Kategorie: Kiel.Gaarden

[Dieses halbprivate Agieren … ]

Manche Straßen sind echte Affairen. Noch ist da der warme Becher Kaffee in der Hand. Noch geht der schlaf-trübe Blick aus dem Fenster. Kiel Gaarden. Verdichtete Weltatmosphäre. Irgendwer läuft da die Straße entlang. Irgendwer ruft einem anderen Menschen etwas zu. Der eine droht gespielt mit der Faust und grinst, der andere lacht. Mal wird gemosert und mal zeigt man es allen (was auch immer). Improvisiertes Straßentheater. Jeden Tag. Der Rasierschaum ist fast alle. Die Hinterradnarbe gibt leise Reibungsgeräusche von sich (es fehlt ihr das Schmierfett). Die Schläfen werden mir kühl im Märzwind (auf der Kieler Klappbrücke). Die große mittelgraue Wolke zieht langsam zur Seite und hellgelbes Licht bricht durch.
Es ist so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen muss. Wir stehen am Straßenrand. Hinter uns an der Hörn [„Die Hörn“ https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%B6rn] werden Container verladen. Wir warten anonym an der Ampel. Die Anonymität der Stadt lockert den Tagesablauf (ein Horror, wenn wir uns alle kennen würden!). Die Ampel geht auf grün. Die anonyme Wohlgestaltete gleitet aufrecht auf ihrem Rad über die Kaistrasse. Sie legt sich in die Kurve. Mich stört nur das ausgesendete Lebensgefühl von Fahrradhelmen (so vernünftig!) und von Trekking-Rucksäcken (so praktisch!). Die schwarze Fahrrad-Strumpfhose wird durch das grelle Sonnenlicht durchsichtig und ich sehe ein mittleres Blau mit kleinen weißen Punkten durchschimmern. Ein privater Sternenhimmel. Ist das Private politisch? Ist das Private poetisch? Bleibt das Private auf der Straße privat? Sind mir darum fast alle Plakate der Landtagswahl viel weniger ergreifend, weil nicht definiert ist, was gesellschaftlich austauschbare Rolle ist, was Inszenierung? Wie privat kann das Lächeln auf einem Werbeplakat sein? Warum werden wir mit Floskeln beworfen? Plakate als austauschbare Bilderware mit lächelnden Gesichtern (Symbolbild für was?) Mir ist das so schmerzhaft. Schlechte Inszenierungen für die Kamera. Ich war vielleicht 12. Es gab einen Termin bei einem Photographen. Meine Mutter bürstete mir (lachend, denn ich war widerwillig und drehte den Kopf weg) meine Haare. Das Foto sah aus, als wäre ich brav. Mein Gott wie brav ich aussah – und wer will das schon mit 12 Jahren? Ich schämte mich (fast noch heute! …). Auf der linken Seite erscheint der Busbahnhof am Sophienblatt. Fensterreihen. Kriegsbilder von ausgebomten Wohnblocks durchkreuzen meine Gedanken (…der Krieg in der Ukraine, die Bilder fliegen uns seit Wochen um die Ohren, echtes Sterben und wir werden apathisch-blöd vor lauter symbolisiertem Wahnsinn, der tatsächlich passiert …), dabei blicke ich auf Plakate mit freundlich lächelnden Menschen, die sich zur Wahl stellen. Es ist Landtagswahl. Plakate hängen an fast jeder Straßenlaterne (überall gut durchgekämmtes Haar, freundliche Gesichtsausdrücke auch mal ernst und entschieden mit Floskelsätzen unter den Gesichtern). Vor der Auguste-Viktoria-Straße trennen sich unsere Wege. Eine Kreuzung. Der tiefblaue Unterhosensternenhimmel fährt geradeaus. Für mich geht es um die Kurve. Ich sehe nach dem Menschen, der seit Wochen im Schülperbaum auf dem Bürgersteig etwas unterhalb von Weinhaus Bröse in einem hellgrünen Schlafsack auf einer Matratze vor einem leeren Ladengeschäft (auch bei 0 Grad!) geschlafen hat [‚Der Schülperbaum ist eine Straße in der Kieler Vorstadt. Er läuft von der Südostecke des Exerzierplatzes in einer sanften S-Kurve bergab bis zum Königsweg, in den er an der Kirchhofallee übergeht. ‚]. Er ist nicht mehr da (auch die Matratze ist weg). Jemand brüllt nach oben. Handwerkerlärm schwirrt durch die Straße. Ein Gerüst steht am Haus. Ich trete in die Pedale, es geht bergauf. Der Himmel ist licht und weit über den Köpfen der Arbeiter auf den Gerüsten. Drei Wildgänse kreuzen (in Formation) – mitten in der Stadt – in 7 Meter Höhe den Weg (und kein römischer Beamte ließt aus dem Vogelflug den Ausgang des Krieges). Schon bin ich auf dem Wochenmarkt (auf dem Exer). Der Croissant-Verkäufer ist wieder eine Spur zu nett zu mir (er ist es zu uns allen vermute ich, gut fürs Geschäft! Bin ich zu misstrauisch?) und ich bin plötzlich auch eine Spur zu nett zu ihm (es ist ansteckend). Ist dieses halbprivate Agieren auf dem Wochenmarkt eigentlich Ausdruck einer gesellschaftlichen Wahrheit? Seit vielen Jahren lebe ich auf dem Ostufer. Der Westen Kiels ist mir nicht unbedingt fremder geworden. Er kommt mir nur weniger schmerzhaft-schön und weniger ehrlich-abgründig vor. Das Kieler Ostufer hat mir den Kopf verdreht. Ich denke an die Medusastraße Ecke-Kaiserstraße und ihre hingerotzte Tatsächlichkeit. Hier im Westen, am Schrevenpark, in der Schillerstraße ist die Vorstellungswelt nicht so sehr auf das Tatsächliche gerichtet, eher mehr auf das gern gesehene (das gewollte der Konvention). Ich sehe aufgeräumte Fensterbänke. Aber das sind nur Klischees. Auch auf dem Westufer gibt es Elend und Frust. Auf dem Exer riecht es manchmal nach Fisch, auch wenn die Verkaufswägen schon abgefahren sind. Auch am Dreiecksplatz schlafen Wohnungslose an der Straße. Und Ellen passt mit ihrem ganzen Wesen viel mehr zum Ostufer – arbeitet und lebt aber am Wilhelmplatz. Und wie ist es eigentlich – sind wir Leute hier auf dem Exerzierplatz gerade ganz privat? Wer definiert das? Sind wir auf dem Wochenmarkt auch Vertreter des jeweiligen Stadtteils? Sind wir Vertreter unserer Generation? Sind wir Vertreter unser gesellschaftlichen Schicht? Sind wir nur Konsumenten? Wir wogen hin und her. Schieben das Fahrrad. Gehen über die Straße. Haben Brillen auf. Wühlen in der Handtasche. Halten den Hund an der Leine. Schieben den Kinderwagen. Ob wir wollen oder nicht: wir inszenieren hier ein kleines Schauspiel des Aussehens und des Verhaltens.
Später beim Bahnübergang steht die Uhr am Bahnsteig – und bevor ich sie mit einem Blick erhasche, wette ich mit mir selbst, wie viele Minuten ich zu früh oder zu spät bin. Die Arbeitswelt fängt mich ein (ja nun Anarchist wie vernünftig! Die Miete zahlen, das Essen kaufen, die Hinterradnarbe schmieren lassen, dabei ist doch die ganze Welt voller Absurditäten! … ) – Was hätte mein 16 jähriges Ich von der jetzigen Welt gehalten? In der Zeit wo die Tränen heißer sind (wer glaubt mit 16 schon an den Tod)? – Eine Zeit der Lustverblendung fast ohne unmaßgebliche Augenblicke.

[Unmaßgebliche Augenblicke #1 … ]

Ein neuer Tag. 6 Uhr. Langsam zu sich kommen. Der zweite Becher Kaffee war ohne Milch. Rasur, Socken, Schuhe, alte Jacke. Auf dem Klapperrad sitzend, landen ein paar kühle Regentropfen im Gesicht. Morgendämmerung an der Kieler Förde. Lastenkräne mit orangenen Signallampen über der matschigen Baustelle. Hier wird gebaut. Hier stehen zugleich die Zelte des Circus Royal, wo es kurz nach Pferdeäpfeln von Circuspferden duftet und das Rad über die provisorische Stromleitung holpernd übersetzt. Das Vorderrad erreicht die Klappbrücke. Der Uhrenwürfel an der Kaistrasse zeigt Punkt 8 Uhr.
Im Sophienhof sitzt wieder Chruschtschow. Sein Gesichtsausdruck, seine behäbige zugleich kraftvolle Körpersprache, lässt meine Gehirn, still und ohne Beteiligung von bewußtem Willen, seinen Namen ausspucken. Gehe ich an ihm vorbei, denke ich an die Archivaufnahmen von 1960 in denen Nikita Chruschtschow mit einem Schuh auf einen Konferenztisch hämmerte. Mit einem großen Hörgerät sitzt er im Mittelgang. Mal ist er ganz allein, mal sitzt er mit befreundeten oder unbekannten Delegierten der UNO auf der roten Sitzgelegenheit und beobachtet Szenerie. Chruschtschow schaut ruhig in das Gemenge. Die Sitzgelegenheit ist wie eine Insel im Gewusel, die allen Menschen gut tut, die was mit den Knien haben und mal eine Pause brauchen.
Vorfreude mischt sich mit leiser hysterischer Angst. Die Übung heißt freundlich, aber nicht zu vulgär zu werden. Hingegeben zu sein, aber zugleich auch aus Tackt ein Stückweit unbeteiligt zu bleiben. Zwischen Alltagslärm und Kapitalismus, kommt es in der Eingangshalle an der Supermarktkasse zu einem temperierten Sirenengesang (Nymphenblick) der süchtig macht.
Der Bon, nein Danke, den brauch‘ ich nicht. Das Studentenfutter und eine Gemüsesaftflasche landen in der zerlebten Ledertasche, die an der Schulter durch den Lederriemen zerrt.
Im Kieler Hauptbahnhof steht schon der dauerredende Holländer am Bahnsteig. Einer aus der Menge, schlank gewachsen, immer sprechend, einem inneren Zwang nach in ständigem Wortschwall gefangen. Ob ihm jemand zuhört ist Schnuppe. Was mag es für eine Sprache sein, woher kommen die kräftigen Gesten, der Blick ins Ungefähre, die Lautäußerungen, die ihm unwillkührlich aus dem Munde fahren – ist es Niederländisch (ich weiß es nicht)?
Die Tür schließt sich mit Regionalbahn-typischer Warntonfolge. Auf den Schienen geht es über die Autobahnbrücke an der silbernen Müllverbrennungsanlage vorbei.

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