den Neunzigerjahren versuchte das Haus Hohenzollern Immobilien zurückzuerhalten, die auf Befehl der Sowjetischen Militär-Administration in Deutschland (SMAD) beschlagnahmt und 1948 enteignet wurden. Das Verwaltungsgericht Potsdam wies die Klage damals zurück, die Rechtslage sei "glasklar". Den Bestand dieser Enteignungen hat das Bundesverfassungsgericht 1991 und 1996 bestätigt. Dies betrifft jedoch nicht die Kunst- und Ausstattungsobjekte aus Schlössern und Herrenhäusern. Die öffentliche Hand und das Haus Hohenzollern bewerten die Eigentumsfragen sehr unterschiedlich.

Berlin, Brandenburg und der Bund haben sich auf die Gespräche eingelassen, um lange Prozesse zu vermeiden. Tief im Westen wurde vor wenigen Wochen die Klage der Hohenzollern auf Rückgabe der Burg Rheinfels zurückgewiesen, aber der Rechtsstreit könnte durch mehrere Instanzen gehen. Dass nun auch im Konflikt mit Berlin und Brandenburg so spät noch Maximalforderungen erhoben werden, erklärt der Anwalt Markus Hennig damit, dass erst nach der Vereinigung die Archive ausgewertet werden konnten.

Schon vor Jahren wurde bekannt, dass die Verwaltung des einstigen Herrscherhauses nicht immer genau im Bilde ist. Watteaus Gemälde "Einschiffung nach Kythera" haben die Hohenzollern 1983 für 15 Millionen Mark an die West-Berliner Museen verkauft. Der Kunsthistoriker Guido Hinterkeuser veröffentlichte 2012 Dokumente, die nahelegen, dass die Hohenzollern dieses Bild schon einmal, in den Zwanzigern, an Preußen verkauft haben.

Was wollen die Hohenzollern mit dem Kulturgut unternehmen, das ihnen eventuell zugesprochen wird? Es trotz gegenteiliger Versicherungen verkaufen? Der öffentlichen Hand, die das preußische Kulturerbe besser pflegt und erforscht als es je unter einem Hohenzollernherrscher der Fall war, Geld abpressen? Der Präsident der Preußenstiftung, Hermann Parzinger, sagt, es liege ein mit viel Aufwand erstelltes Kompromissangebot vor. Es habe sich aber gezeigt, dass die Vorstellung des Hauses Hohenzollern weit darüber hinaus gehen. Es gelte, "die Verhandlungen mit Augenmaß und gegenseitigem Respekt weiterzuführen".


Aus: "Hohenzollern-Kulturerbe: Der Prinz macht Ernst" Jens Bisky (16. Juli 2019)
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/kultur/hohenzollern-kulturerbe-streit-1.4525411

-

Quote[...]
   * Ausgelöst durch Forderungen aus dem Hause Hohenzollern sind alte Fragen zum Verhältnis von konservativen Eliten und NS-Staat erweckt worden.

    * Eines steht mittlerweile fest: Der adelige Widerstand war wesentlich kleiner als allgemein angenommen.

    * Deutungen, nach denen die Hohenzollern der NS-Bewegung fernstanden, erscheinen nach aktuellem Forschungsstand abenteuerlich.


Wer von Preußentum spricht, soll zunächst an stillen und unpersönlichen Dienst, aber erst zuletzt, am besten gar nicht, an Lohn und Anerkennung denken." Dieser Satz wurde in einer Rede am 17. Juli 1934 gegen die Usurpation preußischer Ideale durch ein Regime der Maßlosigkeit gerichtet - zehn Jahre vor Stauffenbergs Attentat auf Hitler.

Vorgetragen wurde die Rede an der Universität Marburg in Gestalt Franz von Papens durch den wohl wichtigsten Wegbereiter Hitlers, geschrieben und als Beginn eines Staatsstreichs geplant jedoch von einem kleinen Kreis konservativer Frondeure. Der Redenschreiber Edgar Julius Jung gehörte zu einer kleinen Gruppe scharfsinniger Anti-Demokraten, die das NS-Regime zunächst unterstützt, sich jedoch früh von ihm abgewendet hatten. Einige dieser Männer gehörten zu den ersten konservativen Opfern des NS-Regimes. Sie verlieren ihr Leben in den als "Nacht der langen Messer" bekannten Mordaktionen Ende Juni 1934.

Die Marburger Rede lässt sich als einer der seltenen öffentlichen Manifestationen konservativer Opposition gegen das NS-Regime lesen. Als Aufleuchten der Potenziale, die konservative Funktionseliten gegen das Regime hätten einsetzen können. Und nicht einsetzten.

Fünfundachtzig Jahre später und während der vergangenen Wochen entstand bei Beobachtern Zweifel, ob die im Zitat formulierten Leitlinien im ehemaligen preußischen Herrscherhaus noch erinnert werden. Ausgelöst durch Forderungen aus dem Hause Hohenzollern sind alte Fragen zum Verhältnis von konservativen Eliten und NS-Staat erweckt worden - und in diesen Sommer getreten wie ein Gespenst.

Dabei haben sich diese Forderungen und der 75. Jahrestag des Hitler-Attentats zeitlich überlagert. Erstere sind mit der Geschichte des Dritten Reichs deshalb verbunden, weil das maßgebliche Gesetz aus dem Jahre 1994 Entschädigung ausschließt, wenn der Begünstigte dem NS-Regime "erheblichen Vorschub geleistet hat". Lange Zeit vertraulich geführte Verhandlungen werden nun öffentlich debattiert. Dabei bilden zwei Zeitschnitte, Januar 1933 und Juli 1944 - die Machtübergabe an die Nationalsozialisten und der scheiternde Staatsstreich des 20. Juli 1944 - Nadelöhre für die Interpretation deutscher Geschichte. Jeder Versuch, das Verhältnis konservativer Eliten zum NS-Staat zu analysieren, muss sie passieren. Und in starker Vereinfachung sind es zwei Fragen, die der Gesetzgeber 1994 in §1 Absatz 4 des Ausgleichsleistungsgesetzes versteckt hat: Wer hat das Dritte Reich gemacht und betrieben? Wer waren seine Gegner?

Die Machtübergabe des 30. Januar 1933 war bekanntlich ein Arrangement zwischen Konservativen und Nationalsozialisten. Im ersten Kabinett Hitler sitzen nicht mehr als drei Nationalsozialisten, alle anderen Minister sind konservative und parteilose Mitglieder der alten Eliten. Polizei, Gerichte, Universitäten, Ministerien, Auswärtiges Amt und vor allem das Offizierskorps werden zunächst nicht von "Nazis" geführt, sondern von Mitgliedern der Funktionseliten, ohne die weder das Dritte Reich noch später die Wehrmacht weit gekommen wären. Die Zerschlagung des Parlaments, der unabhängigen Presse, der demokratischen Parteien, der mächtigsten Gewerkschaften Europas, die Zerstörung der Demokratie, die im Ermächtigungsgesetz vom März 1933 einen ersten Höhepunkt fand, gehörten ebenso zu dieser gemeinsamen Geschäftsgrundlage wie die antisemitische Weltsicht.

In dieses politische Umfeld wäre auch die Mehrheit der Hohenzollern einzuordnen. Zumindest auf der Ebene der Darstellung ließe sich der unglücklich agierende "Kronprinz" als Symbolfigur für das Elend des deutschen Konservativismus verstehen, als Symbol jener Kollaboration, die Hitler den Zugriff auf den Staatsapparat ermöglichte. Am sogenannten Tag von Potsdam leisten der Kronprinz und seine Familie im März 1933 symbolisch wichtige Beiträge, um den Bund von NS-Bewegung und konservativen Kräften in gewaltigem Spektakel darzustellen.

Gleichzeitig wird nordwestlich von München eine Institution neuen Typs eröffnet, Dachau, das erste systematisch geführte Konzentrationslager. Dem genialen Führer solle man Zeit für seine "Aufräumarbeiten" lassen, schrieb der Kronprinz in antisemitischem Zungenschlag am 11. April 1933 an den amerikanischen Superstar Geraldine Farrar, "Heil Hitler!" zeichnend und mit einer Abschrift an Joseph Goebbels.

Hannah Arendt konstatierte für das Dritte Reich eine "Heldenverehrung der Gangster von Seiten der Elite, die Bewunderung jeglicher Grausamkeit, das Bündnis schließlich aller Deklassierten". Am Kronprinzen lässt sich studieren, wie präzise Arendts Sicht auf den Zusammenbruch einer Zivilisation war. Zwei simple Fragen helfen bei der Orientierung: Wer sitzt Mitte 1933 im Kabinett, wer sitzt im KZ?

Wer über viele Jahre Europas Geschichte unterrichtet, stellt fest: Studenten aller Länder der Welt kennen Stauffenberg, einige haben von den Scholls gehört, niemand von der Berliner Widerstandskämpferin Elise Hampel, obwohl letztere Vorbild für die Heldin in Hans Falladas Roman "Jeder stirbt für sich allein" war. Wenn aber, wie etwa die Verteidiger eines monumentalen Stauffenberg-Bildes fordern, "Gewissen" die Leitkategorie zur Beurteilung von Widerstand sein soll, wäre schwer zu sehen, womit der Oberst der Wehrmacht die 21-jährige Studentin Sophie Scholl überstrahlen sollte. Für Mut, Klarheit und Haltung der jungen Frau lassen sich im Offizierskorps der Wehrmacht nicht viele Pendants finden. Gelöbnisse finden am 20. Juli statt, nicht am 18. Februar, dem Tag, da die Geschwister Scholl nach der Verteilung von Flugblättern in der Universität München verhaftet wurden.

Wie erklärt sich die Kraft des konservativen Narrativs? Heinz Reif, der wohl innovativste und vielfältigste Adelshistoriker Deutschlands, hat in seinen Arbeiten immer wieder auf die eindrucksvollen Darstellungs-Leistungen des Adels hingewiesen. Adel steht stets auch für Sichtbarkeit und Symbolisierung, nicht zuletzt für die Darstellung von Traumwelten für nicht-adlige Beobachter. Daran anschließend ließe sich die große Erzählung vom konservativen Widerstand in Teilen als Legende begreifen, die der Adel nach 1945 für das deutsche Bürgertum erzählt und dargestellt hat. Es war das Narrativ, das die junge Bundesrepublik benötigte, nicht zuletzt gegen die aggressiv vorgetragene Gegen-Deutung der DDR.

Immer wieder haben sich Historiker bemüht, die Monumentalisierung einzelner Widerstand-Biografien zu hinterfragen. Und sich etwa bemüht, das Verhältnis einzelner Verschwörer zum Antisemitismus zu beleuchten. Dazu gehören quellenbasierte Untersuchungen der genauen Aufgaben, mit denen etwa Stauffenberg, Schulenburg und Tresckow zwischen 1939 und 1942 in Polen, Weißrussland, Russland oder bei der Aufstellung der Ostheere auf dem Kaukasus befasst waren. Beim derzeitigen Forschungsstand gibt es hier eher Fragen denn Antworten. Noch wird das Bild konservativer Verschwörer von 1944 her bestimmt, nicht von 1933 oder 1941.

Das Zentrum der Aufmerksamkeit von den frühen und grundsätzlichen Gegnern des Nationalsozialismus auf die im Krieg einsetzende Opposition einer äußerst kleinen Minderheit entschlossener Wehrmachtsoffiziere umgelenkt zu haben, gehört zu den fraglos größten Leistungen der konservativen Legendenproduktionen nach 1945. Was nun Deutungen angeht, nach denen die Hohenzollern der NS-Bewegung fern standen, so haben diese bislang kaum Unterstützung erfahren.

Bereits vor drei Jahren wurden neue Quellenfunde angekündigt, die belegen sollen, dass der Kronprinz am Ende der Weimarer Republik "Hitler verhindern" wollte. Auch der Anwalt der Familie äußerte unlängst in einem Radiointerview, in der Öffentlichkeit sei bislang kaum bekannt, dass die Familie "Kontakte zum Widerstand" hatte und dass der Kronprinz von den Verschwörern "als Staatsoberhaupt auserkoren" war. Und in der Tat - selbst Fachhistorikern auf dem äußerst genau untersuchten Feld des konservativen Widerstands ist dies bislang noch nicht bekannt.

Bislang wurde diese Deutung in der Öffentlichkeit durch kein einziges Dokument erhärtet. Sollten Juristen den Kronprinzen als Widerstandskämpfer identifiziert und damit vierzig Jahre historische Spezialforschung widerlegt haben, wäre es von Gewinn, entsprechende Belege zu sehen. Die in Princeton arbeitende Historikerin Karina Urbach, deren Expertise zum Thema Hochadel und Nationalsozialismus international unübertroffen ist, hat unlängst nicht nur die Verbindung der Hohenzollern zum Nationalsozialismus betont, sondern auch die oftmals selektiven Archivzugänge diskutiert. Wo diese mit Strafanzeigen und Unterlassungsabmahnungen gegen Fachhistoriker und Medien kombiniert sind, könnten sie geeignet sein, zumindest erstere zu verunsichern.

In der Fachdebatte unter Historikern sind zwei Kernargumente abzusehen. Das erste lautet, der Kronprinz habe im Umkreis des Reichswehrgenerals Kurt von Schleicher 1932 versucht, Hitler zu "verhindern". Das zweite fußt darauf, dass er später "Verbindungen zum Widerstand" unterhalten habe. Nun sind diese beiden Erzählfiguren so alt wie die Nürnberger Prozesse und durch Wiederholung nicht glaubwürdiger geworden. Wäre die deutsche Geschichte ein im November 1932 festgefrorenes Polaroid, dann, und nur dann, ließe sich General Schleicher, der umtriebige letzte Kanzler vor Hitler, als Alternative zu Hitler lesen. Da jedoch Schleicher als einer der politisch einflussreichsten Reichswehroffiziere über zehn Jahre an der Zerstörung der Republik arbeitete und dabei eng mit der NS-Bewegung kooperierte, sieht man seiner Neuentdeckung als Schutzmann der Demokratie gespannt entgegen.

Dies gilt auch für die zweite Behauptung: Der Kronprinz habe dem Widerstand des 20. Juli nahegestanden. Zutreffend ist, dass vor allem ältere Verschwörer das Haus Hohenzollern diskutierten, um das erwartete Vakuum nach der geplanten Tötung Hitlers zu füllen. Entscheidend ist allerdings, was das Haus eben gerade nicht getan hat. "Ein Hohenzollernprinz, der den ungeheuren Mut besessen hätte, sich an die Spitze der deutschen Widerstandsbewegung zu stellen", schrieb der konservative Historiker Gerhard Ritter schon 1955, "hätte jedenfalls die historische Lage der Monarchie in Deutschland mit einem Schlage verändert."

Nur, niemand im "Haus" besaß diesen Mut. Aus Kontakten zwischen der Familie zu dem rechten Rand im Spektrum des 20. Juli eine Zugehörigkeit zum Widerstand ableiten zu wollen, erscheint beim Forschungsstand abenteuerlich. Die politische Bedeutung der Hohenzollern nach dem ersten Weltkrieg ist auch in dem zu suchen, was 1933 und 1944 nicht geleistet wurde: die Darstellung einer konservativen Alternative zum Nationalsozialismus.

Edgar Julius Jung, der Verfasser der Marburger Rede, hatte vor seiner Ermordung einem Vertrauten gegenüber geäußert, man trage für die Ermöglichung Hitlers eine partielle Verantwortung und müsse diesen Fehler nun durch eigenes Handeln korrigieren. Auch Schulenburg oder Stauffenberg wäre die mutige Klarheit dieser Position zehn Jahre später zuzutrauen. Und so formulierte der konservative Frontoffizier, Jurist und Rechtsintellektuelle Jung im Sommer 1934 präzise jene zentrale Einsicht, der sich die Verteidiger glatter und monumentaler Geschichtsbilder im Sommer 2019 weiter verschließen möchten. Ein historisches Denken, das Größe und Scheitern konservativer Traditionen ernst nimmt, müsste die Fähigkeit besitzen, Fehlkalkulationen und Bündnisse der Zeit um 1933 kritisch zu reflektieren. Wie immer der von den Hohenzollern geworfene Bumerang nun juristisch fliegen wird, er könnte dazu führen, den Lack von einigen konservativen Legenden beschleunigt abblättern zu lassen.

Der Autor lehrt an der School of History, Classics & Archeology der Universität Edinburgh.


Aus: "Wir Stauffenbergs" Gastbeitrag von Stephan Malinowski (7. August 2019)
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/kultur/adel-ns-regime-widerstand-1.4553120


Link

Quote[...] Als der Mathematiker Emil Julius Gumbel 1923 am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften der Universität Heidelberg habilitiert wurde, war er auch außerhalb seiner Zunft schon ein bekannter Mann. Nachdem er als Freiwilliger zum Kriegsgegner geworden war und 1915 seine Entlassung aus dem Militär erwirkt hatte, war er dem pazifistischen Bund Neues Vaterland beigetreten, dem Albert Einstein, Minna Cauer, Hans Paasche und Clara Zetkin angehörten. 1919 erschien ,,Vier Jahre Lüge", eine Zitatensammlung, mit der Gumbel jene Lügen entlarven wollte, mit denen ,,das kaiserliche Deutschland" Kriegshetze und Durchhaltepropaganda betrieben hatte. Gewidmet war das Werk dem britischen Kriegsdienstverweigerer Bertrand Russell, ein Hinweis auf die transnationale Ausrichtung der pazifistischen Bewegung, die sich für Gumbel später bezahlt machte: Seine Mitgliedschaft in der Deutschen Liga für Menschenrechte sollte ihm 1933 den Weg ins Exil nach Frankreich ebnen – dank der Hilfe ihres französischen Pendants.

1922 publizierte er mit ,,Vier Jahre politischer Mord" eine statistische Erhebung über diese Straftaten und ihre Verfolgung in der Weimarer Republik. Augenfällig machte er die ,,Einäugigkeit" (Christian Jansen) der Weimarer Justiz: Von 354 rechten Morden blieben 326 ungesühnt, das Strafmaß in den Verfahren zu den 22 von linken Gruppierungen verübten Morden war exorbitant höher. Schon 1919 war er den Schergen der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, die auch die Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu verantworten hatte, nur knapp entronnen, weil er zum Kongress der Friedensfreunde nach Bern gereist war. Als Hitler im Januar 1933 die Regierungsbildung übertragen wurde, forschte Gumbel in Frankreich, wenig später stand er auf einer der ersten Ausbürgerungslisten des neuen Regimes.

,,Mathematiker – Publizist – Pazifist": Sein Wirken in diesen drei Rollen würdigte jetzt eine Tagung im Universitätsarchiv Heidelberg. Wie dessen Leiter Ingo Runde sagte, kam das Archiv damit einer seiner ureigenen Aufgaben nach: die bedeutendsten Mitglieder der Universität zu würdigen. So hat die Universität Gumbel nicht immer eingeschätzt, erst zum hundertsten Geburtstag 1991 erinnerte man sich öffentlich an ihn. Zuvor hatte der Heidelberger Wunderhorn-Verlag seine Schriften neu aufgelegt.

Im Jahr 2019 begegnet Emil Julius Gumbel den Interessierten multimedial: in einer Wanderausstellung, konzipiert von einer interdisziplinären Forschungsgruppe um Matthias Scherer (TU München) und Annette Vogt (MPI für Wissenschaftsgeschichte Berlin), im Dokumentarfilm ,,Gumbels extreme Werte" von David Ruf oder im didaktischen Motion Comic ,,Eine Kohlrübe als Kriegsdenkmal". Im Herbst wird im Verlag Das kulturelle Gedächtnis Gumbels Buch ,,Verräter verfallen der Feme" (Malik 1929) neu herausgegeben. Die Emil-Julius-Gumbel-Collection ist von der Leo-Baeck-Stiftung digitalisiert worden, auch die Universitätsbibliothek Heidelberg hat eine Materialsammlung zur Verfügung gestellt.

Welchen Angriffen Gumbel sich seitens der national(sozial)istischen Studierenden, aber auch der eigenen Universität in Heidelberg ausgesetzt sah, führten Christian Jansen (Trier) und Klaus-Peter Schroeder (Heidelberg) aus. Er war ins ,,Fadenkreuz" jener Organisationen geraten, die er selbst in seiner Studie ,,Verschwörer – Beiträge zur Geschichte und Soziologie der deutschen Nationalistischen Geheimbünde seit 1918" von 1924 entlarvt hatte. In seinen Lehrveranstaltungen verlor Gumbel zwar kein Wort über Politik, aber er sprach auf pazifistischen Veranstaltungen.

Als er im Juli 1924 anlässlich des Jahrestags des Kriegsbeginns 1914 Schweigeminuten für die Toten forderte, die zwar nicht ,,auf dem Felde der Unehre gefallen sind, aber doch auf grässliche Weise ums Leben kamen", machte die nationalsozialistische Studentengruppe gegen ihn mobil. Bei der Vollversammlung zum Semesterschluss erwirkte sie eine Resolution gegen ihn, die Philosophische Fakultät leitete ein Disziplinarverfahren gegen ihr Mitglied ein. Es war allein dem badischen Kultusminister Willy Hellpach (DDP) zu verdanken, dass Gumbel nicht suspendiert wurde, woraufhin die Fakultät verlautbarte, ,,Persönlichkeit und politische Gesinnung" seien ihr unerfreulich, und so nachhaltigen akademischen Rufmord betrieb. Es war auch dieses Ministerium, das Gumbel in Gestalt des Sozialdemokraten Adam Remmele gegen den erklärten Willen der Fakultät 1930 den Titel eines außerordentlichen Professors verlieh.

Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund organisierte daraufhin eine Diffamierungskampagne noch nie gekannten Ausmaßes: Protestzüge, Unterschriftenkampagnen, Störung der Lehrveranstaltungen, Besetzung der Universität, Bespitzelung der Reden des Wissenschaftlers. Als er bei einer nicht öffentlichen Veranstaltung des Sozialistischen Studentenbundes wie häufig in seinen Reden eingedenk der Hungertoten eine Kohlrübe zum geeigneten Kriegsdenkmal erklärte, sah er sich Morddrohungen ausgesetzt. Gumbel konnte sich in der Öffentlichkeit nur noch mit Personenschutz bewegen. Die Fakultät leitete mit knapper Mehrheit ein Disziplinarverfahren gegen Gumbel ein, im August 1932 wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen.

Der Fall Gumbel zeigt, wie in den Jahren der ,,Agonie der Republik" (Eberhard Kolb) die universitären Gremien dabei versagten, die in Artikel 118 der Weimarer Verfassung garantierte Meinungsfreiheit ihrer Mitglieder zu schützen. Arnold Bergstraesser warf Gumbel vor, ,,die Verletzung von heilig zu haltenden Empfindungen" nicht zu vermeiden, das inzwischen vom Zentrum geführte Ministerium stellte ihn als ,,Ruhestörer und Friedensbrecher des akademischen Gemeinschaftslebens" hin. Den Kollegen Anna Siemsen und Albrecht Götze, die ihn öffentlich unterstützten, wurde ebenfalls noch vor 1933 die Lehrberechtigung entzogen.

In den Worten von Annette Vogt (Berlin) führte Gumbel eine Doppelexistenz als Wissenschaftler und pazifistischer Publizist. Bei seinen weitverzweigten pazifistischen Netzwerken gab es immer wieder Überschneidungen in die Wissenschaft, die er in seiner Heidelberger Zeit vor allem im Bereich der Statistik vorantrieb. Hochinteressant war die Medientechnik des Publizisten Gumbel, der umfangreiche Zeitungsausschnittsammlungen anlegte, für die er gleich mehrere Ausschneidedienste nutzte. Nach der Publikation des ,,Weißbuchs der Schwarzen Reichswehr" 1925 scheiterte ein Prozess wegen Landesverrats gegen Gumbel, weil ihm kein Geheimnisverrat nachgewiesen werden konnte – wie auch für ,,Vier Jahre politischer Mord" hatte er all seine Informationen aus Zeitungsartikeln gewonnen. Auch über sich selbst sammelte Gumbel Zeitungsausschnitte, die er selbstironisch in ,,Eitelkeitsbüchern" zusammentrug.

Gumbel sah sich vorrangig als Mathematiker, wie Matthias Scherer (München) betonte, und trieb auf seinem Fachgebiet Angewandte Mathematik vor allem die Extremwerttheorie voran, die er im französischen Exil entwickelte und anhand von Höchstwasserständen der Rhône modellierte. Die nach ihm benannte Gumbel-Verteilung, die er nach seiner Flucht in die Vereinigten Staaten für das National Bureau of Standards für Ingenieure aufbereitete, dient auch heute zur Vorhersage von Hochwasserständen, die Gumbel-Copula findet etwa Anwendung, wenn Wasserstände von Seitenarmen mitberechnet werden. Gumbels Forschungen hatten stets eine sozialpolitische Dimension. Unter dem Rubrum der ,,Moralstatistik" befasste er sich mit ökonomischen Folgen von Krieg und Hunger; seine Beschäftigung mit Scheinkorrelationen diente der Kritik an der ,,Rassenlehre".

Nach Deutschland kam Gumbel nur noch als Wissenschaftler zurück, als Gastprofessor nach Berlin und Hamburg. Für sein politisches Wirken wurde er zu seinem Ungemach nicht gewürdigt. Kurz vor seinem Tod 1966 redigierte er Heinrich und Elisabeth Hannovers Buch ,,Politische Justiz 1918–1933", das sich maßgeblich auf seine Schriften stützt, und drängte die Autoren, in ihrer Darstellung die Reichswehr doch nicht auszulassen.

In der Diskussion wandte sich Vogt mit deutlichen Worten gegen die These, Gumbels Themen seien für die Gesellschaft der fünfziger Jahre nicht mehr interessant gewesen. Sie verwies auf die Ablehnung, die der international renommierte Statistiker in seinem Heimatland auch als Wissenschaftler erfuhr – ein Schicksal, das er mit vielen ins Exil getriebenen Akademikern geteilt habe. Seine von Robert Kempner, dem früheren Ankläger der Nürnberger Prozesse, erstrittene ,,Wiedergutmachung" in Form von Pensionsbezügen eines emeritierten Professors wurde von seiner Heidelberger Fakultät nicht kommentiert. Karl Jaspers hatte das Verfahren allerdings durch ein Gutachten unterstützt.

Den naheliegenden Bezug zur Gegenwart – Aufdeckung rechter Netzwerke, Todeslisten, Waffensammlungen und politische Morde – griff die Tagung nur ganz am Rande auf. Christian Jansen wies auf die Gumbel-Forschungsstelle in Potsdam hin, die sich mit Rechtsextremismus und Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart beschäftigt.

Die Universität Heidelberg wollte Gumbel nach 1945 nicht wieder einstellen – nicht trotz, sondern wegen seines politischen Engagements in der Weimarer Republik. Dass in diesem Zusammenhang auf der Tagung von einem ,,Trauma" der Universität Heidelberg die Rede war, zeigt die Notwendigkeit weiterer Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im und unmittelbar vor dem Nationalsozialismus. An ihr wichtiges Mitglied Emil Julius Gumbel zu erinnern bleibt auch künftig ihre Aufgabe.


Die Ausstellung ,,Emil Julius Gumbel – Statistiker, Pazifist, Publizist" ist bis zum 19. Oktober im Heidelberger Universitätsmuseum zu sehen.


Aus: "Mathematiker Emil J. Gumbel : Mit Statistik gegen rechte Gewalt" Birte Förster (08.08.2019)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/hoch-schule/mathematiker-emil-j-gumbel-mit-statistik-gegen-rechte-gewalt-16319833.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0


Link

Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine; aus dem Amerikanischen von Martin Richter; Siedler Verlag, München 2019; 544 S.,

""Roter Hunger": Wer nicht arbeitet, soll nicht essen" Eine Rezension von Robert Kindler (7. August 2019)
... Holodomor (ukrainisch für "Tötung durch Hunger") bezeichnete Hungersnot 1932/33 zu den vielen ungelösten Konflikten im russisch-ukrainischen Verhältnis. ... Es war nicht allein die Ukraine, die von der Hungersnot der Jahre 1932/33 heimgesucht wurde. In der gesamten Sowjetunion mangelte es in diesen Jahren an Nahrungsmitteln, und in manchen Regionen herrschte ein ebenso verheerender Hunger wie in der Ukraine. Insgesamt starben fünf bis sieben Millionen Menschen am Hunger oder an damit verbundenen Krankheiten. Mit über drei Millionen Toten war die höchste Zahl an Opfern in der Ukraine zu beklagen. Doch relativ zur Gesamtbevölkerung war das zentralasiatische Kasachstan am schlimmsten betroffen. Hier kamen rund 1,5 Millionen Menschen ums Leben, etwa ein Drittel der Kasachen. ... 1933 wurden nicht nur zahlreiche ukrainische Intellektuelle verhaftet, sondern auch innerhalb der ukrainischen Parteiorganisation kam es zu umfangreichen "Säuberungen". Zweifellos nutzten Stalin und seine Gefolgsleute die Krise aus. Doch auch dabei handelte es sich nicht um ein isoliertes Ereignis: Vielmehr kam es auch in anderen Teilen der Sowjetunion zu massiven Repressionen gegen Funktionäre, denen Versagen im Zusammenhang mit der "Versorgungskrise" zur Last gelegt wurde. Überall wurde die Krise dazu genutzt, missliebige Personen aus Institutionen und Apparaten zu entfernen.
https://www.zeit.de/2019/33/roter-hunger-anne-applebaum-hungertod

QuoteDanke für dieses Geräusch #1

Die Beschäftigung mit diesem Thema ist von großer Bedeutung. Es beinhaltet eine historische Lehre: nämlich die Gefahr, die von der Kombination aus ideologischer Überzeugung und Planwirtschaft ausgeht. Man meint, es besser zu wissen als die Millionen Menschen.
Hier war es die ideologische Überzeugung, dass die sogenannten Kulaken, vermeintliche Großbauern, als Unterdrücker wirkten. Und die Begründung dafür war einfach: sie waren erfolgreicher als Andere.
Also nimmt man ihnen die Früchte weg und gibt sie denen, die weniger erfolgreich sind.
Das Schema "Wer erfolgreicher ist, erreicht dies durch Unterdrückung. Ausgleich kann nur durch Umverteilung erfolgen" scheint mir brandaktuell.
Daher danke für den Bericht über diese menschliche Katastrophe.


QuoteSeldon-X #1.1

Tatsache ist, dass im Zarenreich und den Jahren nach der Revolution die landwirtschaftliche Produktivität so niedrig war, dass jede Störung der normalen Ernteabläufe ausreichte, um eine Hungersnot auszulösen. So hatte es 1891/92 eine Hungersnot gegeben, 1918–22 dann eine extrem schwere während des Bürgerkriegs und weitere wiederum in den Jahren 1924/25, 1927 und 1928/29.

Man lese bspw. Mark B. Tauger: Natural Disaster and Human Actions in the Soviet Famine of 1931–1933, in: The Carl Beck Papers (2001), No. 1.506 und ders.: Soviet Peasants and Collectivization 1930–1939. Resistance and Adaption, in: Journal of Peasant Studies 31 (2004), No. 3/4, S. 445
um ein objektives Bild zu bekommen:

Mark B. Tauger hat nicht nur die Version einer beabsichtigten Hungersnot, sondern auch die einer unbeabsichtigten, aber dennoch »menschengemachten« Katastrophe einer umfassenden Kritik unterzogen. Der renommierte Experte der sowjetischen Agrargeschichte verfolgt im Kern zwei Argumentationslinien. Zunächst bietet er eine umfassendere Analyse der Faktoren, die zur Hungersnot geführt haben, als alle anderen Autoren und weist nach, dass die Umweltbedingungen als Ursache der Hungersnot den bei weitem wichtigsten Faktor darstellten. Große Teile der Sowjetunion wurden 1931/32 von einer schweren Dürre heimgesucht, gleichzeitig kam es in einigen Regionen zu schweren Regenfällen und Überflutungen, die große Teile der Ernte vernichteten.


QuoteDanke für dieses Geräusch #1.5

... Die sowjetische Führung hatte "gute Absichten" und durch die Planwirtschaft die Möglichkeit, ihren Plan vollständig in die Tat umzusetzen. Das ist die "unheilige" Kombination. Ideologische Überzeugung und die Möglichkeit, diese ungefiltert durchzusetzen.


Quote
yoritomo #1.7

So nutzt jeder Stalins Despotie zur Verbreitung eigener Thesen, die mit der Sache an sich nichts zu tun haben, Sie wie Frau Applebaum.
Weder ist etwas umverteilt worden, noch hat es besonders die Ukrainer getroffen. Stalin wollte die Kollektivierung der Landwirtschaft. Ob dabei Millionen verhungern, das hat er in Kauf genommen und als Warnung für die Überlebenden gesehen. ... Die Lehre sollte eigentlich sein, dass Leute wie Stalin nicht (mehr) an die Macht kommen dürfen.


QuoteSeldon-X #6

Übrigens: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" [...] "Nur wer arbeitet, soll auch essen." - Franz Müntefering am Dienstag 9. Mai 2006 in der Bundestagsfraktion der SPD zum geplanten ,,SGB II-Optimierungsgesetz"


QuoteGemütsarmer #6.2

Paul von Hindenburg, Chef des Generalstabs des Feldheeres, schrieb am 13. September 1916 an den damaligen Reichskanzler:

Ausdehnung des Kriegsleistungsgesetzes auch auf die abkömmlichen Frauen ist nötig. Es gibt ungezählte Tausende von kinderlosen Kriegerfrauen, die nur den Staat Geld kosten. Ebenso laufen Tausende Frauen und Mädchen herum, die nichts tun oder höchst unnützen Berufen nachgehen. Der Grundsatz ,Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen' ist in unserer jetzigen Lage mehr denn je berechtigt, auch den Frauen gegenüber. ...


QuoteSchneebahner #11

Das die Sowjets Hunger auch als politische Waffe einsetzten, indem sie in Gebieten mit hoher "Oppositionsdichte" lebensmittelverarbeitende Betriebe schließen ließ, dürfte wohl unstrittig sein. Vielleicht habe ich es überlesen aber dies wird im Artikel nicht thematisiert, ebensowenig wie die Tatsache das jede Hilfe aus dem Ausland kategorisch unterbanden. Die Hungersnot war damit nicht nur ein strukturelles Versagen der Planwirtschaft, sondern auch eine politische Maßnahme um die Opposition durch die Hungersnot regelrecht "auszurotten". In meinen Augen ist das ein Völkermord, dann halt nicht nur an den Ukrainern sondern an allen Völkern der damaligen Sowjetunion.


QuoteGemütsarmer #11.1

"Die Liquidierung der Kulaken als Klasse"


Quoteadama #12

Verfassung der UDSSR 1936, Artikel 12. Die Arbeit ist in der UdSSR Pflicht und eine Sache der Ehre eines jeden arbeitsfähigen Bürgers nach dem Grundsatz: ,,Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. In der UdSSR gilt der Grundsatz des Sozialismus: ,,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung"
Die N-Sozialisten sagten. Jedem das seine und Arbeit macht frei.
Stalin war Georgier, kein Russe. An welchem Völkermord sollte er interessiert gewesen sein? Es waren auch nicht fremde Eroberer, die die große Hungersnot auslösten, es waren überall Kommunisten der selben Nationalität. Allerdings haben die Menschen sich überall gefragt warum die eigenen Leute zu so etwas fähig wären. So wurden in dem Vielvölkerstaat Russland aus den Kommunisten häufig Fremde, Russen, aber noch schneller Juden, die einfach nur feindlich waren. Umgekehrt hatten auch die Kommunisten sehr schnell alle möglichen Vorurteile und Feindbilder aufgebaut, um ihre Brutalität zu rechtfertigen. Lew Kopolew lesen!


...

Link

Quote[...] 80 Jahre nach dem ersten großen Seegefecht des Zweiten Weltkriegs ist aufgrund einer gerade erschienenen Biografie (Autor: Hans-Jürgen Kaack) eine Kontroverse um die Bewertung des Kapitäns zur See Hans Langsdorff entbrannt. Im Dezember 1939 verzichtete Langsdorff im Südatlantik auf ein aussichtloses Gefecht mit britischen Schiffen. Er ließ das Panzerschiff ,,Graf Spee" vor der Küste Uruguays versenken und zuvor über 1000 deutsche Seeleute in Buenos Aires an Land gehen.

Die Kontroverse dreht sich darum, dass die einen ihn als Vorbild in der Marine stärker würdigen wollen. Marinevertreter dagegen sehen noch viele Fragen offen, etwa in seiner Haltung zum Nationalsozialismus - und verweisen zudem auf einen aus seinem Verhalten folgenden drastischen Befehl Adolf Hitlers.

Hans Langsdorff nahm sich selbst am 20. Dezember 1939 das Leben. Politiker, aber auch Vertreter der Marine fordern einen würdigeren Umgang mit ihm, der eigenmächtig handelte, und eine Einbettung in die Traditionspflege der Deutschen Marine für sein richtiges Verhalten in einer Grenzsituation.

Mittlerweile ist der Autor der Biografie, Hans-Jürgen Kaack, wegen der Kontroverse persönlichen Angriffen ausgesetzt. So schreibt der Vorsitzende des Kuratoriums des Deutschen Marinemuseums, Michael Epkenhans, dass ,,die Marine seit Jahrzehnten Langsdorff als positives Beispiel im Unterricht behandelt." Kaack konstruiere Fronten, ,,die so gar nicht existieren, handelt intellektuell unredlich, hat eine andere geschichtspolitische Agenda und will offenkundig auch ,,Rechnungen" begleichen, warum auch immer."

Kaack, früher auch bei der Marine tätig, weist das scharf zurück und betont, dass er auf Basis von zahlreichen Quellen und privaten Briefen das Leben von Langsdorff erstmals ausführlich darstelle – keineswegs aber eine eigene Agenda verfolge. Kaack glaubt, Langsdorff war vor allem kein NS-Anhänger. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Linken-Fraktion, Jan Korte, fordert nun in einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung Aufklärung über die Hintergründe für die Bewertung und den Umgang mit der Person Langsdorff. Zudem verlangt er in einem Schreiben, das dem Tagesspiegel vorliegt, eine Positionierung der neuen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU).

Ihre Amtsvorgängerin Ursula von der Leyen habe nach rechtsextremen Vorfällen in der Bundeswehr "einen offenen und umfassenden Überarbeitungsprozess des aus dem Jahre 1982 stammenden Traditionserlasses" angekündigt. Die Reform der Traditionspflege der Bundeswehr und insbesondere der Marine komme "offenbar nur extrem schleppend und offenbar auch meist nur durch Druck von außen voran".

Ihn verwundere es, dass die Marine Langsdorff zum Beispiel nicht richtig als Vorbild würdigen wolle. "Bezeichnend und beschämend ist in meinen Augen, dass Leute wie Langsdorff, die keine Nazis waren und sich schon früh dem Irrsinn des Kämpfens bis zum Untergang verweigerten und durch ihr Handeln viele Menschen retteten, bislang offenbar als rotes Tuch gelten und sein Verhalten allenfalls an der Marineschule Mürwik (MSM) in den dortigen militärhistorischen Unterrichten historisch-kritisch thematisiert wird (Tagesspiegel vom 4.8.2019), während andere, die für die mörderische Tradition der Marine stehen, immer noch geehrt werden," kritisiert Korte in seinem Schreiben.

In diesem Zusammenhang frage er sich, wie es sein kann, dass in der Marineschule nach wie vor mit einer Büste an Admiral Johannesson erinnert werde. ,,Wie kann denn allen Ernstes ein Befürworter der Todesstrafe wie Johannesson, der noch kurz vor Kriegsende am 21. April 1945 als Gerichtsherr der Kriegsmarine fünf Todesurteile gegen mehrere Soldaten, die die Kapitulation Helgolands erwirken wollten, bestätigt hatte, heutzutage eine sinnstiftende Tradition begründen?"

Marine-Historiker warnen vor fragwürdigen Vergleichen. Um die Kontroverse einzuordnen, erläutert der Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBw), Kapitän zur See Dr. Jörg Hillmann, im Interview mit dem Tagesspiegel, warum es nicht so einfach ist, Langsdorffs Verhalten als traditionswürdig einzuordnen - dabei geht es auch um die Folgen durch sein Tun.

Herr Hillmann, die Debatte hat inzwischen sogar den Bundestag erreicht - warum wird Hans Langsdorff 80 Jahre nach seinem Freitod nicht als Vorbild in der Marine angesehen?

Das Thema Langsdorff war immer ein Thema an der Marineschule Mürwik, der zentralen Ausbildungsstätte für Marineoffiziere. Zum einen die Selbstversenkung der Graf Spee, zum anderen das Verhalten Langsdorffs. Er hat das Schiff nicht in Feindeshand fallen lassen, und hat auf der anderen Seite seine Besatzung dadurch gerettet. Langsdorff befand sich in einer Grenzsituation.
Das wird im Militärgeschichtsunterricht an der Marineschule in Mürwik auch immer so dargestellt. Aber auch die daraus entstandenen negativen Folgen, die natürlich von Langsdorff nicht beabsichtigt oder vorhersehbar waren, nämlich der daraufhin folgende Befehl von Hitler und Großadmiral Raeder, zukünftig bis zur letzten Granate zu kämpfen und das Verbot, die weiße Flagge zu stecken. An der Führungsakademie der Bundeswehr wird das Thema Langsdorff ebenfalls behandelt. Die Historisch-Taktische Tagung der Marine hat sich jüngst mit dem Thema des Handelns in solchen Grenzsituationen auseinandergesetzt.

Aber in der Öffentlichkeit wird kaum an ihn erinnert...

Doch, es wird zum Beispiel im Deutschen Marinemuseum thematisiert. Für die Neukonzeption wird genau dieser Gegensatz - Langsdorff und der Flottenchef Lütjens auf der Bismarck (Anmerkung: der 1941 mit dem Schlachtschiff bis zum Untergang kämpfte) -gegenübergestellt, um den Besucherinnen und Besuchern deutlich zu machen, man konnte es so machen oder so. Beide haben in Grenzsituationen gehandelt. Langsdorff wurde nie ausgeblendet.

Aber wir wissen bisher wenig über sein Leben als solches, so etwa über seine Einstellung zum Nationalsozialismus. Was wir wissen: Er hat sich auf der Flagge des Dritten Reiches erschossen und eben nicht auf der kaiserlichen Flagge, was jahrelang falsch kolportiert wurde. Über seine Einstellungen zum Nationalsozialismus wissen wir insgesamt wenig. Als der Langsdorff-Biograf Hans-Jürgen Kaack mir vor zehn Jahren sagte, er wolle zu Langsdorff arbeiten, war ich darüber außerordentlich erfreut. Ich bin auf das Ergebnis sehr gespannt. Jedes neue Dokument eröffnet die Möglichkeit einer neuen Interpretation.

Eine nationalsozialistische Einstellung und die Einbettung in die Traditionspflege der Marine schließt sich aus – könnte sich die Einstellung zu Langsdorff nun ändern?

Ich hoffe, dass wir jetzt ein klareres Bild kommen, da die Familie Langsdorff Hans-Jürgen Kaack die persönlichen Briefe  Langsdorffs zur Verfügung gestellt hat und die er ausgewertet hat. Ich plädiere dafür, das Erscheinen des Buches abzuwarten, damit wir alle auf dem gleichen Stand sind.

Es wird kritisiert, dass Langsdorff kritisch beäugt wird, weil er nicht nach der vorgegebenen Linie handelte, während von Konteradmiral Rolf Johannesson, der vor Kriegsende fünf Todesurteile unterschrieb, eine Büste in der Marineschule Mürwik steht.

Das sind ganz unterschiedliche Fälle. Der Vergleich ist nicht redlich, weil wir über ganz unterschiedliche Personen sprechen. Johannesson ist Gründervater der Bundesmarine, der sich klar in der Zeit der Bundesmarine gegen Dönitz und Raeder gestellt hat. Er hat als Gerichtsherr ein Todesurteil paraphiert. Johannesson ist ein Beispiel für eine gebrochene Biographie. Johannessons Büste steht ja nicht in der Aula der Marineschule Mürwik aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit. Die Argumente hierzu sind schon hundertmal ausgetauscht worden. Diejenigen, die nunmehr die Deutungshoheit für sich beanspruchen, sind Argumenten bisher nicht sehr zugänglich gewesen.  Damit das Thema Langsdorff jetzt zu verquicken, führt nicht weiter.

Die letzte lebende Tochter von Langsdorff reist zum 80-jährigen Gedenken an das Grab ihres Vaters nach Buenos Aires. Wird dieses Mal auch ein Bundeswehr-Vertreter ihm die Ehre erweisen?

Ja, das bin ich, ich fliege hin. Ich muss zu einem anderen Termin sowieso nach Argentinien und konnte so die Termine verbinden. Ich nehme an den Gedenkfeierlichkeiten teil. Das ist schon Anfang des Jahres so geplant worden und mit der Marineführung sowie der Deutschen Botschaft abgesprochen. Auch in vergangenen Jahren waren Vertreter der Bundeswehr an Feierlichkeiten beteiligt, von daher ist das ,,dieses Mal" in der Frage etwas verwirrend.



Aus: "Kramp-Karrenbauer und der heikle Fall Langsdorff" Georg Ismar (19.09.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/kontroverse-um-helden-der-graf-spee-kramp-karrenbauer-und-der-heikle-fall-langsdorff/25032766.html


Link

Quote[...] Die Villa ten Hompel ist eine Gedenkstätte für Verbrechen von Polizei und Verwaltung in der Zeit des Nationalsozialismus im westfälischen Münster. Als Geschichtsort erinnert sie an die Aufgabe, Verfolgte des Nationalsozialismus zu entschädigen und arbeitet präventiv gegen Rechtsextremismus und für Demokratie. ... In der Weltwirtschaftskrise und den folgenden schwierigen Zeiten Anfang der 1930er Jahre brach auch ten Hompels Zementimperium zusammen. Im Jahre 1935 wurde der ehemalige Generaldirektor ten Hompel vor dem Landgericht Münster wegen Veruntreuung, Konkursvergehen, Vermögensverschiebungen und Urkundenfälschung angeklagt und zu drei Jahren Gefängnis sowie einer Geldstrafe von 22.000 Reichsmark verurteilt. 1939 ging die Villa schließlich in den Besitz des Reichsfiskus über. Rudolf ten Hompel zog nach München, wo er 1948 starb. ... Ab April 1940 übernahm die Ordnungspolizei die Villa als Hauptquartier für den Wehrkreis VI, der das ganze heutige Nordrhein-Westfalen mitsamt der Region um Osnabrück und Teilen Belgiens umfasste. Während des Krieges wurden aus der Villa ten Hompel über 20 Polizei-Bataillone in das besetzte Europa geschickt, auch wurden Wachmannschaften für Deportationen und Aufsichtspersonal für Arbeitserziehungslager organisiert, außerdem wurden Fremdarbeiter und Kriegsgefangene von dort überwacht.

Von dort hatte der Befehlshaber der Ordnungspolizei (BdO) Befehlsgewalt über fast 200.000 Mann. Im April 1940 wurde Generalmajor der Polizei Heinrich Lankenau zum BdO ernannt. Lankenau wurde im Dezember 1942 von Generalmajor d.P. Otto Schumann abgelöst, auf den im September 1943 Generalmajor d.P. Kurt Göhrum folgte. Im Herbst 1944 folgte diesem schließlich Generalleutnant d.OP. Reiner Liessem, der das Amt bis Kriegsende innehatte. Liessem verlegte Ende 1944 das Hauptquartier des BdO nach Düsseldorf-Kaiserswerth. ...
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Villa_ten_Hompel (6. Mai 2019)

-

Quote[...] Die Villa ten Hompel in Münster ist eine ganz gewöhnliche Villa, wie es sie in Westfalen viele gibt, diskret, gediegen und mit reichlich Klinker. 1939 übernahm der Fiskus das 1924 für den reichsten Einwohner der Stadt erbaute Haus und Männer von der Polizei hielten Einzug. An sie erinnert seit dem 13. Dezember 1999 der ,,Geschichtsort Villa ten Hompel".

1992 legte der amerikanische Historiker Christopher Browning sein Buch ,,Ordinary Men" vor, eine Untersuchung zum Hamburger Reserve-Polizeibataillon 101. Mindestens 38.000 Juden verloren durch die 1939 aufgestellte Einheit ihr Leben, die Deportation von mindestens 45.000 weiteren hat sie ermöglicht. Die meisten Bataillonsangehörigen waren im Zivilberuf Polizeibeamte, politisch und auch sonst unauffällig, nur im Einzelfall Mitglieder der NSDAP, ,,ganz gewöhnliche Männer" in der deutschen Übersetzung von 1993. Erstmals wurde die Täterforschung von der Fixierung auf Einzelpersonen gelöst, erstmals die Rolle der Polizeieinheiten der Wehrmacht (,,Ordnungspolizei") als ,,grüne SS" einer größeren Öffentlichkeit bekannt.

In der Villa ten Hompel wurden die Einsätze von Ordnungspolizisten aus ganz Nordwestdeutschland gesteuert. Die daran und an die Opfer erinnernde Dauerausstellung wäre ohne Christopher Browning kaum möglich gewesen. Sein fünfundsiebzigster Geburtstag wurde jetzt in Münster mit einer internationalen Konferenz gefeiert, zu der auch der Jubilar aus North Carolina angereist war. Wie ,,gewöhnliche Männer" zu Massenmördern werden, ist auch eine Frage für gegenwärtige Polizeiarbeit, zumal in den Vereinigten Staaten angesichts der Mordanschläge beispielsweise auf eine Synagoge in Pittsburgh 2018 und die African Methodist Episcopal Church in Charleston 2015. Der Name des gegenwärtigen Präsidenten der Vereinigten Staaten fiel auf dieser Konferenz, auch in der Laudatio von Norbert Frei (Jena), häufiger als derjenige Hitlers.

In seiner Rezension der Hitler-Biographie von Volker Ullrich in der ,,New York Review of Books" hat Browning tatsächlich auf Parallelen zu Trump hingewiesen, nachdrücklich aber auch auf Unterschiede. Wie weit kann man in der Anwendung von Brownings Forschungsergebnissen auf unsere eigene Zeit gehen? Wulf Kansteiner (Aarhus) montierte in didaktischer Überspitzung gleich sein eigenes Porträt in das Bild eines SS-Offiziers aus der amerikanischen Fernsehserie ,,Holocaust", bei deren Ausstrahlung 1978 freilich noch niemand an die Ordnungspolizei dachte. Ein Profi der Tätersuche wie Oberstaatsanwalt Andreas Brendel (Dortmund) sprach angesichts des Vernichtungslagers Belzec wohl eher unbedacht wie selbstverständlich von ,,Nazis" als Tätern, von deren ,,Gewöhnlichkeit" er sich bei seinen Ermittlungen allerdings oft genug überzeugen konnte.

Auf den Punkt brachte es Andrej Angrick (Hamburg): fanatische Psychopathen allein hätten den Holocaust nicht bewerkstelligen können. Die gewöhnlichen Täter befanden sich oft in einem ,,Ostrausch", der durch Alkohol noch verstärkt wurde; Edward B. Westermann (San Antonio) beschrieb den Zusammenhang zwischen Trinkritualen, Männlichkeitsbildern und sexueller Gewalt. Da dieses Verhalten der deutschen Ordnungskräfte sich auf Osteuropa konzentrierte, sehen viele Historiker hier eine Attitüde des Kolonialherren. Das provozierte Widerspruch ausgerechnet von polnischer Seite; Włodzimierz Borodziej (Warschau) illustrierte die formale Gleichberechtigung der Polen im deutschen Kaiserreich mit der kritisch auf die Vereinigten Staaten zielenden rhetorischen Frage: ,,Wie viele Neger haben im preußischen Herrenhaus gesessen?"

In seinem eigenen Referat berichtete Borodziej auch von antisemitischen polnischen Widerstandskämpfern und für die deutschen Besatzer arbeitenden polnischen Kriminalpolizisten. Guus Meershoek (Enschede) verdeutlichte die Rolle der niederländischen Polizei bei der Deportation der einheimischen Juden. Insbesondere aus den Reihen der Kolonialpolizei, nach ihrer Uniformfarbe ,,Schwarze Tulpen" genannt, wurden zuverlässige Ordnungspolizisten rekrutiert. In der luxemburgischen Polizei wollte Stefan Klenk (Dortmund) einen Hort der Resistenz gefunden haben; mit vorsichtigem Widerspruch verwies Browning auf Lügengeschichten, die luxemburgische Polizisten nach 1945 verbreiteten, um Kollaboration zu verschleiern. Vom ,,jüdischen Ordnungsdienst" in den Gettos von Warschau, Litzmannstadt und Wilna war zu diesem Zeitpunkt fast niemand mehr am Leben; das negative Bild dieser auch für die Bewachung der Gettogrenzen zuständigen Einheit wird bis heute durch die Urteile von Hannah Arendt geprägt. Svenja Bethke (Leicester/Jerusalem) betonte dagegen, dass der Ordnungsdienst tatsächlich polizeiliche Aufgaben wahrgenommen habe. Glaubwürdige Quellen zeigten, dass etliche Juden auf den Ordnungsdienst zunächst beglückt reagiert hätten; sie hätten es sich nicht vorstellen können, einmal jüdische Polizisten zu erleben.

Ein zentraler Ansatz bei Browning wie der Villa ten Hompel liegt in einem erzieherischen Impetus: der Handlungsspielraum des Einzelnen soll betont werden. Mirjam Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrums München, warnte davor, dass die Holocaust-Forschung sich im Zuge fortschreitender Spezialisierung zu einem ,,Eliteprojekt" entwickeln könnte. Sie rief ihre Historikerkollegen auf, die ,,akademische Blase" zu verlassen.

In der Abschlussdiskussion zeigte Dervis Hizarci, der Antidiskriminierungsbeauftragte der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, pointiert die Grenzen eines didkatischen Ansatzes auf: ,,Man braucht nichts von der deutschen Geschichte zu wissen, um zu wissen, dass man keine Asylantenheime anzünden darf." ...


Aus: "Täterforschung : Ganz gewöhnliche Männer einst und jetzt" Martin Otto (11.11.2019)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/taeterforschung-ganz-gewoehnliche-maenner-einst-und-jetzt-16478490.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

Link

#51
"Kalter Krieg: Das neue Leben der jungen Republikflüchtlinge" (4. Februar 2017)
Die Geschichte der 12. Klasse aus Storkow erzählt viel über die Frühphase der DDR. 1956, drei Jahre nach dem blutig niedergeschlagenen antistalinistischen Aufstand des 17. Juni, wurde das Pass-Gesetz erstmals verschärft. Seit der Gründung 1949 hatten weit mehr als eine Million Menschen das Land in Richtung Westen verlassen. Zwar wurde die sogenannte Republikflucht fortan kriminalisiert, sie war aber weiterhin möglich. Als 1961 die Mauer gebaut wurde, waren etwa drei Millionen Menschen geflohen. ...
https://www.sueddeutsche.de/politik/revolte-vor-60-jahren-ungarn-gegen-den-sowjetkommunismus-ein-kurzer-traum-von-freiheit-1.3212541

"Ungarn-Aufstand 1956: Ungarns kurzer Traum von der Freiheit" Ruth Eisenreich (21. Oktober 2016)
Der Wiener Fotograf Erich Lessing setzte dem Ungarn-Aufstand mit seinen Bildern ein Denkmal. Besuch bei einem 93 Jahre alten Herrn, der damals alle Illusionen verlor. ... Der Wiener Magnum-Fotograf Erich Lessing hat den Ungarnaufstand miterlebt und für die Nachwelt festgehalten. Lessing ist heute 93 Jahre alt, er wohnt am Rande von Wien, da, wo die Stadt schon bald in Wälder und Weinberge ausfranst. Eigentlich gibt Lessing keine Interviews mehr, er hört und geht nicht mehr allzu gut; aber seine Erzählungen vom Herbst 1956 sind so lebendig wie die hellwachen blauen Augen unter den buschigen Brauen in seinem runden Gesicht. "Lauter Amateure" seien damals am Werk gewesen, sagt er - und trotzdem sei der Ungarnaufstand der Anfang vom Ende des Kommunismus gewesen, die erste Bruchstelle sozusagen in der Mauer, die 1989 einstürzen sollte. ...
https://www.sueddeutsche.de/politik/revolte-vor-60-jahren-ungarn-gegen-den-sowjetkommunismus-ein-kurzer-traum-von-freiheit-1.3212541

"Rebellische DDR-Schüler "Wir starrten gebannt auf die große Wanduhr"" Christoph Gunkel (01.03.2018)
Fünf Minuten schwieg 1956 eine DDR-Klasse. Aus Protest, für die Freiheit. Als Stasi und SED sie zu spalten versuchten, hielten die Abiturienten zusammen. Dietrich Garstka erinnert sich an dramatische Momente. ... Fünf Minuten nämlich schwiegen alle 20 Schüler der Klasse 12, als Geschichtslehrer Werner Mogel ihr Wissen abfragen wollte. Was Mogel nicht ahnte: Es waren Schweigeminuten für die Toten des Volksaufstands in Ungarn, der sich gegen die Herrschaft der Kommunisten richtete, aber vom ungarischen Geheimdienst mit Hilfe der Sowjetunion brutal niedergeschlagen wurde. Das alles erinnerte viele Schüler an den gescheiterten Aufstand in der DDR drei Jahre zuvor. Die dramatischen Ereignisse hatten sie über den Sender RIAS verfolgt, den sie nur heimlich hören durften. Besonders beeindruckte sie, wie eine aufgebrachte Menge in Budapest das acht Meter hohe Stalin-Standbild stürzte; nur die Stiefel des Diktators blieben stehen. Bald aber schickt Moskau Panzer. ...
https://www.spiegel.de/geschichte/ddr-das-schweigende-klassenzimmer-wie-abiturienten-1956-aufbegehrten-a-1195587.html

-

Quote[...] Doris Schäfer-Noske: Heute vor 60 Jahren ist in Karlsruhe, also am Sitz von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgerichts, eine Wanderausstellung eröffnet worden, die sich mit Justizverbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt hat. Die Ausstellung ,,Ungesühnte Nazijustiz" zeigte Dokumente zu Strafverfahren und Todesurteilen, aber auch zu Nachkriegskarrieren der beteiligten Richter und Staatsanwälte.

Die Ausstellung wurde bis Februar 1962 in zehn bundesdeutschen Städten und einigen ausländischen Universitätsstädten gezeigt. Veranstalter waren studentische Gruppen, meist Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS. Der Hauptautor war der Westberliner Student Reinhard Strecker. Finanziert wurde die Ausstellung nur aus Privatspenden. Sie war sehr einfach gehalten, oft konnte sie nur in Privaträumen stattfinden.

Und trotzdem hat diese Ausstellung damals eine große öffentliche Wirkung gehabt. In Karlsruhe gibt es heute Abend zum Jahrestag einen Vortrag und eine Podiumsdiskussion. Frage an den Historiker Norbert Frei: Warum hatte denn diese Ausstellung eine solche Wirkung, obwohl sie mit so bescheidenen Mitteln auskommen musste? Hat sie den Nerv der Zeit getroffen?

Norbert Frei: Genau das. Die Ausstellung kam zum richtigen Zeitpunkt in dem Sinne, dass sich in der Gesellschaft doch eine Unzufriedenheit, ein merkwürdiges klammes Gefühl über die Vergangenheitspolitik der 50er-Jahre breit zu machen begann. Und sie kam zu einem Zeitpunkt, wo schon seit einigen Jahren von Seiten der DDR massive Angriffe auf die westdeutschen Eliten und insbesondere auch auf die Justiz gekommen waren. Eine ganze Weile lang konnte man das in Zeiten des Kalten Krieges als kommunistische Propaganda abtun. Aber nun kamen diese jungen Leute mit Dokumentenmaterial daher und haben das aus eigenen Mitteln in relativ einfacher Form präsentiert. Und das verfehlte dann jedenfalls über die nächsten Monate und Jahre hinaus seine Wirkung nicht.

Wichtig war auch, dass an einem bestimmten Punkt der Generalbundesanwalt sich diese Dokumente von Reinhard Strecker und seiner Gruppe zeigen ließ und anerkennen musste: Nein, das ist nicht einfach kommunistische Propaganda, das sind keine ,,Fake Documents", wie man heute sagen würde, sondern das ist tatsächlich reales Material, was zeigt, wie hochgradig die Justiz sich zum Büttel der Nationalsozialisten gemacht hatte. Das war in einem Moment und zu einem Zeitpunkt, wo sich das Nachdenken über die NS-Vergangenheit gerade zu ändern begann.

Schäfer-Noske: Wie ist denn Reinhard Strecker an die Dokumente damals gekommen, die er präsentierte?

Frei: Die Dokumente lagen in Ostberlin. Das war ja auch der Ansatzpunkt für die Apologeten im Westen zu sagen: Das ist alles DDR-Material. Aber in Wirklichkeit war es Material vor allem auch aus dem Reichsjustizministerium, und diese Materialien waren in der Hand der Ostberliner. Reinhard Strecker ist einfach dort hingefahren und hat sich das Material geben lassen. Es ist auch Material aus anderen Ländern noch eingeflossen. Mit anderen Worten: Die jungen Leute der SDS, die haben einfach wirklich nachgefragt und haben sich nicht länger abspeisen lassen mit dieser Vorstellung, das sei alles kommunistische Propaganda.

Schäfer-Noske: War denn die Aussage dieser Ausstellung im Grunde, die Verbrecher der NS-Justiz sind die Richter und Staatsanwälte von heute?

Frei: Ja! Es ist in der Tat auch einer der Punkte gewesen, an dem die DDR am klarsten darauf verweisen konnte, dass während in der DDR ein ziemlich radikaler Bruch, was das Justizsystem anging, gemacht worden war, auf der anderen Seite in der Bundesrepublik die personalpolitische Kontinuität in der Justiz besonders groß gewesen ist. Das ist natürlich von Seiten der DDR mit dem Argument verbunden worden, dass diese ,,Blutrichter", wie es in der Propaganda hieß, ,,in Adenauers Diensten", dass die jetzt auch in der Bundesrepublik NS-Recht sprechen würden. Davon konnte natürlich nicht die Rede sein. Die haben sich angepasst. Die haben versucht, sich wegzuducken und nun Richter in der Demokratie zu sein, so gut sie es konnten und verstanden. Aber das Skandalon, dass es diese Kontinuität gab, dass diese Justizverbrechen nicht bearbeitet und nicht geahndet worden waren, das blieb ja.

Schäfer-Noske: Welche Folgen hatte diese Ausstellung?

Frei: Die Ausstellung gehört zu einer Reihe von Faktoren, die dann dazu führen, dass Anfang der 60er-Jahre doch so etwas einsetzt wie ein kritischeres Nachdenken und die Forderung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und was diese Vergangenheit eigentlich auch in der Gegenwart noch bedeutet. Dazu gehört dann 1961 der Eichmann-Prozess in Jerusalem, der natürlich auch die Deutschen aufwühlte. Und es gehört dann aber vor allem der von Fritz Bauer in Gang gesetzte Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963 bis 1965 dazu. Mit anderen Worten: Das alles ist in der Kontinuität dessen, was da Ende der 50er-Jahre aufbricht.

Schäfer-Noske: Im Grunde markiert die Ausstellung auch einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Deutschland.

Frei: Man kann sagen, dass diese Ausstellung Teil eines größeren Wendepunktes ist. In dem Moment, in dem sie begonnen hat, war sie noch nicht so bedeutend. Aber ihre Bedeutsamkeit ist gewissermaßen auch im Nachhinein immer klarer geworden, dass sie etwas markiert an einer Neuorientierung insbesondere in der jungen Generation. ...


Aus: "Aufarbeitung des NationalsozialismusHistoriker Frei: SDS hat sich nicht abspeisen lassen" (27.11.2019)
Mit der Ausstellung ,,Ungesühnte Nazijustiz" begann vor 60 Jahren die Aufarbeitung der NS-Justizverbrechen. Die Veranstalter, Mitglieder des Studentenbundes SDS, hätten zum ersten Mal gezeigt, wie sich ,,die Justiz zum Büttel der Nationalsozialisten gemacht hatte", so der Historiker Norbert Frei im Dlf.
Norbert Frei im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske
https://www.deutschlandfunk.de/aufarbeitung-des-nationalsozialismus-historiker-frei-sds.691.de.html?dram:article_id=464454

Link

"NS-Vergangenheit ehemaliger LKA-Chefs untersucht" (16.12.2019)
Es seien Hinweise aufgetaucht, dass spätere Behördenleiter in der Zeit vor Mai 1945 in nationalsozialistische Unrechtshandlungen verstrickt gewesen seien, hatte das LKA NRW mitgeteilt.
Daraufhin habe man Historiker beauftragt, die ersten sechs Behördenleiter des LKA zu überprüfen. Das Gutachten werde vom Historiker Martin Hölzl vorgestellt. Das Landeskriminalamt war im Oktober 1946 gegründet worden. ...

https://www.welt.de/regionales/nrw/article204353016/NS-Vergangenheit-ehemaliger-LKA-Chefs-untersucht.html

Quote[...] Düsseldorf (epd). Mindestens vier ehemalige Chefs des Landeskriminalamtes NRW waren einem Gutachten zufolge Täter des NS-Unrechtsregimes. "Das Gutachten zeigt ein sehr bedrückendes Ergebnis", sagte der amtierende LKA-Direktor Frank Hoever am Montag in Düsseldorf. "Das hat mich sehr erschüttert." Das Gutachten setzte sich mit den ersten sechs Behördenleitern nach Ende des Zweiten Weltkriegs auseinander.

Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) erklärte, die Beteiligung an nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen von Friedrich Karst, Friederich D'heil, Oskar Wenzky und Günter Grasner sei "geschichtswissenschaftlich evident". Das Ergebnis der Studie sei "umso erschreckender, als die Genannten in ihrem Amt teilweise eine Seilschaft aus der NS-Zeit pflegten". "Aus heutiger Sicht hätten sie niemals mehr als Polizisten arbeiten dürfen", unterstrich Reul.

Im Oktober 2016 hatte das Landeskriminalamt sein 70-jähriges Bestehen gefeiert. Damals kamen Hinweise auf, dass es klüger wäre, den ein oder anderen Behördenchef nicht zu ehren - wegen seiner Aktivitäten in der Nazi-Zeit.

Der Historiker Martin Hölzl, der die wissenschaftliche Untersuchung geführt hatte, betonte, das Ergebnis "sei kein untypischer Befund". Die Behörden hätten nach Kriegsende Spezialisten gesucht. Das man die vier LKA-Chefs trotz ihrer Verstrickungen in NS-Taten eingestellt habe, habe auch deshalb funktioniert, da "die, die davon wussten, selbst beteiligt gewesen waren", sagte Hölzl.

Das Landeskriminalamt war im Oktober 1946 gegründet worden. Die vier LKA-Chefs zwischen 1946 und 1969 hätten zudem "ihre eigenen Legenden gestrickt". So betonten sie stets, als Kriminalpolizei in der NS-Zeit "nur unpolitische Täter" verfolgt zu haben, erklärte Hölzl. Dabei hätte die Kriminalpolizei der Gestapo in nichts nachgestanden. Der Wissenschaftler wies zudem darauf hin, dass in den Jahren nach dem Krieg die in der NS-Zeit Verfolgten, wie etwa Sinti und Roma, Homosexuelle oder Mitglieder der KPD "keine starke Lobby" gehabt hätten.

Einer der vier in NS-Verbrechen verstrickten LKA-Chefs habe sich damals sogar "selbst als Widerständler" eingestuft, hieß es. Ein anderer habe gar einen Entschädigungsantrag gestellt, weil seine berufliche Karriere durch die NS-Zeit geschädigt worden sei.


Aus: "Gutachten bestätigt NS-Vergangenheit von vier LKA-Chefs in NRW" epd (16.12.2019)
Quelle: https://www.evangelisch.de/inhalte/163650/16-12-2019/gutachten-bestaetigt-ns-vergangenheit-von-vier-lka-chefs-nrw

"Historiker: Vier ehemalige LKA-Chefs waren NS-Verbrecher" (16.12.2019)
https://www.welt.de/regionales/nrw/article204362692/Historiker-Vier-ehemalige-LKA-Chefs-waren-NS-Verbrecher.html

"GutachtenMindestens vier Ex-Chefs des LKA NRW waren Täter im NS-Regime" (16. Dezember 2019)
https://www.deutschlandfunk.de/gutachten-mindestens-vier-ex-chefs-des-lka-nrw-waren-taeter.1939.de.html?drn:news_id=1081091



Link

Unbequeme NS-Opfer: Dagmar Lieske Die Historikerin legt ein Standardwerk über als Berufsverbrecher stigmatisierte NS-Opfer vor
Peter Nowak (28.08.2018)
https://www.freitag.de/autoren/peter-nowak/unbequeme-ns-opfer

Quote[...] Frank Nonnenmacher über eine Tradition des Hasses ... Der ,,Asoziale" und der ,,Gewohnheitsverbrecher" bildeten den Gegenpol des von den Nazis gewollten Ideals vom fleißigen, leistungsstarken und an der Fortentwicklung der deutschen ,,Rasse" interessierten Deutschen. Demgegenüber wurden Bettler, Wanderarbeiter, Wohnsitzlose und Fahrende Leute als ressourcenverbrauchende Schädlinge, als ,,nutzlose Esser" bezeichnet. Sie wurden als ,,Ballastexistenzen" erst verbal ausgegrenzt, dann real. Viele kamen in die Konzentrationslager, wo ,,Asoziale" mit schwarzem und ,,Gewohnheitsverbrecher" mit grünem Winkel markiert wurden. Für die SS waren sie dort eine beliebte Zielscheibe für Demütigungen und Qualen bis hin zum Mord. ...

Die Nazis behaupteten, dass der deutsche Staat ,,gesäubert" sei, die Kriminalität so gut wie ausgerottet. Wer dennoch oder wiederholt straffällig geworden ist, der hatte in der Weltsicht der Nationalsozialisten bewiesen, ein kriminelles Gen in sich zu tragen. Und das sei der deutschen ,,Rasse" eigentlich nicht eigen. Deshalb wurden solche Menschen, wie zum Beispiel mein Onkel Ernst, nach dem Verbüßen ihrer Haftstrafe ohne weiteres Verfahren in ein KZ eingeliefert und sollten dort ,,durch Arbeit vernichtet" werden.


Aus: "Forscher über vergessene NS-Opfer: ,,Die Nazi-Narrative wirken fort"" (5.4.2019)
Quelle: https://taz.de/Vergessene-Opfer-der-Nazis/!5491053/

QuoteMonika Frommel, 05.04.2019, 16:43

... das "Gewohnheitverbrechergesetz" 1934 war ein Probelauf für die späteren Vernichtungen von Menschen, die man als "gemeinschaftsfremd" einstufte.


-

wenig Worte @wenig_worte
Eben war die Abstimmung im #Bundestag zur "Anerkennung der von den Nationalsozialisten als ,Asoziale' und ,Berufsverbrecher' Verfolgten" als NS-Opfer.
Alle Fraktionen stimmten zu.
Alle, außer der #AfD.
8:41 PM · Feb 13, 2020
https://twitter.com/wenig_worte/status/1228041641031872513

Vermischtes: ,,Euthanasie"-Opfer sollten als Nazi-Verfolgte anerkannt werden (Donnerstag, 7. November 2019)
... Baumann verwies darauf, dass sogenannte ,,Asoziale" und ,,Berufsverbrecher" bis heute in der Gesellschaft nicht als NS-Opfer anerkannt seien und schlichtweg das Wissen über ihr Schicksal fehle. Mitunter herrsche auch die Meinung, dass viele dieser Menschen ,,wohl irgendwie zu recht" im KZ gesessen hätten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die sogenannten ,,Asozialen" und ,,Berufsverbrecher" auch von anderen Opfergruppen keine Unterstützung erhalten, als NS-Opfer anerkannt zu werden. ...
https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/107227/Euthanasie-Opfer-sollten-als-Nazi-Verfolgte-anerkannt-werden

Quote[...] Im Nationalsozialismus wurden auch sogenannte Asoziale und Berufsverbrecher verfolgt. Der Bundestag hat sich jetzt für ihre Anerkennung ausgesprochen.

Als ,,Asoziale" galten für die Nazis Wohnungslose, Bettler, Wanderarbeiter oder Prostituierte. Oft waren Zufall und Willkür entscheidend, wer dazu gezählt wurde. Unter die Häftlingskategorie ,,Berufsverbrecher" fielen Menschen mit mehreren Vorstrafen, zumeist wegen Eigentumsdelikten wie Diebstahl. Männer, Frauen, Kinder und Alte fielen in diese Kategorie.

Bei Einlieferung ins KZ hatten diese Menschen die Strafen für ihre Taten abgesessen; ein großer Teil von ihnen wurde zur ,,Vernichtung durch Arbeit" bestimmt und kam um.

Schätzungen gehen von rund 70.000 Menschen aus, die mit dem grünen und schwarzen Winkel in Konzentrationslagern inhaftiert waren. Allein im nahe Berlin gelegenen Konzentrationslager Sachsenhausen waren in der Nazi-Zeit rund 9.000 als ,,Berufsverbrecher" und rund 11.000 als ,,Asoziale" geltende Menschen dem Terror im Lager ausgeliefert.

,,Lebenslange Scham und sozialer Ausschluss" bestimmten vermutlich das Dasein der betroffenen Überlebenden nach 1945, sagt Frank Nonnenmacher. Viele nahmen wohl die erfahrenen stigmatisierenden Zuschreibungen in sich auf, schwiegen selbst in ihren Familien über ihre Zeit im KZ. So genau weiß das aber niemand: Sie selber machten nicht auf sich aufmerksam, aber es interessierte sich auch niemand für sie. Selbst Wissenschaftler machten bis vor einigen Jahren einen Bogen um sie.

Längere Zeit hatten sich CDU/CSU der Anerkennung der beiden Opfergruppen widersetzt und einen von den Grünen im April 2018 vorgeschlagenen interfraktionellen Antrag verhindert. CDU-Abgeordnete fürchteten, Schwerverbrecher könnten durch die parlamentarische Anerkennung rehabilitiert werden.

Eine Befürchtung, die Experten bei einer Sitzung des Kulturausschusses später entkräfteten. ,,Nur in Ausnahmefällen" seien Gewalttäter unter den inhaftierten ,,Berufsverbrechern" gewesen, erklärte die Historikerin Julia Hörath. Sogenannte Funktionshäftlinge mit Macht über die Mithäftlinge seien nur wenige gewesen. Die allermeisten der ,,Berufsverbrecher" hätten ,,denselben Lagergesetzen, derselben Preisgabe der Menschenwürde unterlegen, wie alle anderen Häftlinge".

Im Herbst 2019 schwenkten CDU/CSU um und legten gemeinsam mit der SPD einen Antrag vor, der für die Anerkennung von ,,Asozialen" und ,,Berufsverbrechern" als NS-Verfolgte wirbt. Obwohl der Antrag fast gleichlautend der Anträge von Linken, FDP und Grünen ist, verständigte man sich letztlich nicht auf einen gemeinsamen Antrag.

Wie in der Plenardebatte zum Thema am Donnerstagabend zum Ausdruck kam, war die Union ihrem Mantra gefolgt, keine gemeinsame Sache mit den Linken zu machen. Letztlich stimmten alle Fraktionen außer die AfD damit für eine Beschlussempfehlung, die auf den Antrag der Koalitionsparteien zurückgeht. Frank Nonnemacher hatte noch am 6. November in einer Kulturausschuss-Sitzung an die Parteien appelliert, bei diesem Thema eine interfraktionelle Einigung zu finden. 


"Bundestag für Anerkennung weiterer NS-Opfergruppen" Jutta Herms (13.02.2020)
https://www.tagesspiegel.de/politik/asoziale-und-berufsverbrecher-bundestag-fuer-anerkennung-weiterer-ns-opfergruppen/25545360.html

https://www.tagesspiegel.de/politik/asoziale-und-berufsverbrecher-als-ns-opfer-luecke-der-erinnerung/23087018.html

https://www.csu-landesgruppe.de/presse/pressemitteilungen/vergessene-opfergruppe-der-nazis-gesellschaftlich-anerkennen

https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw45-pa-kultur-medien-opfergruppen-664624


Link

#54
Stephan, Gerd-Rüdiger/Nakath, Detlef (Hrsg.): Ausschluss. Das Politbüro vor dem Parteigericht
3. Dezember 1989: Nacheinander treten das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und das schier allmächtige Politbüro der Partei zurück. Gleichzeitig werden Erich Honecker und einige seiner engeren Mitstreiter aus der Partei geworfen. Mitte Dezember wird aus der SED die SED-PDS. Ihr neuer Vorsitzender heißt Gregor Gysi. Doch noch immer gehören die verbliebenen 17 ehemaligen Angehörigen des Politbüros dieser Partei an – bis zum 20. Januar 1990. In einer mehr als zwölfstündigen Nachtsitzung der Zentralen Schiedskommission der SED-PDS werden die meisten von ihnen ausgeschlossen.
Die hier vorgelegten Texte geben den dramatischen Verlauf der Sitzung authentisch wieder. Ungekürzt und im vollen Wortlaut dokumentiert werden die Befragungen der einstigen SED-Spitzenpolitiker auf der Basis von Original-Tonbandmitschnitten und ihren schriftlichen Stellungnahmen. Der Band wird ergänzt durch eine Einführung in den zeithistorischen Kontext, kurze biografische Skizzen der Betroffenen, Medienberichte und Dokumente zum Versuch Einzelner zur Rehabilitierung bzw. Wiederaufnahme in die Partei, mit Fotos und einem Anhang.
Die Protokolle geben Zeugnis von der Psychologie der Macht und ihrer individuellen Verarbeitung, sie sind ein Lehrstück für die notwendige Auseinandersetzung mit der Funktionsweise, Eigenlogik und Verselbstständigung von Herrschaft – vor allem in einer Gesellschaft, die für sich beanspruchte, den Weg zu einer emanzipativen Alternative zu gehen.

Die Verfahren 1989/1990 in Protokollen und Dokumenten
Mit einem Geleitwort von Dagmar Enkelmann sowie Beiträgen von Michael Herms, Volkmar Schöneburg und Tom Strohschneider
552 Seiten, geb.
ISBN 978-3-320-02365-2
Karl Dietz Verlag Berlin GmbH 2020
https://dietzberlin.de/Stephan-Nakath-Hrsg-Ausschluss

--

"Zwischen Kreuz und Hakenkreuz: NS-Fluchthelfer: Der "braune Bischof" und die Rattenlinie" Klaus Taschwer (22. Februar 2020)
Alois Hudal erlangte als Fluchthelfer für NS-Verbrecher zweifelhafte Berühmtheit. Eine neue Biografie zeichnet ein schonungsloses Bild des "Nazi-Hoftheologen"
Unter den zahlreichen umstrittenen katholischen Würdenträgern Österreichs, die im Laufe des 20. Jahrhunderts wirkten, war er fraglos der umstrittenste: Alois Hudal (1885–1962) hegte wie kaum ein anderer seiner Glaubensbrüder Sympathien für den Nationalsozialismus. Er tat das bereits vor 1938 und auch noch nach 1945. Der Rektor des deutschen Priesterkollegs Santa Maria dell'Anima (kurz: Anima) in Rom wurde vor allem dafür bekannt, nach dem Zweiten Weltkrieg zahllosen hohen NS-Funktionären – darunter auch etlichen Kriegsverbrechern – in Rom Unterschlupf geboten und ihnen bei der Flucht über die "Rattenlinie" nach Südamerika oder in den Nahen Osten geholfen zu haben.
Hat er das nur aus christlicher Nächstenliebe getan? Oder hatte das auch etwas mit seinen ideologischen Überzeugungen zu tun? Zur Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen richtete die Anima mit dem Österreichischen Historischen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften dazu 2006 sogar eine eigene Kommission ein. Das damals gefällte Urteil, an dem die beteiligten österreichischen und deutschen Kirchenhistoriker bis heute festhalten, fiel vergleichsweise ambivalent und milde aus: Hudals Haltung zum Nationalsozialismus sei zwiespältig und letztlich vor allem eine Art "tragischer Irrtum" gewesen. Außerdem habe er während des Zweiten Weltkriegs auch Personen geholfen, die vom NS-Regime verfolgt worden waren.
Zu einem etwas anderen Schluss kommt die neue Hudal-Biografie des Historikers Johannes Sachslehner, der in den letzten Jahren nebst anderen Werken auch Bücher über österreichische NS-Verbrecher wie Amon Göth, Odilo Globocnik und Franz Murer vorgelegt hat. Der Autor hat für seine Darstellung gründlich recherchiert, die umfangreiche Sekundärliteratur genau studiert und auch einiges Neues zutage gefördert. Die Aufmachung ist freilich etwas reißerisch geraten, und der Titel "Hitlers Mann im Vatikan" ist gleich doppelt irreführend: Hudal verfügte erstens über keine besonderen Beziehungen zu Hitler, und zweitens war er in Rom und nicht im Vatikan tätig. ...
https://www.derstandard.at/story/2000114377607/ns-fluchthelfer-der-braune-bischof-und-die-rattenlinie

Link

#55
"100 Jahre Kapp-Putsch: Die Feinde der Demokratie" Rudolf Walther (13.3.2020)
Militaristen und Nationalisten versuchten im Kapp-Putsch die Weimarer Republik zu zerstören. Immer noch mangelt es an politischer Aufarbeitung.
Am frühen Morgen des 13. März 1920 putschten zwei Freikorps-Brigaden unter Hermann Ehrhardt (1881–1971) und Wilfried von Loewenfeld (1879–1946) gegen die rechtmäßige Berliner Regierung, indem sie das Regierungsviertel im Handstreich besetzten. Die Aktion heißt ,,Kapp-Putsch" gegen die Weimarer Demokratie, weil sie von dem konservativen Lobbyisten der Großgrundbesitzer und Generallandwirtschaftsdirektor Wolfgang Kapp (1858–1922) und von General Walther Freiherr von Lüttwitz (1859–1942) geplant wurde. ...
https://taz.de/100-Jahre-Kapp-Putsch/!5667657/

-

Bosnian History is an independent history and travel blog focused on Bosnia and Herzegovina.  Our mission is to generate interest in Bosnia and Herzegovina as a travel destination, as well as to highlight the country's extraordinary historic and cultural wealth.
https://bosnianhistory.com/ | https://twitter.com/bosnianhistory

-

Meinungsumfragen zum Nationalsozialismus der frühen Nachkriegszeit - Selektive Erinnerung? (Martin Rothland, Nr. 462 · Mai 2008)
In  einem  Beitrag  berichtet  Klaus  Harp-precht in der ZEITvom 4. Mai 2005 überein Phänomen, das sowohl die 1945 in das Deutsche  Reich  einrückenden  alliierten Streitkräfte in Erstaunen versetzte als auch Kriegsreporter  und  Besucher  Deutschlands in der unmittelbaren Nachkriegszeit wie Clara Menck oder Hannah Arendt unbegreiflich erschien: ,,Die besiegten Deutschen hatten in der Tat vergessen, dass sie Nazis  waren."  Stand  es  tatsächlich  so schlecht um das kollektive Gedächtnis der deutschen Bevölkerung, dass ihr die Erinnerung an den Nationalsozialismus samt den eigenen Verstrickungen in kürzester Zeit abhandengekommen war? ... Die  ersten  acht  Befragungen  der  Opinion Survey Section die zwischen dem 26.Oktober  und  dem  13.  Dezember  1945 durchgeführt  wurden,  bezogen  sich  auf eine Gruppe von 331 bis 466 Personen aus 39 bis 45 Gemeinden ...
https://www.kas.de/c/document_library/get_file?uuid=90277179-8400-9d45-837e-a1b6d6fe9014&groupId=252038

-

"Missing Link: Die Tage der Befreiung" Detlef Borchers (10.05.2020)
Vor 75 Jahren kapitulierte die Wehrmacht und der II. Weltkrieg endete. Doch die wenigsten Deutschen feierten ihre Befreiung, sie sprachen von einer Stunde Null. ... Am 7. Mai 1945 unterzeichnete Generaloberst Alfred Jodl die bedingungslose Kapitulation im US-amerikanischen Hauptquartier in Reims. Obwohl die Kapitulationsurkunde ausdrücklich die Rote Armee nannte, musste Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel am 9. Mai im sowjetischen Hauptquartier in Berlin-Karlshorst noch einmal eine Kapitulation unterschreiben. Später einigte man sich auf den 8. Mai. Ein Tag, an dem nichts dergleichen passierte, wurde so zur mythischen "Stunde Null", die 75 Millionen Menschen in den vier Besatzungszonen erlebten. Erst 1985 wurde diese Stunde mit einer Rede des Bundespräsidenten ersatzlos gestrichen: ""Es gab keine 'Stunde Null', aber wir hatten die Chance zu einem Neubeginn. Wir haben sie genutzt, so gut wir konnten. An die Stelle der Unfreiheit haben wir die demokratische Freiheit gesetzt", erklärte Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag der Kapitulation. ...
https://www.heise.de/newsticker/meldung/Missing-Link-Die-Tage-der-Befreiung-4717883.html


Link

"Kunstmarkt - Hortens Nazi-Makel" Olga Kronsteiner (31. Mai 2020)
Helmut Hortens Imperium entstand auf den Trümmern jüdischer Existenzen. Er war ein Profiteur des NS-Regimes: ein Schatten, der das Mäzenatentum seiner Witwe weiterhin begleiten wird. ... In der historischen Tragweite machte das der Spiegel erstmals 1987 öffentlich, ein Jahr nachdem zahlreiche Firmen in Deutschland unbefangen den 50. Jahrstag ihrer Gründung gefeiert hatten. Zeitgleich war damit auch das zweifelhafte Jubiläum der von den Nazis betriebenen Arisierung jüdischer Unternehmen und die "Entjudung der deutschen Wirtschaft" zelebriert worden. Der damals forcierte Kaufboykott jüdischer Kaufhäuser führte zu Umsatzeinbrüchen, die deren Besitzer zum Verkauf zwangen: so auch im Falle jenes der Gebrüder Alsberg in Duisburg, das Horten 1936 übernommen und dessen sämtliche jüdische Angestellten er postwendend entlassen hat.
"Das ist Horten!", stellte sich der 27-jährige Jungunternehmer mit ganzseitigen Inseraten in der NS-Parteizeitung vor. Den Wechsel in "arischen Besitz" zelebrierte Helmut Horten eigens mit einer Eröffnung. "Jawohl – Sie haben ganz richtig gesehen: das Alsberg-Haus hat seinen Hausherrn gewechselt, ist in arischen Besitz übergangen", informierte er im Mai 1936 mit ganzseitigen Inseraten im "Duisburger General-Anzeiger".
"Jawohl", ließ er verlauten, "das Alsberg-Haus hat seinen Hausherrn gewechselt" und sei "in arischen Besitz übergegangen". In der Festschrift 1986 wurde eine manipulierte Version veröffentlicht: Statt "in arischen" war "in anderen Besitz" zu lesen. Das NS-Gütezeichen "Deutsches Geschäft" aus der Originalvorlage ließen die Horten-Chronisten aus dem Faksimile verschwinden. "So dreist und so plump" fälschten nicht alle ihre Firmengeschichte, betonte der Spiegel.
Der Horten-Konzern entstand auf den Trümmern jüdischer Existenzen, daran ließen die Spiegel-Recherchen keinen Zweifel. In weiterer Folge hatte Horten noch weitere Textilhäuser und jüdische Firmen übernommen. "Bravo Horten" ließ er in Inseraten sein Angebot feiern. Als der Handel mit Textilien eingeschränkt wurde, bekam er den Auftrag, die Kontingente zu organisieren. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schickten die Alliierten den "Reichsverteiler für Textilien" in ein Internierungslager. Nach 17 Monaten und einem Hungerstreik kam er frei und startete von vorn, kaufte nun die Unternehmen von Überlebenden, die ins Exil geflüchtet waren.
"Repatriierung deutschen Vermögens" nannte es Horten, der sich fortan als "Kaufhaus-König" und Repräsentant des deutschen Wirtschaftswunders feiern ließ. Der FDP spendete er von Mitte der 1950er- bis in die 1980er-Jahre Millionen, seine Witwe ist dagegen dem konservativen Lager der ÖVP zugetan. 2004 und 2008 vorerst sporadischer Natur mit je 100.000 bzw. 50.000 Euro. Erst mit der Kanzlerschaft von Sebastian Kurz kam auch der Dauerauftrag.
Dieses Hineinwirken eines in der NS-Zeit begründeten Vermögens in die österreichische Politik wollte die Tochter eines damals Betroffenen nicht unkommentiert lassen. Denn "hinter der Hort'schen Spendierfreudigkeit und Kunstsinnigkeit steht ein großes Unrecht, das meinem Vater das Herz gebrochen hat", gab Stephanie Stephan dem Profil (17. 5.) zu Protokoll. Ihr Vater war 1933 in die Niederlande geflüchtet und beriet in der deutschen Treuhandgesellschaft später niederländische Unternehmer im Umgang mit der NS-Besatzungsmacht. ...
https://www.derstandard.at/story/2000117778894/hortens-nazi-makel

Quote
Unterlandler

Ich finde den Artikel schäbig. Die Frau Horten ist ein Kriegskind und soll also für Enteignungen in den 30iger Jahren herhalten. Gibt es eine Erbsünde? oder Sippenhaftung?


Quote
Olga Kronsteiner

Mit Verlaub, was ist an historischen Fakten schäbig?


...

Link

Quote[...] Leopold war Anhänger kolonialistischer Ideen und gründete in Zentralafrika den offiziell eigenständigen Kongo-Freistaat, dessen absoluter Monarch und persönlicher Eigentümer er von 1876/1885 bis 1908 war. Zu dieser Zeit wurde aus dem Kongo vor allem Elfenbein und Kautschuk exportiert.


... Der Bedarf an diesem Rohstoff war seitdem stetig gewachsen. 44 Jahre, nachdem sich Goodyear die Vulkanisierung des Kautschuks hatte patentieren lassen, erfand John Boyd Dunlop den Luftreifen. Er war angesichts der damaligen gepflasterten Straßen und der Schlaglöcher auf den Landstraßen ein Erfolg, der die Nachfrage nach Kautschuk nochmals deutlich steigerte. Die Truppen des Königs überfielen Dörfer, und die Bewohner erhielten den Befehl, eine bestimmte Menge Kautschuk zu sammeln, sonst würde das ganze Dorf niedergebrannt werden. Wer zu fliehen versuchte, wurde erschossen. Um zu kontrollieren, ob die Soldaten nicht nur gejagt hatten, mussten sie für verbrauchte Munition die Hände der erschossenen Menschen vorlegen. Wenn Soldaten doch gejagt hatten, wurden deshalb auch lebenden Menschen die Hände abgehackt. Eine andere Deutung der Praxis, die Hände abzuhacken, ist laut der Fachzeitschrift Message, dass Druck auf die Zulieferer ausgeübt wurde: Wer nicht genug Kautschuk liefert, dem wird eine Hand abgehackt. Zudem bewirkte der Druck auf die Einheimischen, ständig Kautschuk zu sammeln, dass diese immer weniger dazu kamen, ihre Felder zu bestellen. So verhungerten in manchen Gegenden 60–90 % der Bevölkerung oder verließen ihre Dörfer, um sich dem Zugriff des ,,Staates" zu entziehen. Betrug 1890 der Kautschukertrag lediglich 100 Tonnen im Jahr, waren es 1901 bereits 6.000 Tonnen.

Die Methoden, mit denen belgische Handelsgesellschaften und das Militär im Kongo vorgingen, sind unter anderem in Joseph Conrads Buch Herz der Finsternis (veröffentlicht 1899) geschildert. Conrad (1857–1924) hatte 1890 als Kapitän eines Flussschiffes angeheuert. Er wurde jedoch schon bald nach seiner Ankunft krank. Auch was er im Kongo mit ansehen musste, ließ ihn so bald wie möglich nach England zurückkehren. Unter anderem sah er, wie die Soldaten Körbe voller verwesender Hände zum Zählen zu ihren Stützpunkten schafften. Er sah auch, wie an einem Stützpunkt die Köpfe von Hingerichteten auf Pfählen ausgestellt waren.

Zudem begünstigten die Strukturen des ,,Staates" den Missbrauch der Macht. Von einem wirklichen ,,Staat" konnte man nur in der am Atlantik gelegenen westlichsten Provinz Kongo Central sprechen. Der überwiegende Teil des riesigen Landes von der Größe Westeuropas wurde von rund 3.000 Europäern kontrolliert und sollte so billig wie möglich verwaltet werden. Viele belgische Offiziere kamen aus dem Kleinbürgertum und hatten keine Vorstellungen von Afrika und seinen Lebensbedingungen. Auf einen einsamen Posten fernab jeder vertrauten Umgebung versetzt, von Malaria und Luftfeuchtigkeit geplagt, bildeten sich unter den Offizieren oftmals Ängste, Melancholie bis hin zu komplettem Wahnsinn und Allmachtsfantasien, was schließlich in zahlreichen Massakern endete. Auch gab es faktisch keinerlei Rechtswesen. Durch das Fehlen von Gerichten, überhaupt weitgehenden Gesetzen, oder einer Gewaltenteilung war dem Machtmissbrauch der Offiziere, der Beamten und der Angestellten der Gesellschaften Tür und Tor geöffnet. So bildete erst der belgische Staat nach dem Ende des Freistaates eine erste unabhängige Staatsanwaltschaft (procureur général), die gegen korrupte oder gewalttätige Beamte vorgehen konnte. Bis dahin waren weite Gebiete des Kongo auch de jure in einer absoluten Despotie der örtlichen Beamten gefangen, die sowohl politisch als auch juristisch vor Ort die oberste Instanz bildeten und deren Exzesse nur im Umland der Hauptstadt Boma (in der einige europäische Mächte offizielle Gesandtschaften eingerichtet hatten) unterblieben. So ließ Leon Fievez in den ersten vier Dienstmonaten als Distrikt-Kommissar der Provinz Équateur 572 Menschen ermorden. Anschließend unternahm er immer wieder Strafaktionen. Bei einer einzelnen Strafexpedition ließ er 162 Dörfer niederbrennen und 1.346 Menschen hinrichten. In seiner Provinz wurde der höchste Kautschukertrag erzielt.

...


Aus: "Leopold II. (Belgien)" (10. Juni 2020)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Leopold_II._(Belgien)

-

Quote[...] Antwerpen – Als Reaktion auf die Proteste tausender Belgier gegen Rassismus haben die Behörden in Antwerpen eine Statue des früheren Königs Leopold II. entfernt. Die Statue soll künftig im Depot eines örtlichen Museums aufbewahrt werden.

Wegen der brutalen belgischen Kolonialherrschaft im Kongo im 19. und 20. Jahrhundert ist das Andenken an den damaligen Monarchen seit langem umstritten. Wie in zahlreichen anderen Ländern weltweit beteiligten sich nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd bei einem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis auch in Belgien tausende Menschen an Protesten gegen Polizeigewalt und Rassismus. Seit Beginn der Proteste wurden mehrere Statuen und Büsten von Leopold II. beschmiert.

Die Gruppe "Reparons L'Histoire" (Die Geschichte reparieren), die sich für die Aufarbeitung der belgischen Kolonialverbrechen einsetzt, forderte die Entfernung aller Denkmäler für Leopold II., der Belgien von 1865 bis 1909 regierte. Sie bezeichnete den König, "der für einige ein Held" sei, als "Henker, der zehn Millionen Kongolesen getötet hat".

Im Namen der "Zivilisationsmission" Belgiens im Kongo errichtete Leopold II. Ende des 19. Jahrhunderts ein Kolonialregime, das von Historikern als eines der gewalttätigsten der Geschichte bezeichnet wird. Rohstoffe wie Kautschuk plünderten die belgischen Kolonialherren durch Sklaverei und Gewalt systematisch aus.

Auch in Großbritannien haben Aktivisten im Rahmen der Proteste gegen Rassismus die Entfernung von Denkmälern gefordert, die an Menschenrechtsverbrechen während der Kolonialzeit erinnern. Am Sonntag hatten Demonstranten im englischen Bristol eine mehr als fünf Meter hohe Bronze-Statue des Sklavenhändlers Edward Colston gestürzt und im Hafen versenkt.

Parallel zur Beisetzung George Floyds in Houston kündigten Aktivisten in Oxford an, die Statue für den Bergbaumagnaten Cecil Rhodes in Oxford zu stürzen, der im 19. Jahrhundert für die britische Krone mehrere Kolonialgebiete im Süden Afrikas erwarb. (APA, AFP, 9.6.2020)


Aus: "Antwerpen entfernt Statue König Leopolds II" (9. Juni 2020)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000117986944/antwerpen-entfernt-statue-koenig-leopolds-ii

Quote
Christian Kreil

Primitivität, unsere Baustelle

Das gute an der Diskussion: König Leopold und sein monströses Gewaltregime im Kongo werden thematisiert. ... Was wir benötigen, sind keine Denkmäler, sondern Narrative: Das wissen, das "unsere Zivilisation" eben exakt mit jener Bestialität, Wildheit, Primitivität und Rohheit zu agieren vermochte, die die "Neue Rechte" anderen Kulturen anheftet.


...

Link

#58
Quote[...] Es hilft, den Satz "Wir sind rassistisch" nicht als Selbstanklage zu verstehen, sondern als nüchterne Feststellung. Wir sind rassistisch geprägt durch unzählige Bilder und Erzählungen, die wir von Kindheit an aufgesogen haben. In Geschichtsstunden, in Filmen, Werbespots, Fernsehnachrichten, Zeitungen. Ich meine damit gar nicht die alten Bücher oder Artikel, in denen Schwarze noch mit dem N-Wort bezeichnet wurden, oder die Wirtschaftswunder-Kinohits wie Toxi über niedliche, aber störende damals sogenannte "Mischlingskinder". Ich rede von unserem Welt- und Selbstbild als aufgeklärte, ihrer Vergangenheit bewusste Europäer.

Rassismus wird man nicht los durch Schweigeminuten für seine Opfer oder umgestürzte Denkmäler – so wichtig oder berechtigt solche Aktionen auch sind. Einer solchen Ideologie tritt man erst dann ernsthaft entgegen, wenn man willens ist, die Dimension ihrer Geschichte zu begreifen. Das haben wir bislang weder in Deutschland noch in Europa ernsthaft versucht.

Seltsam, denn eigentlich gilt historisches Bewusstsein als nationale und europäische Primärtugend. Als Säule eines demokratischen Deutschlands nach der NS-Zeit und der Schoah. Als Fundament der Aussöhnung nach zwei Weltkriegen und damit der Europäischen Union. Allerdings hört diese Tugend an deren Küsten auf. Europas Vergangenheit jenseits des Mittelmeers und des Atlantiks liegt hinter einem Schleier aus Verdrängung und Geschichtsklitterung. Warum? Weil die Geschichte des Rassismus auch die Geschichte des Kolonialismus und damit unseres Wohlstands ist. Über die Wurzeln des Rassismus zu reden, geht also ans Eingemachte. Aber vielleicht wird genau das gerade möglich – angeschoben durch eine ganze Reihe von Entwicklungen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben, akut beschleunigt durch unsere Reaktionen auf den Mord an dem Schwarzen George Floyd durch einen Polizisten. Manchen erscheint eine solche Auseinandersetzung über die Entstehung unserer Privilegien als Bedrohung in ohnehin bedrohlichen Zeiten. In Wahrheit ist es eine Chance.

In Europa geht es konkret um die Überwindung zweier kollektiver Lebenslügen. Die erste ist eine spezifisch deutsche: Demnach haben wir mit der "Erinnerungskultur" zu Holocaust und der Nazi-Diktatur genug zur Aufarbeitung vergangener Verbrechen beigetragen – und beim Kolonialismus waren wir gar nicht wirklich dabei. Die Menschen in den ehemaligen deutschen "Schutzgebieten" sehen das anders. In Kamerun, Togo, Tansania und vor allem in Namibia, wo die Völker der Ovaherero und Nama, nach kolonialer Ideologie "minderwertige Rassen", Anfang des 20. Jahrhunderts Opfer des ersten deutschen Genozids wurden.

Diese deutsche Lebenslüge liegt gut eingebettet in einer europäischen. Demnach war der Kolonialismus eine raue Angelegenheit, ist aber schon lange her. Außerdem haben "die da unten" in Afrika, Asien und Lateinamerika Eisenbahn, Schulen und die Anleitung zum Nationalstaat bekommen. Also die Türöffner zur Moderne. Oder um es im Fall Großbritanniens mit Boris Johnson zu formulieren: den "Segen des britischen Imperiums".

Das ist eine beachtliche Verdrängungsleistung, zumal Historikerinnen und Publizisten seit Jahrzehnten das Ausmaß der Gewalt und der Ausbeutung des Kolonialismus freilegen. Die offenen Adern Lateinamerikas, der Klassiker des uruguayischen Journalisten Eduardo Galeano stammt aus dem Jahr 1971, Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde über die Folgen der europäischen Plünderungen in Afrika erschien 1961. Das Menschheitsverbrechen des Sklavenhandels ist ausführlich, wenn auch noch lange nicht erschöpfend dokumentiert, ebenso die Gräueltaten britischer, italienischer, deutscher, belgischer oder niederländischer Kolonialbehörden.

Aber dieses Wissen blieb lange in der Nische der Postcolonial Studies hängen, es wurde durch die ideologischen Kämpfe des Kalten Krieges überschattet und nach dessen Ende durch die Hybris des vermeintlichen Sieges des (weißen) Westens. Erst die noch junge Debatte um Europas Museen – in Deutschland vor allem um das Humboldt-Forum – traf diesseits des Atlantiks zum ersten Mal den historischen Nerv. Die Einsicht, dass unsere Museen voller Raubgüter aus den ehemaligen Kolonien sind, hat lange gebraucht. Jetzt führt sie uns, ob wir es wollen oder nicht, zur Frage, was sich Europa außer Masken, Speeren, Statuen und Menschenschädeln noch aus seinen Kolonien geholt hat. Die Antwort: materiell fast alles, was es für seinen Aufstieg, also für den Anbruch des europäischen, westlichen, weißen Zeitalters brauchte. Kautschuk, Gold, Silber, Kupfer, Elfenbein, Baumwolle, Zucker. Und Millionen Sklaven.

Wie gesagt, das Wissen darum ist seit Langem mit ein paar Mausklicks verfügbar. Aber noch ist es nicht Bestandteil unserer europäischen Erzählung. Die müsste so lauten: Unsere technischen und geistesgeschichtlichen Errungenschaften – ob Industrialisierung oder Aufklärung – wären ohne die Plünderung der Kolonien, ohne Tod und Versklavung von Millionen Menschen nicht möglich gewesen. Rassismus als Ideologie ist keine Spielart von Gruppenhass, den es auf der Welt immer schon gegeben hat. Er wurde passend zum europäischen Raubzug in den Kolonien entwickelt. Ein weißes Eliteprojekt des 18. Jahrhunderts, in dem Biologen, Mediziner, Philosophen und Theologen die Hierarchisierung von Menschen in und "Höher- und Minderwertige" pseudo-wissenschaftlich wie moralisch zu untermauern versuchten. Und damit auch den Aufstieg Europas und des Westens zur "zivilisierenden" Macht. "Das Taufbecken unserer Moderne" – so hat der kamerunische Philosoph Achille Mbembe den Sklavenhandel und die Plantagenwirtschaft einmal beschrieben. Das anzuerkennen, ist der erste Schritt, um dem Rassismus der Gegenwart auf den Grund zu gehen.

Vielleicht setzen wir gerade dazu an. In Deutschland wie in Europa. Das Wort "Rasse" aus dem Grundgesetz zu streichen, ist dabei ebenso überfällig wie in Bronze gegossene Sklavenhändler vom Sockel zu holen oder Straßen und Gebäude umzutaufen, die immer noch nach deutschen "Helden" der afrikanischen Kolonien benannt sind. Paul von Lettow-Vorbeck, Adolph Woermann, Adolf Lüderitz. Nur dürfen sie eben nicht aus unserem kollektiven Gedächtnis verschwinden. Im Gegenteil: Sie sind Teil einer gemeinsamen Geschichte Europas, Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Die verlangt auch einen neuen Blick auf unsere historischen Lichtgestalten. "Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Rasse der Weißen ... die Neger sind weit tiefer." Der Satz stammt von Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, aber eben auch ein Vertreter der europäischen Ideologie des Rassismus. Das eine schloss das andere nicht aus.

Da kommt also einiges ins Wanken, wenn wir es ernst meinen mit dieser politischen Archäologie. Nicht nur unsere vorbehaltlose Verehrung europäischer Denker, sondern auch unser hartnäckiges, schon zu Kants Zeiten geformtes Narrativ von Afrika als geschichtslosem Kontinent, der wechselweise ohne weiße Hilfe verloren oder ohne Afrikaner besser dran wäre. Mit den Bildern schwarzer Kinder, die von weißen Helfern gefüttert und geknuddelt werden, während erwachsene Schwarze als hilflose Statisten daneben stehen, werden wir bis heute überflutet. Und falls die Frage jetzt tatsächlich auftaucht: Ja, die Infantilisierung ganzer Gesellschaften und die eigene Überhöhung zum weißen Retter, egal wie gut gemeint, ist ein rassistisches Stereotyp. Das Gleiche gilt für das Klischee von Afrika als "unberührter Wildnis" mit möglichst vielen Löwen und möglichst wenig Afrikanerinnen und Afrikanern, bis heute reproduziert in TV-Serien und Naturfilmen. Viele der spektakulären afrikanischen Nationalparks gehen auf die koloniale Praxis (auch der Deutschen) zurück, Landstriche gewaltsam zu entvölkern und zu "Naturschutz- und Jagdgebieten" zu erklären – natürlich nur für die weißen Herren. Zumindest so viel sollte man wissen, bevor man in Post-Corona-Zeiten die nächste Safari bucht.

Eine ehrliche Auseinandersetzung mit Kolonialismus und Rassismus führt allerdings nicht nur zu einem anderen Fernsehprogramm, sondern unweigerlich zur Frage der Entschädigung und Reparationen.

Die Ovaherero und Nama fordern sie, ebenso die Überlebenden britischer Folterlager im kolonialen Kenia oder die Angehörigen von Opfern niederländischer Massaker in Indonesien. Einigen wurde in den vergangenen Jahren Geld zugesprochen – meist beschämend kleine Summen, die man in europäischen Schadenersatzprozessen für eine gebrochene Nase festlegen würde. Aber die afrikanischen und asiatischen Kläger waren schlicht froh, dass die Verbrechen überhaupt juristisch anerkannt wurden.

Kommt bei der Debatte um koloniale Verbrechen und Ausbeutung materielle "Wiedergutmachung" mit ins Spiel, hört man vonseiten der ehemaligen Kolonialmächte schnell den Einwand: Warum? Wir überweisen "denen im Süden" doch seit Jahrzehnten Entwicklungshilfe. Auch die Bundesregierung hat so immer wieder gegen die Forderungen der Ovaherero und Nama im heutigen Namibia argumentiert. Es ist ein lang erprobter Abwehrreflex, der allerdings immer weniger funktioniert, je stärker sich Vertreter des globalen Südens in die Debatte um die shared history, die gemeinsame Geschichte des Kolonialismus einschalten.

Die Behauptung, vor allem Afrikanerinnen und Afrikaner ritten auf dem Kolonialismus herum, um vom eigenen Versagen nach der Unabhängigkeit abzulenken, ist dabei eine sehr weiße Anmaßung. In so gut wie jedem Land des globalen Südens waren und sind soziale Bewegungen gegen Korruption, Verelendung und Autoritarismus aktiv. Intellektuellen wie Aktivisten – von Textilarbeiter-Gewerkschaften in Bangladesch über Journalistenverbände in Mali bis zu Bauernkooperativen in Bolivien – geht es nicht darum, den reichen Ländern die gigantische und endgültige Rechnung für den Kolonialismus zu präsentieren. Es geht ihnen vor allem um eine neue Aufteilung der Kosten unseres Wohlstands.

Denn alle antikolonialen Befreiungskämpfe, alle Denkmalstürze und Anti-Diskriminierungsgesetze haben an einem nichts geändert: Europa und Nordamerika lagern seit 500 Jahren die Kosten ihres Wohlstands weitgehend aus. Längst haben China und andere asiatische Staaten zu unserem Club aufgeschlossen, was nichts an dem Umstand ändert, dass wir bis heute von diesem kolonialen Erbe profitieren. Die sozialen und ökologischen Kosten für unsere Ernährung (ob mit oder ohne Bio-Stempel), unsere erschwingliche Kleidung, unsere billigen elektronischen Geräte und deren Entsorgung zahlen immer noch "die anderen" – Menschen im globalen Süden. Der Soziologe Stephan Lessenich hat in seinem Buch Neben uns die Sintflut dafür den Begriff der "Externalisierungsgesellschaft" geprägt und bezieht ihn nicht nur auf die brachiale Ausbeutung asiatischer Näherinnen, deren Jeans für 29,90 Euro auf deutschen Grabbeltischen landen. Er meint mit Externalisierung auch unsere kollektive Fähigkeit, diese Zusammenhänge und das damit verbundene Elend zu verdrängen.

Das geht nun nicht mehr so einfach, seit uns mit der Klimakrise die Kosten unserer Lebensweise zum ersten Mal auch vor die eigenen Füße fallen. Wobei diese Krise eben nicht ausgleichend wirkt, sondern das Machtgefälle, das vor ein paar Jahrhunderten entstanden ist, verschärft. Die Weltgegenden, die am meisten für Europas und Amerikas Aufstieg bluten mussten, zahlen jetzt in der Klimakrise wieder doppelt und dreifach extra: mit ungleich schlimmeren Folgen der Erderwärmung infolge eines fossilen Booms, von dem sie am allerwenigsten profitiert haben.

Auch diese Fakten sind mit ein paar Mausklicks abrufbar. Die Frage ist, ob und wie sehr wir uns von ihnen in unserem Selbst- und Weltbild im besten Sinne des Wortes erschüttern lassen. Denn wir haben die Klassifizierung von Menschenleben noch lange nicht aufgegeben. Natürlich sprechen wir nicht mehr von "Rassen", von "Minderwertigen" oder "Höherwertigen". Aber wir denken bewusst oder unbewusst in Kategorien wie "kostbar", "weniger wertvoll" und "entbehrlich". Je dunkler die Hautfarbe, desto tiefer die Einstufung, desto hinnehmbarer die niedrigsten Löhne, die höheren Krankheitsraten, die niedrigere Lebenserwartung, der Verlust von Acker, Land und Wasser. Auch das zählt im Jahr 2020 zum Erbe des kolonialen Rassismus.

Die Debatten und Kämpfe, die jetzt durch die rassistische Polizeigewalt in den USA auch bei uns eine neue, enorme Wucht erfahren haben, sind anstrengend, bitter, verunsichernd, oft auch hässlich. Zumal wir weiße Europäerinnen und Amerikanerinnen Tempo und Richtung nicht mehr vorgeben. Unsere Epoche wird oft als Ende des westlichen Zeitalters beschrieben. In Wahrheit befinden wir uns mitten im "langen Abschied von der weißen Dominanz", wie es die Publizistin Charlotte Wiedemann in ihrem jüngst erschienenen Buch mit ebendiesem Titel beschreibt. Dagegen können wir uns mit Gewalt wehren, was einige jetzt schon tun und in naher Zukunft womöglich noch mehr Menschen tun werden. Aber eines können wir nicht mehr verhindern: dass andere unseren Status und all die Privilegien infrage stellen, die wir bislang für selbstverständlich hielten.

Und was passiert jetzt mit Immanuel Kant? Es gebe seiner drei, schrieb Achille Mbembe vor einigen Jahren in der ZEIT: den Kant, der den Menschen als Wesen mit souveräner Vernunft erkannt habe; den Kant des Ewigen Friedens, "der der Menschheit als Weltgesellschaft einen Horizont eröffnete, auf den wir gemeinsam zugehen müssen". Und den Kant, der in seinen europäischen und deutschen Vorurteilen stecken blieb und den Universalismus verriet. Auf die ersten beiden, sagt Mbembe, könne die Menschheit nicht verzichten. Schon gar nicht in diesen Zeiten.




Aus: "Wir ewigen Rassisten" Aus einem Essay von Andrea Böhm (18. Juni 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-06/rassismus-in-europa-kolonien-geschichte-verdraengung-sklaverei

QuoteDrGrundig #39

'Wir sind rassistisch.' hat sich für mich gleich wie eine nüchterne Feststellung angefühlt. Und genau das ist es auch. Ich BIN rassistisch, und die meisten anderen jungen, deutschen Frauen sicher ebenso. Auch wenn es keine von ihnen gern zugeben wird.
Wie ich es merke? Es fühlt sich für mich einfach anders an, wenn ich z.B. in der S-Bahn in einer Gruppe weißer Menschen sitze als in einer Gruppe schwarzer Menschen. Für mich kommt nich Sexismus dazu. Eine Gruppe weißer Frauen fühlt sich anders an als eine Gruppe weißer Männer, Schwarze Frauen anders als schwarze Männer.
Wobei dann noch soziale Kategorien hinzukommen, also 'weniger Bildung/mehr Bildung', 'weniger oder mehr finanzielle Ressourcen' etc.
Also ja: ich bin rassistisch. Ich bin sexistisch.
Jeder und jede, die von sich selbst behauptet, er oder sie mache da keine Unterschiede, sollen noch mal in sich gehen, ob es wirklich so ist.
Finde ich das gut so? Nein, natürlich nicht!
Aber das Bewusstsein darüber ist ein erster Schritt.


QuoteBiatt #7

Danke für dieses Essay! Ein wichtiger Beitrag. Koloniale Geschichte fand beinahe überhaupt nicht in meinem Abitur trotz Geschichte Leistungskurs statt. Ein kritischer Blick wurde kaum gewagt, meist wurde die Erzählung nur von Bismarck und "dem Platz an der Sonne" geprägt.

Ich hätte aber einen kleinen Verbesserungsvorschlag: Das Bild [im Artikel: Ein Kolonialoffizier in Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Burundi, Ruanda und ein Teil Mosambiks) vergnügt sich mit einem gezähmten Zebra, circa 1910] reproduziert genau das, was im Artikel kritisiert wird. Es ist ein klassisches Beispiel für koloniale Propaganda, die bisher das europäische Afrikabild prägt. Ein Weißer Mann bezwingt das Wilde.


Quotenachdenklich30 #11

Danke für diesen Artikel.


Link

Quote[...] [ Zu: "Prostitution in der DDR: Eine Untersuchung am Beispiel von Rostock, Berlin und Leipzig, 1968 bis 1989" (Deutsch) Taschenbuch – 9. Juli 2020
von Steffi Brüning (ISBN-13: 978-3954102174)
]


Wer an Sexualität in Deutschland im Jahr 1968 denkt, hat wahrscheinlich Rainer Langhans und die freie Liebe vor Augen. Doch während in der Bundesrepublik die sexuelle Revolution in vollem Gange war, gab es in der DDR mit dem 1968 beschlossenen neuen Strafgesetzbuch ein weiteres Repressionsinstrument, das speziell auf die weibliche Sexualität zielte. Denn dort galten mit Einführung des Paragrafen 249 Prostituierte als Asoziale und konnten mit mehrjährigen Haftstrafen belegt werden. Der Paragraf betraf jedoch nicht nur Frauen, die sich prostituierten: Schon sexuelle Freizügigkeit wurde unter der Prämisse "Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten" unter Strafe gestellt.

Die SED verwendete mit "Asozialität" den gleichen Begriff, der im Nationalsozialismus zur Verfolgung und Ermordung von Menschen diente, die auf verschiedene Art von der Norm abwichen. "Die SED übernahm diesen Begriff und verknüpfte ihn mit dem Fehlen einer legitimen Form von Arbeit, ohne die Kontinuität zum Nationalsozialismus zu thematisieren, obwohl diese Kontinuität nicht zu leugnen ist", sagt Historikerin Steffi Brüning, die mit ihrer neu erschienenen Arbeit "Prostitution in der DDR" die erste Untersuchung der vielfältigen Facetten des Rotlichtgewerbes im Sozialismus veröffentlicht hat.

Brüning hat sich auf die Städte Berlin, Leipzig und Rostock konzentriert. "Finanzstarke Kunden trafen Prostituierte in allen drei Städten, oft in den Bars der Interhotels. Überall sicherten und organisierten Netzwerke mit. Kellner vermittelten beispielsweise Kontakte, Prostituierte sorgten im Gegenzug für guten Umsatz und hohes Trinkgeld. Sexuelle Kontakte verlagerten sich oftmals in den privaten Raum der Frauen, da es keine Bordelle oder andere Arbeitsorte gab", so Brüning.

Brünings Analyse zeigt: Faktisch war Prostitution verboten, doch die Realität war komplizierter. Denn einerseits wurde Prostitution nicht immer geahndet, sondern teilweise sogar unterstützt, wenn sie der SED zuträglich erschien. Gleichzeitig fand der Paragraf 249 auch Anwendung, wenn es darum ging, Frauen zu unterdrücken, die ihre Sexualität allzu aktiv lebten oder deren Leben den Normvorstellungen des SED-Regimes aus anderen Gründen nicht entsprach. So war Prostitution im Sozialismus mit dem Fehlen einer legitimen Arbeit verknüpft, wurde also erst dann strafbar, wenn man sich Frauen der sozialistischen Wirtschaft nicht als Arbeitskraft zur Verfügung stellten. Hier, wie in anderen Bereichen, bekommt das Bild der "emanzipierten Ostfrau" bei näherer Betrachtung Risse.

"Die SED rühmte sich damit, quasi automatisch durch die Einführung des 'Sozialismus' Geschlechtergerechtigkeit hergestellt zu haben. Der Umgang mit Prostituierten zeigt, dass das nicht gelang", sagt Brüning. "Frauen wurden enge Normen gesetzt, aus denen sie nicht ausbrechen sollten. Sexuelle Freizügigkeit, der Kontakt zu verschiedenen Männern, die nicht aus der DDR kamen, mit Sex Geld zu verdienen, sich selbstbestimmt Freiheiten zu nehmen - all das verstieß gegen die konservativen Moralvorstellungen und arbeitspolitischen Interessen der SED. Sobald Frauen sich wie selbstbestimmte Akteurinnen verhielten, konnten sie Probleme bekommen, und das betraf nicht nur Prostituierte", so Brüning.

Ihre Analyse offenbart auch das engstirnige Frauenbild der SED: Die Partei sah sie als sexuell passiv, regimekonforme Sexualwissenschaftler unterstellten ihnen, nur bei Liebe Lust empfinden zu können. Die monogame Beziehung zwischen Mann und Frau galt als Ideal - und "kleinstes Kollektiv in der DDR".

Amtsdeutsch hießen Frauen, die viele Partner hatten, Personen mit "häufig wechselnden Geschlechtspartnern" oder kurz "HWG". War eine Frau einmal als eine solche erfasst, so konnte sie zu regelmäßigen ambulanten Kontrollen auf Geschlechtskrankheiten verpflichtet oder in geschlossene Krankenanstalten wie die venerologische Station in Berlin-Buch zwangseingewiesen werden. Die Station in Buch wurde in der Umgangssprache abwertend als "Tripperburg" bezeichnet. Dabei waren die Mädchen und Frauen, die dort nach Geschlechtskrankheiten untersucht wurden, zu etwa 70 Prozent gesund, sagt Birgit Marzinka, Leiterin des Dokumentationszentrums "Lernort Keibelstraße". Ziel dieser Stationen sei die Disziplinierung der Frauen und Mädchen gewesen sowie ihre Erziehung zu dem, was als sozialistische Persönlichkeit galt.

Prostitution wurde von der SED als kapitalistisches Phänomen dargestellt und damit auch instrumentalisiert, um den Westen abzuwerten. An junge Mädchen wurde die Warnung verschickt, sie würden in westdeutschen Rotlichtvierteln versklavt, sollten sie Republikflucht begehen. Gleichzeitig war den Herrschenden des SED-Regimes jedes Mittel recht, um an Informationen aus dem Westen zu gelangen - auch der Einsatz von Prostituierten.

Als "Honigfallen" wurden Informantinnen auf Diplomaten, Unternehmer und Journalisten überwiegend aus dem nichtsozialistischen Ausland angesetzt. "Dabei waren sexuelle Kontakte immer auch Mittel zum Zweck, aber nie das ausschließliche Ziel der Tätigkeit. Es ging darum, dass Frauen als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) möglichst langfristige vertrauensvolle Beziehungen zu diesen Männern aufbauen und keine schnellen sexuellen Begegnungen stattfinden. Diese Informantinnen waren intelligent, gut ausgebildet, sehr attraktiv und politisch loyal gegenüber der SED. Sie wurden oft nicht als Prostituierte wahrgenommen", sagt Brüning. Zu den Anforderungen für diese Frauen zählte unter anderem eine "vaterländische Gesinnung".

Auf der anderen Seite wurden Prostituierte von der Staatssicherheit unter Druck gesetzt, als Informantinnen mit ihr zusammenzuarbeiten. "Angedroht wurden zum Beispiel Inhaftierungen, die Wegnahme der Kinder, der Verlust von Arbeit. Das führte dazu, dass Prostituierte sich oft sehr schnell auf eine Tätigkeit als IM einließen", so Brüning. Für ihre Untersuchung befragte sie vier Frauen, die in der DDR als Prostituierte gearbeitet hatten. Diese zu finden sei umständlich gewesen, so die Historikerin - doch als sie schließlich erzählen konnten, taten sie dies sehr umfassend. "Die Frauen wählten für sich in der Rückschau sehr verschiedene Beschreibungen. Für eine Frau, die sich aufgrund von Armut und Sucht auf der Straße prostituierte und nur eine geringe Bezahlung erhielt, war diese Zeit mit Scham verbunden. Eine andere Frau, die mit wohlhabenden internationalen Kunden in Kontakt war und Luxus erlebte, schwärmte von ihren Erlebnissen. Beide sehen sich im Nachhinein als Prostituierte, haben sich in der DDR aber selbst nicht so wahrgenommen", so Brüning.

Quelle: ntv.de


Aus: "Zwischen Honigfalle und asozial DDR lehnte Prostituierte ab und benutzte sie" Sarah Borufka (Montag, 10. August 2020)
Quelle: https://www.n-tv.de/leben/DDR-lehnte-Prostituierte-ab-und-benutzte-sie-article21899486.html