"Schweden: Welche schwedischen Werte?" Liv Heidbüchel (17. Juli 2016)
Gleichberechtigung ist ein Grundpfeiler der schwedischen Gesellschaft. Doch nach sexuellen Übergriffen auf Festivals wird klar: Über Probleme wurde bisher geschwiegen. ... Ein willkommenes neues Phänomen sei dagegen, dass Mädchen und Frauen sich heute trauen, über sexuelle Gewalt zu sprechen, sagt Persson. Allerdings: "Viele Menschen drücken sich vor dem Einmischen", sagt sie. "Nur jeder Zehnte sagt überhaupt etwas. Außerdem ist die Toleranz gegenüber dem gewalttätigen Verhalten von Jungen und Männern sehr groß." Persson meint, dass sich vielmehr Männer in die Diskussion einmischen müssten. Die Übergriffe auf den Festivals könnten den Anlass liefern.
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-07/schweden-festivals-sexuelle-uebergriffe-bravalla---
"Männergesellschaft Türkei: Auch das Patriarchat hat ein Verfallsdatum" Caroline Fetscher (18.07.2016)
Der Putsch ist gescheitert, das Patriarchat triumphiert. Aber die Emanzipation der längst globalisierten Türkei wird nicht aufzuhalten sein. ... Das Land ist noch immer ein von Männern völlig dominiertes Territorium. Im privaten wie im öffentlichen Raum haben sie das Sagen. Symbolisch dafür stehen die Teehäuser und Cafés, auch in von türkischen Migranten geprägten Stadtteilen Deutschlands, in denen man nie eine Frau sitzen sieht. Der Zugang wird ihnen nicht einmal durch Schilder verwehrt – es versteht sich von selber, dass Frauen diese Räume nicht betreten. Eben auch nicht die Räume der Macht. ... Doch die Säkularisierungsschübe der Vergangenheit, der nachwirkende Kemalismus sowie die rasante Geschwindigkeit, mit der im Zeitalter der Globalisierung die Informationsströme fließen, verändern die Lage – zumal in den Städten. In Ankara wie Istanbul gibt es gebildete Frauen, Geschäftsfrauen, Anwältinnen, Ärztinnen und Lehrerinnen. Seit Atatürks Revolution von oben, die 1924 begann, drangen Frauen von den Rändern her in viele Lebensbereiche vor. Seit 1930 durften sie zunächst bei Regionalwahlen ihre Stimme abgeben, ab 1934 auch bei den Nationalwahlen. Widerstand der traditionellen Milieus gab es von Beginn an. Bis heute kämpfen Feministinnen wie Nebahat Akkoc gegen Polygamie, Ehrenmorde, Analphabetismus und Diskriminierung der weiblichen Bevölkerung – mit einem Wort: gegen das Patriarchat. ...
http://www.tagesspiegel.de/kultur/maennergesellschaft-tuerkei-auch-das-patriarchat-hat-ein-verfallsdatum/13888580.html---
"Homosexualitäten und Literatur Das lange Warten auf homosexuelle Romanfiguren" Alain Claude Sulzer (16.07.2016)
Im Literarischen Colloquium Berlin läuft derzeit das Festival "Empfindlichkeiten - Homosexualitäten und Literatur". Mit dabei ist auch der Schweizer Autor Alain Claude Sulzer, der einen Blick in die schwule Literaturgeschichte wirft. ... Welche Freuden und Unannehmlichkeiten außereheliche Beziehungen mit sich brachten, konnten die Leserinnen und Leser bei Fontane, Flaubert, Tolstoi und Dutzenden von weiteren Autoren nachlesen. Indem sie es einer breiten Öffentlichkeit zuführte, beglaubigte und verallgemeinerte die Literatur, was die Leser ahnten, ersehnten oder bereits am eigenen Leib erfahren hatten. Bei den Schriftstellern stieß man meist auf mehr Verständnis als im Freundeskreis.
Gleich war es mit der erfüllten Liebe und dem unerfüllten Verlangen. Davon erzählten Emily Brontë oder Heinrich von Kleist; davon erzählte Goethe, erzählten alle in allen nur erdenklichen Abweichungen. Es ging dabei ganz selbstverständlich um die vielfältigen Spielarten der Liebe zwischen den Geschlechtern. Wer sich im 18. oder 19. Jahrhundert Hinweise auf die Liebe zwischen Männern erhoffte, wurde enttäuscht.
Noch E. M. Forster entschloss sich im 20. Jahrhundert, den Roman „Maurice“ (1914), in dem die Liebe zwischen Männern unzweideutig im Mittelpunkt stand, nicht zu publizieren. Das geschah erst nach seinem Tod (1971). Seine Reputation aufs Spiel zu setzen, wäre sozialer Selbstmord gewesen. Forster schrieb Romane, die zwischen den Geschlechtern spielten. Als seine Geduld mit den normalen Menschen erschöpft war, wie er sagte, hörte er auf zu schreiben. ...
Wie müssen sich junge, homosexuell empfindende Männer und Frauen gefühlt haben, wenn sie feststellen mussten, dass ihr Begehren nicht einmal dort ein Forum hatte, wo scheinbar alles möglich schien, in der Literatur nämlich? Einer der Gründe, warum wir auf Vermutungen angewiesen sind, wenn wir etwas über homosexuelle Lebensentwürfe in historischer Zeit erfahren wollen, liegt nicht zuletzt in der Abwesenheit von Homosexualität in der literarischen Landschaft der Vergangenheit. Wenngleich es im 20. Jahrhundert frühe Versuche wie etwa André Gides „Corydon“ (1924) oder Klaus Manns „Der fromme Tanz“ (1925) gab, mussten Homosexuelle bis in die Sechziger auf selbstbewusste literarische Auftritte warten. ...
http://www.tagesspiegel.de/berlin/queerspiegel/homosexualitaeten-und-literatur-das-lange-warten-auf-homosexuelle-romanfiguren/13882562.html---
"Weibliche Breiviks gibt es nicht" Bettina Weber (24.07.2016)
Die Bilanz der letzten fünf Wochen ist erschütternd, und sie schlägt aufs Gemüt. Orlando, 12. Juni: Ein Mann ermordet 49 Menschen. Paris, 13. Juni: Ein Mann ermordet ein Polizisten-Ehepaar. Fislisbach, 14. Juni: Ein 17-jähriger Mann ermordet einen 18-Jährigen. Leeds, 16. Juni: Ein Mann ermordet eine Politikerin. Nizza, 14. Juli: Ein Mann ermordet 84 Menschen. Würzburg, 19. Juli: Ein Mann versucht, vier Menschen zu ermorden. München, 22. Juli: Ein Mann ermordet neun Menschen.
Die Liste ist nicht vollständig. Und sie endet mit Sicherheit nicht am 22. Juli. So unterschiedlich die Motive für die Morde sein mögen, so haben sie dennoch etwas gemeinsam: Die Ausführenden waren alle männlich. Genauso wie beim Massaker in Paris, den Anschlägen in Brüssel oder auf «Charlie Hebdo» und bei sämtlichen Amokläufen der jüngsten Vergangenheit. Weibliche Breiviks gibt es nicht.
Wir haben uns derart daran gewöhnt, dass es fast immer Männer sind, die töten – es scheint kaum erwähnenswert. Hätten die Täter ein anderes, augenfällig gemeinsames Merkmal, man würde längst darüber reden. Nach Ursachen forschen und Prävention betreiben. Das männliche Geschlecht reicht dafür offenbar nicht. Man nimmt es hin. Ist halt so. Obschon die Taten, die so viel Leid brachten, einen gemeinsamen Ursprung haben, über den es sich nachzudenken lohnte: eine falsch verstandene, kranke und altertümliche Männlichkeit. ...
Der Amokläufer rächt sich für sein Gefühl des Scheiterns an allen, die ihm gerade über den Weg laufen. Mit der Waffe in der Hand ist er nicht mehr klein und verloren, er verbreitet damit Angst und Schrecken und ist endlich wer. Man respektiert ihn, so, wie einem Mann Respekt gebührt: Man fürchtet ihn. Er glaubt, damit sein Selbstbewusstsein ins männliche Lot zu rücken. Lieber geht er als Killer in die Geschichte ein denn als ein Niemand. Die Welt soll seinen Namen kennen.
Die Pervertierung dieser Idee ist der IS. Dessen Mitglieder zelebrieren die archaischste Form der Männlichkeit überhaupt; sie posieren mit schwarzen, furchteinflössenden Henkermasken und immer mit Waffen. Sie erniedrigen, versklaven, foltern, töten. Sie verstehen Männlichkeit als absoluten und naturgegebenen Anspruch auf Dominanz und Herrschertum, fordern von allen anderen Gehorsam und Unterwerfung.
Diese Männer sind stehen geblieben, während die Welt um sie herum sich verändert hat. Sie reagieren trotzig und nach dem uralten Muster der Gewalt, wenn sie auf Ablehnung stossen oder sich machtlos fühlen. In ihrer blinden Wut machen sie alle anderen für ihre Lage verantwortlich und gern auch den Feminismus, der das Maskuline entwertet haben soll.
Dabei könnten sie doch just diesen als Befreiung verstehen. Er erlaubt ihnen, endlich nicht mehr diese verkrampfte Stärke an den Tag legen zu müssen, die nicht nur unmenschlich ist, sondern ihnen ohnehin nie jemand wirklich abkaufte. ...
http://www.sonntagszeitung.ch/read/sz_24_07_2016/fokus/Weibliche-Breiviks-gibt-es-nicht-69517