[...] Welche Künstler wären nicht mehr tragbar, weil ihr Lebenswandel und ihre Kunstwerke bürgerliche Moral-Vorstellungen negieren? Hier der Anfang einer beliebig zu verlängernden Liste: Michelangelo, Francis Bacon, Gaughin, Degas, Picasso, Jonathan Meese, Balthus, Caravaggio, Cellini, Dali, Egon Schiele, Max Beckmann, Baselitz, Cindy Sherman, Klaus Staeck ...
... Idealerweise ist ein Museum oder eine Kunstausstellung dann ein 'safe space': ein geschützter Raum, in dem Besucher, so unterschiedlich sie sein mögen, dennoch alle sicher davor sind, von etwas behelligt zu werden, das sie als unangenehm empfinden. An die Stelle des Schutzes der Kunst vor Aggressionen, wie ihn der Grundsatz der Kunstfreiheit garantieren soll, tritt der Schutz des Publikums vor Zumutungen, die von Kunstwerken ausgehen.
Doch wäre ein solcher 'safe space' nicht ziemlich einfältig? Wenn "jeder Stein des Anstoßes beseitigt" werde, dann heiße das, so die Philosophin Juliane Rebentisch, dass man "die bürgerliche Öffentlichkeit vor der Konfrontation mit den Symptomen der eigenen Gewaltgeschichte bewahren" wolle. Aber nicht nur das. Was nämlich bedeutet es für die Zukunft der Kunst, wenn Unabhängigkeit und Autonomie schon allein deshalb nicht mehr angebracht sind, weil dann die Gefahr viel größer ist, dass sich irgendwann irgendjemand verletzt fühlt, als wenn die Werke von vornherein auf eine möglichst eng gefasste und präzise adressierte Meinungsäußerung reduziert werden? (Wolfgang Ullrich)
... Die weitere Debatte über die Kunstfreiheit sollte auf die Frage konzentriert sein, wie wichtig es ist, dass es etwas gibt, das der Beurteilung nur nach Kriterien der jeweiligen Gegenwart entzogen ist. Braucht es nicht etwas, das als Dokument anderer Weltbilder und Maßstäbe bewahrt wird oder das mit anderen Weltbildern und Maßstäben experimentieren darf? (Wolfgang Ullrich)
Aus: "Tabubrecher! Wie moralisch soll Kunst sein?" (Sendung vom Do., 10.5.2018 8:30 Uhr, SWR2 Wissen, SWR2)
Quelle:
https://www.swr.de/swr2/kunst-und-ausstellung/broadcastcontrib-swr-23232.html-.-
[...] Auktionen für Superreiche, unverständliche Monumentalkunst in Galerien – es scheint, als habe die Gegenwartskunst sich längst von der wirklichen Welt, ja auch vom Publikum abgewandt. Nein, das ist nicht so, glaubt Kunsttheoretiker Wolfgang Ullrich.
... Aber hat es nicht etwas Entlarvendes, wenn zum Beispiel ein Künstler wie Sterling Ruby, der immer wieder in seiner Kunst gesellschaftliche Fragen thematisiert, in einer Berliner Galerie riesige Wandteppiche ausstellt, die zwar irgendwie die Zustände in der Textilindustrie und die Stoffpraktiken in marginalisierten Communities aufgreifen, diese Werke aber so gigantisch sind und mit fast 500.000 Euro so teuer, dass das Publikum bloßer Zaungast dieser künstlerischen Aufklärung bleibt? Für Wolfgang Ullrich ist Sterling Ruby ein Superbeispiel für einen Künstler, der in der postautonomen Kunstproduktion angekommen ist.
„Der will ja hier nicht nur Kunst machen. Für den sind die Stoffe auch soziohistorische Dokumente. Die hat er zum Teil selbst produziert, zum Teil irgendwo erworben. Die sind zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert. Und er selber bemüht sich darum, ganz viele Diskurse daran aufzuhängen. Da geht es um den Gender-Diskurs: Wer hat diese Stoffe irgendwann gemacht? Wofür sind sie verwendet worden? Da geht es um Minderheitendiskurs. Da geht’s um Kulttechniken, die von Schwarzen vor allem gepflegt wurden. Da geht’s um religiöse Minderheiten wie die Amish People, die mit bestimmten Stoffen repräsentiert sind. Also er hat ganz viele Diskurse mit aufgerufen – und das soll ausdrücklich der Fall sein. Man soll diese Bildwerke nicht nur als Kunst betrachten, sondern auch als Aufruf, die eigene politische Sensibilität zu steigern.“
Dass sie damit trotzdem nur für Reiche produziert sind, die sich mit dem Statussymbol auch noch das gute Gewissen und die moralische Integrität dazukaufen wie in einem modernen Ablasshandel, stellt für Ullrich in diesem Fall kein Problem dar. Denn Ruby betreibe auch ein Modelabel. „Aus denselben Stoffen, aus denen er Kunst macht, macht er dann auch Hosen und Jacken und Flaggen und alles Mögliche andere, also sieht sich ausdrücklich auch als Künstler und als Modedesigner und auch eben als jemand, der sich auch noch als politischer Aktivist betätigen möchte.“
Dass die Kunst sich also nicht nur der Gesellschaft zugewandt hat, zeigt sich für Ullrich nicht nur daran, dass Kunst heutzutage nicht nur Kunst sein will, sondern auch Mode oder politischer Aktivismus. Vielmehr zeigt sich gerade an der Versteigerung in New York, dass Kunst – und insbesondere Warhol – längst zu einer Marke geworden und damit Teil der Popkultur ist. Hier spielt der Besitz des Originals kaum mehr eine Rolle.
„Gerade der hohe Preis eines solchen Werks schafft dann doch auch wieder mehr Verbindung zwischen der Kunst und einer breiteren Öffentlichkeit. Weil, für Pop-Kultur sind ja Zahlen immer wichtig, vor allem große Zahlen, superlativische Zahlen – wie viele Exemplare sind verkauft worden, in welchen Charts stand dieser und jener Song? Dass das ein Rekord ist für ein Werk des 20. Jahrhunderts, macht dieses Werk auch für eine breitere Öffentlichkeit aufregend. Insofern kommt es hier eher sogar zu einer Überwindung von Distanz, von Entfremdung zwischen Kunst und Publikum.“.
...
Aus: "Kunsttheoretiker Wolfgang Ullrich - Verliert die Kunst den Bezug zur Gesellschaft?" Moderation: Thorsten Jantschek (08.10.2022)
Quelle:
https://www.deutschlandfunkkultur.de/tacheles-108.html-
[...] Die Frage nach der Moral in der Kunst ist eine der wichtigsten Debatten in der Gegenwartskunst der letzten Jahre – für nicht wenige Kritiker und Kritikerinnen wird Kunst derzeit viel zu sehr nach moralischen, nach „außerkünstlerischen“ Maßstäben beurteilt, nach einer neuen political correctness: Postkolonialismus, #metoo oder toxisches Sponsoring sind hier wichtige Schlagworte.
Tatsächlich nehmen wir fast selbstverständlich an, dass Kunst etwas mit „Freiheit“ zu tun hat, eben mit der „künstlerischen Freiheit“ oder „Autonomie“, und was sollen da moralische Einwände? Entscheidend scheint zu sein, ob es gefällt – und vielfach verstanden und verstehen sich Künstler ja auch als Tabubrecher gegen moralische Verlogenheit.
Dabei verhandelt Kunst aber eben ununterbrochen Fragen der Moral, wahrscheinlich schon seit den allerersten Bildern. Allerdings gibt es einen feinen Unterschied zu beachten. In dem Moment, in dem man so tut, als sei zum Beispiel eine Malerei, die einen Künstler nackt im Selbstportrait zeigt, schon eine unsittliche Handlung – so als hätte der Künstler sich öffentlich entkleidet und zur Schau gestellt – vermengt man zwei zunächst einmal unterschiedliche Handlungen: das Malen und das reale Entblößen.
Dagegen wird gerne argumentiert: Bild und Realität, künstlerisches Handeln und reales Handeln seien doch sehr nah beieinander und aufeinander bezogen. Das ist zwar richtig, doch für seinen eigenen Umgang mit Bildern sollte man diesen feinen Unterschied dennoch im Hinterkopf behalten. Vielleicht lässt sich das gut an Sören Kierkegaards Schrift mit dem schönen Titel „Entweder – Oder“ zeigen, in der es explizit um die Wirklichkeit aus ästhetischer und ethischer Perspektive geht. „Entweder – Oder“ heißt, man muss sich ständig zwischen diesen beiden Perspektiven entscheiden. Der Ästhetiker ist bei Kierkegaard der Verführer, der selbstbezogen ist und verspricht und einen am Ende mit verlorener Unschuld sitzen lässt. Der Ethiker ist dagegen im Idealfall der Altruist, im Grunde also das, was viele heute als „Spaßbremse“ sehen, ein Langweiler, der seine eigenen Interessen zugunsten der Gemeinschaft hinten anstellt.
Was heute in der kapitalistischen Demokratie als Freiheit definiert wird, ist aber oft eigentlich eher ein ästhetisches Angebot als ein ethisches. Gerade in Corona-Zeiten fällt der plötzlich erwachte Gemeinsinn so sehr auf. Die ganz eigenen ästhetischen Fragen der Kunst werden aber im Kunstbetrieb heute auch mit der Ästhetik der Werbung überblendet. Und weil das so ist, verstehe ich grundsätzlich den Widerstand einer Online-Petition gegen das Gemälde „Thérèse träumend“ des Malers Balthus gut, das ein Mädchen im Kleid in lasziver Haltung mit leicht gespreizten Beinen zeigt.
Dieser Widerstand richtet sich weniger gegen die Kunst, als gegen ihre Verwendung. Museumsleute können sich natürlich immer mit der Kunstgeschichte herausreden, doch implizit wissen wir auch: Balthus hat dieses Gemälde ganz explizit als Skandalbild gemalt, und Museen tun fast alles, um ihr Publikum zu locken, und das Zeigen eines solches Gemäldes spielt dabei sicher eine Rolle.
Was im Einzelfall daraus folgt, ist eine andere Frage. Aber Kunst nur als „Ästhetiker“ anzuschauen – also weil sie unserem ästhetischem Selbstgefühl schmeichelt – reicht offenkundig nicht aus. Gerade weil Bilder immer Teil der Realität sind, müssen wir sie auch als Ethiker und Ethikerinnen ansehen, die sich in ihrem Ego zurückzunehmen wissen und die von der Realität nicht erwarten, dass sie nur ihnen allein gehört.
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Aus: "Wie moralisch ist die Kunst?" Carsten Probst (12.04.2020)
Quelle:
https://www.deutschlandfunk.de/endlich-mal-erklaert-wie-moralisch-ist-die-kunst-100.html