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[DDR (Afterglow) // Notizen... ]

Started by Textaris(txt*bot), March 01, 2017, 01:31:25 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Wie sollte man das Leben in der DDR am besten schildern und was für Themen betonen? Stasi, Mauer, Stacheldraht – oder aber billige Mieten, sichere Arbeitsplätze, subventionierte Lebensmittel und flächendeckende Kinderhorte? Wie bringt man die Alltagserfahrung vieler Menschen mit der äußeren Geschichte in einen sinnvollen Zusammenhang, ohne die DDR entweder zu verharmlosen oder zu dämonisieren? Die verschiedenen Generationen in der DDR erlebten die äußere Geschichte aus ihrer jeweiligen Perspektive jeweils völlig anders. ...

Man kann, etwas simplifizierend, die Geschichte der SBZ/DDR in drei grobe Phasen einteilen: Erstens die Zeit des Aufbaus, von 1945 bis zum Bau der Berliner Mauer 1961; zweitens die Jahre der zunehmenden Stabilisierung, ,,Routinisierung" und auch internationalen Anerkennung der DDR, in den sechziger und siebziger Jahren; und drittens die Zeit der Öl- und Wirtschaftskrisen ab Mitte der Siebziger, des erneuten Kalten Krieges ab 1979 und der wachsenden politischen und sozialen Unruhen in den achtziger Jahren – eine Zeit der zunehmenden Destabilisierung, die schon vor Gorbatschows Machtantritt in der Sowjetunion begonnen hat, deren Ende aber eng mit seiner neuen Politik des Glasnost und Perestroika verbunden war.
Betrachtet man nun aber, wie verschiedene Generationen diese Phasen durchlebten, welchen Herausforderungen sie ausgesetzt waren und wie sie darauf reagierten, so sieht das Bild doch etwas anders aus.

Die Gründungsväter, die Mitläufer, die ehemaligen Nazis in der DDR, die viel zu wenig ins Geschichtsbild kommen. Diejenigen, die im Dritten Reich schon Erwachsene waren, bildeten eine tief gespaltene Generation. Auf der einen Seite stand eine ganz kleine Minderheit, die die ,,Gründungsväter" der DDR darstellten. Sie hatten entweder gegen den Nationalsozialismus gekämpft und sind deswegen verfolgt, verprügelt, eingesperrt worden (wie zum Beispiel der spätere SED- und Staatschef Erich Honecker); oder sie sind ins Exil gegangen und erst nach dem Krieg nach Deutschland zurückgekommen, wie zum Beispiel der erste SED-Generalsekretär Walter Ulbricht.
Für diese politisch aktive und sehr linkseingestellte Gruppe bildete die DDR die Chance, ein neues Deutschland und eine vollkommen neue Gesellschaft nach sowjetischem Vorbild aufzubauen. Gerade weil sie so sehr unter dem Nationalsozialismus gelitten hatten, hatten diese politischen Akteure überhaupt kein Zutrauen in ihre deutschen Mitmenschen: nämlich diejenigen, die Hitler-Anhänger, NS-Enthusiasten oder auch passive Mitläufer gewesen waren. Für sie musste ,,Demokratie" heißen, dass die marxistisch-leninistische Partei immer leiten und lenken sollte, um den Weg in eine bessere Zukunft zu bereiten und durch gezielte Propaganda und/oder Zwang die Massen nach und nach zu überzeugen, bis sie alle in ,,neue Menschen" verwandelt wären.
Die überwiegende Mehrheit der Deutschen aber hat im Krieg gegen den ,,Bolschewismus" gekämpft. Für sie, unter ihnen auch pragmatische Mitläufer und politisch Unbeteiligte, waren die späten Kriegs- und frühen Nachkriegsjahre die schlimmsten.

... entgegen der SED-Propaganda waren nicht alle Nationalsozialisten in den Westen gegangen. In den Jahrzehnten nach dem Krieg konnten ehemalige NS-Täter – richtige, echte Täter – in weitaus größerem Ausmaß in der ostdeutschen Gesellschaft untertauchen als allgemein anerkannt wurde und immer noch wird. Wenn sie nicht vor Gericht gezogen worden waren – und die meisten Täter wurden nie vor Gericht gebracht – konnten auch sie sich erstaunlich verändern.
Gelegentlich können wir auch Einblicke darin gewinnen, wie sich individuelle Wandlungen vollzogen, zum Beispiel, wenn rechtliche Untersuchungen später mit den Tätern aufholten. Es gibt viele Beispiele von Personen, die sich in die DDR‑Gesellschaft eingefügt hatten, bevor sie entdeckt, vor Gericht gebracht und verurteilt wurden. Josef Blösche zum Beispiel, dessen Bild uns aus dem sogenannten ,,Stroop‑Bericht" über die Unterdrückung des Warschauer Ghetto-Aufstandes gut bekannt ist, lebte unauffällig in der DDR und baute sich mit Frau und Kindern ein gutes Leben auf. 1969 wurde er aber vor Gericht gezogen und zu Tode verurteilt. Der ehemalige Dresdener Gestapo-Chef Henry Schmidt wurde erst 1987 vor Gericht gebracht. Diese und viele andere wenig bekannte Beispiele, die ich nennen könnte, sind wahrscheinlich symptomatisch für eine weitaus größere Anzahl an ehemaligen Tätern und Täterinnen, die niemals ausfindig gemacht wurden und als DDR-Bürger und -Bürgerinnen ein von der Justiz unbehelligtes Leben führen konnten.

... Und die jüngste DDR-Generation? Diejenigen, die in der Honecker-Zeit geboren wurden, hatten die glücklichsten Erinnerungen. Idyllische Kindheiten, ein Gefühl der Geborgenheit, sichere Zukunftspläne – und kaum oder wenige Stasi-Erfahrungen. Und der Traum verwirklichte sich, obwohl auf ganz andere Weise, als sie es sich vorgestellt hatten: Nach 1990 konnten sie plötzlich überall hin, studieren und arbeiten, wo sie wollten, im Westen wie auch im Osten. Die glücklichen Kindheitserinnerungen mussten nicht mit dem Gefühl der Ostalgie verbunden werden wie bei der Elterngeneration.
Wie kann man nun den ,,historischen Blick" oder die ,,äußerliche Geschichte" der DDR mit den Erfahrungen und Erinnerungen der DDR-Bürger und -Bürgerinnen zusammenbringen?
Wenn Ostdeutsche nach dem gigantischen sozialen und politischen Umbruch von 1989/90 behaupten wollen, dass sie ,,davor" ,,ganz normale Leben" genossen hätten, so müssen wir das alles irgendwie zusammenbringen und mitdenken. Das ist keine einfache Geschichte – es gibt keine einfache Geschichte der DDR oder bezeichnet, was hieß die DDR –, sondern es sind viele Geschichten, besonders dann, wenn man die persönlichen Erfahrungen von Menschen aus vielen Schichten und vielen Generationen mitbetrachtet, und es wird auch nicht einfach sein, diese Geschichten annähernd angemessen medial darzustellen.

...


Aus: "Generationen, Diktatur und AlltagKein ganz normales DDR-Leben" Mary Fulbrook (26.05.2019)
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/generationen-diktatur-und-alltag-kein-ganz-normales-ddr-100.html



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Quote[...] Vom 13.-15. Oktober 2011 fand an der Pariser Universität Sorbonne Nouvelle-Paris 3 eine international besetzte Tagung statt, die sich aus narratologischer Perspektive mit der Analyse ostdeutscher Erinnerungsdiskurse und den Manifestationen einer spezifischen kulturellen Identität zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer beschäftigte. ...

LIZA CANDIDI (Turin) verdeutlichte aus ethnologischer Perspektive anhand der Analyse urbaner und musealer Erinnerungsräume die in Hinblick auf die DDR-Erinnerung bestehende Existenz paralleler Erzählungen und Erinnerungsvorgänge. In Anlehnung an Claude Levi-Strauss und Jan Assmann benutzt Candidi das Konzept der ,,kalten" und ,,warmen" Erinnerung, um die Diskrepanz zwischen öffentlichem und privatem Gedächtnis zu unterstreichen. ...

Gegenstand des letzten Panels der Tagung war die Literatur unter dem Aspekt der Identitätskonstruktion. Unter Einbeziehung von Leitfragen der Emotionsforschung fragte zunächst BERND BLASCHKE (Berlin) nach dem Stellenwert von Emotionen in der ostdeutschen Erinnerungs- und Identitätsliteratur von in den 1960er und 1970er Jahren geborenen Autoren wie Jana Hensel, Claudia Rusch, Jens Bisky und Maxim Leo. Dabei zeigte er auf, inwiefern die Texte dieser Autoren ihre besondere identitätsprägende Kraft durch emotionsbasierte Erinnerungsszenen gewinnen. Die erinnerten Gefühle lassen sich nicht wie vermutet auf Trauer und Ostalgie beschränken, sondern umfassen eine ganze Palette von Gefühlsdispositiven. HÉLÈNE YÈCHE (Poitiers) ging in ihrem Beitrag anhand der zwei unterschiedlichen Generationen angehörigen Autoren Christoph und Jakob Hein der Wechselwirkung von ,,Noch-DDR-Literatur" und ,,Post-DDR-Literatur" nach. ...


Aus: "Narrative kultureller Identität – Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989" (13.10.2011 - 15.10.2011)
Quelle: http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4012

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Quote[...] Wurde die DDR kurz nach der Wende von der ostdeutschen Bevölkerung noch einmütig negativ beurteilt, zeigen neue Umfragen zunehmend positive Beurteilungen. Trotz des seit der Wende gestiegenen Lebensstandards erfährt die DDR in den neuen Bundesländern mittlerweile in vielen Bereichen, besonders in Bezug auf die soziale Sicherheit, eine bessere Bewertung als die Bundesrepublik. Diese Einschätzung wurde auch von den Panelteilnehmern der Sächsischen Längsschnittstudie geteilt. ... Kritiker werfen ein, dass im Rahmen der Nostalgie die gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Zustände, die in der DDR herrschten, ausgeblendet, verdrängt oder schöngeredet würden. ...


Aus: "Ostalgie" (28. Februar 2017)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ostalgie

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Quote[...] Limbus (lat. für ,Rand', ,Saum', ,Umgrenzung') bezeichnet in der katholischen Theologie zwei Orte am Rande der Hölle (auch als Vorhölle, Vorraum oder äußerster Kreis der Hölle bezeichnet), an dem sich Seelen aufhalten, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind. ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Limbus_(Theologie)

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Quote[...] Gysi hat diese Rede leicht variiert schon oft gehalten: Er wirbt dafür, dass die Ostdeutschen auch die Westdeutschen verstehen. Und er lobt die Ostdeutschen dafür, was sie den Wessis an Erfahrungen voraus haben: das Umgehen mit dem Wegfall vieler Arbeitsplätze, Schulsystem und Kitas eben, mehr Frauen in Jobs. Sogar den Ausstieg aus der Atomenergie gab es in Ostdeutschland schon 1990. Es ist eine schöne Erzählung, nicht unwahr, aber eben stark eingefärbt. Liest man sie als Äußerung einer ostdeutschen Seele, dann schwebt diese in einem Raum zwischen Minderwertigkeitskomplex (Der Westen hat sich nicht für uns interessiert) und Hybris (Hätten Sie mal, schließlich sind wir Avantgarde). Sie ist weder im Himmel noch in der Hölle zu Hause. Schon gar nicht aber in der normalen Welt. Sie existiert in einer Art Limbus, jenem überirdischen Wartezimmer, in dem die Seelen bis zur endgültigen Klärung ihres Aufenthaltsstatus festhängen. ...


Aus: "Gefangen im Nachwende-Limbus" Daniel Schulz (11.6.2013)
Quelle: https://www.taz.de/!5065607/

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Quote[...] Jedes Jahr im Januar die gleichen Nachrichtenbilder: die immer noch etwas staatlich anmutende Kranzniederlegung durch führende Linke-Politikerinnen und –Politiker an den Gräbern von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Berlin-Friedrichsfelde.
Was die Nachrichten nicht zeigen, sind die Wortgefechte, die sich dort – ebenfalls jährlich – Leute aus verschiedenen politischen Lagern liefern. Linke gegen Linke, Stalinisten gegen Antistalinisten, Rechte Antistalinisten gegen linke Antistalinisten, Antikommunisten gegen Kommunisten, DDR-Nostalgiker gegen DDR-Geschädigte und mittendrin linke Menschen aus dem Ausland, die die Binnenauseinandersetzungen nicht so recht erfassen. Anstoß ist ein vergleichsweise kleiner Gedenkstein ,,Den Opfern des Stalinismus", der seit 2006 seinen Platz in der Gedenkstätte hat.

... Ost-Komplex: ein Wort mit vielen Assoziationen. Ein Wort wie aus dem Kalten Krieg, als Bezeichnung eines abgeschlossenen, feindlichen, auch unbekannten Territoriums. Und ein Wort aus der Psychologie: die Komplexe der Ostdeutschen. Aber auch der Begriff Komplexität steckt da drin: der Osten als weites Feld, widersprüchlich, vielfältig, bunt.


Aus: ",,Ich wollte schick im Westen ankommen." - ,,Der Ost-Komplex" Dokumentarfilm von Jochen Hick, 2016" Angelika Nguyen (Januar 2017)
Quelle: http://telegraph.cc/ich-wollte-schick-im-westen-ankommen/

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Quote[...]  Der Ausgangspunkt jahrzehntelanger Herrschaft der Kommunisten in der Sowjetunion und den Ländern des Ostblocks schloss eine fundamentale Verfälschung und Manipulation von Geschichte ein. Umgekehrt waren gesellschaftlicher Widerstand gegen Unfreiheit und Unterdrückung, Dissidenz und Opposition auch immer ein Kampf um die Rückgewinnung der Geschichte, den Zugang zu authentischen Informationen, Erinnerungen und deren Vermittlung in die Gesellschaft.

In den 70er und 80er Jahren stellten wir uns in der DDR diese Frage nach der Rückgewinnung der Geschichte. Das klingt so selbstverständlich, aber wie sollte man das anstellen? ...


Aus: "Die Suche nach der eigenen geschichtlichen Identität in der DDR" Wolfgang Templin (?)
Quelle: https://www.wtemplin.eu/publikationen/die-suche-nach-der-eigenen-geschichtlichen-identit%C3%A4t-in-der-ddr/

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Quote[...] Die Dresdner Historikerin hat bisher nicht über die Stasi geforscht. Die Professorin für Neuere und Neueste Geschichte promovierte zur Transformation nach dem Zweiten Weltkrieg, was für ihr jetziges Vorhaben von Vorteil sei, wie sie sagt. ,,Amerikanische Besatzungszone, Demokratisierung – mir ist so ein gesellschaftlicher Umbruch relativ vertraut", meint die 40-Jährige. ,,Dass ich mich mit dem MfS nie befasst habe, sehe ich daher nicht als Nachteil. Die Stasi ist für unser Forschungsprojekt ja nur Mittel zum Zweck, um das Phänomen des gewollten Nichtwissens in der Transformation zu verstehen." ...


Aus: "Forschungsprojekt Warum nur wenige Ex-DDR-Bürger ihre Stasi-Akte sehen wollen" Andreas Förster (01.03.2017)
Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/wissen/forschungsprojekt-warum-nur-wenige-ex-ddr-buerger-ihre-stasi-akte-sehen-wollen-25942292

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The GDR Bulletin features articles and reviews on the literature and culture of the German Democratic Republic. It was published from 1975 - 1999.
The journal was originally published by the Department of Germanic Languages & Literatures at Washington University in 26 volumes. In its early years, it appeared in the form of a newsletter, with notes on conferences, grants, news, and occasional book reviews. In later years it evolved into a more traditional journal, with scholarly articles, interviews with key GDR literary figures (e.g.- Jurek Becker, Heiner Müller), and book reviews.
https://newprairiepress.org/gdr/

Textaris(txt*bot)

#1
Quote[...] Ich denke, die Geschichte unseres Filmes reicht in die Gegenwart, verloren gegangene Träume, zerstörte Illusionen. Keiner rechnete damals damit – unvorstellbar – dass sich das System des Sozialismus auflöst, die Ereignisse überschlugen sich. Der Satz am Ende des Filmes, ,,haben wir alles verdorben?", beeindruckt durch seine Zeitlosigkeit.  ... Menschen neigen dazu, voreilig zu urteilen, nicht noch mal nachfragen, abhaken, schnell weiter. Hier erzählen wir von Leuten, die gekämpft haben, die sich geopfert haben, immerhin für die Befreiung der Menschheit, eine große Idee. Viele von denen ließen dafür ihr Leben. Aber auf ihrem von ideellen Werten geleiteten Weg sind viele selbst zu radikalen Dogmatikern geworden, unbelehrbar in ihrem Glauben.  Und es gab die Opportunisten, die wider besseren Wissens in ihrer Zerrissenheit das System am Leben hielten – eben auch Kommunisten, die innerhalb desselben Repressalien ausgesetzt waren, dennoch an der Idee des Sozialismus festhielten, diesen Staat DDR aufbauten. Ihre Treue wurde ihnen zum Verhängnis.

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Aus: "Matti Geschonneck im Interview: ,,Melancholie hat mit Liebe zu tun"" Christina Bylow (02.06.2017)
Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/kultur/film/matti-geschonneck-im-interview--melancholie-hat-mit-liebe-zu-tun--27025760

https://de.wikipedia.org/wiki/In_Zeiten_des_abnehmenden_Lichts

Textaris(txt*bot)

Jutta Voigt (* 5. Juni 1941 in Berlin)
https://de.wikipedia.org/wiki/Jutta_Voigt

QuoteSTIERBLUTJAHRE - Jutta Voigts lesenswerter Rückblick auf die Boheme des Ostens zwischen Aufbruch und Resignation
Vonj.h. am 25. Oktober 2016

... Das im AUFBAU-VERLAG erschienene Buch STIERBLUTJAHRE ist keine Chronik der Boheme des Ostens, sondern ein Material, das Geschichte durch lebendige Erzählung der Vergessenheit entreißt. "Aber je länger die Ostzeit zurückliegt, desto stärker kommt ein Gefühl von Milde auf gegenüber den überstandenen Verhältnissen und den Erinnerungen an das einzelne Leben, vielleicht weil sich nicht alles um Geld und Besitz drehte und weil vielen ehemaligen Bohemiens die Gegenwart zu brav, zu rational, zu ökonomisch erscheint. Jeder bleibt ein Kind seiner Zeit." (Voigt im Interview mit Jana Hensel/ ZEIT ONLINE)

https://www.amazon.de/product-reviews/3351036116/ref=cm_cr_dp_text/260-0478622-9451449?ie=UTF8&showViewpoints=0&sortBy=helpful#R1YYKITZRYXL9K

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Quote[...] Das Schönste an der DDR: Es war so leicht, gegen sie zu sein. Ein Land, regiert von alten Männern, die dumm genug waren, zu glauben, dass sie klüger seien als alle anderen, und die sich folglich anmaßten, das Land bis ins Kleinste zu reglementieren, so ein Land fordert jeden, der nicht nur Untertan sein will, dazu heraus, gegen Regeln zu verstoßen. Das ist dann auch sehr leicht und fühlt sich gut an.

Das ist der eine Grund, weshalb es vielleicht nie so viel Boheme gab wie in der DDR. Der zweite: Das Geld war Spielgeld, es reichte für Wohnung, Rauchwaren und Alkoholika, ansonsten spielte es keine große Rolle. Und ein dritter: Man hatte Zeit. Um auf komische Gedanken zu kommen, braucht man schließlich kein Geld, sondern nur Zeit.

Die DDR also als Heimstatt einer Boheme zu beschreiben, liegt nah. Dass das in einem Buch erst jetzt geschehen ist, ebenfalls. Denn es liegt etwas Wehmütiges in dem Unterfangen, das früher wohl als ostalgisch gebrandmarkt worden wäre, zumal dieses Buch, ,,Stierblutjahre", in einem Ton verfasst ist, der hin und wieder etwas zu süß geraten ist: ,,Entschwundene Orte, vergessene Namen, verblasste Leidenschaften – ich habe versucht, sie an unseren Tisch zu holen, bevor es kalt wird in Deutschland." Aber eigentlich schreibt Jutta Voigt, die zu Recht preisgekrönte Reporterin, in einem wunderbaren Stil, sie legt ihre Befangenheit als sympathisierender Zaungast offen, sie zitiert genug Protagonisten, denen nichts ferner liegt als eine Verklärung ihres Lebens in der Ost-Boheme, und sie beschreibt hinlänglich die dunklen Seiten im Leben der staatsfernen Künstler: Verbot, Bespitzelung, Enge.

Dass sie derlei aber nicht ins Zentrum stellt, sondern vielmehr die Versuche, alldem zu entfliehen, der Beschränkung die Weite entgegenzusetzen, dem verordneten Wir ein ertrotztes Ich, das macht den Wert dieses Buches aus. Unterhaltsam zeigt es, dass es ein gutes Leben im schlechten gab (wenn schon kein richtiges im falschen), dass mit ,,Totalitarismus" womöglich ein Anspruch der Herrschenden beschrieben werden kann, aber bestimmt nicht ihr Erfolg im Land, und warum etliche kritische DDR-Intellektuelle die gängige Beschreibung ihres Lebens im vergangenen Land als holzschnitthaft und kenntnisarm empfinden. Wenn es so gewesen wäre, müsste sich ein jeder für jeden Tag schämen, den er ohne Ausreiseantrag verbracht hat, für jedes Glas Rotwein, das er nur aus Lust und ganz ohne Grimm in sich geschüttet hat.

Wenn wir schon beim Rotwein sind, sei erklärt, warum das Buch ,,Stierblutjahre" heißt. ,,Stierblut" nämlich war der Name eines der drei überhaupt trinkbaren, weil nicht zuckersüßen Rotweine in diesem schon deshalb dem Untergang geweihten Land. Was die schiere Menge an gesoffenem Alkohol anbelangt, unterschied sich die Boheme kein bisschen vom Rest des Landes; allein die bevorzugten Weinsorten waren andere.

Jutta Voigt hat einen ausgesprochen weiten Begriff von Boheme. Für sie zählen eigentlich all jene dazu, die es mit der Kunst hatten und die ihre Individualität betonten. Würde man damit nicht die zahlreichen Wodka- und Biertrinker und die wenigen Nichttrinker ausschließen, könnte man ähnlich trennscharf sagen, dass sich der DDR-Bohemien vom Rest dadurch unterschied, dass er den Wein gern trocken trank.

Voigt beschreibt rauschende Feste und die Vorliebe für opulente Wohnarrangements. All das gehört für sie zur Boheme, weil sie die Entfernung vom Staatsvormund und die Betonung des Individuellen als Maßstab nimmt. So kommt sie nicht nur über die Beschreibung des Zeitenwandels zur Beschreibung ganz unterschiedlicher Szenen – die Einschnitte des Verbotsplenums von 1965 und der Biermann-Ausbürgerung von 1976 haben viel verändert, aus Optimisten wurden Pessimisten, aus Dableibern Weggeher. Besonders für die achtziger Jahre beschreibt sie Künstlerszenen, die sich allein in ihrer Staatsferne (und Stasidurchdringung) ähnelten, sonst aber kaum etwas miteinander anfangen konnten.

... Alkohol und Sex waren prägende Elemente dieses Alltags. Und dazwischen dauernd die Projektionen, die Sehnsüchte und Träume, was man machen müsste, was verhindert wird, und wie man es vielleicht doch machen könnte."

Dieses Nebeneinander macht das Buch so lesenswert. Es erhebt keinen Anspruch auf Deutung. Es beschreibt eine Zeit, die weder schlimm war noch schön, sondern immer beides, nebeneinander, ineinander. Jutta Voigt bringt das Kunststück zustande, eine Sehnsucht zu erklären nach einer Welt, die es verdient hat, unterzugehen.

Quotewolterstaedt 19.12.2016, 17:31 Uhr
Natürlich spielte Geld eine Rolle. Man musste ja etwas zum Essen kaufen, Kleidung, Schulsachen, Schulessen, Urlaubsreise etc. Für Konsumgüter musste man als Normalbürger ganz schön sparen. Ich habe eine Menge Biografien von "meinen ehemaligen DDR-Mitbürgern" gelesen und mich mit den Büchern und meinem Leben auseinander gesetzt. Das hier vorgestellte Buch werde ich bestimmt nicht lesen.


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Aus: "Buch über die Boheme in der DDR: Tanzen auf den Trümmern der Ideale" (19.12.2016)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/buch-ueber-die-boheme-in-der-ddr-tanzen-auf-den-truemmern-der-ideale/14994802.html

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Quote[...] Madleen ist der zweite Vorname der Journalistin Jutta Voigt, eine der wenigen namhaften Reporterinnen in der DDR. Von 1966 bis 1990 schrieb sie für die Wochenzeitung ,,Sonntag", danach für das Nachfolgeblatt ,,Freitag", die ,,Wochenpost". Seit Jahren versucht sie, den Geist der Ost-Jahre einzufangen. Mit journalistisch geschärften Essays wie ,,Der Geschmack des Ostens - Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR" oder ,,Westbesuch - Vom Leben in der Sehnsucht". Nun ist die sogenannte Boheme dran, das Kultur-Milieu, das eigenen Regeln folgen wollte.

... Nun ist die Gegenkultur kein neues Thema, im Gegenteil. Trotzdem ist das Voigt-Buch interessant, weil es aus der staatsnahen Gesellschaft berichtet. Viele der Akteure waren Mitglieder der SED, sie litten unter der Alltagskultur, die sie gleichzeitig mittrugen, was auch absurd war, von Voigt aber nicht eigens befragt wird. Die Party hat eben immer recht. Die Autorin will die flüchtigen Momente einfangen. Sie bietet Vorstufen zu einer Chronik der Gefühle der um 1940 geborenen, anfangs DDR-begeisterten Elite.

... So wird die Voigtsche ,,Möwen"-Boheme im Rückblick mehr als ein Lifestyle, denn als eine Lebenshaltung kenntlich. Mehr Schickeria als Underground. Mehr Kultur- als Kunst-Milieu. Für das Politische hatte diese vergnügte Oberschicht keinen praktischen Begriff: ,,Das echte Volk hat mich nie interessiert, nur die Idee von ihm", sagt der befragte Brecht-Assistent. Kurz gefasst: ein Hoch auf uns. Dieser selbstverliebten DDR-Elite zu folgen, hat - bei aller Redseligkeit und Weichmalerei (,,Es war einmal ein Land..."), die sich Jutta Voigt auch gestattet - einigen kulturgeschichtlichen Reiz.

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Aus: ",,Stierblutjahre" Autorin Jutta Voigt fängt Geist des Ostens ein" Christian Eger (20.10.2016)
Quelle: http://www.mz-web.de/kultur/-stierblutjahre--autorin-jutta-voigt-faengt-geist-des-ostens-ein--24950336


Textaris(txt*bot)

#3
Quote[...] Im Alter von 14 Jahren habe ich mich zum Dienst bei der Stasi verpflichtet und vier Jahre danach meine Ausbildung dort begonnen. Im Herbst 1989 bei der Stasi anzuheuern, wirkt von heute aus betrachtet wie die verbohrte Entscheidung eines Ewiggestrigen. Für mich stand der Gang zur Stasi damals nicht einmal im Widerspruch zu den Hoffnungen auf eine andere und bessere DDR, die ich mir als Jugendlicher wünschte. Dass andere sich längst entschieden hatten, das Land zu verlassen und sich politisch zu engagieren, konnte ich damals nicht verstehen. Als Freunde vor mir, die in Oppositionsfamilien aufgewachsen waren und auch selbst von der Stasi verfolgt wurden, mir nach der Wende von ihren Erfahrungen in der DDR erzählten, hatte ich oft das Gefühl, in einem anderen Land groß geworden zu sein.

Ich habe die DDR eher von der Sonnenseite kennengelernt, und wenn es Kritik gab, dann wurden Unzulänglichkeiten besprochen und nicht das System infrage gestellt. Für mich gab es sowohl in der Familiengeschichte als auch im Alltagserleben eine weitgehende Überschneidung mit den offiziellen Erzählungen der DDR. Mich für den Sozialismus einzusetzen, kam mir als Jugendlicher folgerichtig vor.

Ich habe den größten Teil meiner Jugend in Plattenbauten am Stadtrand verbracht. Die hatten damals einen sehr guten Ruf, weil sie über Warmwasser und Zentralheizung verfügten. Als ich geboren wurde, da stand die Mauer schon fast zehn Jahre, und wie die meisten Kinder in meinem Alter kam ich gar nicht auf die Idee, diese Situation grundsätzlich infrage zu stellen. Ich erinnere mich an Fußballspiele, die auf Sportplätzen in unmittelbarer Nähe zur Mauer stattfanden. Für mich, und wohl auch für viele andere Kinder, war es ein Teil der Normalität. Ein Stück gebaute Umwelt, die schon immer da ist, und über die du dich nicht jedes Mal aufs Neue wunderst. Wir machten höchstens mal einen Witz darüber, dass der Ball wohl für immer weg wäre, wenn wir ihn über die Mauer schießen würden. Daneben gab es diese lebendig gehaltene Familiengeschichte mit zwei lebenden Urgroßeltern, die gegen die Nazis gekämpft hatten und ins Exil gehen mussten. ...

Zum öffentlichen Thema wurde meine Vergangenheit erst 2007, als ich in einem Interview in der taz über die begonnene Ausbildung beim MfS und die Verpflichtung, später für die Staatssicherheit zu arbeiten, berichtet hatte. Der Anlass für das Interview damals war ein Ermittlungsverfahren nach Paragraf 129a gegen mich und Freunde von mir. Uns wurde vorgeworfen, Teil einer terroristischen Vereinigung zu sein, und wir wurden 2006 und 2007 über viele Monate mit umfangreichen Überwachungsmaßnahmen überzogen. Die Verfahren wurden dann später eingestellt. Bei einzelnen Beschuldigten, die schon zu DDR-Zeiten in der Opposition waren, hatte die Bundesanwaltschaft Stasi-Akten genutzt, um die Persönlichkeitsprofile des BKA noch mal zu schärfen und kontinuierliche Positionen der Beschuldigten ausfindig zu machen. Uns war schnell klar, dass eine Skandalisierung der Nutzung von Stasi-Akten durch das BKA nur überzeugend ist, wenn ich gleichzeitig meine Geschichte öffentlich mache. Seitdem war öffentlich bekannt, dass ich mich bei der Stasi verpflichtet und eine Ausbildung dort begonnen hatte. Ich habe aus meiner Vergangenheit kein Geheimnis gemacht, und wer immer sich dafür interessierte, hätte es selbst bei Wikipedia nachlesen können.

Ich hatte zu der Zeit schon promoviert und forschte seit 1998 als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Universitäten zu Fragen der Wohnungspolitik. Mit den steigenden Mietpreisen und den zunehmenden Verdrängungsprozessen in Berlin wurde ich regelmäßig als Experte von verschiedenen Medien befragt. Meine Stasi-Vergangenheit schien dabei kein Problem zu sein.

Das änderte sich erst im vergangenen Jahr, nachdem mich die Linkspartei für die rot-rot-grüne Landesregierung in Berlin zum Staatssekretär für Wohnen vorgeschlagen hatte. Am Tag vor der offiziellen Ernennung veröffentlichte die B.Z. meine Stasi-Akte, und Forderungen zu einem Rücktritt wurden geäußert. Es folgten Wochen einer intensiven politischen und medialen Debatte, in der es um meine Vergangenheit und den späteren Umgang mit ihr ging. Im Fokus stand dabei vor allem die Frage, ob eine begonnene Ausbildung beim MfS als hauptamtliche Tätigkeit zu bewerten ist, weil ich dies in einem Fragebogen verneint hatte. 

Ich hatte die politische Brisanz meiner eigenen Vergangenheit völlig unterschätzt und eigentlich damit gerechnet, dass meine wohnungspolitischen Ideen und Vorschläge einen öffentlichen Gegenwind hervorrufen würden. Doch statt mit der Entscheidung für einen parteilosen kritischen Wissenschaftler mit Bewegungsbezug einen Aufbruch in eine neue Stadtpolitik zu signalisieren, sah es plötzlich so aus, als würden rückwärtsgewandte Kräfte der Linkspartei die alten SED-Kader wieder an die Macht bringen.   

Ich habe die Debatte als relativ erbarmungslos empfunden. Es ging weniger um eine differenzierte Aufarbeitung von Geschichte und Verantwortung als vielmehr um eine dämonisierende Stigmatisierung. Die Havemann-Gesellschaft hat es mit ihrem Veranstaltungstitel ganz gut auf den Punkt gebracht: "Einmal Stasi – immer Stasi?" Immerhin mit Fragezeichen. Die Frage wurde leider in der aufgeheizten Atmosphäre der Diskussion nicht wirklich geklärt, und die Medienberichterstattung im Dezember und Januar hat ihre eigene, sehr eindeutige Antwort gegeben. Wenn der Stasi-Vorwurf im Raum steht, kommt das auch 27 Jahre nach der Wende einer Vorverurteilung gleich.

Dies ist ein Auszug aus dem Buch Kommen. Gehen. Bleiben. Andrej Holm im Gespräch mit Samuel Stuhlpfarrer (Mandelbaum Verlag, Wien / Berlin 2017, 16.00 €, ISBN: 978385476-666-7). Der Gesprächsband ist ab dem 27. November 2017 im Handel erhältlich. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurden die Interviewpassagen in einen Fließtext verwandelt und entsprechend angepasst.

...


Aus: "Andrej Holm : "Ich war Teil eines Repressionsapparats"" Andrej Holm (26. November 2017)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2017-11/andrej-holm-buch-kommen-gehen-bleiben-vorabdruck/komplettansicht


Quote
Das_Ding
#5

"Wenn der Stasi-Vorwurf im Raum steht, kommt das auch 27 Jahre nach der Wende einer Vorverurteilung gleich. "

Und wenn er sich dann bewahrheitet, wird völlig zu Recht die Reißleine gezogen. Wir verurteilen heute Greise, weil sie als "kleine Rädchen" in sehr jungen Jahren den Terror der Nazis ermöglicht haben, und das völlig zu Recht. Sollen wir jetzt bei der Stasi eben so lange warten? Die Stasi war Staatsterror, wer sich dem - zu dem noch freiwillig - angeschlossen hat, sollte heute absolut nicht in politischer Verantwortung stehen. Was für eine Verhöhnung der Opfer das (erneut) wäre. Hat man denn echt gar nichts gelernt und begriffen?


QuoteHerdentier
#5.1

Zwischen einem KZ Wächter und einem Angehörigen des Wachbataillons des MfS ist doch ein gewaltiger Unterschied. ...


Quotemwossi
#9

Wie auch immer, anerkennenswert ist zumindest die Bereitschaft, sich der Debatte um seine Tätigkeit als Teil des DDR-Systems zu stellen. Was ich bisher lese scheint mir auch einigermaßen nachvollziehbar. Natürlich kann man dieses und jenes subjektiv und voreingenommen hineininterpretieren, wie das so gern von Foristen gemacht wird.
Ich würde mich allerdings freuen, wenn man so eine detaillierte Beschreibung seiner DDR Geschichte auch einmal von Frau Merkel und Herrn Sauer lesen könnte.


QuoteSiegfried Wittenburg
#17

Ich kenne solche Biografien. Aus der Sicht der späten Erkenntnis geschrieben, klingen sie wie eine Bitte um Entschuldigung. Ich kenne auch Biografien, die von den Tägern eines menschenfeindlichen Systems, gewollt oder ungewollt, arg geknickt wurden und diese Menschen bis heute darunter leiden. Diese wären die Empfänger einer Entschuldigung. Doch warum geschieht dieses nicht?

Stattdessen werden Bücher veröffentlicht und es wird Geld damit verdient, indem sich diese Autoren Asche aufs Haupt streuen. Ich wünschte mir, dass Herr Holm sich für die Menschen engagiert, die in dem System, dem er durch den Mut anderer entkommen ist, auf der Schattenseite standen und dieses immer noch tun.


QuoteGottschedin
#18

Holms Text liest sich - und das ist schon fast tragisch-komisch zu nennen - achtundzwanzig Jahre nach der Wende in großen Teilen wie ein Rechenschaftsbericht für eine FDJ-Leitung, um nicht zu sagen, wie ein Bericht für seinen damaligen Dienstherren.


QuoteHerdentier
#19

Die Mitarbeiter des MfS ,die vom BND übernommen wurden, mussten bestimmt keinen Kotau machen, weil sie beim Gegner waren.
Markus Wolf der "Mann ohne Gesicht" hat von der CIA und den Israelis eindeutige Angebote bekommen.
Hätte er diese Angebote angenommen,wären man bei dem versuch seine Verantwortung für das "Unrechtssystem" zu analysieren auf ungeahnte Schwierigkeiten gestoßen. ;-))
Also Schattenspiele für die Öffentlichkeit!


Quotetb
#20

Die DDR war ein Klassen-Staat, in dem die Zugehörigkeit zur Herrschaftsschicht vererbt wurde. Herr Holm, Abkömmling dieser Aristokratie wurde, wie vermutlich viele aus diesem Kreis, mit 14 Jahren durch den Initiationsritus aufgenommen.
Als geborener Abkömmling der Herrscherklasse konnte man bei ihm auf die üblichen Demutsgesten in Bewerberklassen für Berufsoffiziere, nachmittäglichen Politunterricht etc. verzichten. Aufgewachsen und unterrichtet wurde er in einer geschlossenen Umgebung, in der er auch nur auf Personen der gleichen Herkunft stieß. Man war und blieb unter sich. 1989/90 kam es zu kurzfristigen Irritationen ob und wie man seinen Status als Mitglied der Herrschenden Klasse bewahren konnte. Mit oder ohne revolutionäre Tat-vulgo Gewalt. Herr Holm wählte dann den problemlosen Weg durch das besondere Biotop Humboldt Universität. Hier wurden keine Fragen gestellt und wenn doch,w ar man nicht an den Antworten interessiert. Beim Sprung an die Verwaltungsspitze Berlins stellte sich Herr Holm dann etwas ungeschickt an. Vorläufig muss er mit einem gut bezahlten Beraterposten in der zweiten Reihe vorlieb nehmen. Wie im Parteilehrjahr vermittelt, übt er jetzt Selbstkritik. Vermutlich wird ihm vergeben.


Quote
Karl Lauer
#22

Ach, bitte. Wir haben ganz andere Kaliber an viel wichtigeren Schaltstellen der Macht.

Schäuble, Koch, Bouffier, und und und


QuoteDipl.ing
#28  —  vor 12 Stunden 5

Diebkommentatoren wissen natürlich alle, wie sie sich in der DDR verhalten hätten.... hat jemand mal darüber nachgedacht wie alt Herr Holm damals war , offensichtlich ist ein steinewerfender Herr Fischer als Außenminister tolerabel ein Herr Holm aber nicht.


QuoteEllerkongen
#29

Auf der einen Seite beschwert man sich ja, dass nicht genug aus dem Osten in Führungspositionen kommen ... auf der anderen Seite wirft man alle aus dem Osten aus den Führungspositionen.

Seien wir doch ehrlich: die kompetentesten Männer und Frauen waren nun mal Teil des Staatsapparats.


QuoteFlorian James Bond
#34

Too little and a. little. too. late!


QuoteInana77
#43

Vieles an dieser Debatte erscheint mir ehrlich gesagt etwas übertrieben und naiv. Wir haben auch andere Leute in der Politik, deren Rolle in der DDR etwas unklar ist und die auch deutlich länger damit beschäftigt waren, als Andrej Holm, der im Wesentlichen eine Ausbildung angefangen hat.
Selbst bei unserer Bundeskanzlerin muss man nur eins und eins zusammenzählen, um sich auszurechnen, dass sie zumindest nicht im Widerstand gewesen sein wird. Sonst wäre sie weder in der FDJ noch in der Akademie der Wissenschaft in ihre damalige Position gekommen. Sie hätte auch nicht studieren dürfen. Darüber regt sich kein Mensch auf.
Überhaupt sind die wirklichen Fragen beim Untergang der DDR ganz andere, nämlich warum Moskau mit einem still hielt und worum auch andere Kräfte zurückgehalten wurden. Im Grunde ist es nicht anders erklärbar, als dass maßgebliche Kräfte schon die Seiten gewechselt hatten. Die Frage ist dann aber auch, wieso, wo die heute sind und auch was sie dafür bekommen haben. Die friedliche Implosion der Sowjetunion bleibt sicher ein Rätsel, dass auch irgendwann näher untersucht werden sollte. Sich aber einem Mitläufer im Teenageralter aufzuhängen, ist eine Ersatzhandlung.


Quote
Letterfromboston
#46

Es ist sehr leicht, Pauschalurteile zu faellen, wenn man nicht ein direkt Betroffener - auf welcher Seite auch immer - war.
Hier , so meine ich, ist es hilfreich, sich einen Speigel vorzuhalten und zunaechst zu fragen, wie man selbst gehandelt haette.
Herrn Holms Darstellungen finde ich nachvollziehbar und glaubwuerdig. Als 14-jaehriger Heranwachsender hat man durchschnittlicherweise nicht den geschaerften kritischen Blick eines Erwachsenen mit selbstaendig entwickelter Meinung. Wenn dann die Geleise schon einmal in eine Richtung gelegt sind und das Umfeld keine Herausforderung zum Hinterfragen abverlangt, faehrt halt der Zug in eben diese Richtung los.
Ich erinnere mich noch gut, dass ich selbst in jenem jugendlichen Alter, in einem konservativen Dorf aufgewachsen, ein ernsthafter Verfechter der Politik des 'hervorragenden' Kanzlers Adenauer war, der mit seinem Minister Erhard zusammen den Wiederaufbau des Landes bewerkstelligt hatte. Erst als ich mein Studium begann und mich mit der aufgeflammten Studentenbewegung auseinandersetzte, wurde mir bewusst, dass der materielle Aufschwung gravierende Schatten ueberdeckte: Die Restaurationsphase hatte in Verwaltung und Justiz vielen Alt-Nazis Unterschlupf gewaehrt, die ihre wahre Gesinnung nicht oeffentlich zeigen sollten/konnten, aber dennoch danach handelten. (An den Folgen leidet Deutschland noch heute!)
Dies aenderte mein Bild von der Gesellschaft nachhaltig und folglich meine politische Position.  Ich wurde aktives und kritisches SPD-Mitglied. Fuer solch einen Wandlungsprozess braucht es persoenliche Reife und ggf. ein katalytisch wirkendes Umfeld.
In Herrn Holm's Fall fehlte zumindest dieses Umfeld. Der junge Mann wurde quasi von den Ereignissen im Sommer/Herbst 1989 ueberrascht. Seine moegliche Naivitaet kann man ihm nicht zum Vorwurf machen.
Hingegen sind aus meiner Sicht diejenigen, die Herrn Holm 's Berufung zum Staatssekretaer vorbereiteten und durchsetzten, bestenfalls naiv, unguenstisten Falls borniert gewesen, nicht gleichzeitig auf seine Stasi-Vergangenheit hinzuweisen. An frueheren Beispielen hatte sich meiner Erinnerung nach schon gezeigt, dass selbst ein ehemaliger IM-Status heutzutage nicht mehr sicher verheimlicht werden kann. Herr Holm haette sich vermutlich viel Aerger erspart, wenn er diesen Umstand mit seinen Parteifreunden diskutiert haette.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Mehr als 28 Jahre nach dem Mauerfall liegen noch immer Millionen Schnipsel zerrissener Stasi-Akten ungenutzt in Säcken. Das werde vorerst so bleiben, die massenhafte Rekonstruktion am Computer komme nicht weiter voran, sagte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, der Deutschen Presse-Agentur. Das Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik habe eine leistungsfähige Software entwickelt, doch es gebe keine entsprechenden Scanner. Das Projekt sei vorerst gestoppt.

Vor zehn Jahren war das Vorhaben gestartet, mit dem die Papiere virtuell zusammengesetzt werden sollten. Etwa sieben Millionen Euro wurden investiert. Erschlossen wurde der Inhalt von 23 Säcken, was 91.000 Seiten entspricht. Auch das Zusammenfügen von Stasi-Papieren per Hand im bayerischen Zirndorf wurde Ende 2015 beendet. Die von Stasi-Offizieren zerfetzten Papiere in rund 15.500 Säcken sind noch nicht erschlossen. (dpa)


Aus: "Aufarbeitung der SED-Diktatur: Rekonstruktion zerrissener Stasi-Akten scheitert an der Technik" (02.01.2018)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/politik/aufarbeitung-der-sed-diktatur-rekonstruktion-zerrissener-stasi-akten-scheitert-an-der-technik/20803970.html

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Quote[...] Bei der Stasi-Unterlagenbehörde sind seit ihrem Bestehen mehr als 3,2 Millionen Anträge auf persönliche Einsicht in Akten der DDR-Staatssicherheit gestellt worden. In diesem Jahr seien es bis Ende November etwa 46.300 Anträge gewesen, sagte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn. 2016 waren es insgesamt 48.600 Anträge. Obwohl die Zahlen langfristig zurückgingen, sei das Interesse noch höher, als anfangs erwartet.

Manche Menschen wagten erst jetzt als Rentner den Blick in die Vergangenheit und beantragten Akteneinsicht, sagte Jahn. Es gebe noch die Angst zu entdecken, von Nachbarn oder Freunden bespitzelt worden zu sein, so der frühere DDR-Oppositionelle. Neu seien auch verstärkte Nachfragen der ,,Enkelgeneration", die mehr über das Leben gestorbener Familienangehöriger wissen wolle. Diese Anträge machten mittlerweile 15 Prozent der Erstanträge aus.

,,Die Akten klären Schicksale auf, sie sind Dokumente von Menschenrechtsverletzungen und nach wie vor ein wichtiges Instrument der Aufarbeitung", so der 64-Jährige. Seit 1992 gibt es die Möglichkeit zur persönlichen Einsicht in Unterlagen, die die Stasi über Menschen ohne deren Wissen geführt hat. Als erste konnten DDR-Bürgerrechtler wie Bärbel Bohley in der neu gegründeten Stasi-Unterlagen-Behörde in Papieren lesen, die die Geheimpolizei über ihr Leben angelegt hatte. Allein 1992 wurden laut Behörde in Ostdeutschland fast 522.000 Anträge auf Akteneinsicht gestellt.

Derzeit können laut Jahn zwei Drittel der Anträge in wenigen Wochen beantwortet werden. Bei dem Rest müsse noch sehr viel aufwendiger im riesigen Stasi-Archiv recherchiert werden – auch um Verwechslungen auszuschließen. Das könne Monate dauern. ,,Bei einem Drittel der Anträge sind die Wartezeiten auf eine Antwort noch immer zu lang. Aber das spricht auch für die hohe Qualität der Auskünfte", so Jahn. Rund eine Million Bürger stellte bereits mehrmals Anträge.

Der Berg der noch offenen Anträge werde weiter abgetragen, versicherte Jahn. Gab es 2016 noch rund 54.400 nicht abgeschlossene Fälle, seien es in diesem Jahr etwa 43.300.

Die meisten Anträge auf Akteneinsicht wurden in diesem Jahr in der Hauptstadt gestellt – laut Bundesbehörde rund 13.200 (bis Ende November). Das waren fast genauso viele wie im gesamten Jahr 2016. Seit 1992 kamen hier rund 782.400 Anträge zusammen.

Im Nachbarland Brandenburg gingen in der Außenstelle Frankfurt (Oder) seit Januar rund 2000 Anträge auf persönliche Einsicht in die Akten ein (bis Ende November), etwa 500 weniger als im ganzen Jahr 2016. In Brandenburg waren es seit Bestehen der Bundesbehörde mit ihren Außenstellen rund 305.400 Anträge.

In Sachsen wurden in drei Außenstellen der Behörde in diesem Jahr 12.430 Anträge (bis Ende November) von Bürgern abgegeben. Das waren demnach etwa 940 weniger als im Jahr zuvor. Insgesamt summierte sich im Freistaat die Anzahl der Anträge auf knapp 839.300 seit Bestehen der Behörde.

In Sachsen-Anhalt betrug die Zahl der Anträge in diesem Jahr (bis Ende November) etwa 5900 (2016: knapp 6700). Insgesamt wurde etwa 404.100 Mal die persönliche Akteneinsicht beantragt, seitdem das möglich ist.

In Thüringen nahmen die Mitarbeiter in den Außenstellen der Bundesbehörde rund 7400 Anträge (bis Ende November) entgegen, während es im gesamten Vorjahr rund 7900 waren. Die Gesamtzahl der Anträge belief sich laut Angaben der Behörde seit 1992 auf 525.400.

In Mecklenburg-Vorpommern gingen in diesem Jahr rund 5300 Anträge ein (bis Ende November). Im vergangenen Jahr waren es etwa 530 Anträge mehr. Die Gesamtzahl der Anträge auf persönliche Einsicht in die Akten seit 1992 wurde mit rund 351.230 angegeben.

Nach Angaben der Behörde werden im Dezember erfahrungsgemäß nicht mehr sehr viele Anträge gestellt. Die Zahlen für das gesamte Jahr 2017 dürften sich deshalb nicht wesentlich erhöhen.

Jahn zeigte sich überzeugt, dass es die persönliche Einsicht in die Stasi-Papiere dauerhaft geben wird. Derzeit würden zusammen mit dem Bundesarchiv Vorschläge zur Zukunft des Stasi-Unterlagen-Archivs erarbeitet, so Jahn.

Eine Expertenkommission hatte empfohlen, die Stasi-Akten bis 2021 ins Bundesarchiv zu überführen, eine Stiftung einzurichten und die frühere Stasi-Zentrale in Lichtenberg zum ,,Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand" weiterzuentwickeln. Doch Opferverbände befürchteten eine Abwicklung der Behörde. Die Vorschläge wurden auf Eis gelegt. Über Veränderungen muss der Bundestag entscheiden. Schnelle Beschlüsse sind aber nicht zu erwarten. (dpa)



Aus: "Stasi-Akten Mehr Antragsteller für Einsicht" Jutta Schütz (28.12.2017)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/berlin/stasi-akten-mehr-antragsteller-fuer-einsicht-29399358

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Quote[...] Die frühere Stasi-Zentrale in Berlin wird weiter zum Lernort für Geschichte ausgebaut. Eine neue Dauerausstellung im riesigen Archiv mit original erhaltenen Akten der DDR-Staatssicherheit solle voraussichtlich im Juni eröffnet werden.

Das sagte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, der Deutschen Presse-Agentur. «Der Campus für Demokratie nimmt Kontur an. Der Ort der Repression und der friedlichen Revolution wird nun immer mehr zum Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand.»

Im damaligen Ost-Berliner Stadtteil Lichtenberg residierte das DDR-Ministerium für Staatssicherheit ( MfS) in einem abgeschotteten Gebäude-Komplex mit Tausenden Mitarbeitern. Nach dem Mauerfall retteten Bürgerrechtler und aufgebrachte Einwohner durch die Erstürmung der Zentrale einen großen Teil der Papiere vor der Vernichtung. Insgesamt blieben rund 111 Kilometer Stasi-Akten erhalten.

Die Ausstellung mit dem Titel «Einblick ins Geheime» soll auf drei Etagen im teilsanierten Haus 7 gezeigt werden. Bislang gab es nur limitierte Führungen durch das Archiv. Nun wird ein separater Bereich mit extra Eingang für die Ausstellung geschaffen. Großformatige Fotos, die Installation eines Aktenstapels, ein original Karteischrank und eine begehbare Akte gehören dazu. In dem dann offenen Teil des Hauses könnten Besucher die Arbeitsweise des MfS als Teil der SED-Diktatur erkunden, so der frühere DDR-Oppositionelle.

Ziel sei, die Unterschiede zwischen Damals und Heute deutlich zu machen, betonte Jahn. Legte die Stasi einst Akten zur Überwachung von Menschen an, seien sie heute am historischen Ort ein wichtiges Instrument zur Aufarbeitung. Dabei müsse jetzt die Brücke zur nächsten Generation gebaut werden. Auch international gebe es weiter ein großes Interesse an der Arbeit des Archivs.

Der Bundesbeauftragte will das einstige Machtzentrum der Stasi zum Lernort für Demokratie entwickeln. Im Haus 1, dem einstigen Amtssitz von Stasi-Chef Erich Mielke gibt es seit 2015 eine Dauerausstellung zum Wirken der Staatssicherheit, auf dem Innenhof eröffnete im Vorjahr eine Open-Air-Ausstellung zur friedlichen Revolution. Aus dem einstigen Casino für Stasi-Offiziere (Haus 22) soll ein Informationszentrum mit Bücherladen zur SED-Diktatur, Seminarräumen und einem Lesecafé werden.

Zur Zukunft der Behörde mit derzeit 1600 Mitarbeitern sagte Jahn, bis zum 30. Jahrestag des Mauerfalls im November 2019 sollten die Weichen gestellt sein. Derzeit erarbeiteten seine Behörde und das Bundesarchiv Vorschläge. «Wir gestalten den Transformationsprozess Schritt für Schritt. Doch dann muss der Bundestag entscheiden», betonte Jahn. Derzeit würden Machbarkeitsstudien zur Zusammenlegung von Archivbeständen in den ostdeutschen Bundesländern vorbereitet.

Vor mehr als einem Jahr hatte eine Expertenkommission empfohlen, die Stasi-Akten bis 2021 ins Bundesarchiv zu überführen, eine Stiftung einzurichten und die frühere Stasi-Zentrale als Lernort weiterzuentwickeln. Doch Opferverbände befürchteten eine Abwicklung der Behörde. Die Vorschläge wurden auf Eis gelegt. Nun soll über den Umbau der Behörde in dieser Legislaturperiode entschieden werden. Alle konkreten Fragen sind aber offen.

dpa


Aus: "Neue Ausstellung in früherer Stasi-Zentrale" (17.12.2017)
Quelle: https://www.stern.de/politik/deutschland/-einblick-ins-geheime--neue-ausstellung-in-frueherer-stasi-zentrale-7792560.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Es waren diese Schilder, wie sie auf den Bildern aus Cottbus zu sehen waren, die mich stutzig machten. Nicht nur, weil sie alle so ordentlich aussehen - als hätte jemand den Auftritt der empörten Bürger wieder fleißig organisiert und dann grimmig dreinschauende junge Männer mit leichtem Übergewicht unter die kleine Menge gemischt, die da nun so etwas wie "Schnauze voll" und "Es reicht!" forderte. Diese Sprüche ...

Dass es zu den Vorfällen in Cottbus parallel zum viel zu frühen Tod der Sängerin Dolores O'Riordan kam, ist ja nur Zufall. Und dass jetzt Zeitungen, die nie wirklich viel Aufmerksamkeit für die ,,Cranberries" aufbrachten, auf einmal große Essays veröffentlichten zu ihrem 1994 erschienenen Song ,,Zombie", das erstaunte dann schon. Weil das irgendwo doch zusammen kam. Tief unten, im dritten oder vierten Gedanken.

Da, wo man die Bilder der embrassierten Bürger von Cottbus mit den Bildern aus dem nordirischen Bürgerkrieg abgespeichert hat, den deutsche Medien gern etwas harmloser als ,,Nordirlandkonflikt" bezeichneten und die Engländer als ,,The Troubles". Als würden da oben in Dublin nur ein paar verwirrte Katholiken ein bisschen Ärger machen.

Der Konflikt spielt in der Berichterstattung praktisch keine Rolle mehr, weil er 1998 mehr oder weniger zu Ende ging.

Und daran hatte der Song ,,Zombies" von den ,,Cranberries" einen erheblichen Anteil. Denn die Sängerin aus Limerick hielt mit ihrem Text den aufgeblasenen Bürgerkriegstreibern den Spiegel vor. Und zwar beiden Seiten: den Katholiken und den Protestanten, den Iren und den Engländern.

Denn dieser Konflikt, der offiziell seit 1969 tobte, war schon lange zu etwas anderem geworden: zu einem Phantom in den Köpfen. Kinder sind es, die im Video die Hauptrolle spielen – Kinder, die den Krieg spielen, während schwer bewaffnete Soldaten durch die Stadt patroullieren. Denn der Krieg sitzt ihnen im Kopf. So haben sie es gelernt, so wurde es ihnen beibegracht.

,,It's the same old theme since 1916
In your head, in your head they're still fighting
With their tanks and their bombs
And their bombs and their guns
In your head, in your head they are dying."

Die Kinder sind schon dazu erzogen worden, den Krieg gegen die Anderen fortzusetzen, unbarmherzig, ohne Pardon – mit Panzern und Bomben und Kanonen.

Da musste erst diese 23jährige Sängerin kommen und mit atemloser Furiosität singen, was diese ach so stolzen Kämpfer und Rechthaber und ihre Soldaten eigentlich sind: Sie sind zu Zombies geworden, zu Wesen, in deren Köpfen ein alter, sinnloser, unlösbarer Krieg tobt, der nie ein Ende nimmt.

... Es sind diese Botschaften auf den Schildern, die nur auf den ersten Blick so klingen, als wollten diese grimmigen Bürger etwas beenden, was scheinbar über ihre Kräfte geht. Oder ihr Verständnis. Es ist der Ton in diesen Texten, der einem so vertraut vorkommt. Es ist ein ganz alter Ton. Manchmal war er auch bei Pegida zu hören, bei Legida, bei AfD-Veranstaltungen. Es ist ein unbarmherziger Ton, einer ganz tief aus der Erinnerung. Ein DDR-Ton.

Denn ein Land, das selbst zu Konfliktlösungen nicht fähig ist, das schafft auch eine Atmosphäre der Konfliktunfähigkeit. In alten DEFA-Filmen sieht man es noch. Es taucht einfach auf. Oft in simplen Familienszenen, in denen der überforderte Mann – statt auf das beharrliche Bohren der Frau zu antworten – mit Schweigen, Abwehr und jäh aufbrechender Gewalt reagiert. Oder einfach so einem sinnlosen: ,,Nun reichts!" Krach, bumm, Türe zu.

Und so findet man nicht nur in DEFA-Filmen viele, viele solcher in Sekunden eskalierender Szenen, die oft mit Gewalt, Geschrei und Gebrülle enden. Erst spät im Nachhinein kann man all das einordnen als Hilflosigkeit einer ganzen überforderten Generation, die es von ihren Eltern nie anders gelernt hat.

Die auch ihre eingegrenzten Lebensperspektiven mit Ratlosigkeit erlebte. Denn das Wörtchen Demokratie war ja im Lande Ulbrichts und Honeckers eine Farce. Mitreden oder gar kollektive Konfliktlösungen waren gar nicht erwünscht. Auch und gerade die ,,führenden Genossen" konnten rabiat und tückisch werden, wenn nicht pariert wurde. Die DDR war ein gehorsames Land.

Musste jetzt mal geschrieben werden, sonst versteht keiner, warum das 1990 so schiefgehen musste, warum sich die Mehrheit der derart erzogenen (,,gelernten") DDR-Bürger 1990 nicht für einen eigenen, gleichberechtigten Weg entschieden, sondern für ,,Nun reichts!", ,,Schnauze voll!", ,,Faxen dicke!"

Alles Sprüche und Verhaltensweisen aus der schwarzen Pädagogik. Die nahtlos herübergerettet wurden in ein neues Land, das eben auch 27 Jahre später nicht zusammengewachsen ist. Wie denn auch? Dazu hätte mindestens das Gefühl der Gleichwertigkeit bestehen müssen.

Aber erwachsene Menschen mit sichtlich ergrautem Haar, Bluthochdruck und dieser tief gekränkten Miene von beleidigten Erziehungsberechtigten, die jetzt feststellen mussten, dass nicht geliefert wurde, was man bestellt hatte, und die solche Schilder tragen, die haben nicht das Gefühl der Gleichwertigkeit. Dann würden sie anders kommunizieren.

Sie verstecken ihre Hilflosigkeit hinter den alten Drohsprüchen der Eltern: ,,Jetzt hab ich aber die Faxen dicke!"

Und dann?

Meistens gab es dann ein paar Schellen, Zimmerarrest und gestrichenes Taschengeld. Wenn nicht Ärgeres. Denn diese Elterngeneration hatte ja selbst gelernt, dass Kinder zu tun haben, was Erwachsene verlangen. Sie haben zu parieren.

Die DDR war ein Land der Parierer.

Wer aufmüpfig wurde, bekam Probleme."Tu, was sie von dir verlangen." Wie oft gab es diesen dummen Spruch als Ratschlag zurecht besorgter Eltern an die Kinder?

Und eigentlich durfte man 1990 so ein Gefühl haben, dass das jetzt aufhört, dass zumindest die Jüngeren jetzt die Chance nutzen, sich mit ihren Verletzungen zu beschäftigen und Sprechen zu lernen. Die Hoffnung war kurz. Ich gebe es zu. Denn so waren sie ja nicht erzogen. Sie waren so erzogen, dass sie niemals Verantwortung für etwas übernehmen und froh sind, wenn sie nicht in eine Funktion gewählt werden. Das steckte tief in der Seele, in den Köpfen: ,,in your heads". Denn wenn Köpfe dazu ausgebildet sind, zu tun, was man ihnen sagt, dann beginnen sie nicht selbst zu denken, dann delegieren sie auch Macht und Verantwortung wieder – und erwarten dann, dass sie richtig regiert werden.

Und 1990 gab es genug freundliche Politiker aus westlichen Landen, die nur zu gern bereit waren, es für die braven Ostdeutschen zu tun.

Ein Abzweig geht hier übrigens zu dem fatalen Spruch: ,,Meine Sachsen sind keine Nazis ..."

Aber den gehen wir jetzt nicht. Sonst wird das ein ganz großer Ausflug.

Wer gelernt hat, zu tun, ,,was sie sagen", der erwartet natürlich trotzdem eine Belohnung. Und wird zunehmend verbiesterter, wenn das nicht passiert. Oder greift zu ganz alten Verhaltensmustern, wenn sich herausstellt, dass das ganze Warten und Parieren ein Selbstbetrug war, wenn die neue Gesellschaft statt freundlicher Belohnung und stiller Ruhe auf einmal Herausforderungen und Verunsicherungen mit sich bringt – wie die Flüchtlinge, die seit 2015 bei uns Zuflucht gefunden haben.

... Wahrscheinlich ist es wirklich so: Genau diese braven, so gern in ihrer Unverantwortlichkeit vor sich hinköchelnden Ostdeutschen konnten im Jahr 2015, 2016, 2017 nicht mehr ausweichen. Die Anwesenheit der Menschen, die vor Krieg und Bürgerkrieg geflüchtet waren, direkt in ihrer sentimental verklärten Heimat (,,Heimatliebe ist kein Verbrechen!") hat ihnen erst gezeigt, dass sie das Ganze doch etwas angeht. Dass sie nach 27 Jahren doch endlich aus ihren kleinen heilen Welten herauskommen müssten und sich kümmern.

Mit anpacken, Lösungen suchen, sich einbringen. Das, was man macht, wenn man begriffen hat, was Demokratie eigentlich ist.

Aber das hatten sie nicht gelernt.

Sie reagierten mit Überforderung. Denn genau das sagen ja die Sprüche: ,,Faxen dicke!"

Deswegen wirken ihre Posen auch so bedrohlich. Sie möchten mächtig wirken. ,,Wir sind das Volk! WIR!"

Das ist der Moment, in dem sich das ganze leidige Phlegma der DDR zeigt. Es ist alles noch da. Der alte Zuchtmeister sitzt noch immer in den Köpfen.

,,Wer nicht hören will, muss fühlen."

,,Wenn du nicht spurst ...."

,,Der Klügere gibt nach ..."

Nein. Der Klügere lernt Karate und wehrt sich. Diese Alptraumgestalten haben unsere Köpfe besetzt. Sie laufen drohend, maulend und schilderschwingend darin herum. Sie wollen, dass wir ihre Alpträume teilen und tun, was sie sagen. ,,Jetzt aber dalli ..."

Wahrscheinlich wurde kein Spruch in der DDR öfter gesagt als dieser. Das nächste Wörtchen ,,sonst" musste gar nicht mehr ausgesprochen wurden.

Die DDR war ein infantiles Land. Bis zum Schluss unfähig zu dem, was die ratlosen Bonzen dann ,,Dialog" nannten. Denn Dialog setzt Gleichwertigkeit voraus.

Menschen, die Schilder mit ,,Faxen dicke" hochhalten, fühlen sich nicht gleichwertig. Sie fühlen sich gleichzeitig unter- und überlegen. Und trotzdem machtlos.

Was auch an den Schleifen im Kopf liegt. Es sind die alten Gespenster, die uns zu Zombies machen. Wir leben nicht selbst. Wir funktionieren und haben die Drohgebärden der Alten im Kopf.

Natürlich kann man das auflösen. Aber nicht mit solchen Schildern auf der Straße. Und dieser grimmigen Erwartung, die Anderen würden jetzt einfach tun, was man verlangt, sonst ...

Daran ist die DDR übrigens gescheitert, an diesem ,,sonst ...".

Wenn als Drohung nur noch die Eskalation zur Gewalt bleibt, ist etwas gründlich schiefgelaufen.


Aus: "Was richten eigentlich die Ängste der Alten in unseren Köpfen an?" Ralf Julke (29. Januar 2018)
Quelle: https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2018/01/Was-richten-eigentlich-die-Aengste-der-Alten-in-unseren-Koepfen-an-204027

Textaris(txt*bot)

#6
Quote[...] Die Großmutter unserer Autorin war ein Fernsehstar in der DDR. 1990 endete ihre Karriere abrupt. ...

... Das DDR-Fernsehen wurde abgewickelt. Die Lebensgeschichten der DDR-Journalisten bedeutungslos. Da liegen sie, in den Archiven, wie Zeitkapseln, die auf Tauwetter hoffen. Der große Aufbruch aller anderen war für meine Großmutter das Ende ihrer Karriere. Vielleicht bin ich ihr als Enkelin zu gewogen. Aber ich frage mich, ob das, was sie geleistet hat, nicht trotzdem Anerkennung verdient hat. Und ein bisschen teile ich ihre Gefühle: Von ihrer Arbeit als Journalistin erzählt sie mit dem gleichen Enthusiasmus, mit dem ich über meine Arbeit als Journalistin spreche. Über die Jahre hat sie ihren Blick auf die DDR verändert. Heute sagt sie: "Dieser Staat war eine tolle Idee. Aber sie war nicht lebensfähig. Die sozialistische Utopie in die Realität zu übertragen, das schaffen die Menschlein nicht. Dazu sind wir leider nicht fähig." Am 31. Dezember 1991, um Mitternacht, wurde der Sendebetrieb des Deutschen Fernsehfunks endgültig eingestellt. Und meine Großmutter hörte auf, als Journalistin zu arbeiten. "Ich wollte nicht noch einmal bei null anfangen und mich noch einmal behaupten müssen", sagt sie.

In meinem Lieblingsinterview mit FF dabei wurde sie gefragt, was sie außer ihrer Arbeit als Journalistin sonst noch mag: "Die Fahrt in der S-Bahn, morgens, wenn die Leute voller Erwartung sind, abends – den Fernsehturm zur blauen Stunde. Freunde. Abends nicht bequem werden, unter die kalte Dusche gehen und den Tag überlisten, der dann noch einmal beginnt ... Die Zeit nutzen ...!"

Nur die Nachwendezeit konnte sie nicht überlisten.

Quotetb #5

Journalisten und Journalistinnen in der DDR mussten sich schon als Propagandisten und Transmissionsriemen der Parteilinie verstehen.
Wohlwollende Kommentare im Neuen Deutschland und in der Illustrierten FF reflektierten nicht immer die wirkliche Popularität der Portraitierten in der Bevölkerung.
Ob eine Journalistin wirklich mit "liebevoller Strenge" dem Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR ins Auge geblickt hat, oder ob es nicht eher anders herum war, will ich nicht entscheiden.
Wenn es um Informationen ging, da vertraute der DDR Bürger jedoch eher der Tagesschau als der Aktuellen Kamera mit ihren ewig gleichen Berichten von der Produktionsfront.
Aus dieser Konformität ist auch Frau Haupt nicht ausgebrochen.
Deswegen ist sie auch verdient in den Ruhestand getreten.



Quote
Current Options #5.5

DDR-Witz:
Du, ich wandere aus.
Echt, wohin?
In die DDR.
Was für'n Quatsch, da bist Du doch schon.
Nee, nee. Da muss es noch eine andere geben, wo es so ist, wie es in der Zeitung steht.


QuoteSomething_is_rotten #7

Hochinteressanter Artikel - danke. Ich habe gern in der DDR gelebt, und lebe noch lieber im wiedervereinigten Deutschland. Erinnerungen sind etwas sehr Wertvolles.


Quotepolylux #16

Mal ein Beispiel gegen diese ständige Schwarzweißmalerei:
Wenn in den 1960er/70er Jahren über den Vietnamkrieg berichtet wurde, habe ich den DDR-Medien mindestens 80% vertraut, den Westmedien höchstens 20% abgenommen. Bei anderen Theman war es umgekehrt.


...


Aus: "Fernsehstars der DDR: Wie du diese Zeit vermisst" Carolin Würfel (21. Mai 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/2018/21/fernsehstars-der-ddr-wende-karriereende/komplettansicht

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Letzten Winter hat mich eine Bekannte aus Westdeutschland in Dresden besucht. Sie fahre, äußerte sie, zum ersten Mal in den Osten und hoffe, dass trotz der 5 Grad minus ,,alles klappe, mit Strom und so". Als ich daraufhin witzelte, sie habe Glück, diesmal seien die Rohre nicht eingefroren und wir hätten deshalb sogar mal fliessend Wasser, hat sie das erschreckenderweise nicht als Witz verstanden. Das hat mich schon irritiert.

Noch verstörter war ich, als ich ihr Dresden zeigte und sie immer wieder äußerte ,,Das hätte ich ja nicht gedacht, ihr habt ja hier richtige Häuser!" (... what) und ,,Das ist ja voll schön hier, wirklich schön, ich bin erstaunt!" Auf die Frage, warum sie das überrasche, dass es in Dresden schön sei, meinte sie: ,,Ich dachte halt, ihr wohnt hier alle in Plattenbauten, weil ihr doch alle arbeitslos seid."

Für den Moment war ich wirklich geflasht davon, dass eine gebildete, kulturell interessierte Person nicht nur derart vorurteilsbehaftet ist, sondern sich nicht mal dafür schämt, derartige Blödigkeiten auch noch rauszuhauen (statt nur still zu denken).

Zunächst mal, 30 Jahre nach der Wende immer noch ,,nie im Osten gewesen" zu sein ist halt doch eigentlich schon peinlich, oder? Ich meine hallo, das ist Ostdeutschland und nicht Südamerika jetzt. Man braucht kein halbes Jahr oder so, um herzukommen und sich zu vergewissern, ob wir nun nur Plattenbauten (etwas, dass  es im Westen ja so überhaupt nicht gibt) haben oder doch vielleicht auch paar schöne Landschaften (die Chefin einer Freundin neulich zu ihr ganz erstaunt: ,,Ich habe ja gehört im Osten soll es sogar auch ein paar schöne Ecken geben?" – really...) und eventuell sogar Kulturstädte. Ich meine, hallo, Dresden zum Beispiel, das ist nicht Hinterhermsdorf, jedeR hat schonmal vom Zwinger gehört, und man kennt doch die Bilder von der Brühlschen Terrasse, von der Gemäldegalerie und der Semperoper, oder nicht?

Leider ist meine Bekannte da nicht die einzige Person, die es noch nie für nötig gehalten hat, sich Ostdeutschland mal anzuschauen, weil es da eh nichts zu sehen gibt außer halt Plattenbauten, in denen ungebildete, kulturlose Menschen wohnen.

Aber wer ist eigentlich der kulturlose, ungebildete Mensch hier, wenn die Person noch nie von Dresdens Bauten gehört hat?

Und dann der Soli, natürlich. Wir standen gerade vor der Frauenkirche, als es in ihrem Gesicht langsam dämmerte: ,,Das haben ja eigentlich alles wir bezahlt, ne, mit unserem Soli." Nee, sag ich, die Frauenkirche wurde garantiert nicht vom Soli bezahlt, sondern mit grösstenteils privaten Geldern, und davon mal ab fliesst auch nur ein Drittel des Soli in den Osten, und wir zahlen den Soli übrigens auch, aber egal, egal, wen interessieren schon Fakten, wenn er oder sie sich mal richtig als was Besseres fühlen kann?

Dazu kommen, gerade nach der letzten Wahl, die unerträglichen Berichterstattungen in den Medien, reihenweise Artikel und Reportagen, in denen ,,tapfere Reporter" sich ,,aufmachen um zu erfahren, wie die Ostdeutschen ticken". Man könnte jetzt sagen, weisste, wenn Du 30 Jahre nach der Wende immer noch nicht weisst, wie Ostdeutsche so drauf sind (anders, auf jeden Fall ganz ganz ganz anders als alle anderen Menschen, eigentlich ja schon fast keine Menschen mehr), dann stell doch in Deinem Scheissmagazin einfach mal paar ostdeutsche Menschen in der Redaktion ein, aber nein. Da wird lieber die hunderttausendste als Reportage getarnte Expeditionsreise geschrieben, überall auch diese demonstrativ zur Schau gestellte Aufgeregtheit ,,hach, wir wissen auch so gaaar nicht, was uns erwartet", grad noch, dass die ReporterInnen ihren Tropenhelm nicht mitgenommen haben. Jedes Mal dieses Getue, als reise man in eine Kolonie, fremder, fremder Dschungel, was für Stämme wohl dort wohnen, und ob diese kulturlosen Menschen, deren Sprache man nicht spricht, vielleicht sogar schon über das Stadium der Menschenfresserei raus sind, eventuell gar in ,,richtigen Häusern" wohnen? Wir wissen es nicht, aber wir werden es erfahren.

Diese Artikel enden regelmäßig an Orten wie dem Bautzner Marktplatz, wo sich die ReporterInnen dann zu den ,,merkwürdigen Dialekt sprechenden" (merke: in Ostdeutschland sprechen nämlich alle sächsisch) ,,abgehängten Männern" setzen, die dort Bier aus der Flasche trinken, allgemein sehr hoffnungslos sind und wo alle immer ,,graue Gesichter" haben, denn das haben in Ostdeutschland ja alle, graue Gesichter. Sorry, euch eure Illusionen zu nehmen, aber Ostdeutschland besteht nicht nur aus der Ecke am Bautzner Marktplatz, an der die abgehängten Typen saufen (es gibt übrigens auch eine Burg und ein Museum, da könnte man auch mal reingehen und Leute treffen, aber egal). Ich fahre doch auch nicht auf ,,Expedition" in den Westen, setz mich in Köln-Porz vor den Lidl zu den Säufern und schreibe dann ,,das ist der Westen". Ich bin erstaunt, dass eine solche Berichterstattung keinem peinlich zu sein scheint. Aber nee, der Osten besteht ja nur aus Hoffnungslosigkeit, grauen Gesichtern und Pegida. Womit wir beim nächsten Punkt sind.

Ich hab neulich einen Typen kennengelernt, der kommt eigentlich aus Hamburg. Er ist wegen der Arbeit hierhergezogen (ja, man höre und staune, hier sind nicht alle arbeitslos, krass, ne?) und hat mich ziemlich angenervt mit seiner Leier von ,,Oh Gott, es ist ja alles so schlimm hier, mit der AfD und Pegida und alles, das geht ja mal gar nicht, diese Entwicklung ist ganz schlimm, wenn das so weitergeht ziehe ich wieder zurück nach Hamburg, das ist ja nicht zum aushalten hier". Laberlaberrhabarber. Das von einem jungen, weißen, heterosexuellen, nichtbehinderten Mann, man fragt sich: was hält der bitte nicht aus hier? Wo hat der hier bitte was zu leiden? Wenn sowas von einer schwarzen Frau käme, vollste Zustimmung, aber mit welchem Recht jammert einer, der per definitionem das Privileg an sich verkörpert hier über Diskriminierung rum? Wo bitte wird der hier in seiner Selbstverwirklichung auch nur irgendwie tangiert? Der passt doch, vor allem in seiner nichtvorhandenen Selbstreflektion, ganz super in die rechte Stimmung hier.

Und zweitens, woher kommt das eigentlich, herkommen, sich nirgendwo einbringen, nix dazutun – auch nix dagegentun, nie auf einer Antipegidademo gewesen sein (denn ja, die gibt es auch, oh, nein, Fehler, sorry, ich vergass, es gibt hier NUR Pegida, wir bestehen quasi aus Pegida) und dann rumheulen wie ein Kolonialherr, der sich das ungebildete Stammesvolk anschaut, schlimm, schlimm, nicht zum aushalten hier, und eine Heizung haben sie auch nicht.

Mich kotzt dieses demonstrativ zur Schau gestellte Leiden am Osten dermaßen an. Der Begriff ,,besorgte Bürger" hat sich bereits etabliert, aber was mich genauso nervt wie die ,,besorgten Bürger" sind die ,,über besorgte Bürger besorgte Bürger". Alle sind immer ganz besorgt. Besorgt über die ,,Entwicklung im Osten". Weil die ganz schlimm ist. Als gäbe es in Westdeutschland keine ,,besorgten Bürger", nee, die wohnen alle im Osten. Komisch nur, dass ich, wenn ich in Westdeutschland bin und meine feministische Bubble mal verlasse, dieselben ekelhaften Sprüche über die ,,Zigeuner, die in den Fussgängerzonen betteln und stehlen, das Pack" höre wie wenn ich in Dresden bin.

Die ganzen Nazis, die AfD´ler und Rechten, sie wohnen nämlich im Osten.

In Hamburg gibt es keine AfD-Städtegruppen, in Stuttgart kein Pegida, rechts wählen nur abgehängte Ostdeutsche in Plattenbauten, in süddeutschen Kleinstädten mit nahezu Vollbeschäftigung gibt es ja quasi keine rechten Wahlerfolge, existiert nicht, nie, kommt einfach nicht vor. (Welchen Grund bzw. welche Ausrede haben die dafür eigentlich, für ihre AfD-Erfolge? Der ostdeutsche graue Nieselregen kann es in der süddeutschen Kleinstadt ja nicht sein.)

Es ist ja nicht so, dass viele MünchnerInnen froh sind, dass sie in der Enklave München leben und nicht in Restbayern, es ist nicht so, dass bayerische Männer auf dem Land dieselben Stammtischparolen raushauen wie man sie hier in Ostdeutschland hört (nur dass die Bayern dabei Leder- statt Jogginghosen tragen und ihr Bier nicht aus der Flasche trinken), nein nein. Es ist nicht so, dass das, was die CSU so raushaut, dasselbe ist wie das was die AfD sagt, auf gar keinen Fall ist das dasselbe nur in grün, nee, gibt's nicht, und außerdem, in Bayern und anderswo hat das ja Traditiohooon und ist ja Kultuhuuur, was bei uns in Ostdeutschland dann eben KulturLOSigkeit ist. Spannend. In Herne und anderswo gibt es auch keine von Neonazis kontrollierten Gebiete, nein, No-Go-Areas gibt's nur im Osten und nirgendwo sonst, wir haben alle von der netten Dortmunder Willkommenskultur gehört, dort ist es Brauch, den Flüchtlingen Licht zu machen, indem man Asylantenheime anzündet, aber hey, immerhin Feuer, schön warm und hell, ganz anders als im kalten, kalten Dunkeldeutschland.

Aber vielleicht vertu ich mich auch grad, ich ungebildetes Ostkind, vielleicht liegt Dortmund ja im Osten, das würde einiges erklären, mal schauen, gibt es da Plattenbauten und graue Gesichter? Dann wäre der Fall immerhin wieder klar.

Dieses demonstrative ,,Besorgtsein" über ,,all die Nazis in Ostdeutschland" hat viel zu oft die Funktion, von den eigenen Nazis (egal ob AfD, ,,besorgter Bürger", Stammtischheinz, CSU oder ,,traditionell bayerischer Konservatismus") abzulenken. Diese Projektion, fällt mir auf, ist fast schon pathologisch. Wer all die Rechten gedanklich nach Osten (Verzeihung, nach Sachsen, denn ,,der Osten" IST ja quasi Sachsen) abschieben kann, der muss nicht mehr vor der eigenen Haustür fegen und sich auch nicht mehr damit auseinandersetzen, dass viel zu oft Sprüche, die nach ostdeutscher AfD klingen, von westdeutschen FDP-lerInnen oder CDU-lerInnen kommen.

Davon mal ab, es gibt sowas wie ,,Sozialrassismus", gebildete Kulturmenschen können das ja mal nachschlagen, bevor sie zu ihrer nächsten Ostexpedition aufbrechen und darüber erstaunt sind, dass es in einer der schönsten Städte Europas, Dresden, hübsche Gebäude gibt, ja, wir haben hier ,,richtige Häuser" (und Strom! Und fliessend Wasser!), habt ihr gedacht wir campieren alle in Bautzen auf dem Markplatz, oder was?

Naja, das sind halt wir, mit unseren grauen Gesichtern, lasst doch noch bissl Soli rüberwachsen bitte, unsere ostdeutschen Männer müssen sich ja auf dem Marktplatz vor den Plattenbauten besaufen und Bier ist teuer, wenn man arbeitslos ist, und das sind wir hier alle, weil wir alle so hoffnungslos sind. Ich geh jetzt mal mitsaufen, weil von nüscht kommt nüscht, und so ein graues Gesicht muss hart erarbeitet werden, so isses hier, alles grau, graue Gesichter, graue Plattenbauten, grauer Nieselregen, ein Leben in den verschiedensten Grautönen. Aber wenigstens sehen wir in all dem uns umgebenden Grau noch ein paar Grauabstufungen – und das ist mir immer noch lieber, als nur Schwarz und Weiss zu sehen. In diesem Sinne: tschüssi und bis bald.




Aus: "Graue Gesichter vor grauen Plattenbauten in natürlich grauem Nieselregen – Bilder von Ostdeutschland in Medien und westdeutschen Köpfen" Anneli Borchert (April 2018)
Quelle: https://diestoerenfriedas.de/graue-gesichter-vor-grauen-plattenbauten-in-natuerlich-grauem-nieselregen-bilder-von-ostdeutschland-in-medien-und-westdeutschen-koepfen/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Allerdings wurde 2009 bekannt, dass die Bergarbeitergewerkschaft NUM während des Streiks umfangreiche finanzielle und materielle Unterstützung aus der DDR erhielt.


Aus: "Britischer Bergarbeiterstreik 1984/1985" (23. Mai 2018)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Britischer_Bergarbeiterstreik_1984/1985

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Erst jetzt, fast 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, beginnt das Reden über Heimatverlust, Fremdheitsgefühle und Abwertungserfahrungen, die ganze Generationen Ostdeutscher bewältigen mussten. Dazu gehören auch die Erzählungen der vielen jungen Frauen, die den Osten damals verlassen haben. Ich war eine von ihnen.

Mein Umzug nach Frankfurt am Main hat mein Leben stärker verändert als der Mauerfall. Das hört sich seltsam an, nicht? Aber anders als viele meiner Mitschüler und Freunde blieb ich nach 1989/1990 zunächst bewusst im Osten. Ich wollte dem großen Umbruch, der alle und alles mit sich fortzureißen schien, keinen Zugriff auf mein Leben erlauben. Mein schon zu DDR-Zeiten gefasster Plan, in Leipzig Germanistik zu studieren, sollte Wirklichkeit werden. Keine der Verheißungen, von denen mir meine gen Westen ziehenden Freunde erzählten, fühlte sich so wahr an wie jene Vorstellung, die ich schon als Vierzehnjährige hatte. Als mir das Dorf, in dem ich aufwuchs, zu eng geworden war, stellte ich mir immer wieder vor, wie ich eines Tages zum Bahnhof gehen, in den Zug steigen und einem Leben, meinem Leben, in der Großstadt entgegenfahren würde. Und diese große Stadt hieß in meinem Kopf eben nicht München, Hamburg oder Karlsruhe, sondern Leipzig.

Leipzig erfüllte alle meine Erwartungen und war gleichzeitig der Ort einer großen Ernüchterung. Einst war Leipzig die große Verlagsstadt des Ostens gewesen, nun ging ein Verlag nach dem anderen zugrunde. Der Verleger Christoph Links hat diesen Prozess in seinem 2009 erschienenen Buch Das Schicksal der DDR-Verlage beschrieben: "Von den ehemals 78 staatlich lizensierten Verlagen der DDR existiert in eigenständiger Form heute nur noch ein Dutzend. (...) Die Zahl der in dieser Branche Beschäftigten ist bis 2007 auf unter ein Zehntel gefallen. Damit hat ein Umbruch stattgefunden, der noch gravierender ist als in vielen Bereichen der verarbeitenden Industrie." Nach dem Studium in Leipzig einen festen Job in einem Verlag zu bekommen, das war damals schlicht unmöglich. Deshalb musste ich 1998 gehen.

An meinen ersten Arbeitstag in Frankfurt am Main habe ich keinerlei Erinnerungen. Und je stärker ich versuche, diesen Tag, oder auch nur einen Moment dieses Tages, heraufzubeschwören, desto mehr entzieht er sich meinem Bemühen. Und so bleibt mir nur, das Gefühl zu beschreiben, das jener 1. Dezember 1998 in mir hinterlassen hat. Das große Frankfurter Verlagshaus, dessen Mitarbeiterin ich damals wurde, war ein Jahr nach der Bundesrepublik gegründet worden und hatte seither wahrhaft Geschichte geschrieben. Bald schon würde man das 50. Jubiläum seines Bestehens feiern. Ein Bestehen, das sich in jeder Äußerung, jedem Blick, jeder Bewegung meiner neuen Kollegen auszudrücken schien – und an dem ich teilzunehmen eingeladen wurde. Keiner von ihnen schien auch nur den geringsten Zweifel daran zu haben, dass es ihren Verlag auch in den nächsten 50 Jahren noch geben würde. Genau genommen hielten sie ihn wahrscheinlich für unsterblich.

Für mich dagegen war nichts mehr sicher. Ich hatte in den vergangenen zehn Jahren erlebt, wie meine Eltern sich ein völlig neues Leben aufbauen mussten, mein ehemaliger Schuldirektor als Stasimitarbeiter enttarnt wurde, fast die gesamte Professorenschaft der Leipziger Universität ausgetauscht worden war. Und auch die Bahnhofsstation meines Heimatdorfs, von der aus ich in meinen Träumen früher stets in die Fremde aufgebrochen war, gab es schon nicht mehr.

Das Leben der Menschen, denen ich in Frankfurt begegnete, hatte sich hingegen seit dem Mauerfall nicht verändert. Natürlich gab es auch in ihrem Leben Zäsuren, aber sie waren persönlicherer Art. Ich traf kaum jemanden, der in den letzten Jahren im Osten gelebt hatte. Von den etwa 150 Mitarbeitern im Verlag kamen nur vier aus dem Osten, drei davon waren Frauen Ende zwanzig.

Ich erkannte Andrea und Jeanette an ihrem Heimweh. Wir arbeiteten damals schon ungefähr ein Jahr lang im Verlag zusammen. Gerade war Das Provisorium von Wolfgang Hilbig in einem anderen großen Frankfurter Verlag erschienen. "Heimweh braucht man, um seine Ankunft im Westen endlich zu begreifen", heißt es darin. Ich las den Roman in nur einer einzigen Nacht vom Anfang bis zum Ende. So wie man ein Glas eiskaltes Wasser in sich hineinstürzt, wenn man fast am Verdursten ist. Hilbig beschreibt in seinem Buch, wie das ehemals vertraute Leben des Schriftstellers C. aus Leipzig im Westen allmählich ins Unerreichbare entschwindet. Ich erkannte darin Spuren meines eigenen Heimwehs und entschlüsselte das meiner ostdeutschen Kolleginnen.

All die Marmeladentöpfchen, die sich neben Andreas Schreibtisch türmten, enthielten Erdbeeren aus einem Garten in Thüringen. Jeanette hatte das Regal in ihrem Büro, in dem eigentlich nur hauseigene Bücher stehen durften, mit Bänden der DDR-Bibliothek des Leipziger Faber-&-Faber-Verlags infiltriert. Irgendwann wusste ich diese subtilen Zeichen unserer gemeinsamen Herkunft zu deuten. Genau wie Andrea und Jeanette nicht länger verborgen blieb, dass mich etwas umgab, was ich heute meine innere Peergroup nennen würde.

Michael Ballack war für mich, in Frankfurt innerlich im Abseits, zu einem heimlichen großen Bruder geworden. Ich ließ keine Gelegenheit verstreichen, um zu betonen, dass der 1. FC Kaiserslautern 1998 ohne ihn niemals die Bundesliga gewonnen hätte. Michael Ballack war im selben Vorort von Chemnitz aufgewachsen wie ich und gerade auf dem Weg, einer der erfolgreichsten Fußballspieler Deutschlands zu werden. Trotzig hielt er den abwertenden Kommentaren seiner Kritiker stand, die ihm, wenn es gerade passte, seine ostdeutsche Herkunft als Charakterschwäche auslegten.

Axel Schulz konnte zwar nach seinem Kampf gegen George Foreman 1995 in keinem großen Boxkampf mehr überzeugen. Dennoch verpasste ich keinen seiner Kämpfe, weil der "ostdeutsche Max Schmeling" einstecken konnte wie kein Zweiter. Schließlich Regine Hildebrandt, "die Stimme Ostdeutschlands" – gerne wäre ich damals genauso laut gewesen wie sie, aber mir fehlte noch der Mut dazu.

Andrea, Jeanette und ich redeten viel miteinander. Aber nie thematisierten wir vor anderen unsere ostdeutsche Herkunft. Wir befürchteten wohl, dass die bloße Nennung unserer Heimatorte all die Klischees über Ostdeutsche auf den Plan rufen könnte: faul, unflexibel, provinziell, Jammerlappen. Wir wollten nicht für solche Schwächen stehen. Stattdessen hieß unsere Zauberformel: Fleiß und Anpassung. Wir wollten der lebende Beweis dafür sein, dass keines dieser Vorurteile stimmte. Einerseits also Super-Ostdeutsche, andererseits als Ostdeutsche unsichtbar. So zu tun, als sei man in Wahrheit jemand anderes, ist ein 24-Stunden-Job. Er überforderte mich. Ich nahm im ersten Jahr zehn Kilo ab. Ich trank zu viel und aß zu wenig – und ich verliebte mich in einen Mann, der mir genauso fremd schien, wie ich mir selbst fremd war.

... Nie werde ich die langen Spaziergänge vergessen, die Hand in Hand begannen und im Streit endeten. Es waren die heißen Sommer der Jahrtausendwende, und Nadim zeigte mir jeden Winkel der Stadt. Die Parks, die Wege entlang der Nidda. Als die Hitze an einem jener Nachmittage unsere Eistüten aufweichte, begann ich von den Eistüten im Osten zu schwärmen. Die seien bestimmt aus Beton gewesen, meinte er, und wir fingen an zu lachen, dass die Leute sich nach uns umsahen. Und in unser Lachen hinein sagte Nadim: "Nichts von dem, was du aus dem Osten kennst, ist hier brauchbar." Nun wurde es ganz still in mir drin, ich stand mit der tropfenden Eistüte da und fühlte mich bankrott. Abgebrannt. Genau so, wie meine Mutter es prophezeit hatte.

... Insgeheim wünschte ich dem Westen auch einen Mauerfall. Er sollte Nadim die heilsame Erfahrung bringen, dass wir doch nicht so verschieden waren. Zumal ich inzwischen wusste, welche Ausgrenzungserfahrungen er selbst gemacht hatte, und die Vorurteile ihm gegenüber wahrnehmen konnte, wenn wir gemeinsam unterwegs waren.

... Ostdeutschland war für Nadim vor allem eines: fremdenfeindlich. Er hatte Angst vor Blicken, die ihn zu einem Fremden im eigenen Land machen würden – und Gewalt, die sich allein wegen seines Aussehens gegen ihn richten könnte. Einmal fuhren wir aber doch zusammen in meine Heimat. Das heißt, ich packte ihn ein und fuhr ihn nach Sachsen. Ich wollte ihm mein schönes Land zeigen, das sich aus der Ferne, wenn ich Nadim davon erzählte, immer anfühlte wie ein Luftschloss, in dem man nicht wohnen konnte. Auch in die Gegend, in der meine Eltern wohnten, kamen wir. Ich stoppte das Auto auf einer Anhöhe, und wir sahen über die Felder in die offene Hofeinfahrt. Als wir weiterfuhren und ich Nadim umständlich zu erklären begann, warum ich ihn nicht zu meinen Eltern mitnehmen wollte, sagte er, als er mein Zögern bemerkte: "Ihr habt Angst vor unserem Sperma." Ich widersprach ihm zum ersten Mal nicht.

Einerseits wollte ich ihm zeigen: Das hier ist ganz anders als Rostock-Lichtenhagen, andererseits brachte ich es nicht fertig, ihn einfach zum Kaffee zu meinen Eltern einzuladen. Ich hätte auch andere westdeutsche Männer aus meinem neuen Leben nicht zu meinen Eltern mitgenommen. Ich hatte bisher nur ostdeutsche Freunde gehabt, und wenn ich mit Nadim schlief, hatte ich das Gefühl, den ganzen Osten mit ihm zu betrügen.

All diese Kämpfe fochten wir damals auf einer Terra incognita aus, in einem Niemandsland. Weder die Politik, noch die Forschung oder die Literatur beschäftigten sich zu jener Zeit mit "uns". Eine Debatte, wie wir sie gegenwärtig gerade führen, ob Ostdeutsche auch Migranten sind zum Beispiel, lag noch in weiter Ferne. Naika Foroutan, Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik, sagte vor Kurzem in einem Interview mit der taz: "Ostdeutsche und Migranten stärken die eigenen stigmatisierten Positionen teilweise durch Abwertung des jeweils anderen." So ein Satz fehlte Nadim und mir damals. Wir hätten um die Jahrtausendwende vielleicht besser verstehen können, welche Rollen wir zu spielen bereit waren, wenn es darum ging, die eigene Herkunft zu verteidigen und die des anderen herabzusetzen.

Deniz Yücel schrieb in seinem taz-Artikel "Was Ostdeutsche und Türkdeutsche miteinander verbindet – und warum sie sich trotzdem nicht leiden können" als einer der ersten zu diesem Thema. Er erzählt darin, dass beide meinen, "einiges über den Anderen zu wissen, kennen diesen aber so gut wie gar nicht". Sein Text erschien am 1. Oktober 2010. Fast am selben Tag trafen Nadim und ich einander zufällig in Berlin wieder. Einige Jahre zuvor hatten wir uns getrennt, weil wir einfach nicht in ein gemeinsames Leben finden konnten. Unsere Beziehung war zu vielen Belastungsproben ausgesetzt. Nicht nur denen der Herkunft. Aber das war die entscheidende. Am Ende wusste ich alles über den Westen und Leute wie ihn. Und er wusste alles über den Osten und Leute wie mich. Damit war viel geschafft. Unsere Liebe jedoch blieb auf der Strecke.

Vor ein paar Jahren, ich wohnte schon lange nicht mehr in Frankfurt am Main, stellte ich bei einem Besuch in der Stadt überrascht fest, dass das große Frankfurter Verlagshaus verschwunden war. An seiner Stelle stand nun ein anderes Haus, als hätte es schon immer dort gestanden. Ich ging vor dem ehemaligen Eingang ein paarmal auf und ab und ließ all die Kämpfe noch einmal Revue passieren, die ich in Frankfurt gekämpft hatte. Und plötzlich wurde mir klar, dass damals, als ich selbst das Gefühl hatte, alles zu verlieren, etwas in meinen Besitz gekommen war, was nicht einfach verschwinden konnte wie ein Haus oder ein Land. Denn aus all den Kämpfen hatte ich letztlich die Kraft geschöpft, auch "offiziell" ostdeutsch zu werden. Ich bin danach unbeschwerter weitergezogen. Ich lebte in anderen großen westdeutschen Städten, arbeitete bei anderen großen Verlagen – aber nie mehr undercover.

QuoteHanayagi #1

Hmm. So unterscheiden sich die Perspektiven.

Ich bin damals mit meinen Eltern gleich nach der Wende in eine norddeutsche Kleinstadt gezogen. Ich war damals 7 oder 8 Jahre alt. Ich kam auf eine ganz normale Grundschule, aber während ich in meiner Grundschule in Ostdeutschland beliebt war, viele Freunde hatte und meine Lehrer ernsthaft überlegt hatten, mich eine Klasse überspringen zu lassen, war ich im Westen auf einmal der "doofe Ossi".

Ich hatte immer noch gute Noten, wurde aber generell gemieden und hatte nur noch einen Freund: Ein anderer Ostdeutscher. Als Kind konnte ich natürlich nicht reflektieren, was da passierte und meine Eltern hatten wirklich andere Sorgen, hatten Sie doch jeweils gute Jobs im Osten verloren und dafür Fernfahrer / Teilzeit Bürokraft bekommen.

Ich habe dann bis zum Abitur in Westdeutschland gelebt und später auch (wenige) westdeutsche Freunde gefunden, aber ich war immer "der Ossi". Vielleicht war das auch ein Grund, warum ich mich für ein Studium in Berlin / Wien / Tokyo und später ein Leben in Japan entschied: So dass ich mir diese ganze innerdeutsche Beziehungskiste nicht antun musste. Vielleicht erklärt sich auch aus meiner Vita, wieso ich die wehleidige "Ostalgie der Partei "Die Linke" hasse.

Und Ironie der Geschichte: Seit einem Jahr lebe ich in Dresden...


Quote
kasi_z #7

Ich verstehe die Autorin ganz gut. Bin 4 Jahre älter als sie und mit Anfang 20 in den "Westen" abgehauen. Mir war dort auch vieles fremd. Nach ein paar Jahren Saarland bin ich dann wieder nach Berlin zurück gegangen und habe mich direkt wieder "angekommen" gefühlt. Und das hat nichts mit Jammern zu tun. Die Leute im Saarland waren freundlich und hilfsbereit und ich habe auch ein paar Freundschaften geschlossen. Aber trotz der gleichen Sprache/Kultur war ich immer eine Fremde. So ist es bis heute geblieben. So fühle ich mich z.B. Gleichaltrigen aus Polen/Tschechien/ Ungarn näher als Deutschen, die im Westteil aufgewachsen sind. Ich weiß, das klingt absurd, ist aber so....


QuoteZeppelino #11

Ein interessanter Erfahrungsbericht - Ostdeutschland und in der Verlagsbranche. Mehr Veränderung geht glaube ich kaum. Ich bin vor mehr als 20 Jahren in den Osten gegangen, praktisch gegen den Strom. Im Grunde bin ich bis heute ein Fremdkörper geblieben. Das Zusammenkommen habe ich mir deutlich einfacher vorgestellt. Woran es liegt? Sicher zum Teil an mir, meiner Wessi-DNA, die man im Osten schnell entziffern konnte. Ich habe aber auch Einblicke in den Osten bekommen, die mir heute helfen mein Umfeld zu verstehen. Der Osten war übrigens eine gute Schule, in Sachen Überlebenstraining.


QuoteUnterlinner #14

,,Ich hatte in den vergangenen zehn Jahren erlebt, wie meine Eltern sich ein völlig neues Leben aufbauen mussten, mein ehemaliger Schuldirektor als Stasimitarbeiter enttarnt wurde, fast die gesamte Professorenschaft der Leipziger Universität ausgetauscht worden war."

Leider wird auch in diesem Artikel nur in diesem kleinen Satz die Gretchenfrage der ganzen ,,Ostalgie" gestellt. War die DDR ein Unrechtsregime, und ist man froh, dass dieses Regime überwunden wurde.


QuoteNotWalkedOnTheSurfaceOfTheSun #14.2

Bei allem noetigen Respekt: Was fuer ein arroganter mono-kausaler Satz, der etliche menschliche Aspekte komplett auslaesst. Vielleicht brauchen Sie einen persoenlichen Mauerfall, um zumindest im Ansatz das Geschriebene zu verstehen.
...


...


Aus: "Ich, im Westen undercover" Maike Nedo (16. Juli 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/2018/29/ost-west-wanderung-gruende-mauerfall/komplettansicht

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Max Noak: ... Ich lese viel über Ostdeutschland. Es treibt mich um. Und ich finde: Wir dürfen die Konflikte nicht scheuen, auch das Dunkle nicht.

...


Aus: "Ostdeutschland: "Ich musste raus"" Interview: Anne Hähnig (20. August 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/2018/34/psychoanalyse-ostdeutschland-max-noak-guben-london/komplettansicht

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QuotePaul Freiburger #1.14

"Psychoanalytiker? Der Mann ist zum Fremdschämen und von Vorurteilen zerfressen. Hoffentlich bleibt er auch in London."

Ungefähr 2001 hat mir ein Ostdeutscher, der in den Westen gegangen ist, gesagt: "die Aktiven und Offenen gehen in den Westen, der Rest muffelt sich ein."

Ich weiß nicht, warum ich mich für Noak fremdschämen soll. Er äußert sich etwas undiplomatich, aber er ist ja kein Lokalpolitiker, der dem Wahlvolk schmeicheln will und in einem gewissen (!) Maß seine Heimat auch schönreden muss.

Das junge Leute in die große, weite Welt wollen, ist ein von der Ex-DDR unabhängiges Phänomen.


QuoteChristel Mett #1.25

"Wer aus der Tatsache heraus, das in der DDR Kirche keine große Priorität hatte ,als Psychoanalytiker zu dem Fazit kommt ,es wäre im "Osten" miefig ... "

Das ist aber eine sehr verzerrte Darstellung.
Herr Noak beklagte das Fehlen von Institutionen und Gruppen der Zivilgesellschaft.

Und wer mal im Osten gelebt weiß, dass (nicht alle aber in weiten Kreisen) eine gewisse Engstirnigkeit und Provinzialität als identitätsstiftendes Kulturgut gepflegt wird.
Oder warum ist Pegida ein "Kind des Ostens"?

[ Hannes Wander #1.41 ... Angefangen von ,,Viehzeug und Gelumpe" bis "absaufen" grölen bis zum Umfallen. Dieser unglaubliche Hass und der Neid macht betroffen.
Rechtsaußen war ebenfalls nicht gesellschaftsfähig. Es fehlt im wahrsten Sinne die gemeinsame Sprache. Diese Dauermeckerei, und die Verachtung unserem Land und seinen Menschen gegenüber, sind schwer zu ertragen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Politik einen großen Anteil daran hat ... ]


Quoteschmidtds #1.28

"Sie wollen doch nicht ernsthaft behaupten, das ein Kind mit 7 Jahren einen Kindergarten als piefig erlebt weil dort Ostmobilar steht."

Das Personal war aber in der DDR ausgebildet. Manche Erzieherinnen sind dann schnell in den Westen gegangen. Ich hatte in den 90ern beruflich (im Westen in der Jugendhilfe) viel mit Kitas zu tun und konnte erleben, dass es da oft Probleme gab, weil sehr unterschiedliche Erziehungshaltungen aufeinander prallten. Typisch war (und gilt, wie immer, nicht für alle) hohes und spürbares Engagement für die Kinder gepaart mit einem großen Mangel an Flexibilität; schwierig bei selbstbewussten Kindern und Eltern.


QuoteBeRootOrReboot #1.31

Jeder kann fuer sich entscheiden, ob er seine Umgebung muffig-piefig findet oder nicht.

Sie haben da - so sehr Sie sich das anscheinend auch wuenschen moegen - kein Redaktionsrecht ueber die persoenlichen Erfahrungen und Empfindungen eines Anderen.
Die Beurteilug von Herrn Noak ist ja ein Geschmacksurteil, das individuell und souveraen getroffen werden darf (schon seit - spaetestens - der Aufklaerung).
Die "Vergleichsmoeglichkeit" zwischen vor 1989 und nach 1989 hat der Interviewte tatsaechlich nicht - aber ICH habe sie.

Außerdem gibt es allgemeine Beobachtungen zur Geschwindigkeit gesellschafltlicher Umbrueche und deren Einsickern in die gesellschaftlichen Mikro-Sphaeren, die die Entwicklung eines Kleinkindes oder Jugendlichen bestimmen.

Alles spricht also dafuer, dass er in Kindergarten und Schullleben noch nahezu unverfaelschte DDR-Mentalitaet erleben durfte.
Ein kultureller Umbruch ist eben mehr (und anders) als nur das vermehrte Einkaufen von Westprodukten und bezahlen mit westlich bedrucktem Hubschraubergeld.
Es ist wohl ein gelebtes Gefuehl fundamentaler Freiheit und Weltoffenheit, das Max Noak im Guben der 90iger und Nuller Jahre fehlte.


QuoteStan_Smith #1.35

"Er hätte im Gegensatz zu vielen anderen auch in der DDR alles studieren können, was er wollte."

"Und dass im Osten viel Atheismus herrscht, glaube ich auch nicht so pauschal."

Sie können glauben, was Sie wollen.
Was der Herr Noak schreibt stimmt trotzdem. Ich kenne nicht mal 5 Menschen, die religiös sind. Zumindest nicht die, die hier geboren sind.

"Bei uns in der ostdeutschen mittelgroßen Stadt jedenfalls sind die Kirchen (wir haben 5) an Weihnachten immer proppevoll - oft sogar mit Christspiel der Konfirmanden."

Ja toll. Einmal im jahr. Ist hier auch nicht anders. Musste ich mir in meiner Jugend auch antun.
Einmal zu Weihnachten in die Kirche.
Die meisten davon machen das aus Tradition, nicht der Religion wegen.


QuoteWoelfchenLobo #1.45

War öfter in der DDR, die Oma besuchen. Den Muff aus dieser Zeit habe ich beruflich auch noch in den, 90"ern erlebt, als ich beruflich ueber Monate in Thüringen gelebt habe (die Spiessigkeit kannte ich aber auch aus meiner West-Kindheit!). Und in den Ämtern das Zusammenrücken der alten Seilschaften.
Aber auch die Beklemmung vieler ehem. DDR ler, wenn sie mir die ehemals verbotenen Zonen und Gebaeude (der Stasi) zeigten. Dort wurde auf einmal leise gesprochen.


QuoteLoulani #1.46

Anders gefragt: Ist die Kirche überhaupt noch ein Rückgrat des gesellschaftlichen Widerstands (abseits von Bayern und vllt. Baden-Württemberg)? Ich glaube, das ist kein allein ostdeutsches Phänomen (obwohl die Kirchen in DDR-Zeiten natürlich kritisch von der SED betrachtet wurden), sondern ein gesamtdeutsches respektive sogar ein westeuropäisches Problem: Kirche spielt im täglichen Leben vieler Menschen keine aktive Rolle mehr. Für mich liegt das einerseits an den zum Teil altbackenen Ansichten der Pfarrer und Kirchenfunktionäre (Stichwort: Trauung von Homosexuellen). Andererseits findet man heute das Heil nicht mehr in der Religion und die Religion bietet oft auch keine Antworten mehr auf die Fragen, die man heute stellt. Und nicht zuletzt ist es auch ein finanzielles Problem: 8 bzw. 9% Kirchensteuer findet auch nicht jeder toll, der sich ohne die Steuer vielleicht zur Kirche bekennen würde.


QuoteLoulani #1.49

Richtig, ich bin aber auch niemand, der sein Heil in der Bibel und im Himmel sieht und daher auf die Sonntagspredigt angewiesen wäre. Ich gehe Heiligabend in die Kirche, weil das in meiner Familie Tradition war (auch in der DDR) und bis heute ist - es gehört dazu. Und ich spende auch an Heiligabend.


QuoteOberlausitzerin #1.50

Den eingemuffelten (natürlich gibt es das Wort eigentlich nicht) habe ich am Wochenende auf einer Hochzeit in Thüringen erlebt. Junge Leute, gut ausgebildet und engagiert, die nicht daran denken, wegzugehen. Ein Teil kirchlich gebunden, andere Atheisten. Sie haben keine Probleme miteinander.


QuoteProclamator #2

Endlich mal ein "Ossi" der nicht der Ostalgie verfallen ist, sondern beinhart analysiert, wo im Osten die Probleme liegen.In der DDR war nicht alles schlecht? Doch! Es war alles schlecht und es wurde danach nicht besser. Man wird das nicht mit Geld überdecken können.


QuoteGewida #2.6

Wenn jemand schreibt, dass ALLES schlecht war, braucht man eigentlich nicht weiter zu lesen und auch nicht weiter zu diskutieren.


QuoteMörre Nasenschein #2.8

> In der DDR war nicht alles schlecht? Doch!

Was für ein sinnfreier inhaltsbefreiter Satz - ist das ein Echo aus Ihrem Inneren?


QuoteThorin Eichenschild #2.12

Das "beinhärteste" Problem ist der fehlende Einfluss der Kirche, konnte ich immer wieder lesen. Der Rest blieb eher nebulös. Tut mir leid, aber ich weiß nicht, was Herrn Noaks Problem wirklich ist.


QuotePlanloser #2.20

Die Grundbedürfnisse wie Trinken, Wärme Wohnung Essen hat so gut wie nichts gekostet. Man musste nicht fürchten von einem Tag auf den anderen auf der Straße zu gelangen nur weil der Vermieter einen gekündigt hat oder man arbeitslos wurde und die Wohnung nicht mehr leisten konnte. Es gab mehr Autos als z.B. damals in GB wenn auch nur das gleiche aber man kam damit von A nach B, anstatt das die Waren nach der Garantiezeit auseinanderfielen liefen Sie einfach immer weiter. Die Staatsschulden waren nur halb so hoch wie damals in der BRD und es gab ausschließlich echten Wirtschaftswachstum und keinen finanziellen und ja auch der Atheismus sehe ich als Vorteil, man lies sich nicht von einem Buch das Leben vorschreiben.

Ich will die DDR aber nicht verteidigen - ich bin ein Jahr älter als der Autor aber meines Erachtens sehe ich die Entwicklung als Kind im Westen deutlich kritischer, hier wird gerne ausgeschlossen wer nicht an Gott glaubt - ja soll das toll sein?


QuoteProclamator #2.23

Man musste auch im Westen nicht fürchten, von einem Tag auf den anderen auf die Straße gesetzt zu werden. Das waren so die Mythen der damals Herrschenden über den bösen Westen Die Grundbedürfnisse waren auch hier stets für jeden bezahlbar und sei es über die Sozialhilfe. Wen interessieren die Staatsschulden?. Mal zur Erinnerung: Der Westen hat schon in den 70ern Milliardenkredite rüberschieben müssen, weil die DDR sonst am Ende gewesen wäre. Wirtschaftswachstum? Die DDR ist deswegen aus der Geschichte verschwunden, weil sie schlicht und ergreifend finanziell am Ende war und die Russen unter Gorbatschow auch keine Unterstützung mehr leisten wollten. Ich möchte den persönlichen Mut der Montagsdemonstranten nicht in Abrede stellen. Aber 1979 oder gar 1969 hätte es sowas nicht gegeben. Die Montagsdemos haben den ohnehin vorhandenen Auflösungsprozess nur noch beschleunigt. In GB konnte jederimmer ins Geschäft gehen und ein Auto kaufen. In der DDR auch... allerdings erfolgte die Lieferung frühestens nach 12 Jahren. Jeder konnte im Westen Atheist sein In der DDR musste man Atheist sein, jedenfalls dann, wenn man sich nicht staatlichen Schikanen aussetzen wollte.

Ich habe den Eindruck, einige fühlen sich von mir persönlich angegriffen. Das ist nicht meine Absicht. Ich rede hier vom politischen System.


QuoteA true love of mine #4

Ich bin froh, dass solche Leute einfach weggehen.


QuoteRenfrew #4.1

Ich nicht.
Der Autor bringt es gut auf den Punkt.

Ich selbst war bisd vor kurzem beruflich 1 Jahr in der "DDR" bei Dresden. Habe den Tag herbeigesehnt, wieder im "Westen" zu sein.
Viele Menschen (zum Glück nicht alle) pflegen eine seltsame Mischung aus Ostalgie, Fremdenfeindlichkeit, Angst vor allem Neuen, sind stolz auf die "DDR", fehlende Eigeninitiative, Passivität, immer sind "die Anderen", unfreundlich und pampig im Umgang, etc. etc.

Wie gesagt, nicht alle sind so aber zu Viele.


QuoteNotizAusDerProvinz #4.9

Es wäre gut, wenn solche Leute zurück kämen und diesen ostalgischen Osten ohne Tradition auf den Kopf stellen.

In unserem Urlaub an der östlichen Ostsee dieses Jahr begenete uns eine ältere Frau aus Thüringen mit säschichen Wurzeln. Wir führten ein durchaus freundliches Gespräch in Teilen auch über früher/heute. Spannend war ihr wie selbstverständlicher Sprachgebrauch, wenn sie über Menschen aus dem Westen redete. Wir - aus tief im Westen - anerkannten die Fehler aus den Kohlzeiten nach dem Ende der DDR. Sie sprach nur von den arroganten Besserwessis und begriff nicht einmal, dass sie mit Menschen aus diesem Westen sprach.

Ignorranz gepaart mit der Unfähigkeit zur Selbstreflexion - das Therapie bedürftgie Fehlverhalten kommt mir seltsam vertraut vor. Als "Erbe" das mein Vater aus der NS Zeit Zeit seines Lebens als unverstandende Bürde mit sich rumtrug.


QuoteNotizAusDerProvinz #4.12

"> Er erscheint mir doch deutlich reflektierter als die Menschen, die bei Pegida "Absaufen" brüllen..

"In einer Stadt mit 536000 Einwohnern gibt es also ein paar Idioten"

Das entscheidende sind nicht die "paar Idioten", die sich zum brüllen treffen, sondern die ungezählten Vielfache davon, die den Idioten nichts entgegen setzen. Die "paar Idioten" fallen klar auf. die Größe und die Position der schweigende Mehrheit ist unbekannt.


QuoteTornado2016 #4.14

Du hast nicht im Osten gelebt, dann würdest Du nicht überfehlende Eigeninitiative schreiben.
Der Autor ist für den Osten kein Verlust. Er ist in der Bundesrepublik groß geworden, nicht im Osten.
Individualismus, der Einzelne steht im Vordergrund, erst ich mit meinen Bedürfnissen, dann eine ganze Weile gar nichts und dann der Rest.
Man kann diese Einstellung ablehnen oder befürworten, das sollte jeder für sich entscheiden. Aber zum Westen gehört auch alles abzulehnen, was man nicht kennt.
Der Westen legt fest was richtig und falsch ist. Hat aber nur ein System erlebt!
Im heutigen Osten haben wir zwei Systeme erlebt und erleben Sie noch.
Und da wundert sich junge Leute, dass man vergleicht. Alles verwerflich?
Aber durch das kennen lernen verschiedener Systeme kann man viel besser einschätzen, was gut oder schlecht war. (Das kann man aber erst feststellen, wenn man es erlebt hat) Wer sich ehrlich auseinander setzen will sollte auch die Anderen nicht gleich ablehnen.
Im Übrigen, ich bin nicht kirchlich gebunden, in meiner Familie seit 1920 schon nicht mehr. Aber ich bin in die Christenlehre gegangen, weil es mich interessiert hat. Keiner hat mich gehindert. Überzeugt haben mich die Leute trotzdem nicht. Und was ich in Bayern erlebt habe, war Tradition, Heuchelei, aber kein Glaube. Man geht in die Kirche weil es alle machen.


QuoteHarzzach #4.29

Ich kenne heimatverbundene Bayern und Franken, die beim leistesten Hauch von Kritik durch Bewohner der Gefilde jenseits des Weißwurstäquators sofort eine rabiate Igelstellung einnehmen und unflätig werden. Weil nur sie über ihre Heimat schimpfen dürfen. Zum Schimpfen finden Bayern und Franken genug an ihrer Heimat. Man muss sie nur fragen, sie erzählen es einem bereitwillig. Weil sie ihre Heimat lieben und wollen, dass so mancher Scheiss endlich aufhört.

Wie ist das mit Sachsen oder Thüringern? Darf man grundsätzlich nichts an der Heimat kritisieren oder dürfen nur Einheimische die Heimat kritisieren?


Quoteeaster33 #11

Ich reagiere genervt: Kann es nicht auch mal einen Artikel geben, der den Stolz des Ostens beschreibt? Wieso, warum, weshalb Menschen den Osten dem Westen vorziehen? Muss es wie meistens eine Abarbeitung von "Traumata", Vorurteilen und sonstiger negativer Einordnung sein?

Was sind die Gründe dafür, dass es das nicht gibt? Ist es so, dass der Westen sich dann selbst reflektieren müsste, sich Defizite oder gar Scheitern, jedenfalls aber eben nicht per se die Sonnenseite eingestehen müsste, wenn es im Osten schön(er) und lebenswert(er) ist?

Oder gibt es sogar Dinge, die der Osten dem Westen voraus hat? ... Warum liest man davon so wenig?


QuoteKapustka #15

... Die weitreichenste Folge von 40 Jahren SED-Herrschaft ist tatsächlich die Auslöschung des christlichen Glaubens, die wahrschienlich noch Generationen nachwirken wird. Das ist historisch tatsächlich einmalig. Hat es so in den anderen Staaten des eheamaligen Ostblocks nicht gegeben.

Ganz unabhängig davon, ob man das gut oder schlecht findet. In jedem Fall wirft dieser Verlust einer gemeinsamen Wertorientierung immer die Frage nach dem Ersatz auf. Wer oder was füllt diese Lücke? Was hält dann ein Gemeinwesen zusammen?


QuoteKrawallerie #15.1

Logik und Vernunft würde ich sagen.


QuoteSir Hammerlock #15.9

Ich bin ungläubig und kann ihnen versichern ich fühle deswegen keine innere Leere. Auch suche ich keine Alternative in Ersatzreligionen, Spiritualität oder anderem Hokuspokus. Werte wie gutes Benehmen, Hilfbereitschaft (ohne sich ausnutzen zu lassen), Sauberkeit und Ordnung habe ich von meiner Familie und meinem Umfeld gelernt. In dem Wohngebiet meiner Heimatstadt, Ostdeutsche Provinz, haben sich die Nachbarn solange ich zurückdenken kann IMMER gegenseitig unterstützt. Nachbarn vom anderen Ende des Wohngebietes haben uns immer mal Kleinigkeiten wie frisches Gemüse aus dem Garten geschenkt weil wir wenig Geld hatten, die Schneiderin (in Rente) hat immer für kleines Geld Rucksäcke oder Kleidung repariert, meine Mutter kümmert sich heute um die Nachbarin die im Rollstuhl sitzt. Und jetzt halten sie sich fest, das alles passiert ohne Kirchengemeinde. Die Anonymität und Ignoranz habe ich erst in der westdeutschen Großstadt kennengelernt.


QuoteCyber200 #22

In einem Bundesland wo "Demonstranten" schreien "absaufen lassen, absaufen lassen" um ihre primitive und menschenverachtende Äußerungen zu Flüchtlingen ungestraft abgeben können, kann man sich nicht wohlfühlen!


QuoteTINE.maxx #22.2

Eine Pauschalisierung mehr. Ausländerfeindliche Deppen gibt es überall.


QuoteHeiner Drabiniok #23

warum begeistert mich das Statement von Max Noak so, frage ich mich.
Wegen seines Alters und seiner Analysefähigkeit? Sicher auch!
Aber in erster Linie bewundere ich seinen Mut zur zur Authentizität! ...


QuoteWalter Plinge #23.4

Wenn er nur beschriebe, was ihn störte, wäre der Artikel nicht halb so aggressiv. Aber er wertet hemmungslos (Atheismus ist schlecht) und obendrein historisch falsch (ohne den Westen und die Kirche gäbe es keine keine Kultur, keine Musik, etc.).  ...


QuoteThorwin1 #25

Ist es nicht ein Stück weit normal, das man die Welt auf dem Land als Kind/Jugendlicher als eng und muffig betrachtet? Diese Erfahrung machen tausende Jugendliche weltweit durch. Selbst Jugendlichen aus Kleinstädten ergeht es nicht anders.
Verwunderlich ist allerdings das er den Atheissmus als Einschränkung empfindet. Genau das Gegenteil ist doch der Fall. Durch das lösen von kirchlichen Zwängen hat man sich ein Stück Freiheit erobert, die es vorher nicht gab. Zu Ostzeiten wurde diese Freiheit durch den Staat gekapert, aber heute kann man sie ausleben.


Quoteschnitzel_für_alle #26

Als er meint, er finde es beschämend wenn Leute den verbreiteten Atheismus in Ostdeutschland als Vorteil herausstellen und ich noch gelesen habe, dass er Theologie in Heidelberg studiert, hatte ich schon keine Lust mehr den Artikel im Detail zu lesen. Scheint mir ein wenig Arrogant und von Gott geküsst zu sein...


Quoteundübrigens #27

einfach mal wieder ein weiterer "Spaltartikel". Wenn ein Forist sowas schreiben würde, würde wegen Pauschalierungen gelöscht werden. Viele fordern ständig Toleranz für alles und (fast) jeden und zetern gleichzeitig über die Ossis.....merkt man die eigene Heuchelei eigentlich noch?


QuoteAlexander65 #28

Seltsamer Mensch, der Herr Noak, ich bin in Dresden aufgewachsen auf Bach, Richard Strauss, Schostakowitsch usw. - die meisten Westdeutschen, die ich kenne, wissen nicht einmal, dass Richard und Johann Strauss unterschiedliche Komponisten sind...... auch Bulgakov, Goethes Iphigenie (Westdeutsch: Fuck you, Goethe) usw. Ich kann da überhaupt keinen Fluch entdecken. Hatte auch 1984 meinen Ausreiseantrag gestellt, im Westen studiert und bin glücklich, wieder in den "Beitrittsgebieten" gelandet zu sein..... und genieße das brandenburgische, sächsische und thüringer Land. In Westdeutschland fühle ich mich schon lange nicht mehr wohl, das Umsteigen und der Aufenthalt in Frankfurt/Main und ähnlichen Ballungszentren ist ein Albtraum..... tja, so unterschiedlichen können die Meinungen sein.


QuoteHerodias #32

Kann ihn gut verstehen. Bin Mitte der 70er im heutigen Thüringen geboren, die Wende kam für mich zum richtigen Zeitpunkt (oder besser nicht zu spät) und bin nach der Lehre nach München gegangen. Fühle mich auf dem Land wohler als in der Stadt und kann dem Autor absolut nachfühlen.
Die weitverbreitete Ostalgie konnte ich nie nachvollziehen oder auch nur verstehen - fast jeder hat von der Wende profitiert. Mein Vater ist 3 Jahre nach der Wende arbeitslos geworden und nie wieder Arbeit (ausser ABMs) gefunden. Aber er hat sich nie hängen gelassen - und alles in allem ging es uns trotz der 15-jährigen Arbeitslosigkeit um LÄNGEN besser als in der DDR.
Ich hatte alle Möglichkeiten und Freiheiten und habe erreicht, was mir in der DDR niemals möglich gewesen wäre. Dafür werde ich dem "demokratischen System" der BRD immer dankbar sein und verabscheue alle wie auch immer gearteten Bewegungen von Links oder Rechts die dagegen ankämpfen.

Allerdings bin ich auch Realist genug um für mich eine alternative Realität zu sehen: Wäre die Wende nur ein paar Jahre später gekommen (5-10?) häte ich sicher nicht so viel Glück gehabt. Ich hätte 3 Jahre bei der NVA abgesessen und dann eine Ausbildung als "Facharbeiter für Datenverarbeitung" in einem grossen lokalen Betrieb hinter mich gebracht. Dieser wäre ebenso 1 Jahr nach der Wende abgewickelt worden und ich hätte mich mit komplett wertlosen Kenntnissen ins Heer der schlagartig arbeitslos gewordenen Menschen eingereiht. Ausgang: unklar.


Quotemehrmut #36

Dass es mit dem gesellschaftlichen Leben in Guben und anderen Orten vor allem im Osten Deutschlands nicht zum Besten steht, hat vor allem mit der wirtschaftlichen Situation, fehlenden Investitionen und dem Wegzug vieler leistungsfähiger junger Menschen zu tun.

Vielleicht kommt Herr Noak ja ab und zu mal aus London raus, dann sieht er ähnliche Situationen auch in Großbritannien. Er muss nicht mal in die Arbeiterviertel der ehemaligen Industriestädte im Norden reisen. Gleich um die Ecke, in Essex oder Kent findet er viele Beispiele für Trost- und Hoffnungslosigkeit.


Quotetsitsinotis08 #39

Lieber Herr Noak, ich bin fünfzig Jahre älter als Sie und kann Ihnen versichern, dass es nicht nur ein ostdeutscher Fluch ist, sondern ein beständiger Fluch des Gehorsams, der das Eigene zum Fremden macht -- allerdings in der DDR in ihrer preußischen Tradition besonders ausgeprägt. (Ich bin dort aufgewachsen). Von Nazi-Deutschland ganz zu schweigen.

Kein Mensch wird gehorsam geboren.

Vielleicht kennen Sie die Arbeiten von Stanley Milgram (1963) [s.d.]?
Sie wurden des Öfteren wiederholt. Immer mit dem gleichen Ergebnis.

Die Gehorsamskultur, d.h. die Identifikation mit dem Aggressor, ist in unserer Zivilisation tiefer verankert als die meisten wahrhaben wollen.

Ich wünsche Ihnen, da Sie, v.a. wohl auch dank Ihrer Eltern, Ihr Eigenes bewahren konnten, in Ihrer zukünftigen Arbeit als Psychoanalytiker alles Gute -- in der Tradition Helmut Gollwitzers und Martin Niemöllers.

Mir hat der Psychoanalytiker Arno Gruen sehr geholfen -- m.E. der argumentativ konsequenteste neben Erich Fromm u.a.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Wenn vor dem ,,Sonnenblumenhaus" eine Fremde steht und Leute anspricht, gehen bei den Einheimischen die Alarmglocken an. Am Vormittag sind hier in Lichtenhagen, dem Plattenbauviertel zwischen der Rostocker Innenstadt und der Ostsee, vor allem Rentner unterwegs, ein paar Mütter schieben Kinderwagen durch den Supermarkt. Die Vorgärten sind geharkt, die Wohnblocks saniert und in freundlichen Farben gestrichen. Ein Idyll.

Wenn es da nicht diese Erinnerungen gäbe, an damals, 1992, als die Nachbarn hier dem rechten Terror zusahen, als sie applaudierten, statt Menschlichkeit zu zeigen. Als es brannte und grölte und die Staatsmacht ihr Gewaltmonopol den Gewalttätern überließ.

,,Ging ja auch nich so weiter", murmelt ein alter Mann, der sich die Füße vor Hausnummer 19 in der Mecklenburger Allee vertritt. Er wohnt hier fast sein ganzes Leben lang. In jenen Augustnächten war er dabei, nachdem die Ausländerbehörde die freien Wohnungen mit Asylbewerbern gefüllt hatte. ,,Selbst auf de Wiese ham se kampiert, die Zigeuner." Die rechten Randalierer seien damals ,,zugereist", sagt der alte Mann.

Warum die Nachbarn nicht eingeschritten sind? ,,Gehn se ma runter und machen was, wenn die mit Flaschen werfen und nirgendwo Polizei zu sehen ist!" Dann tritt eine Frau, vielleicht Mitte 50, eilig aus der Haustür und ruft den Mann hinein. Sie wisse schon, sagt sie scharf, weshalb ich hier bin: ,,Wegen Chemnitz. Aber wir sagen nichts, lassen Sie uns endlich in Ruhe, wir wollen unseren Frieden."

Selten scheinen Ruhe und Frieden in der Bundesrepublik Deutschland ferner als in diesen Tagen, wo die rechten Arme wieder durchgedrückt und in die Luft gestreckt werden. In Chemnitz, in Köthen und Halle, wo den Leuten wieder der Hass ins Gesicht geschrieben steht. ,,Deutschland den Deutschen", brüllen sie und es trifft mich mitten ins Herz. Weil ich mich in meiner eigenen Heimat als Fremde fühle. Schon wieder.

26 Jahre liegen zwischen dem August '92 in Rostock und heute – und ich habe die gleichen Fragen: Warum taucht vor allem im Osten Deutschlands immer wieder dieser Nazi-Spuk auf, woher kommt diese Wut? Und vor allem: Warum stellen sich tausende Frauen und Männer, die meine Nachbarn sein könnten, denen ich beim Bäcker begegne oder vielleicht im Bürgeramt, in eine Reihe mit Rassisten? Weshalb schauen so viele weg, wenn zur blindwütigen Jagd auf Menschen angesetzt wird?

Fast ein Drittel der Ostdeutschen bekennt, bei den Landtagswahlen nächstes Jahr ihre Stimme der AfD geben zu wollen. Einer Partei, in der Flüchtlinge ,,Messermänner" genannt werden, die offen vom ,,Systemwechsel" spricht. Das ist ein Zeichen dafür, wie weit die Mitte der ostdeutschen Gesellschaft bereit ist, sich aus dem demokratischen Konsens des Landes zu verabschieden.

Ich habe mich aufgemacht in diesen Tagen. Nach Dresden, Chemnitz, Limbach-Oberfrohna. Habe meinen Geburtsort Ohrdruf besucht. Eine Kleinstadt in Thüringen, dem Bundesland, in dem Björn Höcke wohnt und wo Rechtsextreme Immobilien kaufen, ihre Bunker des Völkischen darin einrichten, und die Truppen sammeln sich zu Festivals des blutigen Liedes. Und ich war in Rostock, um von den Erinnerungen an 1992 zu erfahren und zu hören, wie die Menschen heute darüber denken. Eine Reise durch mein wütendes Ostdeutschland, auf der Suche nach Erklärungen und Antworten auf immer die gleiche Frage: Warum?

Ich bin ein Kind der DDR, Jahrgang 1963, in den 70ern in Thüringen zur Schule gegangen, habe in Dresden studiert. Als 1992 die Stiefel in Rostock auf den Asphalt knallten und Steine flogen auf Wehrlose, war ich 5000 Kilometer entfernt, saß ich in einer Zeitungsredaktion an der Park Avenue in Manhattan. Hundert amerikanische Kollegen der ,,New York Newsday" hatten mich gerade erst voller Neugierde aufgenommen. So was wie mich hatten sie noch nie gesehen: ein leibhaftiger Ossi, aufgewachsen hinter Stacheldraht und selbst befreit aus der Diktatur des Proletariats. Ohne Krieg und Blutvergießen, nur mit diesen vier einfachen Worten: ,,Wir sind das Volk."

Was damals geschah, die tagelange Belagerung, die in Todesangst schreienden vietnamesischen Frauen und die wutverzerrten Gesichter der Männer unten auf der Wiese, nannte man später die ,,Schande von Lichtenhagen". Die ,,New York Newsday" titelte ,,Nazis in Ostdeutschland", und die Amerikaner sahen mich entsetzt an. Waren das die friedlichen Revolutionäre, von denen ich erzählt hatte? ,,Ist das dein Volk? Da war es mir zum ersten Mal fremd geworden.

In Ohrdruf aufzuwachsen, in den Sechzigern und Siebzigern, das bedeutet, die DDR erfahren zu haben. Die Häuser grau, die Fenster zugig und der Braunkohlenteer auf den Straßen so weich, dass die Schuhe im Sommer daran kleben blieben. Morgens um sechs zogen die Ohrdrufer an ihre Werkbänke, an die Webstühle oder sie standen am Bahnhof, um nach Gotha, die nahe Kreisstadt, zur Arbeit zu fahren. Ein mühevoller Alltag zwischen Kohleöfen und der Kunst, der Mangelwirtschaft dann und wann ein paar Bananen oder ein Ersatzteil für den Trabi abzutrotzen.

Aber zugleich auch Normalität. Wir Kinder spielten auf dem Markt, erbettelten Wurstzipfel beim Fleischer und verbrachten unsere Nachmittage im Freibad. Und manchmal sonntags ging die Familie zu ,,Acken", dem feinen Café zwischen dem Kino und der Post. Hier roch es nach Likör, und elegante Damen servierten Obstkuchen mit silberfarbenen Gäbelchen. Treffpunkt für Alt und Jung, Ort von Bürgerlichkeit und Gemeinschaft.

Der Mann, der den Kuchen zuletzt gebacken hat, ist heute weit über sechzig. Sein Café konnte er mühelos über die Wendezeiten retten. Doch irgendwann versagten auch ihm die Kräfte, er hat lange einen Nachfolger gesucht. Vergeblich. Vor ein paar Wochen machte das Café zu. Die Tür ist verschlossen, die Rollläden sind unten.

Das Erbe der Nachwendezeit ist in Ohrdrufs Zentrum noch immer zu spüren. Der Aufschwung ist fragil, die Menschen sind verunsichert. Weil die Kaufkraft gering und Aldi nah ist, lohnt es sich für Bäcker und Fleischer nicht mehr. Dunkle Schaufenster prägen die kleine Innenstadt. Die Jungen ziehen nach wie vor fort. Zurück kommt kaum einer. Das Krankenhaus mitten in der Stadt ist jetzt ein Altersheim.

Über den Marktplatz eilt ein älterer Mann, kariertes Hemd, blaue Hose, schwere Ledertasche über der Schulter. Er ist Elektriker, wie sich später herausstellt, eigenes kleines Unternehmen, eine Handvoll Angestellte. Darf man ihn fragen, wie es so geht? Skeptischer Blick, ,,wozu soll das gut sein?" Ein Kommunalpolitiker, die Apothekerin, ein Straßenhändler, der aus seinem Lieferwagen heraus Klamotten verkauft: Niemand möchte gern mit einer Journalistin reden, sie fürchten zugespitzte Schlagzeilen und aus ihrer Sicht oberflächliche Urteile. Schon gar nicht wollen sie ihre Namen in der Zeitung lesen. ,,Versprochen?", fragt der Elektromeister und ist dann bereit zu erzählen.

Vor der ,,Wende" habe er in einem der Betriebe in der Umgebung gearbeitet. Gleich nach dem Fall der Mauer sei er entlassen worden. Der Elektromeister machte sich selbstständig, schrieb sich bei der Handwerkskammer ein. Seither hangelt er sich von Auftrag zu Auftrag. Mal ist die Arbeit knapp, dann ist es wieder so viel, dass er nicht weiß, wie er hinterherkommen soll. Seine Frau schreibt die Rechnungen, er die Angebote, abends wird es meistens spät.

Auch in Ohrdruf wussten die wenigen Betriebe am Ort zu Beginn der neunziger Jahre zunächst nicht mit der neuen Marktwirtschaft umzugehen. Woher sollten sie auch? Jahrzehntelang hatten ,,die Genossen da oben" in Berlin bestimmt, was zu produzieren war. Wirtschaft in der DDR, das war die systematische Ausrotten von Selbst-Bestimmung und Selbst-Behauptung, die eine ganze Generation Ostdeutscher prägte. Man lernte, dass der Staat allmächtig ist und das alltägliche Leben am besten funktioniert, wenn man sich zurückzieht ins Private.

Für ,,den ganzen Politikquatsch", sagt der Elektromeister, habe er keine Zeit. Wenn einer seiner Leute kündigt, weil er anderswo ein paar Euro mehr verdient, steht gleich seine eigene Existenz auf dem Spiel. Wie soll er den nächsten Auftrag abarbeiten, woher Ersatz finden? Die Zeit seiner Selbstständigkeit war wohl zu kurz, um Rücklagen zu bilden, und zu hektisch, um sich Gedanken zu machen darüber, wie man die Firma erfolgreich entwickelt. Woher er dann auch noch die Kraft nehmen soll, sich gegen das Schimpfen in seiner Nachbarschaft über die Flüchtlinge zu stemmen, fragt der Mann entrüstet.

Wird auch er die AfD wählen? Sein Blick geht zu Boden. ,,So geht's ja nicht weiter mit den Migranten."

So einfach klingt der Befund, so verständlich sind die Sorgen. Doch wer hat sie wirklich gehört, wer hat sie ernst genommen, in der Politik? Die politische Mitte in Ohrdruf, das sind 20 Sozialdemokraten, ein paar mehr von der Union und den Linken. Die anderen, Handwerker, Ingenieure, Händler, wollen mit Politik nichts zu tun haben. Fadenriss zwischen oben und unten.

Wo immer ich in diesen Tagen mit den Menschen spreche, in Ohrdruf, in Sachsen oder in Mecklenburg, schwingt Bitterkeit mit und eine Enttäuschung über die Politik, in der kaum noch Platz zu sein scheint für Gespräche über einen Ausweg. ,,Wir sind das Volk" klingt wieder nach Wutausbruch gegen die eigene Regierung.

Womöglich sind Menschen, die oft und lange Zeit mit kleinen Einkommen und ABM-Maßnahmen leben mussten, besonders sensibel, wenn sie das Gefühl haben, der Staat erfüllt seine Aufgaben nicht. Denn das wenige, was sie besitzen, gerät dadurch in Gefahr. ,,Für Lehrer ham se kein Geld", schimpft der Elektromeister, ständig falle Unterricht aus. Und Polizei im Ort, die habe er schon lange nicht mehr gesehen. ,,Kann man ja die Mädels noch nicht mal allein zum Tanzen gehen lassen."

Wenn es nicht genügend Lehrer gibt, wenn der nächste Polizist 30 Kilometer entfernt ist, der Bahnhof längst geschlossen wurde und Ärzte rar werden, wenn der Staat also seine Pflicht nicht erfüllt, dann fürchten sich viele Ostdeutsche vor dem nächsten wirtschaftlichen Tal und davor, dass es dann zuerst den Schwächsten an den Kragen gehen wird, ihnen im Osten, wo die ökonomische Leistungskraft noch immer weit hinter der des Westens liegt.

Doch statt dass man sich um ihre Belange und Nöte kümmert, bestimmen Flüchtlinge die öffentlichen Debatten. ,,Niemand hat uns gefragt, ob wir das schaffen", sagt der Handwerker, ,,und jetzt sitzen wir hier mit Fremden, die unsere Sprache nicht sprechen und von denen man nicht weiß, ob und wie lange sie hierbleiben."

5000 Einwohner, mitten in Deutschland, ganz nah zur Autobahn A4, die den Osten mit Frankfurt am Main verbindet: 1990 wähnten sich die Ohrdrufer im Zentrum eines nahenden wirtschaftlichen Aufschwungs. Aber wie an so vielen anderen Orten kam es anders. Die Betriebe hatten über Nacht keine Aufträge und kein Geld.

Und dann verhökerte die Treuhand auch noch den Farbenhersteller an einen Glücksritter aus dem Iran. Der bezahlte den Kaufpreis nicht und ließ die Maschinen abbauen und in seine Heimat verschiffen. Wenn sich die Ohrdrufer an jene Zeiten erinnern, dann klingen ihre Berichte düster. ,,Man wusste ja nie, ob man nächsten Monat noch Arbeit hat", sagt der Elektromeister. Und jeden Tag in den Nachrichten die Hiobsbotschaften: Wieder einer pleite im Osten.

Heute werden zwar im Gewerbegebiet ,,Brandt"-Zwieback und ,,Storck"-Schokoladen für die ganze Welt hergestellt. Der Iraner wurde schließlich zum Teufel gejagt und der ehemalige Farbenbetrieb trägt dazu bei, dass die Arbeitslosigkeit so gering ist wie in vielen Teilen Westdeutschlands. Doch die Skepsis ist geblieben. ,,Wie lange geht das wohl gut?"

Als ich fürchtete, es werden auch in Ohrdruf die rechten Arme fliegen, war es Winter 2015. Am Stadtrand hatte die Bundeswehr ihren Standort geräumt für eine sogenannte Erstaufnahmeeinrichtung. Tag und Nacht Busse: Syrer, Afghanen und Menschen aus anderen Teilen der Welt. Auf dem Markt Gruppen junger dunkelhäutiger Männer. Vor dem Supermarkt verschleierte Frauen mit Kindern. 5000 Einwohner, mehr als eintausend Flüchtlinge: An jeder Ecke der Stadt ein Bild von Fremdheit. Die Stadtoberen von Ohrdruf hielten die Luft an. Rentner mussten beruhigt, Händlern musste die Sorge vor Diebstählen genommen werden.

Vom Thüringer Wald bis ins Erzgebirge, nach Limbach-Oberfrohna, sind es knapp 200 Kilometer. Man fährt an Jena vorbei, an Weimar, über das Hermsdorfer Kreuz. Vor fünfzehn Jahren traf ich hier Gitta Schüssler, eine Frau Mitte vierzig, Mutter und auch schon Oma. Gelernte Buchhändlerin, dann arbeitslos, kleine Jobs: ganz normale Biografie für jemanden aus dem Osten.

Schüssler war frustriert, sie trat in die NPD ein. Auch hier, nur ein paar Kilometer von Chemnitz entfernt, bestimmten damals der Niedergang der Wirtschaft und der Rückzug des Staates die Stimmung. Schulschließungen, Zuwanderer aus Russland: Bei Gitta Schüssler und ihren Nachbarn fielen die Heilsversprechen der Nationalisten auf fruchtbaren Boden. Die NPD-Frau zog in den sächsischen Landtag ein.

Spaziergang durch das Zentrum von Limbach-Oberfrohna: Blumengeschäfte, Restaurant, Bankfilialen, gepflegte Plätze. Die Stadtverwaltung logiert in einem schlossähnlichen Gebäudekomplex. Ein paar Ecken weiter verfallen Häuser. Man spürt, dass es noch lange dauern wird, bis Limbach-Oberfrohna so etwas wie einen ,,selbsttragenden Aufschwung" erreicht haben wird. Einige Flüchtlinge leben auch hier, in der örtlichen Polizeistation sagt ein Beamter, man sei ,,besonders wachsam, damit es nicht zu Ärger kommt". Gewalt, von welcher Seite auch immer, sei kein Thema. Die Zustimmung der Menschen zur AfD ist dennoch hoch.

Gleich neben der Stadtverwaltung steht auf dem Bonhoeffer-Platz die evangelische Kirche von Pfarrer Johannes Schubert. Männerstammtisch, Lady-Time, Seniorentreffen: In sein Gemeindehaus lädt Schubert die Limbacher regelmäßig zu Gesprächen und Lesungen. ,,Tja", sagt er, ,,die Menschen fühlen sich schon sehr lange allein gelassen von der Politik." Dann kamen die Flüchtlinge, und noch immer hatte man nicht das Gefühl, dass jemand zuhören will.

Auch er, der Pfarrer, der sich um Flüchtlinge kümmert, bekennt, dass er manchmal Angst davor hat, in der Öffentlichkeit laut zu sagen, was er falsch und gefährlich findet an der Flüchtlingspolitik. ,,Man steht doch sofort in der rechten Ecke", sagt er. Oder wird gezwungen, sich ,,links" einzuordnen.

Auch ein Argument, das ich häufig höre in diesen Tagen. Frage ich, wer zu Demonstrationen geht, wenn es darauf ankommt, gegen Rassismus Flagge zu zeigen, wird abgewunken. ,,Bin doch kein Linker", heißt es zur Begründung. Der Osten scheint zum Schauplatz von Auseinandersetzungen der politischen Extreme geworden zu sein. Und die Mitte der Gesellschaft, sie entscheidet sich eher für den Rückzug hinter den eigenen Gartenzaun.

Auf der Landstraße geht es weiter nach Chemnitz. Chemnitz, wo ein Asylbewerber einen Deutschen erstochen haben soll und die Rechten innerhalb von Stunden einen ,,Trauermarsch" von Tausenden organisierten, der das ganze Land zum Beben gebracht hat. Hitlergrüße, Steine auf ein jüdisches Restaurant, ,,Ausländer raus"-Parolen.

Das ist jetzt drei Wochen her, und Familienministerin Franziska Giffey aus Berlin hat nach ihrem Besuch in Chemnitz ein Gesetz zur Förderung von Demokratie ins Gespräch gebracht. Haben die Ostdeutschen da Nachholbedarf? Identifizieren sie sich noch immer nicht wirklich mit dem Grundgesetz?

Das Restaurant ,,Cortina" im Stadtzentrum von Chemnitz ist ein Ort, an dem man sich gern trifft. Es gibt Gemüseteller, frittierte Garnelen, und schicke Schirme schützen die Besucher vor der heißen Sonne. Die arbeiten in der Umgebung, in den Banken, Kanzleien oder in der Stadtverwaltung, Leute also, die von sich sagen könnten, dass sie es ,,geschafft" haben, kommen zur Mittagspause her.

Ich bin verabredet mit einem Bankangestellten, er ist Mitte vierzig, trägt Anzug und Krawatte, ist CDU-Mitglied. Und mit einer Lehrerin, Gymnasium, kurz vor der Rente. Es war nicht leicht, auch diese beiden zu einem Gespräch zu überreden. Erst die Information, dass ich in Dresden studiert habe, also ,,von hier" bin, löste die Spannung. ,,Okay", sagt der Banker, ,,dann wissen Sie ja, wie's uns so geht."

Auch, wenn die DDR lange zurückliegt: Sozialforscher beobachten bis heute, dass Ostdeutsche die Gemeinschaft suchen. ,,Zu Friedenszeiten" (das meint: vor der Wende), ,,aufreißen wie ein Westpaket" oder ,,Kaufhalle" sind typische Codes, die in Gespräche eingestreut werden und signalisieren, dass man zusammengehört. Abgrenzung gegen Fremde sehen die Wissenschaftler darin, wobei die Fremden ,,Wessis" sind.

Die Alten, in der DDR Geborenen, sie benutzen die Codes quer durch alle sozialen Schichten. Aber auch unter den Jugendlichen ist es üblich. Sogar in Berlin, wo man annehmen sollte, dass es längst eine Durchmischung von Ost und West gibt. ,,Na klar weiß ich, wer aus dem Osten ist", sagt zum Beispiel die 18-jährige Julia aus Köpenick über ihren Bekanntenkreis.

Warum die 13 Jahre zum Abitur brauchen und nicht 12, wie es in der DDR üblich war? – natürlich kennt Julia diesen bitteren Ostwitz über die ,,von drüben", die man als selbstbewusster und wortgewandter kennengelernt hat. ,,Ist doch klar: 12 Jahre Abi, dann ein Jahr Schauspielunterricht." Wenn sich Julia mit Gleichaltrigen trifft, zum Chillen oder Feiern oder zu Seminarfahrten, dann, sagt sie, ,,fragt man meistens: Ost oder West?" Warum das auch in ihrer Generation so ist, darüber hat sie noch nicht wirklich nachgedacht. ,,Es ist einfach so, wir sind anders als die."

Als Wolfgang Böhmer, später Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, 1991 in die dortige Landesregierung eintrat, zählte er in seinem Ministerium 272 Mitarbeiter. 51 davon waren wie er selbst im Osten aufgewachsen. Die meisten Sekretärinnen und Referenten. Das Sagen hatten die anderen, die Westler.

Wie sich das anfühlt? Sie selbst habe sich gleich mehrfach intensiver Befragung aussetzen müssen, sagt die Lehrerin in Chemnitz. Darüber, wie weit sie in das sozialistische System verstrickt gewesen war, und sie musste Bekenntnisse ablegen zur freiheitlich demokratischen Grundordnung. ,,Das war erniedrigend", sagt sie. Zumal zur gleichen Zeit ihre Kollegen, die aus dem Westen hierher gekommen waren, mühelos die nächste Karrierestufe erklommen. ,,Ich werde noch immer wütend", sagt die Pädagogin, ,,wenn ich daran zurückdenke."

Bis heute ist der Anteil von Führungskräften mit Ostbiografie erschreckend niedrig. 80 bis 95 Prozent der Führungskräfte in Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gewerkschaften im Osten kommen aus dem Westen, hat die Uni Leipzig vor einigen Jahren ermittelt. In der Politik ist die Zahl der Ostdeutschen sogar wieder rückläufig. Noch nicht mal einer unter zehn Vorsitzenden Richtern in den neuen Ländern kommt ,,von hier".

Schürt das ein andauerndes Gefühl der Fremdbestimmung? Erst brachten die Eliten aus dem Westen die unbekannte Rechts- und Wirtschaftsordnung, dann mutet dieser Staat, der noch nicht wirklich ihr Staat geworden war, ihnen auch noch die Herausforderung der Flüchtlinge zu.

Man kann das abtun. Sollen sich die Ossis mal nicht so haben! Man kann in diesem Zustand aber auch die Demütigung und Überforderung ganzer Landstriche sehen. Eine Überforderung, die zu Abwehr, Rückzug und schließlich zu Protest in den Wahlkabinen führt. Wie soll Demokratie auch funktionieren, wer soll ihre Werte tragen, wenn es an ,,selbstbewussten Bürgern" fehlt, von denen der einstige Bundespräsident Joachim Gauck sagte, sie seien das Zentrum jeder freiheitlichen Gesellschaft?

Auch er habe ,,massenhaft Fragen", sagt der Banker und Christdemokrat aus Chemnitz. Es geht um Sicherheit und Gerechtigkeit, den Umgang mit Russland, mit den Migranten. Doch sie zu stellen, das traue er sich nicht. Aus Angst, sich zu artikulieren, sich zu bekennen und dadurch Schwierigkeiten zu bekommen, auch im Job. ,,Es heißt doch gleich, man wolle das ganze System kritisieren", sagt er. Da ist es wieder, dieses Gefühlsgebräu des Fremden: erst Fremd-Bestimmung, dann Über-Fremdung, schließlich Ent-Fremdung.

Das Dresden der frühen achtziger Jahre eine Stadt zu nennen, in der unterschiedliche Kulturen zusammenleben, wird der Realität nicht gerecht. An der Technischen Universität studierten zwar Bulgaren, Tschechen und auch Angolaner. Zumindest mit den Osteuropäern saßen wir Studenten gemeinsam in den Hörsälen und tranken im ,,Bärenzwinger", dem weit über die Stadtgrenzen bekannten Studentenclub an den berühmten Brühlschen Terrassen abends unser Bier.

Bei den Dresdnern hingegen, die meist kaum etwas mit unserem Studentenleben zu tun hatten, spielte der gemeinsame Alltag mit den Ausländern, eine Integration, kaum eine Rolle. ,,Mädchen", sprach mich mal eine ältere Dame in der Straßenbahn besorgt an, ,,es gibt so nette deutsche Männer." So einen sollte ich mir suchen und nicht mit den dunkelhaarigen Kerlen aus Südeuropa herumziehen. Ich habe das nie vergessen, weil es meine Erfahrungen, mit einem von den Dunkelhaarigen in Dresden zusammengelebt zu haben, treffend beschreibt.

Die DDR der Völkerverständigung und des Internationalismus, es gab sie eigentlich nur in den Überschriften der Zeitungen. Der Alltag war ein anderer. Die deutsch-sowjetische Freundschaft hatte wenig mit Zwischenmenschlichkeit zu tun, sondern war eine Massenorganisation. Sie lebte in kleinen Mitgliedsbüchlein, in die man regelmäßig für ein paar Pfennige erworbene Marken geklebt hat.

Und als in den achtziger Jahren nicht nur die Technische Universität Dresden in der Mensa Essensräume für ,,Kommerzstudenten" einzurichten begann – die DDR hatte das Wissen ihrer Wissenschaftler für Devisen an arabische Herrscherhäuser verkauft –, reichte man ihnen an weiß gedeckten Tischen Bananen und Apfelsinen zum Nachtisch. Nachts feierten sie in den Bars der Stadt, und tagsüber saßen diese Studenten in eigenen Lehrveranstaltungen. Wir haben sie nur aus der Entfernung erlebt.

Die Begegnung mit dem Fremden, mit anderen Kulturen und Hautfarben, ist für die allermeisten in Ostdeutschland Aufgewachsenen eine Erfahrung der Abschottung. Der Bundeswehrstandort in Ohrdruf beherbergte bis 1990 sowjetische Soldaten. Die Offiziere durften Familien mitbringen. Sie lebten separiert in eigenen Wohnblocks, ihre Kinder gingen nicht in unsere Schulen. Die einfachen Soldaten waren strengstens kaserniert. Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung war nicht erwünscht.

Wo Vietnamesen und Angolaner lebten, waren sie zum Arbeiten gekommen. Ausschließlich. Sie kamen, weil die DDR Aufbauhilfe leistete in ihren Heimatländern. Mit Geld, mit Maschinen, mit Saatgut. Diese Hilfe musste bezahlt werden, mit Arbeit.

Tausende vietnamesische Frauen und Männer schufteten in der Textilindustrie und anderswo. Sie wohnten in eigenen Plattenbauten, sie mussten einen großen Teil ihres Verdienstes dem heimatlichen Staat überlassen. Menschliche Verbindungen waren ihnen sogar untereinander verboten. Wer schwanger wurde, musste sofort ausreisen. Die meisten Deutschen wussten um diese Zustände nahe an der Zwangsarbeit. Wir nahmen es hin.

Unter uns allerdings entwickelte sich eine Kultur der Diskriminierung und der Herablassung gegenüber Schwächeren, Minderheiten. ,,Fidschi", ,,Kanake", ,,Neger". Für all diese erniedrigenden Begriffe und ihre Wirkung gab es kaum ein Bewusstsein. Und ich höre sie bis heute im alltäglichen Sprachgebrauch.

Wer in die Archive steigt, findet auch reihenweise Belege für offen rassistische Übergriffe vor 1990. Die Täter waren meist enthemmte und gefrustete junge Männer. Der Staat hat sie kurzerhand von der Straße geholt, ansonsten schwiegen die Genossen darüber.

Natürlich sind die Ostdeutschen, sind wir, keine Nazis, die alles Fremde aus unserem Land tilgen und die demokratischen Strukturen aus den Angeln heben wollen. Wer so pauschalisiert, erntet noch mehr Distanzierung, noch mehr Wut. Man wird vielmehr zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich viel angestaut hat in den ,,fünf neuen Bundesländern". Persönliche Zurücksetzung, wirtschaftliche Ängste, der Staat auf dem Rückzug. Und dann kommt eine Kanzlerin, die im fernen Berlin entscheidet, Millionen von Leuten einzuladen und eine demokratische Abstimmung über diesen gravierenden Einschnitt in das Leben der Menschen für nicht nötig ansieht.

In Rostock-Lichtenhagen sitzt an seinem Schreibtisch, nur ein paar Straßen entfernt vom Sonnenblumenhaus, Rainer Fabian. Ein ruhiger Mann, Mitte 60. Bis er in Rente geht, kümmert er sich um die Leute, die hierher, ins ,,Haus der Begegnung" kommen, das das katholische Kolpingwerk seit Jahren betreibt. Früher war hier ein Kindergarten, aber so viele davon braucht man in Lichtenhagen nicht mehr. Jetzt gibt es Seniorensport, Kaffeetafeln und Tipps für die, die Behördenkauderwelsch nicht verstehen und Strafen fürchten, wenn sie auf den Brief vom Amt nicht reagieren.

Fabian ist einer, der die Sorgen der Leute versteht. ,,20 Euro können ganz schön viel Geld sein", sagt er. Typische ostdeutsche Nachwendekarriere auch bei ihm: Betrieb pleite, Job gefunden, wieder pleite, ABM, dann endlich Sozialarbeit. Fabian kennt einige in der Nachbarschaft, deren Renten oder Verdienste so klein sind, dass sie sich Obst und Gemüse und Waschmittel von der ,,Tafel" holen.

In den nächsten Jahren wird es wahrscheinlich von diesen Menschen nicht nur in Lichtenhagen viel mehr geben. Denn die Renten derer, die ihr Arbeitsleben größtenteils in der DDR verbrachten, mögen meist auskömmlich sein, vor allem die der Frauen, die zu fast hundert Prozent gearbeitet haben. Doch längst kommen auch die Jahrgänge ins Rentenalter, deren jährliche Bescheide wegen der langen Arbeitslosenzeiten und Minijobs in den Nachwendejahren keine Beträge mehr ausweisen, mit denen es sich im Alter leben lässt. Über die ,,Angst vor Konkurrenz mit den Flüchtlingen", sagt Fabian, ,,können nur die den Kopf schütteln, die Not nicht erlebt haben".

Er meint damit die Berufspolitiker mit ihren Diäten und die Besserverdienenden im Westen. Und wahrscheinlich auch mich: fester Job, Wohnung im teuren Prenzlauer Berg, Wende-Gewinnler. Was wissen wir eigentlich wirklich von den Nöten eines ,,Tafel"-Betreibers, dem Leute wie ich fehlende Moral vorwerfen, weil er Asylbewerber nicht mehr mit Lebensmitteln versorgen will?

Als der gewalttätige und gewaltbereite Mob von Lichtenhagen im August '92 endlich vertrieben war, hat es nach langem Hin und Her Rücktritte von Verantwortlichen gegeben und auch einige Strafverfahren. Kleine Ahndungen, Jugendstrafen, Geldstrafen. Nichts, was wirklich weh getan, was abgeschreckt hätte.

Zwanzig Jahre später stand Joachim Gauck, Rostocker und Bundespräsident, auf der Wiese vor dem Sonnenblumenhaus und nannte das Geschehene ein ,,Kapitel des Bösen", das sich nie wiederholen darf. Die Nachbarn, die seinerzeit applaudierten, sahen ihrem Staatsoberhaupt skeptisch aus ihren Fenstern zu. An Gespräche der örtlichen Politik mit ihnen kann sich der Sozialarbeiter Fabian nicht erinnern. Erst sehr viele Jahre nach den Ereignissen habe er mal versucht, die Leute dazu einzuladen. Es kam nur eine Handvoll. Es war wohl zu spät zum Reden.


Aus: "Woher kommt die Wut in Ostdeutschland?" Antje Sirleschtov (17.09.2018)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/rechte-auf-den-strassen-woher-kommt-die-wut-in-ostdeutschland/23072306.html

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Kommentare zu: "Woher kommt die Wut in Ostdeutschland?" Antje Sirleschtov (17.09.2018)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/rechte-auf-den-strassen-woher-kommt-die-wut-in-ostdeutschland/23072306.html

QuoteTobias_Johst 17.09.2018, 21:15 Uhr

Vielen Dank für den ehrlichen und wichtigen Artikel, Frau Sirleschtov!

Selbst aus dem Osten kommend, hatte ich wohl Glück gehabt. Oder zu viel persönliche Erfahrungen mit anderen "Anderen" gesammelt.

Jahrzehntelang wurde über alle Mauern hinweg das Paradigma gepredigt, der "Westen" bringe Chancengleichheit, Reisefreiheit und Wohlstand. Dafür, nicht für die ihnen unbekannte, abstrakte "Demokratie" sind die Menschen auf die Straße gegangen.

Ab 1990 kam die Treuhand, dann kamen die Kaffeefahrten und Gewinnspiele. Dann kamen die "Goldgräber" der Versicherungskonzerne, deren Vorstände damals vom Benz auf den Bentley gewechselt hatten. Dann kam die "Telekom-Aktie" mit Werbeträger Manne Krug... .
Die sehr Mutigen und Interessierten sind gegangen, auch viele junge Frauen. (Und auch all diese haben noch heute dieses komische Gefühl im Bauch, wenn sie nach ihrem Geburtsort gefragt werden).
Geblieben sind die Frustrierten: Die, die etwas zu verlieren und die, die nichts zu verlieren haben. Und die reflexartig zusammen zucken, wenn sich "der Staat" bei Ihnen meldet.

Es macht mich traurig, dass viele Menschen im Osten erneut den Rattenfängern aus dem Westen mit ihren Versprechen an "bessere Zeiten" (also mangels Alternativen scheinbar vor der deutschen Teilung) Glauben schenken. Höcke und Gauland kommen aus dem Westen. Weidel lebt bzw. zahlt ihre Steuern nicht mal in Deutschland. Aber diese Menschen haben gelernt, dass es im Osten nicht mehr viel, doch mit dem Apell an die Frustration noch Stimmen für ihre westdeutsche Gutverdienerpartei zu holen gibt. Das sind die neuen, politischen und wirtschaftlichen "Goldgräber".

Dem Osten fehlt m.M.n. die Einlösung der jahrzehntelang gegebene Versprechen von der Anteilhabe am Wohlstand und von der Chancengerechtigkeit. Und historisch-politische Bildung.
Aber scheinbar ist die Hinnahme des Rassismus als letztem, feigen Ventil billiger.



QuoteBierliner 17.09.2018, 21:27 Uhr

    Das ist ein Zeichen dafür, wie weit die Mitte der ostdeutschen Gesellschaft bereit ist, sich aus dem demokratischen Konsens des Landes zu verabschieden.

Ich denke, das ist eine Mischung aus Unverstandenheit und dem vorhandenen Rassismus auf Grund von Unwissenheit. Unwissenheit auf Grund der Diktatur des Proletariats, in der man es sich zurecht gemacht hatte, und nun findet man im Nachhinein, war ja doch nicht alles schlecht an einer Diktatur. Und wer nicht aufgemuckt hat, hatte ja auch nichts zu befürchten, genau wie im Dritten Reich, und wieso sollte es im 4. anders sein?!

Der Osten hat 40+ Jahre Diktatur hinter sich, da ist man es gewohnt, gesagt zu bekommen, wie der Hase läuft. Das schließt die Medien mit ein, die waren in der ddr wie ein Gesetzblatt. Die Mauer wurde schließlich durch eine Pressekonferenz geöffnet.
Den Westen hat das nie interessiert, auch nicht die Westmedien, die haben lieber Zonengabi zur Blaupause gemacht. Ach, was war das amüsant.

Wenn Menschen sich abgehängt fühlen, dann baut sich da sicherlich leicht eine Angst auf, von welchen, die man für weniger Wert hält, überholt zu werden.



Quotebeccon 17.09.2018, 22:55 Uhr
Ich hatte in den 90er Jahren genauso gedacht wie Sie Frau Sirletschtov. Einmal hätte ich mich sogar fast breitschlagen lassen zu so einer Lichterkette mitzugehen - wo aber der kugelbäuchige westberliner Betriebsratsvorsitzende zu drängend war "Gerade Sie wo sie doch auch aus dem ähäm Osten kommen - sie sollten da gerade ein Zeichen setzen...." Pustekuchen nix muß ich und zwangsweise zu Demos  gehe ich nicht. Etwas später kam die Geschichte in Sebnitz zum Tragen: "Neonazis" hatten ein Kind im Schwimmbad ertränkt und die ganze Stadt hatte zugeschaut und nichts getan. Konnten sie auch nichts tun - denn die Geschichte hatte sich so nicht zugetragen. Trotzdem gab es eine wochenlange Treibjagd gegen die kleine sächsische Stadt, Sondersendungen,  Lichterketten - Aufstand der "Anständigen" usw. Es tut mir noch heute leid - meine eigenen Freunde und Familienmitglieder so mit beschimpft zu haben und unkritisch einer so plumpen Hasskampagne hinterhergelaufen zu sein. Aber man lernt zum Glück nie aus.

Zuvor hatten Funk und Fernsehen - und später auch die Presse der Bundesrepublik Deutschland bei mir ein hohes Ansehen - wenig später hatte ich mein Zeitungsabo gekündigt.


Quotemarko1 17.09.2018, 20:26 Uhr

    Bis heute ist der Anteil von Führungskräften mit Ostbiografie erschreckend niedrig. 80 bis 95 Prozent der Führungskräfte in
    Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gewerkschaften im Osten kommen aus
    dem Westen, hat die Uni Leipzig vor einigen Jahren ermittelt.


Hinzu kommt auch, dass sämtliche bedeutende Regionalzeitungen im Osten zu westdeutschen Verlagshäusern gehören. Das merkt man nämlich in der Berichterstattung dieser Zeitungen. Klar gibt es den Lokalteil, den Kommentar des ostdeutschen Journalisten oder das Interview mit dem Ost-Ministerpräsidenten. Gysi wurde auch gerne zu Ostdeutschland befragt. Aber wie sah es mit dem Thema Pegida aus, eine Bewegung die innerhalb weniger Wochen mindestens 20.000 Menschen auf die Straße gebracht hat? Hat man sich sachlich mit deren Forderungen beschäftigt? Eine der Forderungen war z.B. die dezentrale Unterbringung von Asylbewerbern. Alle was ich 2014/15 dazu in meiner Regionalzeitung lesen konnte, war, dass da eine rechtspopulistische Bewegung aufmarschieren würde. Voreingenommene Berichterstattung trägt eben nicht dazu bei, Vertrauen zum Jounalismus aufzubauen. Für die Zukunft der Demokratie wird es wichtig sein, sich sachlich auch mit Ideen und Forderungen derer zu beschäftigen, die nicht ins politische Weltbild der Zeitung passen.


Quotenikolo_vierzehn 17.09.2018, 20:26 Uhr

Die Frage "Woher kommt die Wut in Ostdeutschland?" ist falsch gestellt. Wer im Kapitalismus fragt denn nach denen, die unsichtbar sind. Die Frage müsste also lauten "Wieso interessieren wir uns erst jetzt für Ostdeutschland?"


QuoteKoppsi 17.09.2018, 19:47 Uhr
Wut in Ostdeutschland?
Woher kommt die Wut AUF Ostdeutschland?
Wer waren die Wirtschaftsflüchtlinge 1990?
Denkt mal darüber nach bevor ihr gegen Flüchtlinge hetzt!!!


Quoteriegel 17.09.2018, 20:09 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Koppsi 17.09.2018, 19:47 Uhr
Ja, wer waren die Wirtschaftsflüchtlinge 1990?
Es gab sie schlicht nicht, es waren Deutsche, die nach dem Gesetz ihren ihnen zuständigen Pass beantragt haben.


Quotebhm2805 17.09.2018, 19:26 Uhr
Danke für diesen ehrlichen Bericht. Es macht mich sehr traurig.Gehöre ich als Berliner wohl zu den Nachwende Gewinnern.
Was mich noch trauriger macht ist das viele (West)Berliner und (West)Deutsche Malorca besser kennen als die Landesteile und Landschaften im Osten.


QuoteTobias_Johst 17.09.2018, 21:18 Uhr
Antwort auf den Beitrag von bhm2805 17.09.2018, 19:26 Uhr
Ach gar nicht so sehr.
Der Osten ist Billiglohn- und Lebeland, in dem sogar noch deutsch gesprochen wird:
https://www.berliner-zeitung.de/panorama/schoen--guenstig--lebendig--west-rentner-zieht-es-nach-goerlitz-24094010


Quoteralffrh 17.09.2018, 18:48 Uhr

    Man wird vielmehr zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich viel angestaut hat in den ,,fünf neuen Bundesländern"

Ich komme aus Ostdeutschland, aus der tiefsten Provinz undich denke, ich darf eine Meinung dazu haben.
Als wir im Herbst 1989 auf die Straße gingen war ich 24 Jahre und unser Schlachtruf war "Wir sind das Volk". Damit haben wir Ostdeutschen ohne Gewalt ein verknöchertes menschenverachtendes Regime abgeschüttelt, als dann die Grenzen auf waren wurde daraus plötzlich "Wir sind ein Volk". Politiker aus der Bundesrepublik buhlten plötzlich um die Gunst , diejenigen, die im Herbst auf der Straße standen wurden an die Seite gedrängt . Es wurden die sogenannten " blühenden Landschaften" versprochen aber es kamen nur diejenigen Politiker und Beamte aus der 3, ja 4. Wahl, die, die man im "Westen" am liebsten eh los werden wollte, für die Buschzulage wurden sie in den Osten geschickt. Statt wirklich fähige Kräfte kam der abgehalfterte Rest zum Plattmachen, zum Volksvermögen, das nun auch der ganzen Republik gehörte, verschleudern - und dann dieses "fünf neuen Bundesländer" das wird heute noch, nach fast 30 Jahren genutzt, als ob die Menschen im Osten Kinder wären.  Das alles hat viele Menschen im Osten geprägt, das hat Mißtrauen, welches am Anfang nicht vorhanden war, geschürt.

Ich weiss, das rechtfertigt nicht diesen Hass, der sich jetzt auf den Straßen entläd und ich schäme mich immer wieder aufs neue, das dieser Frust diejenigen trifft, die noch weniger haben, die zu uns gekommen sind um Krieg und Verfolgung zu entfliehen.
Aber die Zeichen wurden fast 3 Jahrzehnte weggelobt, es wurde weggeguckt - jetzt, so fürchte ich ist es zu spät.

... Es läuft verdammt viel schief in unserem Land.
Es wurden Milliarden in den Osten gepumpt, die auf anderen Wegen wieder zurück flossen. Es wurden zum Beispiel  schicke Umgehungsstraßen gebaut als ob dort Hundertausende wohnen, nur es fährt kein Bus nach Nirgendwo.
Das ist nicht nur im Osten, das ist überall.

Was ich meine, um Menschen mitzunehmen reicht Geld einfach nicht.
Demokratisches Verständnis kann man nicht kaufen, dazu gehört mehr, auch mehr als alle paar Jahre ne Wahlkampftour.


QuoteBenthebrave 17.09.2018, 20:15 Uhr
Antwort auf den Beitrag von ralffrh 17.09.2018, 18:48 Uhr
Es ist in erster Linie die komplett unterschiedliche Sozialisation, im Osten war der Begriff "Heimat" überaus positiv besetzt, sei es nun das Unterrichtsfach Heimatkunde, oder gesungene Lieder "Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer..." oder selbst die Pioniere lernten Heimatliebe.

Im Westen das glatte Gegenteil (68er Antideutschtum) und dieser Gegensatz prallt aufeinander, ganz ähnlich ist es in Osteuropa, die Völker dort weigern sich, eines Tages auch bei sich ganze Städte umkippen zu sehen, wie in Westeuropa.

Die wirtschaftliche Ungleichheit ist da nur noch das Sahnehäubchen obendrauf. Aber die Hauptursache ist eben die unterschiedliche Sozialisation, im Osten wuchs man eher patriotisch auf, im Westen das komplette Gegenteil ab 1970.


Quoteralffrh 17.09.2018, 20:42 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Benthebrave 17.09.2018, 20:15 Uhr
Ein Patriot liebt seine Heimat, ein Nationalist hasst alles Fremde.
Ich bin Europäer und war schon als Kind neugierig auf das Fremde.
Heimatliebe rechfertigt keinen Hass , rechfertigt kein "Deutschland den Deutschen", kein "Ausländer raus"


Quoteriegel 17.09.2018, 18:07 Uhr
Thema Autorität:
Die DDR war eine autoritäre Gesellschaft.
Die ehemaligen DDR Bürger wollen Demokratie, aber keinen Staat dessen Arme ohne Autorität sind.
Die Angst, dass sich der Staat immer mehr machtlos zeigt, ist sicherlich eine der Grundängste dieser Menschen.
Der Staat lässt sich öfffentlich vorführen - sie Beerdigung mit 2000 Personen aus der arabischen Mafieschciht und mehr:
Rchterin lässt sich 9 Minuten anschreien:
https://www.focus.de/politik/experten/ghadban/buchauszug-aus-arabische-clans-die-unterschaetzte-gefahr-wie-die-clans_id_9604232.html


Menschen elrebe, dass bestimmte Politszenen fast ungestraft auf Polizisten Gewalt ausüben dürfen...
Proteste anderer werden passiv verhindert.
Das spricht nciht für eine wehrhafte bundesdeutsche Demokratie...
Da entsteht einfach Wut.


Quoteuwemohrmann 17.09.2018, 19:00 Uhr
Antwort auf den Beitrag von riegel 17.09.2018, 18:07 Uhr

    Die ehemaligen DDR Bürger wollen Demokratie

Sie haben ja schon so manch launigen Satz von sich gegeben, aber diesem gehört der absolute Spitzenplatz.
Wenn die Demokratie wollen, wählen die eine Partei, wie die AFD? Das ist der Lacher des Jahres


QuotePat7 17.09.2018, 19:36 Uhr
Antwort auf den Beitrag von uwemohrmann 17.09.2018, 19:00 Uhr
Dabei wird oft vergessen, dass mindestens 70% der Ossis eben nicht AfD wählen und die wollen wirklich Demokratie.

Nicht diese Minderheit vom 30% die den braunen Rattenfängern hinterherlaufen ist das Volk.


QuoteAnstand 17.09.2018, 17:44 Uhr
Ich denke, im Osten sind die Menschen ehrlicher, ihre Meinung freiheraus zuzugeben. Die PC lässt allerdings manchmal etwas zu wünschen übrig.
Im Westen dagegen äußert man seine Meinung sehr viel vorsichtiger. Meist äußert man die Meinung, von der man glaubt, dass sie von einem erwartet wird.


Quote2010ff 17.09.2018, 17:42 Uhr

    Unsere Autorin kehrt zurück in eine Heimat, die ihr fremd geworden ist.

Frau SIRLESCHTOV ist eine erfolgreiche Journalistin, die sich - wenn ich ihren Bericht richtig verstehe - schon lange aus den alten Lebensumständen mit DDR-Bezug verabschiedet hat.

Sie lebt ein modernes, erfolgreiches, wohl auch materiell erfolgreiches Großstadtleben als Teil der journalistischen Oberschicht.

Damit dürfte sie wenig gemein haben mit vielen "Alt-Ossis". Leuten mit "unterbrochener Erwerbsbiographie", mit Menschen, bei denen oft viel wegbrach und wenig Neues dazu kam, auch wenn man sich über einer renovierte Infrastruktur gewiss nur freuen kann.

Aber Ostdeutschland ist nach wie vor flächendeckend Niedriglohnland, es gibt einen eklatanten Unterschied zwischen West und Ost, gerade auch wirtschaftlich. Die Eliten sind westlich geprägt, in der Industrie, Politik und Verwaltung. Wenn die "C-Liga" des Westens die Schlüsselpositionen im Osten übernimmt, in der Justiz und Verwaltung, dann löst das Unverständnis und Bitternis bei den Ortsansässigen aus.

Außerdem war das SED-Regime ein autoritäres Regime. Auf Knopfdruck demokratischen Alltag zu lernen ist ein Ding der Unmöglichkeit. Autoritär geprägte Menschen reagieren genau so wie diejenigen, die die Flüchtlingkrise zum Grundübel der Republik erklären. Und diese autoritäre fixierten Menschen agieren auch wie aus dem Lehrbuch, wenn sie Flüchtlinge und deren "HelferInnen" zum Sündenbock für alles, was schiefgelaufen ist, machen (wollen). Der enttäuschte Untertan lässt grüßen.

Das ist keine Grund, antidemokratische Kräfte zu unterstützen. Aber das ist es ja im Westen auch nicht. Wenn wir mal durchzählen, wie viel rechtsextreme und rechtsradikale Kräfte es gibt, in West wie Ost, so würde ich nicht von einem Ost-Phänomen sprechen. Und "Solingen" wie auch das "Oktober-Fest-Attentat" sind Stichworte, die das mehr als deutlich machen.

Sie sozio-ökonomischen Gründe für die Wut sind nicht unter  Ost oder West einzuordnen.


QuoteMauricette 17.09.2018, 21:36 Uhr
Antwort auf den Beitrag von 2010ff 17.09.2018, 17:42 Uhr

    "Frau SIRLESCHTOV ist eine erfolgreiche Journalistin, die sich .... schon lange aus den alten Lebensumständen mit DDR-Bezug verabschiedet hat."

Was meinen Sie damit, im September 2018?


Quoteminimal 17.09.2018, 17:02 Uhr

Es gibt auch im tiefsten Westen Städte und Regionen, denen es wirtschaftlich noch schlechter geht als den meisten Städten im Osten. Duisburg etwa gehört dazu.

,,Ein Viertel der 500.000 EinwohnerInnen hat keinen deutschen Pass, im Bundesdurchschnitt sind es rund 10 Prozent. In Duisburg sind rund 13 Prozent arbeitslos – bundesweit etwa 5 Prozent. Nirgendwo sind mehr Menschen überschuldet: 17 Prozent, der Anteil steigt seit Jahren. Wie viele Menschen in Duisburg keine Krankenversicherung haben, wisse man nicht, sagt Anja
Kopka, Sprecherin des Oberbürgermeisters. ,,Erhebliche humanitäre Probleme" bestünden bei der gesundheitlichen Versorgung der Tausenden SüdosteuropäerInnen."

Der OB Sören Link (SPD) beklagte sich kürzlich über die zunehmende Einwanderung in die Sozialsysteme aus Osteuropa, NachbarInnen fühlten sich zudem ,,nachhaltig gestört durch Müllberge, Lärm und Rattenbefall".

Erçan Özlü, der in Hochfeld eine Bildungseinrichtung betreibt, scheint frustriert vom Einwanderungsland Deutschland. ,,Sie sagen, sie wollen keine Parallelgesellschaft und fördern sie ununterbrochen."

Bei den letzten Wahlen in Duisburg-Neumühl war die AfD mit 29,7 Prozent die stärkste Kraft, weit über Bundesdurchschnitt."

http://www.taz.de/Angeblicher-Betrug-mit-Kindergeld/!5531293/


QuoteThe_Power_of_Choice 17.09.2018, 16:47 Uhr
Die offene Ablehnung, ja Feindschaft gegenüber dem Osten und den Sachsen speziell ist seit 10/1989 nachzulesen, also nix Neues im Osten bzw. im Westen der Redaktionen und damit ist der heutige TAGESSPIEGEL nicht so aktuell:

"So feierte die alternative Tageszeitung die Mauer kürzlich als "Berlins nützlichstes Bauwerk"; schließlich bewahre sie "die BRD und Westberlin vor Horden naturtrüber, säuerlich sächselnder DDRler mit Hang zu Billig-Antikommunismus und Rep-Wählen"."

und die SPD hatte sich auch geäußert:

Der nordrhein-westfälische Arbeitsminister Hermann Heinemann (SPD) sah sich letzte Woche genötigt, vor einer "Verhätschelung" der DDR-Übersiedler zu warnen: Hiesige Arbeitslose müßten "mit Bitterkeit" registrieren, daß den Zuwanderern Arbeitsplätze "auf dem goldenen Tablett" serviert würden.

man lese im SPIEGEL von 10/1989 was von den Ostlern zu halten sei:

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13498768.html


QuoteSchalottenburger 17.09.2018, 16:06 Uhr
Ich möchte mich hier auch einmal bei Frau Sirleschtov bedanken für die differenzierte Reportage, so etwas hat man heutzutage viel zu selten, statt dessen erleben wir eine ungute Polarisierung, da werden grobe Schablonen herumgereicht und heftige gegenseitige Anwürfe laut, und das ist nicht gut.

...


Quotetennisplatzis 17.09.2018, 15:42 Uhr
Es gibt ganz sicher viele Gründe, warum Ostdeutsche die Zeit nach der Wende nicht nur positiv sehen.

Als Westdeutscher, der nach (Ost-)Berlin gezogen ist, frage ich mich aber:

Ist Ausländerfeindlichkeit eine nachvollziehbare Reaktion? Muss ich Verständnis haben, dass jemand auf die noch Schwächeren einhaut, wenn es ihm schlecht geht? Ist das dann weniger schlimm?

Mir scheint, dass es eine sinnvollere Alternative dazu gibt, im Selbstmitleid zu versinken und sich auf die Jagd nach Sündenböcken zu machen.

Es erfordert nicht mehr Zeit, Geld oder Energie, sich ehrenamtlich zu engagieren, als zu demonstrieren und zu pöbeln. Wer Flüchtlinge kennenlernt, sie unterstützt und sich für ihre Integration einsetzt, tut mehr für Sicherheit und Wohlstand in diesem Land als jeder Pegida-Demonstrant.

Und wenn es nicht Flüchtlinge sein sollen: Es gibt Sportvereine, Verschönerungsvereine, die Feuerwehr, Nachbarschaftshilfe. Viele Möglichkeiten, etwas Positives zu tun.

Ach, das gibt es in Ostdeutschland  auch? Ehrenamtliches Engagement, Flüchtlingshilfe?
Ja, ich weiß. Zum Glück. Und deshalb habe ich kein Verständnis für den Hass der anderen. Egal, was nach 1989 mit ihnen passiert ist.
Mein Eindruck ist: das Gerede von den eigenen Problemen ist nur der Vorwand, um der Fremdenfeindlichkeit ein attraktiveres Mäntelchen umzulegen.


Quoteschwimmblogberlin 17.09.2018, 15:23 Uhr
Keine Aufarbeitung der Schuld, Verantwortung und Widerstand der einzelnen (Familien) .
Ich denke, dass (wenn man so will) die Ex *DDR* das durchlebt, was die BRD in den 1950-1980 er Jahren erlebt hat.
Ich erinnere mich gut an das Selbstverständnis, dass Verantwortliche (der
BRD) mit einer Nazivergangenheit in entscheidenden Positionen waren.
Jedes Aufbegehren dagegen wurde als Links(radikal) regelrecht abgewertet
und kriminalisiert.

So wie eine Entnazifizierung in der BRD nur oberflächlich stattgefunden hat, so hat sie auf dem Gebiet der *DDR* nie
stattgefunden. Hat eine echte Aufarbeitung der Stasigeschehnisse stattgefunden?


QuoteSchalottenburger 17.09.2018, 15:38 Uhr
Antwort auf den Beitrag von schwimmblogberlin 17.09.2018, 15:23 Uhr
Was Sie sagen, ist nicht falsch, ich habe es selbst so erlebt in meiner Familie. Nur wird der STellenwert meist falsch angegeben, so auch hier bei Ihnen.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit war in der DDR defizitär, das stimmt. Das muss man gar nicht bestreiten. Ich habe es selbst so erlebt.

Aber für den hier zum Ausdruck kommen Frust ist im Wesentlichen (wenn auch nicht allein) die Nachwendezeit verantwortlich, und das heißt: das gesamte Land. Solange man dies nicht anerkennt, findet man keinen wirklichen Zugang zu dem Problem, und damit auch keine Lösung.

Die DDRler hätten in ihrer Mehrheit nie und nimmer für eine Wiedervereinigung gestimmt, hätten sie geahnt, dass daraus tatsächlich ein neoliberaler Alptraum wird, der einem erst den Boden unter den Füßen wegzieht, um dann per Hartz IV zum Bürger dritter Klasse degradiert zu werden. So zumindest haben es viele erlebt. Jetzt kommt  mit der Flüchtlingsfrage eine Scheinheiligkeit und Inkompetenz dazu, die jeder Beschreibung spottet. Das ist manchem dann halt zu viel.

Was im Osten jetzt passiert, kann auch im Westen passieren und wird auch passieren, wenn die Politik nicht zu den Interessen der Menschen zurückkehrt.


QuoteCosima 17.09.2018, 15:51 Uhr
Antwort auf den Beitrag von schwimmblogberlin 17.09.2018, 15:23 Uhr
Es wird doch ständig aufgearbeitet. Meine Mutter, damals im Öffentliche Dienst, wurde mehrmals auf Stasitätigkeit überprüft. Wer bei der Stasi gewesen war, ist rausgeflogen. In keinem Land bisher wurde so etwas so gründlich aufgearbeitet. Soll man jeden kleinen Spitzel an die Wand stellen?


Quoteach 17.09.2018, 17:18 Uhr
Antwort auf den Beitrag von schwimmblogberlin 17.09.2018, 15:23 Uhr
Hängt davon ab, was Sie unter 'echter Aufarbeitung' verstehen.


QuoteDresden2 17.09.2018, 15:15 Uhr
Wieso sollen Ostdeutsche wütend sein?
Wenn Frau Antje Sirleschtov Ohrdruf aufgewachsen sein will, dann müsste sie es besser wissen.
Warum sollen die Ostdeutschen WÜTEND sein?
Sie sind traurig, dass den meisten Menschen 1989 die Existenzgrundlage unter dem Hintern weggezogen worden ist.
Die dümmlichen Sprüche, die guten Leute sind nach dem Westen gegangen, kann ich nicht mehr hören.
Das würde ja bedeuten, dass eine Fläche von einem ¼ von Deutschland schon zur Wende aufgegeben worden wäre.
Wenn es so war, dann verstehe ich jetzt auch die Machenschaften der Treuhand.
Keiner der Menschen aus dem Westen hat nur einen Millimeter von seinem Leben zur Wendezeit verändern müssen.
Den Solidaritätszuschlag mussten die Ossis auch von Anfang an abdrücken.
In Gegenden, wo die Arbeit knapp, die Entlohnung schlecht, die Versorgung kaum noch gegeben ist, bekommen die glücklich machenden Personen der Ränder ihr Gehör.
Die einfachste Lösung wäre eine Politik FÜR ALLE. Aber dies wird die abgehobene politische Klasse niemals begreifen.
Die ,,Genderpromlematik" und die Unisextoiletten sind doch viel wichtiger, als Arbeitsplätze, gerechte Entlohnung, gerechte Renten, etc.
Nein, ich jammere nicht.
Noch heute wird in Ost und West unterschieden, obwohl dies das GG Art. 3/3 (glaube ich) ausdrücklich verbietet!!!
Aber dieses GG wird immer dann in den Mittelpunkt gerückt, wenn es um Neubürger geht.
Noch heute braucht der Osten einen Aufpasser als OSTBEAUFTRAGTER!
Wenn die Politik genauso weiter macht, werden die extremen Ränder noch viel, viel stärker werden.
Vielleicht kann man diese in 5-10 Jahren nicht mehr einfangen. Dann will es wieder keiner gewesen sein (war nach dem letzten WK nicht anders).
Ich erwarte hier im Forum nicht viel Verständnis, weil die meisten von sich selbst zu sehr überzeugt sind.
Ich bin froh beide Systeme kennengelernt zu haben (trotz vieler Demütiigungen).


Quoteschwimmblogberlin 17.09.2018, 15:56 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Dresden2 17.09.2018, 15:15 Uhr

    Keiner der Menschen aus dem Westen hat nur einen Millimeter von seinem Leben zur Wendezeit verändern müssen.

Das Land, in dem ich aufgewachsen bin, existiert nicht mehr.


Quotean-1 17.09.2018, 14:53 Uhr
...warum der Osten so sauer ist?... na ja, aus dem Versprechen "blühende Landschaften" wurden geplünderte Landschaften ...


QuoteSchalottenburger 17.09.2018, 14:47 Uhr
Was hier immer wieder diskutiert wird, hat weniger mit der DDR zu tun als mit Ostdeutschland.

Dieses entstand aus der DDR, aber eben danach, und das heißt: unter tatkräftiger Mitwirkung des Westens. Das ist ein wichtiger Unterschied. Die ostdeutsche Identität entstand während der Neunziger, und diese Jahre glichen einer Operation am offenen Herzen über mehrere Wochen, aber ohne Narkose. Die Folgen waren traumatisch und werden es noch eine Zeit lang bleiben.

Die Einzelheiten müssen hier nicht beschrieben werden, das haben andere bereits getan. Nur, dass das Problem in der Öffentlichkeit gar nicht besprochen wird, ist Teil des Verhängnisses: Man erzählt uns, dass es uns doch gut geht usw. Rein materiell stimmt das, ansonsten ist das eine glatte Lüge. Das soziale Leiden an den Wunden, die die Neunziger geschlagen haben, hat keine Adresse, die ihm Ausdruck geben würden.

Hinzu kommt, die Ostdeutschen, eben weil sie, was das Politische betrifft, in der DDR geprägt wurden, haben ein anderes, kritischeres Verhältnis zur Wahrheit: Sie erleben den Diskurs um die "Flüchtlingskrise" als ein scheinheiliges Getue derer, die sie nicht gefragt haben, ob sie überhaupt mitmachen wollen. Und diese Konstellation kennen sie zur Genüge aus der DDR. Jetzt noch die Agenda 2010, da wird gespart und "gehartzt" ohne Ende, für nichts ist Geld da, und auf einmal soll das alles nicht mehr stimmen? Lügner!

Bloß, es sind nicht die Institutionen vorhanden, die diesem Gefühl, belogen und betrogen zu werden, angemessen Ausdruck verleihen würden. Die linken Parteien haben sich aus der Sozialpolitik verabschiedet und singen das windschiefe Lied der neuen, schönen Weltgesellschaft. Wohin soll man sich da wenden? Da geht man zur AfD.

Man täusche sich nicht, die westliche Gesellschaft glaubt, die Ostler seien hier bloß verspätete Nachzügler. In der nächsten Krise werden wir sehen, ob nicht im Westen die Reaktionen noch viel heftiger sind. Dann wird es keinen Honecker mehr geben, der daran schuld ist.


Quotehalfscot 17.09.2018, 14:33 Uhr
Ich denke, die meisten fühlen sich wie am Ende der DDR. Die Medien informieren nicht mehr, sondern verbreiten Propaganda. Der Frust darüber kommt bei jedem Treffen zum Ausdruck. Man traut sich wie damals (eher noch weniger) seine Meinung zu sagen, um nicht ins Abseits zu gelangen. Ich habe mich auf Arbeit politisch in die innere Emigration begeben. Nur so werde ich die letzten Jahre überstehen. Zu Protestdemos gehe ich nur nicht, weil sich da oft zu viele Rechtsradikale tummeln und ich evtl. im TV zu sehen wäre, denn anders als Schwerverbrecher werden ja unliebsame Demonstranten nicht verpixelt.


Quotereporterchen 17.09.2018, 14:29 Uhr
Das ist ein gelungener, offenbar gut recherchierter Artikel über die Befindlichkeit ostdeutscher Menschen.
Natürlich kann man sich über "diese Ossis" erheben und das Denken und Empfinden lächerlich machen. Man könnte aber auch die Zwischentöne lesen und versuchen nachzuempfinden, warum so viele in den ostdeutschen Bundesländern entweder weggegangen (wenn jung genug) oder desillusioniert sind. Das ist zweifellos keine Entschuldigung oder Rechtfertigung für fremdenfeindliche -oder wie auch immer geartete- Ausschreitungen. Aber vielleicht ein Versuch der Erklärung, warum ostdeutsche Menschen sich von der Politik so im Stich gelassen fühlen. Mehr noch als westdeutsche, und von denen gibt es wahrlich ebenfalls genug.


QuoteNoraZech 17.09.2018, 14:28 Uhr
Es ist doch nun wirklich eine einfache Frage, wieso unsere Regierung viele Milliarden für Flüchtlinge zur Verfügung hat (für Banken aller Art noch viel viel mehr), aber es nichts für mehr Lehrer, für die Ausbildung unserer Kinder, Schulen (Schulbücher! kein Geld!) für Erzieher, Pfleger, Alte und all die anderen gibt. Ich komme mir auch verars..... vor.


Quotetennisplatzis 17.09.2018, 15:11 Uhr
Antwort auf den Beitrag von NoraZech 17.09.2018, 14:28 Uhr

Die Frage, wieviel Geld für Lehrer, Schulen, Pfleger (Hartz IV, kleine Renten usw.) ausgegeben werden soll, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Es gibt unterschiedliche politische Konzepte, die von Parteien zur Wahl gestellt werden. Die in den vergangenen Jahren regierenden Parteien haben ihre Entscheidungen getroffen. Die kann man kritisieren.

Aber was, bitte schön, hat das mit den Flüchtlingen  zu tun? Glauben Sie, ein Euro mehr wäre für irgendwas anderes ausgegeben worden wenn die Flüchtlinge nicht gekommen wären? Das ist angesichts unserer Haushaltslage Unsinn. Und mehr als das: Es ist eine ziemliche miese Argumentation, weil es die Armen und Hilfsbedürftigen im Land gegeneinander ausspielt und, mal wieder, den Fremden zum Sündenbock macht.

...


Quotetennisplatzis 17.09.2018, 16:23 Uhr
Antwort auf den Beitrag von berlin_jens 17.09.2018, 15:31 Uhr
Da kommen Menschen, die vor einem Krieg fliehen, Heimat, Familie und Besitz verloren haben, die ihr Leben riskiert haben - und gegen die pöbelt und demonstriert man dann, wenn der Staat ihnen eine Grundversorgung  gibt, weil man meint, man selber habe zuvor nicht genug abbekommen?

Ich will mal so sagen: das ist weder eine christliche, noch eine abendländische und auch keine sozialistische Logik.


QuoteDaW 17.09.2018, 18:09 Uhr
Antwort auf den Beitrag von halfscot 17.09.2018, 17:21 Uhr

Wieviele Großdemonstrationen (so mit >20.000 Leuten) gab es denn gegen die Bankenrettung 2008/09 in Sachsen?


Quotehalfscot 17.09.2018, 19:18 Uhr
Antwort auf den Beitrag von DaW 17.09.2018, 18:09 Uhr
Thema verfehlt. Es geht hier nicht um die Bankenrettung, sondern darum, dass die Ossis damals von der SED verarscht wurden und das heute wieder erleben. Die Wessis werden genau so verarscht, merken es aber nicht. An Ihnen kann man das sehr deutlich merken.


Quotebhm2805 17.09.2018, 20:32 Uhr
Antwort auf den Beitrag von uwemohrmann 17.09.2018, 14:43 Uhr

    Milliarden denken, die in diese Entwicklungsgebiete geflossen sind....

Die alte Leier. Die Gelder sind auch Westdeutschen Unternehmen zu Gute gekommen. Das Wort Konjunkturprogramm ist ja schon gefallen. Der Rest ist allenfalls ein Ausgleich für die durch die DDR geleisteten Reparationszahlungen. Wir haben halt eine gemeinsame Geschichte. Mit den Flüchtlingen haben wir keine. Also vergleichen Sie nicht wieder Äpfel mit Bananen.


QuotePotto 17.09.2018, 14:15 Uhr
Die Sachsen haben mehr Erfahrung mit Diktatur und Mauer und Todesstreifen. Ihr Untergang machte misstrauisch gegenüber Institutionen und Eliten. Das Gefühl, belogen, ausgenutzt und von der allmächtigen Stasi ausspioniert und denunziert worden zu sein, sitzt immer noch tief. Jetzt kommt der Wessi mit ihrer Kanzlerin aus dem Osten und sagt, wie Demokratie geht.


Quoteherjeh 17.09.2018, 14:08 Uhr
All das hier Geschriebene ist kein Grund sich menschenverachtend, fremdenfeindlich , homophob, bösartig etc zu verhalten . Insofern auch kein Grund mit Nazis auf die Straße zu gehen und rumzupöblen . Außerdem ist doch eindeutig, dass die  AfD kein  "Heilsbringer" ist und zwar weil sie nichts zu bieten hat , außer die Wut rauslassen. ...


Quotedinsdale 17.09.2018, 13:56 Uhr
... Mal davon abgesehen, dass es abgehängte Gegenden auch im Westen gibt. Fakt ist ja wohl auch, dass die Wende biographische Brüche in einer ziemlich einmaligen Dimension erzeugt hat, und zwar nur in einer Hälfte des Landes. Und dass es reichlich naiv ist anzunehmen, dass 40 Jahre SED Herrschaft in den Köpfen folgenlos geblieben wären. Das dürften allein schon die Erfahrungen mit den 12 Jahren Nazi Herrschaft und der Aufarbeitung in Westdeutschland vor Augen führen. ...


Quote1964 17.09.2018, 13:40 Uhr
Das viele meiner Bekannten diesen zerrütteten Landstrichen endgültig den Rücken gekehrt haben ist mir nach Lektüre des Artikels noch nachvollziehbarer geworden. Man kommt höchstens noch zu Besuch und ansonsten ist der Lebensmittelpunkt im Westen des Landes. Rette sich wer kann!
Zurück bleibt eine zutiefst verletzte, verunsicherte Bevölkerung die nirgendwo angekommen ist. Nicht wenige, wie man sieht, lassen ihren Frust an noch schwächeren aus. Wie feige.


QuoteRotfahrer 17.09.2018, 13:36 Uhr

    Im Osten des Landes häufen sich die fremdenfeindlichen Aufmärsche


Bitte lieber TSP, das Thema rechte Gewalt ist auch im Westen ein Thema. Bitte tragt nicht dazu bei, den Osten vom Westen zu spalten.

Hier mal eine Liste von Todesopfern rechter Gewalt, das sagt zwar nicht viel über die Verteilung nach ost und west auf, zeigt aber, dass das ein gesamtdeutsches Thema ist:

https://de.wikipedia.org/wiki/Todesopfer_rechtsextremer_Gewalt_in_der_Bundesrepublik_Deutschland#Gesamtliste


Quoteminimal 17.09.2018, 13:35 Uhr
Vielen Dank Frau Sirleschtov für diesen ausführlichen Blick auf ostdeutsche Befindlichkeiten, die tw. bis heute nachwirken und von vielen Wessis nicht verstanden oder zur Kenntnis genommen werden.

...


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Wer über den Osten nachdenkt, landet bei der DDR. Falsch, sagen Jana Hensel und Wolfgang Engler. Der Schlüssel zum Verständnis der ostdeutschen Gesellschaft sei die Nachwendezeit - die Überschattung der Demokratieerfahrung durch die Erfahrung der Brüchigkeit.

... Ein Buch erscheint heute, das war schon im Druck als sich in Chemnitz die Ereignisse überschlagen haben, und es liest sich trotzdem wie das Buch der Stunde: "Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein" lautet der Titel.

Ein Gesprächsband der in Leipzig aufgewachsenen Journalistin Jana Hensel, viele haben ihren Bestseller "Zonenkinder" gelesen. Ein Gesprächsband gemeinsam mit Wolfgang Engler, dem langjährigen Rektor der Berliner Ernst Busch Schauspielschule. Auch er hat Bücher geschrieben über die Ostdeutschen. "Kunde von einem verlorenen Land" ist eins dieser Bücher. "Die Ostdeutschen als Avantgarde" ein anderes.

Frau Hensel, ich lese in dem Buch, dass Sie einen Satz gesagt haben, den finde ich bemerkenswert: Man müsse konzedieren, dass Pegida und die AfD eine ostdeutsche Emanzipationsbewegung seien. Wie meinen Sie das?

Jana Hensel: Emanzipationsbewegung ohne emanzipatorischen Kern muss man natürlich sagen, ich teile keine der Inhalte von Pegida und der AfD. Es ist auch eine Frage, die uns im Buch umtreibt: Wie kann man all den Rassismus und die Fremdenfeindlichkeit in Kauf nehmen für eine doch ganz offensichtliche Kritik an den Verhältnissen, am System.

Aber wer sich im Osten ein bisschen auskennt, wer im Osten lebt, wer im Osten herumgereist ist, der weiß, der wusste, dass es dort brodelt, der wusste dort, dass die Menschen unzufrieden sind, und ich glaube, dass viele von uns, Intellektuelle und auch andere, irgendwie davon ausgegangen sind, irgendwann wird da mal was passieren im Osten, irgendwann wird es dort mal zu einer Art von Protestwelle kommen müssen, und ich glaube aber, die stillschweigende Übereinkunft war auch, wenn es so etwas gibt, dann kommt die von links.

Wir müssen uns jetzt die Frage stellen: Warum kommt die im Grunde genommen größte Protestwelle in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung, warum kommt diese Protestwelle erschreckenderweise von rechts?

... Engler: Na ja, das ist irgendwie so eine Kompensation oder könnte die Erklärung dafür sein. Und das ist ja nicht nur ein Unterschichtphänomen. Wir sehen ja gerade Sachsen, wir sehen Bayern, wir sehen Baden-Württemberg, wir sehen Hessen.

Wenn jetzt Wahlen wären, hätte die AfD 15 Prozent in Bayern. Also das sind ja prosperierende Länder. Da kommen Unterschichtsphänomene zusammen und Verunsicherung in der Mittelschicht. Beides kommt zusammen, und viele von denen, die diese Verunsicherung an ihrem eigenen Leben spüren, die das schon länger spüren, setzen auf eine andere Karte.

Die setzen auf rabiatere Formen des Ausdrucks, sie setzen auf Dinge, die wirklich nicht mehr überhörbar sind, die die Leute beunruhigen, die die Politik Tag für Tag umtreiben, die die Medien beschäftigen. Jetzt sind wir da, jetzt werden wir gehört, und klar, da ist das Problem, dass sie möglicherweise auf das falsche Pferd setzen dabei, aber das scheint einem Teil der Leute unterdessen egal zu sein.

Rabhansl: Was Herr Engler da gerade sagt, das ist eigentlich eine Erklärung, die nicht unbedingt etwas spezifisch Ostdeutsches ist. Sie, Frau Hensel, argumentieren aber in dem Buch, dass Fremdenhass und Rassismus in Ostdeutschland etwas dezidiert anderes sei als Fremdenhass und Rassismus in Westdeutschland. Wo sehen Sie den Unterschied?

Hensel: Gut, dezidiert anders ist es nicht. Fremdenfeindlichkeit und Hass auf andere ist letztlich in der Emotion dieselbe, aber die Funktion scheint mir unterschiedlich zu sein, oder anders gesagt: Das ist ja auch etwas, weswegen wir uns für dieses Buch zusammengesetzt haben. Ich glaube, dass wir sehr viele Phänomene, die wir in Ostdeutschland haben, mit einem westdeutschen Blick betrachten und dass sehr vieles eine genuin ostdeutsche oder DDR-Geschichte hat. Wir haben die Bilder von Chemnitz gesehen und haben an Rostock-Lichtenhagen gedacht.

Ich glaube nicht, dass die Geschichte sich wiederholt, aber Phänomene tauchen auf, und dieser Alltagsrassismus, der sich in Rostock-Lichtenhagen zum ersten Mal gezeigt hat, ich glaube auch, zum ersten Mal so stark artikulieren konnte, ist damals entstanden, glaube ich, weil es noch keine gesicherten Institutionen gab. Also ich habe mir das angesehen. Rostock-Lichtenhagen, die Gewalt ist entstanden, weil sie möglich war, weil Polizei, Gericht, Verwaltung waren noch im Aufbau begriffen, und es entstanden sozusagen Löcher.

Rabhansl: Das sind die äußeren Umstände, die es möglich gemacht haben, aber Sie sprachen gerade von einer typisch ostdeutschen Funktion.

Hensel: Ja, aber was wir wissen, ist, dass sich seit Rostock-Lichtenhagen der Alltagsrassismus in Ostdeutschland verfestigt hat, er hat sich radikalisiert, er ist irgendwie zur beinah einzigen identitätsstiftenden Erzählung, zumindest von Teilen von Gesellschaft, geworden. Auch darüber muss man reden, warum es keine anderen Loyalitätsbänder gibt als sozusagen nur Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Aber er ist ... Fremdenfeindlichkeit und Rassismus im Osten ist immer Träger von Systemkritik.

Das heißt, er ist immer größer als nur der Hass auf das Andere. Im Hass auf den anderen artikuliert sich immer eine sehr umfassende Kritik an den Verhältnissen. Ich bin als Journalistin auch in Westdeutschland unterwegs gewesen, ich habe Reportagen über Fremdenfeindlichkeit beispielsweise in Baden-Württemberg geschrieben, und da ist mir aufgefallen, Fremdenfeindlichkeit, das zieht sich dort weit hinein bis ins Milieu grüner Wählerschaft. Das lässt sich irgendwie mit allen anderen demokratischen Werten vereinbaren. Im Osten ist es radikaler, es artikuliert sich radikaler und ist eine umfassende Systemkritik.

Rabhansl: Sehr oft erleben wir, dass versucht wird, ostdeutschen Rassismus zu erklären mit der langen DDR-Geschichte. Da kommt dann dieser Gedanke: Na ja, Westdeutschland hat einfach 40 Jahre Vorsprung, was Demokratie betrifft. In Ihrem Buch lerne ich aber, dass Sie beide der Meinung sind, dass es viel wichtiger ist, auf die Nachwendezeit zu gucken und weniger auf die DDR-Zeit.

Zugespitzt, Herr Engler, kann man sagen, in der Bundesrepublik, da kam eben die Demokratie mit dem Wirtschaftsaufschwung, und in der ehemaligen DDR, da kam die Demokratie mit der Treuhand?

Engler: Das ist keine falsche Beobachtung. Also ich glaube, das ist der Grundwiderspruch der Nachwendeerfahrung Ost, vieler im Osten Deutschlands, dass in dem Augenblick, in dem sie das Ziel erreichen, das sie zunächst verfolgten, nämlich politische und bürgerliche Rechte zu erobern, eine unermessliche soziale Verunsicherung erleben.

Das heißt, ein Teil der Träume wird wahr, aber auf einer Grundlage, die sehr brüchig ist und wo der Boden leicht nachgibt, und darum ist die Demokratieerfahrung in diese andere Erfahrung getaucht. Und wird von ihr teilweise auch, je nachdem, wie tiefgreifend die Verunsicherung war, wird von ihr auch überschattet.

Es ist also keine unschuldige Erfahrung. Jetzt haben wir eine Revolution gemacht, jetzt sind wir aufgestanden, jetzt haben wir etwas gemacht, was auf deutschem Boden ganz selten passiert, ist nämlich ein Aufstand, der auch gelingt, und jetzt ist das und das erreicht. Sondern in eins damit, man kann sagen, wirklich in eins damit bricht das Leben zusammen.

Das kann man gar nicht hoch genug veranschlagen, diesen Widerspruch. Das ist eine andere Erfahrung – genau wie Sie es sagen –, die Erfahrung West ist eine andere. Der wirtschaftliche Erfolg kompensiert da ein bisschen die noch nicht eingewöhnte Demokratie, aber beides geht im Grunde Hand in Hand, und hier crasht es und läuft aufeinander zu. Es hat sich doch kaum jemand gedacht.

Rabhansl: Und es crashte auf eine Art und Weise, die man nur als ungerecht empfinden konnte.

Hensel: Finde ich auch.

Rabhansl: Ich musste, als ich Ihr Buch gelesen habe, noch mal an den Kühlschrankhersteller Foron denken, ...

Engler: Richtig.

Rabhansl: ... der den weltweit ersten FCKW-freien Kühlschrank auf den Markt brachte zu einem Zeitpunkt, als er von der Treuhand schon dichtgemacht werden sollte, die das trotzdem rausgebracht haben, haben aber trotzdem dann der finanzstarken Konkurrenz nicht widerstehen können und waren zehn Jahre später dann doch pleite. Was ist das Dramatische an dieser Erfahrung? Der Arbeitsplatzverlust oder das Gefühl, die eigene Lebensleistung ist plötzlich eine Lachnummer?

Engler: Beides. Es kommt ja nicht immer so zusammen. Es war der Mehrheit der Ostdeutschen auch 1989, '90 klar, dass das namentlich mit dem wirtschaftlichen Leben nicht mehr lange so weitergehen kann, dass da vieles auf Verschleiß läuft, dass es an Innovationen mangelt, dass keine wirkliche Wettbewerbsfähigkeit vorhanden ist - dass die dann so in den Keller sank, hat mit Währungsumstellung zu tun, aber dass da ein Problem liegt.

Jeder, der zur Arbeit ging, wusste, dass da das meiste und zwar das Grundsätzliche im Argen liegt. Gleichwohl – Sie sprechen den Kühlschrankhersteller an –, ich entsinne mich noch an Bischofferode, das Kaliwerk da, damals war ich auch für eine Zeitung da, die "Wochenpost". Da wurde gehungert unten. Das war wettbewerbsfähig, natürlich. Aber ein Wettbewerber im Westen fand das nicht okay, dass da jemand im Osten ist, und das ist häufig erlebt worden, nicht immer.

Auch wenn die Werke eingingen, weil sie halt nicht mehr tauglich waren in den neuen Verhältnissen, war der Schmerz auch groß. Er ist desto größer, wenn man denkt, wir hätten ja weitermachen können, wir hätten eine Chance haben können. Aber der Punkt, der daran auch noch wichtig ist, ist: Wir versuchen mit dem Buch eine Fokusveränderung in der öffentlichen Debatte über Ostdeutschland zu erzielen. Da haben Sie vollkommen recht.

Wir glauben – um noch einen Satz zu sagen –, wir glauben, dass die Erfahrungen vieler Ostdeutscher der 1990er Jahre der hauptsächliche Schlüssel sind zum Verständnis dessen, was danach passierte.

Hensel: Genau. Der Kollaps der ostdeutschen Gesellschaft ist so umfassend und vollzieht sich in einer Radikalität und Schnelligkeit, wie sie, glaube ich, auf der Welt nicht passiert ist, und das Interessante ist: Wie hat die westdeutsche Gesellschaft häufig darauf reagiert? Sie hat gesagt: Jammert mal nicht so sehr.

...

Jana Hensel und Wolfgang Engler, "Wer wir sind: Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein"
Aufbau Verlag, 2018
288 Seiten



Aus: "Jana Hensel und Wolfgang Engler im Gespräch"Der Kollaps der ostdeutschen Gesellschaft war umfassend""
Moderation: Christian Rabhansl" (Beitrag vom 15.09.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/jana-hensel-und-wolfgang-engler-im-gespraech-der-kollaps.1270.de.html?dram:article_id=428203

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Als Erich Honecker 1991 in der chilenischen Botschaft in Moskau um Asyl bat, war die Überraschung groß. Warum gerade dort? Die Antwort war einfach: Clodomiro Almeyda, der damalige Botschafter Chiles in Moskau, hatte nach dem Putsch der Militärjunta unter General Pinochet am 11. September 1973 in der DDR Zuflucht gefunden. Honecker hatte damals erklärt, die DDR würde verfolgten Chilenen Asyl gewähren. Etwa 2.000 chilenische Flüchtlinge kamen in die DDR.

Allerdings war die Aufnahme der chilenischen Flüchtlinge an Bedingungen geknüpft. Das SED-Politbüro entschied am 25. September 1973, nur denjenigen Menschen Zuflucht zu gewähren, welche "Mitglieder und Anhänger der Unidad Popular", also der linken Volksfrontbewegung, waren.

Die Unterbringung und Eingliederung der Exilchilenen lief vergleichsweise unbürokratisch ab. Über den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und das "Solidaritätskomitee der DDR" wurden Mittel bereitgestellt, um die Unterbringung, Betreuung und Einkleidung zu finanzieren. Jede Emigrantenfamilie erhielt ein Übergangsgeld von 2.500 DDR-Mark, um die Zeit zu überbrücken, bis eine Arbeitsstelle gefunden wurde.

Unter den chilenischen Emigranten waren vor allem "Angehörige der Intelligenz", stellte das Ministerium für Staatssicherheit im September 1975 fest: Studenten, Angestellte, Pädagogen, Funktionäre, Künstler. Unter ihnen war auch eine junge Studentin, die mit ihrer Mutter über Australien in die DDR geflohen war und im Jahr 2006 die Präsidentschaftswahlen im demokratischen Chile gewinnen sollte: Michelle Bachelet. Sie studierte in Leipzig und Berlin Medizin und wurde Kinderärztin. Die Zeit in der DDR hat sie rückblickend als eine "sehr glückliche" bezeichnet.

Nicht alle Exilchilenen teilen diese Einschätzung. Denn trotz guter Qualifikationen hatten nicht alle das Glück, in ihren Berufen arbeiten zu können. Viele Akademiker wurden in der Produktion eingesetzt. Und dort sorgte die Bevorzugung der Exilanten bei der Wohnungsvergabe mitunter für böses Blut, wie sich Sonia Cifuntes, einst Mitglied im Kommunistischen Jugendverband, erinnert: "Ich arbeitete am Fließband in der Endfertigung bei Pentacon. Eine Frau neben mir warf mir immer böse Blicke zu und sagte etwas zu mir, das ich nicht verstand. Später erfuhr ich, dass sie mir vorwarf, den Leuten in der DDR die Wohnungen wegzunehmen und mir riet, doch wieder nach Chile zurückzukehren."

Die Solidarität mit Chile wurde zu einem zentralen Thema der offiziellen Propaganda. Tausende Kinder und Jugendliche schickten zum Beispiel Postkarten mit dem Bild von Luis Corvalán nach Chile. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei war von der Militärjunta eingesperrt worden. Als Corvalán schließlich im Dezember 1976 im Austausch gegen einen sowjetischen Dissidenten freikam, wurde dies als "Sieg der Kräfte des Fortschritts" und Beispiel von "moralischer Größe" gefeiert, welche "unsere Jugend zu immer größeren Taten für Frieden und Sozialismus, für die allseitige Stärkung unserer sozialistischen DDR anspornt".

1977 wurde in der DDR ein Spielfilm über den chilenischen Volkssänger Víctor Jara gedreht, der in den ersten Tagen des Putsches von Pinochets Soldaten umgebracht worden war. Schulen trugen seinen Namen und auch der ermordete Präsident Salvador Allende prangte auf Briefmarken. Doch so viel SED-Propaganda wäre gar nicht nötig gewesen: Die allermeisten DDR-Bürger waren tatsächlich empört über den Sturz der Regierung Salvador Allendes. Etliche Schriftsteller und Künstler beschäftigten sich mit dem brutalen Militärputsch. Wolfgang Mattheuers Gemälde "Requiem Víctor Jara" stellt den Sänger mit gebrochenen Händen und brennender Gitarre dar. In Volker Stelzmanns "Stillleben Herbst 1973" ist ein an den Schrank geklebtes Allende-Foto zu sehen. Hartwig Ebersbach schuf eine Installation mit dem Titel "Widmung an Chile" und  Christoph Wetzel malte den "Toten Präsidenten" mit chilenischer Fahne auf einem von Kugeln durchsiebten Sessel.

Die in der DDR lebenden Chilenen durften eigentlich das Land verlassen und auch ins westliche Ausland reisen. Allerdings benötigten sie dafür Ausreisevisa. Und deren Vergabe war sehr restriktiv geregelt. Das Ministerium für Staatssicherheit befürchtete, die Chilenen könnten im Westen für Spionageaufgaben angeworben werden und Propagandamaterial einschmuggeln. Generell galten die chilenischen Flüchtlinge dem MfS als ein Risiko für die Sicherheit der DDR. Das Büro "Antifaschistisches Chile", welches von Chilenen geführt wurde und die Reiseanträge der Emigranten bearbeitete, war von Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit unterwandert. 

Die Befürchtungen der Stasi, die Emigranten könnten eine DDR-kritische Haltung einnehmen, waren durchaus begründet. Viele von ihnen stellten Ausreiseanträge und 1982 verbrannte sich ein Chilene öffentlich, weil ihm die Rückkehr ins Heimatland verweigert worden war. Viele litten, wie der Schriftsteller Carlos Cerda schrieb, am "Zusammenstoß zwischen den Idealen, den Utopien, die uns hierher ins Exil gebracht hatten, und der für uns außerordentlich spannungsreichen, konfliktgeladenen und bis zu einem gewissen Grad entfremdeten Wirklichkeit dieses Staates".

Nach dem Mauerfall 1989 kehrten viele Chilenen in ihre südamerikanische Heimat zurück. Andere wiederum hatten sich an die Beschränkungen, die Ecken und Kanten der DDR gewöhnt, eine mehr oder weniger bescheidene Karriere gemacht, Familien gegründet und in der nun untergehenden sozialistischen deutschen Republik tatsächlich eine neue Heimat gefunden. Heute leben etwa 6.700 Chilenen in der gesamten Bundesrepublik.


Aus: "Wie chilenische Flüchtlinge in der DDR lebten" Tom Fugmann (11. September 2018)
Quelle: https://www.mdr.de/zeitreise/chile-ddr-100.html

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Quote[...] "Zur See" war ein Straßenfeger. Neun Folgen strahlte das 1. Programm des DDR Fernsehens ab Januar 1977 jeweils freitags zur besten Sendezeit aus. Da schalteten selbst diejenigen ein, die sonst lieber Westfernsehen sahen. Das Geheimnis des Erfolges? Wohl auch die Sehnsucht nach fernen Ländern, denn die Serie brachte eine Spur Exotik in die DDR-Wohnzimmer und erzählte vom Alltag einer Besatzung zwischen See- und Landgang in der sozialistischen Handelsflotte, Abenteuer inklusive.

Anfang August 1974 ging das Who is who der DDR-Schauspieler für eine Drehreise von Rostock nach Kuba und zurück an Bord des Frachtschiffs. Zwei Monate dauerte die Reise. An Bord waren neben den Filmleuten auch die eigentliche Besatzung, denn das Schiff hatte auch einen "normalen" Auftrag: Auf Kuba wurden 6.600 Tonnen Zucker geladen. 166 angehende Seeleute fuhren mit, die Fernseh-Crew bestand aus 23 Filmleuten, darunter neun Schauspieler. Günter Naumann, Jürgen Zartmann und Horst Drinda teilten sich eine Kabine. Drinda, der Star vom Deutschen Theater, spielte in der Serie den Kapitän und filmte selbst. ...

Der volkseigene Betrieb Deutsche Seereederei in Rostock erhoffte sich von der Zusammenarbeit mit dem DDR-Fernsehen Unterstützung bei der Rekrutierung von Nachwuchs. Man war auf der Suche nach angehenden Matrosen, denn Bewerber in ausreichender Zahl waren rar und mussten außerdem "politisch zuverlässig" für Reisen in die weite Welt sein. Da kam die DEFA mit ihren Plänen für die "Zur See"-Serie gerade recht.

Über 40 Jahre nach der Erstausstrahlung der DDR-Fernsehlegende widmet das Rostocker Schiffbau- und Schifffahrtsmuseum der Geschichte der "J. G. Fichte" und den Dreharbeiten an Bord eine Sonderausstellung. Entstanden ist sie mit Hilfe vieler Zeitzeugen, die Erinnerungsstücke zur Verfügung gestellt haben. Die Schau "Mit MS Fichte zur See" ist noch bis zum 5. Oktober 2018 zu sehen.

Das Schiff befährt schon lange nicht mehr die Weltmeere. Ende der 70er-Jahre wurde die "MS J. G. Fichte" außer Dienst gestellt, verkauft und im Rostocker Überseehafen unter anderem Namen an eine Reederei aus Panama übergeben. 1981 trat sie ihre letzte Fahrt an - zur Verschrottung nach Pakistan.

Mit "Zur See" hat das Ausbildungsschiff der DSR Fernsehgeschichte geschrieben. Die Serie war das handfeste sozialistische Gegenstück zur amerikanischen seichten Seifenoper "Love boat" und inspirierte den Westberliner Fernsehproduzenten Wolfgang Rademann für einen weiteren Fernsehklassiker. 1981, vier Jahre nach der Erstausstrahlung der DDR-Seefahrer-Serie, ging "Das Traumschiff" im Westen auf Sendung.

...


Aus: ""Zur See": Als die DDR das Traumschiff erfand" (06.09.2018)
Quelle: https://www.ndr.de/kultur/geschichte/Zur-See-Als-die-DDR-Traumschiff-erfand,zursee118.html


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Quote[...] Die ehemalige Stasiunterlagen-Beauftragte Marianne Birthler warnte davor, dieses Opferbild zu zementieren – etwa mit Blick auf die alte Bundesrepublik nach 1989, sprich: den Westen, auf den seither vielerlei Übel projiziert würden. Das führe letztlich nicht weiter. Die letzte Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), wies hingegen auf reale Benachteiligungen hin, beispielsweise bei Führungspositionen.

Die Debatte, so viel ist sicher, ist zentral. Tatsächlich haben Ostdeutsche Grund zu klagen – zumindest wenn sie sich mit der alten Bundesrepublik vergleichen. Das ergibt sich unter anderem aus dem jüngsten Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit: Das Ost-Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner liegt nur bei 73,2 Prozent des Westwerts und stagniert, die ostdeutsche Wirtschaftskraft nähert sich nur noch langsam der westdeutschen an, bei den Löhnen liegt der Osten um fast 20 Prozent zurück, beim Vermögen ist die Kluft noch größer. Experten sind sich einig: Das alles wird noch sehr lange so sein, wenn in Ostdeutschland nicht ein Mangel behoben wird – der an großen Industrieunternehmen.

Hinterher hängen die Ostdeutschen ebenfalls bei den Eliten, und zwar sowohl gesamtdeutsch wie in Ostdeutschland selbst. Dies ist teils Spätfolge des Elitentransfers von West nach Ost im Zuge der Vereinigung. Damals kamen unter anderem Tausende Beamte aus der alten Bundesrepublik.

Mittlerweile fragt sich aber, ob sich die Unterrepräsentation fast 30 Jahre nach dem Mauerfall nicht rausgewachsen haben müsste. Dass dies nicht der Fall ist, legt den Verdacht nahe, dass Westdeutsche andere Westdeutsche auf Führungspositionen nachziehen. Das wiederum wäre keine Besonderheit, sondern ist Forschern zufolge bei Elitenbildungen fast immer so: Gleich und gleich gesellt sich gern.

Deshalb gibt es auch seit längerem die Debatte über eine etwaige Ostquote, die Fachleute jedoch für nicht praktikabel halten. Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, kritisierte unlängst jedenfalls, die Dominanz der Westdeutschen auf den Führungsposten werde von Ostdeutschen vielfach als ,,kultureller Kolonialismus" empfunden. Dies sei schädlich.

Kritiker der Opferthese verweisen auf die verbesserte Infrastruktur im Osten, die stark gesunkene Arbeitslosenquote oder die Situation in anderen osteuropäischen Ländern. Die müssten ja der Vergleichsmaßstab sein, nicht Westdeutschland. Die De-Industrialisierung des Ostens sei ihrerseits eine Konsequenz der DDR. Überhaupt spiele die Opferthese allein den Gegnern der Demokratie, allen voran der AfD, in die Hände. Nicht zufällig wird in deren Kreisen ja das Motto der 1989er-Zeit bemüht: ,,Wir sind das Volk". Das legt den Schluss nahe, es bestünde zwischen dem SED-Politbüro und der Bundesregierung gar kein Unterschied – obwohl letztere aus freien Wahlen hervorgegangen ist und Ersteres nicht.

Wie man es auch dreht und wendet: Unverändert fühlen sich zahlreiche Ostdeutsche Umfragen zufolge als Bürger zweiter Klasse. Teilweise wird dieses Gefühl vererbt. Die Debatte über die Frage, ob die Ostdeutschen Opfer seien, wird deshalb weitergehen.


Aus: "Warum sich Ostdeutsche als Opfer fühlen" Markus Decker (27.09.2018)
Quelle: http://www.fr.de/politik/ostdeutschland-warum-sich-ostdeutsche-als-opfer-fuehlen-a-1590194

Quotedanica

Naja, wenn Leuten ein neues Regierungssystem aufgedrückt wird, die eine neue Hymne bekommen, eine neue Fahne, wenn sie zu tausenden ihre Stellen verlieren, ihre Rentenansprüche verlieren, ihre Ausbildungen und Studienabschlüsse nichts mehr wert sind, weil sie zu "Sozialistisch " sind, dann ist das, als habe an einen Krieg verloren und ein Besetzer habe sich das eigene Land angeeignet.
Man muss sich das psychologisch mal vorstellen: teilweise stehen in den Personalausweisen Geburtsstädte, wie es einfach nicht mehr gibt, die zwangsumbenannt wurden, ohne dass jemand gefragt wurde.
Und eigentlich heisst unser Grundgesetz ja nur Grundgesetz und nicht Verfassung, weil man nach der Wiedervereinigung eine neue Verfassung schreiben wollte. Aber leider wurde die DDR annektiert. Es fand keine Wiedervereinigung statt, Millionen Bürger waren von einem Tag auf den anderen Menschen zweiter Klasse. Es gab keine Parizipation, die so nötig gewesen wäre um den Glauben in die Demokratie zu festigen.


QuoteRickdiver

Klar sind sie Opfer. Sie haben 40 Jahre lang beigebracht bekommen, dass der Staat an allem Schuld ist und für sie zu sorgen hat. Und in diesem Weltbild leben einige noch weiter. Anstatt Eigeninitiative zu entwickeln und zu begreifen dass jeder selbst für sich verantwortlich ist sind sie Opfer ihres früher eingeprägten Glaubenssatzes dass ein andere für sie sorgen muss. Und wenns nicht läuft ist irgendjemand anders schuld, nur niemals sie selbst. Daher machen soviele ihr Kreuzchen bei der aFd weil sie Fremde als Ursache ihres persönlcihen Unglücks ausgemacht haben.


QuoteAvatar
granne

Die De-Industrialisierung und Dominanz westdeutschen Führungspersonals ( im Rahmen des Anschlusses) kann man auch als Kolonialgeschichte interpretieren. ...


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Schriftstellerin Manja Präkels ist in der DDR aufgewachsen, die Wendezeit hat sie als Heranwachsende erlebt. Ein Gastbeitrag über den Normalitätsverlust, der nicht erst seit Chemnitz im Osten der Bundesrepublik zu beobachten ist.

Frage an Radio Eriwan: Ist es wahr, dass die DDR ein so kleines Land ist, dass man es mit einer einzigen unserer Atombomben vernichten könnte? Antwort: Im Prinzip ja, aber warum so einen Aufwand, wenn drei Zentimeter Neuschnee genügen?

In meiner Kindheit gab es jede Menge solcher Witze. Ich verstand sie nicht, lachte aber mit. Die Anfragen an den fiktiven Sender eröffneten den Menschen eine Möglichkeit, die irrsinnigen Widersprüche des Alltags im real existierenden Sozialismus zu meistern. Dass uns Kindern keiner die Witze erklärte, war normal. Irgendwann würden wir es schon kapieren. Doch dann versprach sich der Genosse Schabowski bei einer Pressekonferenz, und der Rest ist Geschichte: Die Mauer fiel. Die Normalität endete. Seither herrscht Ausnahmezustand. Zumindest für jene am Ende des Tunnels, wo das Licht nur als Gerücht existiert.

Spätsommer 1991. Wir sassen im Kinderzimmer eines Freundes und starrten fassungslos auf die Fernsehbilder. Die älteren Geschwister versammelten sich bereits vorm Rathaus. Sie hatten genug gesehen. In dem kleinen roten Apparat, den mein Freund zu seinem 15. Geburtstag geschenkt bekommen hatte, umzingelten Hunderte Menschen ein Haus. Sie planten offensichtlich, es zu stürmen. Oder es wenigstens anzuzünden. Sie schrien, hasserfüllt, hämisch. Und sahen dabei aus wie wir. Die klatschenden und johlenden Leute in den hinteren Reihen glichen unseren Eltern. Die bedrohten Menschen in den Häusern dagegen kamen vorwiegend aus Vietnam oder Moçambique, aus Staaten, mit denen die gerade erst untergegangene DDR Verträge ausgehandelt hatte, die dem Austausch von Know-how und Arbeitskräften dienen sollten. Sozialistische Bruderländer waren das, hatten wir in der Schule gelernt. Diese Frauen und Männer waren das Pendant zu den westdeutschen «Gastarbeitern». Nur hatten die DDR-«Vertragsarbeiter» meist kaserniert in abgeschotteten Heimen gelebt.

Nun eskortierten riesige Polizeiaufgebote die einstigen Brüder und Schwestern gen Westen, in Sicherheit. Weg von ihren ehemaligen ArbeitskollegInnen, die sich einem rasenden Mob angeschlossen hatten. Systemzusammenbruch in einem Ort, der eben noch als «sozialistische Musterstadt» gegolten hatte. Wir vor dem Fernseher weinten. Und wussten: Das war erst der Anfang. Wir mussten uns jetzt entscheiden: dabei sein oder sich verstecken. Die auf dem Rathausplatz feierten. So fing es an.

Uwe Mundlos, Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt aus dem thüringischen Jena – die späteren Kernmitglieder der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) – hatten die Bilder auch gesehen und sich schnell entschieden. Sie trafen und radikalisierten sich in einem Jenaer Jugendclub. Unter Angela Merkel, der ersten ostdeutschen Jugendministerin im Kabinett Kohl, versuchte man, der zunehmenden Verrohung und der die Mauerreste überspringenden Welle rechtsradikaler Gewalt mit dem Konzept der «Akzeptierenden Jugendarbeit» zu begegnen. Orte, an denen Neonazis besonders stark in Erscheinung traten, wurden mit finanziellen Mitteln und Stellen für SozialarbeiterInnen bedacht. So entstanden im Schutz staatlicher Einrichtungen Netzwerke, Musikgruppen – rechtsradikale Parallelgesellschaften. Die Jugendlichen trugen Springerstiefel und Glatzen und bildeten bald die Avantgarde der Schulhöfe.

Es gab auch Menschen, die sich ihnen und ihrer Angstlust entgegenstellten. Es weiterhin tun. Gesundheit und Leben riskierten und riskieren. Doch nicht selten wurden diese HeldInnen der Zivilgesellschaft aus den Kollegien, den Dorfgemeinschaften, Kleinstadtgesellschaften, ihren Sportvereinen ausgeschlossen. Als Unruhestifter. Nestbeschmutzerinnen. Nazis sind schlecht für das Image. Also gibt es sie besser nicht. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf. Oder?

Nicht ein einziges Mal war mir in den vergangenen 28 Jahren am Tag der Deutschen Einheit zum Feiern zumute. Das Land, in dem ich meine zur Neige gehende Kindheit verbracht hatte, versank in einer langen, trunkenen Nacht. Ich mochte die Fahnenappelle nie. Die Aufmärsche, die piefige Enge und Autoritätshörigkeit. Die Begrenztheit der Welt, die an einer Mauer endete. Wer könnte das schon vermissen? In unserer kleinen Stadt, unweit Berlins gelegen, juchzten und grölten sie vor den Gaststuben rund um das Rathaus. In schwarz-rot-goldene Fahnen gewickelt, fielen sich die Menschen befreit um die Hälse. Keiner wollte nach Hause gehen. Unweit des Trubels fragte ich mich, im Bett liegend, wie nun alles werden würde. Am nächsten Tag. Wenn wir in einem fremden Land erwachen würden. Ganz ohne Umzug. Im Westen.

Eben waren wir noch Teil Osteuropas gewesen. Hatten die Werktätigen am 1. Mai, dem Kampf- und Feiertag der Arbeiterklasse, Losungen in den Frühlingshimmel gerufen: «Es lebe der feste und unzerstörbare Bruderbund zwischen der DDR und der Sowjetunion!» Schliesslich lebten immer noch Zehntausende Rotarmisten mit ihren Familien direkt bei uns im Wald, in einer riesigen Kasernenstadt mit kyrillischen Schriftzeichen, einer eigenen Schule, Läden und einem Kulturhaus. Ich war manchmal dort gewesen. Und nun?

In der Nacht zum ersten Tag der Deutschen Einheit zündeten Kinder das Asylbewerberheim an – draussen, gleich vor den Toren der Stadt. Ihre grossen Geschwister hatten sie, die noch nicht strafmündig waren, aufgehetzt. Zum Glück wurde niemand verletzt. Anders als im nordrhein-westfälischen Hünxe, wo drei Neonazis Brandsätze in das Kinderzimmer einer libanesischen Flüchtlingsfamilie geworfen hatten. Zwei Mädchen erlitten schwerste Verletzungen und überlebten, für ihr Leben gezeichnet. Der Spiegel titelte: «Das Boot ist voll». Helmut Kohl hatte bereits 1983 klargestellt: «Deutschland ist kein Einwanderungsland.» Das doppelt deutsche Land entpuppte sich nun als mörderisches Pflaster für jene, die nicht als zugehörig betrachtet wurden. Den «Gastarbeitern» im Westen, ihren Kindern und EnkelInnen, blies der völkische Einheitstaumel kalt entgegen. Mitunter tödlich. Die Bundesregierung spricht von 83 Toten seit der Wiedervereinigung. Recherchen der «Zeit» und des «Tagesspiegels» ergaben, dass seit 1990 in Deutschland mindestens 169 Menschen von Neonazis und anderen extrem Rechten getötet wurden. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen.

Der Systemzusammenbruch hatte in Ostdeutschland alle Autoritäten ausser Kraft gesetzt. Neue formierten sich schwerfällig, unvermittelt. Die soziale Katastrophe hingegen, die Millionen in kürzester Zeit in Massenarbeitslosigkeit stürzte, war körperlich spürbar, betraf alle Familien. Das war nichts, das sich so einfach wegschmeissen liess. Wie ein Parteiausweis, eine Gesinnung. Es setzte eine Abwanderungswelle sondergleichen ein. Binnen vier Jahren zogen 1,4 Millionen Menschen, vor allem junge Frauen und gut ausgebildete Fachkräfte, fort, gen Westen. Die Deindustrialisierung ganzer Landstriche liess Ruinen zurück, Denkmale einer vergangenen Epoche.

Mit den roten Fahnen war jede Idee von Zukunft verbannt worden. Und wehe, es traute sich einer, daran zu erinnern. Misstrauisch beäugten Nachbarinnen und Freunde einander. «Du rote Sau», riefen sie meiner Mutter hinterher. Nicht ohne Grund. Der Tonfall machte Angst. Und das sollte so sein. Meine FreundInnen und ich, Jungs und Mädchen mit selbstgeschnittenen oder gar keinen Frisuren, Unangepasste, die sich der neuerlichen Uniformierung auf den Schulhöfen verweigerten, wurden durch die Strassen gejagt. Von Mitschülern, Nachbarskindern, einstigen Freundinnen.

Die Welt war live dabei, als im Sommer 1992 das Rostocker Sonnenblumenhaus brannte. Tausende jubelten den Flammen zu. Nur durch Zufall kam niemand ums Leben. In der Folge passierte der sogenannte Asylkompromiss am 26. Mai 1993 den Deutschen Bundestag. Diese drastische Einschränkung des Asylrechts schien den BrandstifterInnen recht zu geben. Sie gingen als SiegerInnen aus der Schlacht hervor. Machten auch vor den Kasernen der heimatlos gewordenen SowjetsoldatInnen nicht mehr halt, schmissen Molotowcocktails gegen die Tore und hatten nichts zu befürchten. Die Polizei schaute zu. Die Rote Armee war besiegt. Die Nazis stiegen nicht aus Gräbern, vielmehr schienen sich ihre Geister der Körper und Köpfe ihrer Enkel und Urenkelinnen bemächtigt zu haben. Sie jagten die «Russen» in rasender Wut aus Gaststätten und Diskotheken, warfen Leute aus Fenstern.

Ende 1991 war auch die Sowjetunion untergegangen. Nun, nur drei Jahre später, zogen die letzten der einst 500 000 auf ehemaligen preussischen Militärgeländen stationierten SoldatInnen aus Berlin und Brandenburg ab. Einige meiner FreundInnen, Überflüssige, die direkt aus der Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen worden waren, würden später im Rahmen von «Arbeitsbeschaffungsmassnahmen» die ehemaligen Truppenübungsplätze von Kampfmitteln beräumen. In den Diskotheken spielten sie «Go West» von den Pet Shop Boys rauf und runter. Neue Zeit. Neues Leben. Oder?

Als vor wenigen Wochen die Bilder aus dem sächsischen Chemnitz durch das Netz schossen, war ich wenig überrascht. Rund um die monumentale Büste von Karl Marx, nach dem die Stadt zu DDR-Zeiten benannt war, hatte sich erneut ein wütender Mob versammelt. Hitlergrüsse. Hass. Schnappschüsse zeigten Menschen, die wegrannten. So merkwürdig vertraut wirkten auch die abwehrenden Reaktionen des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) und des da noch amtierenden Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maassen (CDU), dies seien keine Menschenjagden gewesen, sondern der Versuch Linksradikaler, vom eigentlichen Opfer abzulenken. Eine Ansicht, die Innenminister Horst Seehofer (CSU) unterstützte und damit die Bundesregierung in eine schwere Krise stürzte. Weil, was nicht sein darf, nicht sein kann? Aus eigener Überzeugung? Oder weil man besser mit den Wölfen heult als gegen sie – so kurz vor der Wahl in Bayern?

Im Kleinen war ich diesem ritualisierten Herunterspielen und Leugnen bereits Mitte der Neunziger als junge Lokaljournalistin in Brandenburg begegnet. Die Imagepflege und die Angst, mögliche Investoren abzuschrecken, waren stets wichtiger als Aufklärung. Darüber und über meine Kindheit im verschwundenen Land, über Freundschaft und Wut habe ich ein Buch geschrieben. Seit nunmehr einem Jahr toure ich damit durch das zerrissene Land. Mein erstes Interview gab ich einer Journalistin aus der Schweiz, die mir, obschon es rund um die Ankunft zahlreicher Kriegsflüchtlinge aus Syrien und Somalia bereits wieder heftige Auseinandersetzungen und brennende Flüchtlingsheime im Land gegeben hatte, meine Geschichte nicht glaubte. «Ich halte das für stark übertrieben», sagte sie und liess mich ratlos zurück. Hatte ich das Buch nicht genau deshalb geschrieben? Weil mir in all den Jahren kaum einer zugehört, geschweige denn geglaubt hatte? Erst kürzlich erklärte mir ein westdeutscher Kollege: «Wir haben damals gar nichts davon mitbekommen.» Eine Mischung aus Ignoranz und Ahnungslosigkeit hatte sich da breitgemacht. Bequem und gefährlich.

Bei einer Lesung im sächsischen Wurzen kam es zu einer Unterbrechung. Ein junger Mann erklärte: «Achtung, Leute, sie versammeln sich am Bahnhof. Geht nicht da lang.» Die Warnung hatte ihn über eine entsprechende Whatsapp-Gruppe erreicht. Später berichtete ein lokaler Abgeordneter von Steinwürfen auf sein Haus, Bauschaum im Auspuff, von lockergedrehten Radschrauben. Anschläge auf ihn, seine Familie, seine Arbeit. «Das ist hier normal.» Mein Hotel lag am Bahnhof. Im Flur stapelten sich die Ausgaben der «Jungen Freiheit», dem Sprachrohr der Neuen Rechten, treue Begleiterin des Aufstiegs der AfD.

Im thüringischen Ranis las ich vor Schulklassen. Die Mädchen und Jungen waren fünfzehn, so wie ich, als die Mauer fiel. Sie hörten halbwegs geduldig zu und stellten keine Fragen. Eine Lehrerin versuchte, die peinliche Stille zu unterbrechen: «‹Judensau›, das ist bei uns auf dem Schulhof ein normales Schimpfwort geworden.» Gesenkte Blicke. Nach der Veranstaltung hörten ein paar Jungs draussen extra laute Hassmusik. Einer zeigte den Hitlergruss. Die Erwachsenen reagierten nicht. Normal. Die Geschichtslehrerin sagte: «Früher haben mich Schüler als Lügnerin beschimpft. Heute denken sie es nur und schreiben eine Eins im Test.»

Christian Hirte war dreizehn, als die Mauer fiel. Er ist seit kurzem Ostbeauftragter der Bundesregierung. «Ich bin der festen Überzeugung, dass die übergrosse Mehrheit der Ostdeutschen mit rechtsradikalen Spinnern, die den Hitlergruss zeigen oder ein jüdisches Geschäft angreifen, genauso wenig zu tun haben will wie mit linksradikalen Spinnern, die marodierend durch Hamburg ziehen», meint er. Die AfD wurde in seinem Wahlkreis mit 22,3 Prozent zweitstärkste Kraft. Deren prominentester Vertreter vor Ort ist Björn Höcke, ein ehemaliger Geschichtslehrer, der die offen völkisch-rassistische Fraktion der Partei repräsentiert. Im kommenden Jahr will Höcke als Ministerpräsident Thüringens kandidieren. Er stammt – ebenso wie Bodo Ramelow, der aktuelle Amtsinhaber der Partei Die Linke – aus Westdeutschland. Ostdeutsche sind unter den EntscheidungsträgerInnen aller gesellschaftlichen Bereiche stark unterrepräsentiert.

Das ist kein Geheimnis. Man kann es alljährlich im «Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit» an konkreten Zahlen überprüfen. Christian Hirte kommentierte die aktuelle Ausgabe mit den Worten: «Ich will Lobbyist der Ostdeutschen sein.» 1993 war er mit siebzehn Jahren in die Junge Union eingetreten. Dann: Jurastudium in Jena. Genau in der Zeit, als dort der rechtsextreme Thüringer Heimatschutz gegründet wurde – mit zahlreichen Verbindungen zum Verfassungsschutz. Seit 2008 sitzt Hirte im Bundestag, die partielle Blindheit scheint ihn dorthin begleitet zu haben. Doch auch seine zurückgebliebenen ParteifreundInnen sind nicht frei davon. Erst im vergangenen Jahr beschloss der Erfurter Landtag, der Opfer des NSU-Terrors mit einem Mahnmal zu gedenken und einen Hilfsfonds für die Hinterbliebenen einzurichten. Die CDU stimmte gemeinsam mit der AfD dagegen. Ist ja schliesslich erledigt, das Thema. Oder?

«Sechs Festnahmen in Chemnitz» und «Neonazis planten Terroranschlag am Tag der Deutschen Einheit», titelte am letzten Montag ein grosses Boulevardblatt – 27 Jahre nach dem Pogrom von Hoyerswerda und 20 Jahre nachdem sich die untergetauchte NSU-Zelle um Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe in Chemnitz niedergelassen hatte. Die rassistischen Ausschreitungen, die die Stadt wenige Wochen zuvor in die Schlagzeilen gebracht hatten und die es laut Landesregierung, Bundesamt für Verfassungsschutz und Bundesinnenminister so gar nicht gegeben haben soll, seien so etwas wie der Probelauf für grössere, schlimmere Angriffe gewesen. Die Nachricht verdrängte eine andere. Wenige Tage zuvor waren, anlässlich des Staatsbesuchs des türkischen Präsidenten, BeamtInnen eines sächsischen Sondereinsatzkommandos nach Berlin entsandt worden. Ihre Einheit war schon einmal in die Schlagzeilen geraten – wegen ihres Logos, das deutlich an NS-Symbole erinnerte. Diesmal hatten sich zwei aus der Truppe in einer Dienstliste als «Uwe Böhnhardt» eingetragen. Einzelfälle?

Seit dem Fall der Berliner Mauer sind fast drei Jahrzehnte vergangen. Die ostdeutsche Wirtschaft hat sich stabilisiert, die Arbeitslosenzahlen sind rückläufig. Aber die Kontinuität rechter Gewalt ist geblieben und mit ihr ein nahezu reflexhaftes Verleugnen der Opfer. Der müden HeldInnen auch, die das Land mit ihrem Engagement dort zusammenhalten, wo sich staatliche Institutionen nach 1990 nie etabliert oder längst wieder zurückgezogen haben. Die gewaltbereite rechtsextreme Szene wächst weiter. In den Abgeordneten der Alternative für Deutschland findet sie parlamentarische Unterstützung für ihre Themen und Haltungen. Die anderen Parteien ziehen nach. Selbst links der Mitte wird heute viel über Identitätsverlust diskutiert, werden nationalistische Perspektiven wieder salonfähig. Dabei geht es heute wie vor 28 Jahren vor allem um Normalitätsverlust – die Auflösung dessen nämlich, was wir gestern noch als grundlegende gesellschaftliche Prinzipien, als Regeln eines zivilisierten Miteinanders kannten. Dazu gehört es auch, die Sorgen von achtzehn Millionen Menschen mit Migrationshintergrund ernst zu nehmen. An jedem Tag.

Die Schriftstellerin und Musikerin Manja Präkels, Jahrgang 1974, lebt und arbeitet in Berlin. Letztes Jahr erschien ihr Debütroman «Als ich mit Hitler Schnapskirschen ass» im Verbrecher-Verlag. Für das Buch wurde sie mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet.


Aus: "Ostdeutschland: Seither herrscht Ausnahmezustand" Manja Präkels, Berlin (Nr. 40/2018 vom 04.10.2018)
Quelle: https://www.woz.ch/1840/ostdeutschland/seither-herrscht-ausnahmezustand

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Quote[...] Unser Autor ist vor Neonazis weggelaufen und er war mit Rechten befreundet. In den Neunzigern in Ostdeutschland ging das zusammen. Und heute?

Die eigene Hässlichkeit kann ein Rausch sein. Wenn man sie umarmt und das Grauen in den Gesichtern derer sieht, die einen beobachten und verachten, aber sich nicht an einen herantrauen, dann strömt Macht durch die Adern wie elektrischer Strom.

Als ich bei über hundert Kilometern pro Stunde einem BMW hinter uns auf die Motorhaube pisse, spüre ich diese Macht. Als ich da im Dachfenster stehe, die Hose bis zu den Oberschenkeln heruntergelassen, sehe ich das große weiße Gesicht des Fahrers: Die Augen geweitet, vor Schreck, Entsetzen, Empörung, bläht es sich auf wie ein Ballon, ich würde gern mit einer Nadel hineinstechen.

Ich bin neunzehn, ich bin zehn Meter groß und acht Meter breit, ich bin unverwundbar.

Als am 27. August 2018 Männer meiner Generation, so um die vierzig, in Chemnitz einen ,,Trauermarsch" veranstalten und einige ihre nackten Hintern in die Kameras halten, wie man es bei YouTube sehen kann, denke ich an meine Autobahnfahrt. Als schwere Männer Hitlergrüße zeigen und Menschen angreifen, deren Hautfarbe ihnen nicht passt, als die Polizisten nicht einschreiten, bin ich paralysiert, als würde etwas Dunkles hochkommen, von dem ich dachte, ich hätte es hinter mir gelassen. Aber ich erinnere mich auch an diesen Machtrausch, den Kick, wenn du jemandem klarmachst: Regeln? Und was, wenn ich auf deine Regeln scheiße, mein Freund? Was dann?

Ich sehe Chemnitz und frage mich: Was habt ihr mit mir zu tun? Was ich mit euch?

Zum Tag der Deutschen Einheit wird es wieder die geben, die erzählen, warum die Wiedervereinigung eine Erfolgsgeschichte ist. Schon das Wort ,,Wiedervereinigung" ist eine Lüge, werden die anderen sagen, die vor allem sehen, was verloren ging: Betriebe, Selbstachtung, ganze Leben. Gerade sind die besonders gut zu hören, die sagen: Erkennt endlich die Leistungen derjenigen an, die sich eine neue Welt aufbauen mussten. Die auch oft sagen: Lasst mich in Ruhe mit den Opfergeschichten, wir sind stolz auf das, was wir geschafft haben, selbst wenn wir gescheitert sind.

Gerade, fast dreißig Jahre nach der Wende, erzählt die Generation meiner Eltern und Großeltern ihre Geschichten. Nicht das erste Mal, aber es scheint die richtige Zeit zu sein. Die sächsische Staatsministerin für Integration, Petra Köpping, hat einige dieser Geschichten aufgeschrieben in ihrem Buch ,,Integriert doch erst mal uns!" und sie füllt in Ostdeutschland zur Zeit jedes Haus.

Es geht viel um verlorene Arbeitsplätze und ja, das klingt hübsch technisch, wie ein leicht lösbares Problem. Aber in diesem preußischen Vollbeschäftigungsstaat namens DDR, in dem Arbeit gleich Lebenssinn war und die wenigen, die keine Jobs hatten, ,,Assis" gerufen wurden, bedeutete das eben auch: Kollegen, Brüder, Ehemänner, die sich erhängten, Geschwister und Cousins, die sich langsam zu Tode soffen, Familien, in denen es erst heiß aufwallte wie in einem Vulkan, weil einer jetzt mehr hatte als die anderen und dann erstarrte alles zu einer toten Landschaft kalter Schlacke. Frauen, die so sehr anpackten, um sich, ihre Männer und ihre Kinder durchzubringen, bis nichts mehr von ihnen übrig blieb als der Wille ,,es zu schaffen".

Ist da noch Platz für die Erzählungen der neunziger Jahre aus der Sicht derjenigen, die beim Fall der Mauer zu alt waren, um nichts von der Vergangenheit mitbekommen zu haben, aber zu jung um mitzureden, wie die Zukunft aussehen sollte? Über das Jahrzehnt, in dem auch die Menschen aufgewachsen sind, die heute Hitlergrüße zeigen und brüllen?

,,Mit den neunziger Jahren verbinde ich persönliche Erlebnisse, die derzeit wieder hochkommen", sagt Manja Präkels, ,,und wenn ich im Land unterwegs bin, sehe ich jetzt oft genau die Leute bei der AfD wieder, die sich als Sieger der Kämpfe der neunziger Jahre begreifen."

Präkels hat das Buch ,,Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" geschrieben, über die letzten Tage der DDR und das barbarische Jahrzehnt, das Ostdeutschland danach erlebte. Präkels ist 1974 geboren und in Zehdenick aufgewachsen, einer Stadt nördlich von Berlin. Ihr Buch ist neben ,,Oder Florida" von Christian Bangel der zweite Roman mit autobiografischen Zügen, der im vergangenen Jahr erschienen ist und vom Ostdeutschland der neunziger Jahre handelt.

Ich habe sie angerufen, um sie zu fragen, ob auch sie sich an damals erinnert fühlt, wenn sie die Bilder aus Chemnitz und Köthen sieht. Sie sagt, wenn sie auf Lesereisen unterwegs sei oder bei Tagungen, dann treffe sie auf Rechtsextreme, die angetrieben sind von dem, was sie damals erreicht haben in Rostock-Lichtenhagen und bei den vielen kleineren Feuern, die kaum jemand sah. ,,Sie begreifen sich als Sieger dieser Kämpfe", sagt Präkels, ,,weil nichtweiße Menschen damals aus Ostdeutschland abtransportiert worden sind. Das hat die Gewalt jener Jahre in ihren Augen nachträglich legitimiert."

Wann fängt man also eine Geschichte über damals an? Für mich begann es nicht 1989. Für mich begann es in der DDR.

In der zweiten Klasse malt Ricardo mit dem Bleistift ein Hakenkreuz auf die Schulbank. An sich nichts Besonderes, auch ich habe das schon gemacht, einmal an einem Junitag 1987, während ich in mein Diktatheft krakele: ,,Heute kommt unsere Mutter spät nach Hause. Wir wollen helfen." Hakenkreuze malen ist das Verbotenste, was ich mir vorstellen kann. Jedes Mal brüllt ein kleines Tier in meinem Brustkasten seine Freude darüber hinaus, nicht erwischt worden zu sein. Die Kunst ist, aus dem Hakenkreuz gleich wieder ein kleines Fenster zu machen, bevor einen jemand sieht.

Aber Ricardo ist zu langsam gewesen oder vielleicht hat er vergessen, die Striche weiter zu ziehen, ich sehe es, zwei Freunde sehen es, wir nehmen ihn uns vor, als die Lehrerin nicht im Klassenzimmer ist. Es ihr zu sagen, geht nicht. Eine Petze zu sein, war schlimmer als alles andere. Wir müssen das unter uns regeln.

,,Du weißt, dass das falsch war?", frage ich.

Er heult. Er ist schwerer als ich und größer, aber er versucht nichts, zwei andere Jungs aus der Klasse stehen neben ihm. ,,Nimm die Brille ab", sage ich. Ricardo heult noch ein bisschen mehr, er fleht mit großen Augen und ja, na klar, wohnen wir im gleichen Block und ja, wir wollen uns am Nachmittag wieder beim Sandkasten vor dem Haus treffen, aber erst einmal muss das hier erledigt werden.

Der im sozialistischen Jugoslawien geborene Schriftsteller Tijan Sila hat dieses Verhalten von Jungen in seinem Buch ,,Tierchen Unlimited" so beschrieben: ,,Die Erziehung von Grundschülern sollte das Ethos der Partei spiegeln, und das erschloss sich mir damals nur in Gegensätzen: oben ein kaltes, appolinisches Gesicht, das Keuschheit, Nüchternheit und Leidensfähigkeit forderte, und darunter ein triebhafter, dämonischer Torso, der Härte, Kampf, Rivalität oder Opfer gut fand." Vielleicht blieb dieser Torso übrig, als der Kopf mitsamt der DDR verging.

Ums Kämpfen ging es in der DDR oft, die größten Kämpfer waren die, die nicht mehr lebten: die kommunistischen Antifaschisten, die in den Lagern gestorben waren, damit wir es besser hatten. Von Wandbildern und aus unseren Schulbüchern blickten uns muskulöse weiße Männer an. Von den Juden erzählten unsere Lehrerinnen nur, dass die Nationalsozialisten sie umgebracht hatten. Gekämpft hatten sie jedenfalls nicht.

Auf dem Nachhauseweg von der Schule erzählen wir Jungs uns Judenwitze. Zu viert oder zu fünft laufen wir über Kopfsteinpflaster und schwarzen Sand nach Hause, am Friedhof und an der Kneipe vorbei hin zu den vier Neubaublöcken am Rande des Dorfes.

Einer fragt: ,,Was ist der Hauptgewinn in der KZ-Lotterie?"

Ich sage: ,,Kenn ich doch schon. Eine Platzkarte in der Gaskammer."

Später habe ich unsere Witze in dem Buch ,,Das hat's bei uns nicht gegeben!" wiedergefunden. Veröffentlicht hat es vor einigen Jahren die Amadeu Antonio Stiftung, benannt nach einem angolanischen Vertragsarbeiter, den junge Männer 1990 in Eberswalde so lange schlugen, bis er ins Koma fiel und später starb.

Woher wir unser Witze hatten, weiß ich nicht mehr. Es hätte sie gar nicht geben dürfen. In der Verfassung der DDR stand, der Faschismus sei besiegt. Und weil er nun einmal besiegt war, durfte er nicht existieren. Die Staatssicherheit, das lässt sich in dem Buch der Stiftung ebenso nachlesen wie in den Berichten des Geheimdienstes selbst, nannte Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen und Neonazis, die andere Menschen zusammenschlugen, ,,Rowdytum" und tat so, als gäbe es keinen politischen Hintergrund. Punks und alle, die anders aussahen als sich die sozialistische Elite ihre Bürger vorstellte, verfolgten Geheimdienst und Polizei dagegen hart als Auswüchse einer Dekadenz, die nur aus dem Westen kommen konnte.

Daran knüpft die AfD heute an. Die Partei setzt wie keine andere darauf, eine ostdeutsche Identität zu feiern und zu fördern. In Wahlkämpfen und Reden umwerben ihre Politiker die Menschen damit, wie fein deutsch und wenig verfremdet es in Ostdeutschland so zugehe. Und die Erzählung vom unpolitischen Rowdytum scheint bei vielen Polizisten ebenfalls heute noch zu funktionieren.

War das in der Bundesrepublik denn besser? Klassische Frage, die immer kommt, wenn man etwas über die DDR schreibt. Vielleicht ließe sich sagen, es gab in Westdeutschland wenigstens die Chance auf ein öffentliches Gespräch. In der DDR lief so eine Serie wie ,,Holocaust" nicht im Fernsehen, die Leute konnten danach nicht darüber reden, sich aufregen oder weinen – zu Hause, in der Kneipe, im Bus. Und bei allem Verständnis für den Willen, sich von Westdeutschen nicht mehr das eigene Leben ausdeuten zu lassen: Ist es wichtiger, das Andenken an die DDR zu retten oder sich Gedanken darüber zu machen, warum die eigenen Kinder von Nazis gejagt werden oder selbst andere jagen?

Nach dem Überfall von Neonazis auf ein Punk-Konzert in der Ostberliner Zionskirche 1987 wollte das Zentralkomitee der SED dann doch einmal die neonazistischen Umtriebe untersuchen. Die Forscher registrierten 1988 bis zu 500 Taten aus dem rechtsextremen Milieu pro Monat. Die Ergebnisse verschreckten die Machthaber so sehr, dass sie sie gleich wieder wegschlossen. Der Oberstleutnant der Kriminalpolizei, der das Team geleitet hatte, wurde ab da von der Stasi beobachtet.

Wir lesen ,,Pawel" in der vierten Klasse. Wir haben das grüne Schulbuch vor uns auf dem Tisch liegen, wir lesen abwechselnd ein paar Sätze vor. Ein Leutnant der Wehrmacht sitzt am Rande eines brennenden sowjetischen Dorfes und sieht einen spielenden Jungen. Er denkt: ,,Worin besteht der Unterschied zwischen diesem und einem deutschen Kind?" Er rettet den Jungen vor dem heranrasenden Auto eines Feldwebels, sie fliehen zusammen zu sowjetischen Soldaten und der Leutnant kehrt an der Seite der Roten Armee nach Deutschland zurück. Fünfeinhalb Seiten dauert die Transformation des Nazi-Offiziers zum Kommunisten und sie beschreibt in ihrer kindgerechten Kürze recht gut den antifaschistischen Mythos der DDR. Der Staat musste ein paar Verführer bestrafen, den großen Teil seiner Bürger konnte er dann, ohne groß über die Vergangenheit zu reden, zum Aufbau des neuen Staates einsetzen.

Zugleich wussten wir wenig vom Fremden. Selbst unsere angeblichen Brüder kannten wir nicht. ,,Wir zeigen unsere freundschaftliche Verbundenheit mit dem Sowjetvolk", schreibe ich am 8. Mai in meinen Heimatkundehefter. Aber wir sehen sie kaum, obwohl viele Kasernen gar nicht so weit weg sind. Manchmal marschiert ein Trupp mit Kalaschnikows auf dem Rücken an unserem Kindergarten vorbei und wir drücken uns an den Zaun und sehen ihnen nach. ,,Scheißrussen", sagt ein Junge neben mir, und als ich ihn frage warum, sagt er: ,,Wenn der blöde Hitler unsere Wehrmacht nicht kaputt gemacht hätte, wären die jetzt nicht hier." Das hatte ihm jedenfalls sein Vater erzählt.

Wir wussten nicht, wer die Juden waren. Wir wussten nicht, wer die Russen waren. Wer die Nazis waren, wussten wir. Der Nazi war einer, der aus dem Westen kam. Der Kapitalismus galt als Vorstufe des Faschismus, und tatsächlich saßen ja noch alte Nazi-Eliten auf genügend Machtpositionen, um die als Beweis zu präsentieren. Als die Staatssicherheit 1960 im Bezirk Rostock eine ,,Aufstellung über Hakenkreuzschmierereien" mit über fünfzig Delikten erstellte, sagte der Leiter der Bezirksverwaltung, diese seien ,,Teil der Provokation aus Westdeutschland". In ,,Käuzchenkuhle", einem der bekanntesten Jugendbücher der DDR, löst ein Junge zusammen mit seinen Freunden einen Kriminalfall, bei dem ,,der Fremde", ein ehemaliger SS-Mann aus Westdeutschland, zurückkehrt, um alte Nazi-Raubkunst zu bergen. Noch 2006 erklärte mir der SPD-Innenminister eines ostdeutschen Bundeslandes vor einem Interview, das Naziproblem käme aus dem Westen und, nein, in der DDR habe es das nicht gegeben.

Der Fall der Mauer brach mir das Herz. Ich hatte Angst vor dem Westen, vor den Faschisten, einfach davor, dass alles, was ich kannte, kaputt gehen könnte.

Die Erwachsenen rührten keinen Finger. Sie saßen vor dem Fernseher und sahen sich Demonstrationen an. Sie unterrichteten uns weiter in der Schule, als sei alles völlig normal. Dass wir wirtschaftlich keine Chance hatten, war mir ja klar, jeder Junge, der wusste, wo die Matchboxautos herkamen, begriff das. Aber mein Vater war Oberstleutnant der verdammten Nationalen Volksarmee, er hatte mal dreißig Panzer kommandiert, wo waren die denn jetzt?

Ich wollte eine chinesische Lösung, ich wollte Tiananmen-Platz in Berlin und Leipzig. Als mein Vater, der Feigling, nicht loszog, um die Irren da draußen zu stoppen, überlegte ich, wie ich ihm seine Makarow-Dienstpistole klauen könnte. Mein Plan war, in Westberlin ein paar Leute zu erschießen und einen Krieg zu provozieren. Denn den, da war ich mir sicher, den würden wir gewinnen.

Wir fuhren mit dem Begrüßungsgeld nach Berlin-Spandau. Bei Karstadt kaufte ich mir ein Telespiel, einen kleinen blauen Computer, mit dem ich Eishockey zocken konnte.

Mit jedem neuen Level wurde der Puck schneller und schwieriger zu erreichen. Es fing mit Piep – piep – piep an und steigerte sich pieppiep pieppiep pieppiep bis zu pipipipipipip. Wie hypnotisiert starrte ich auf die kleine blinkende Scheibe, bis die Welt um mich herum nur noch gedämpft zu hören war, wie hinter Watte. Die Erwachsenen hatten mich verraten, ich hatte mich für ein Computerspiel verkauft. Ich war wütend, aber ich hatte keine Ahnung auf wen.

,,Du warst im HJ-Modus", hat zwei Jahrzehnte später ein Freund zu mir gesagt, ,,wie die Hitlerjungen beim Volkssturm". Da wohnte ich schon lange in Berlin. Er hatte in den Jugoslawien-Kriegen genügend Jungen gesehen, die für Wut, Angst und Ohnmacht ähnlich der meinen gestorben waren.

In der zweiten Klasse sangen wir: ,,Soldaten sind vorbeimarschiert, die ganze Kompanie. Und wenn wir groß sind, wollen wir Soldat sein so wie sie." In unserem Musikbuch standen Lieder über den Frieden auf der Welt und ,,Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm." Aber eben auch: ,,Mein Bruder ist Soldat im großen Panzerwagen, und stolz darf ich es sagen: Mein Bruder schützt den Staat."

Vor wem der große Bruder uns schützte, war klar: Vor dem Westen. Aber niemand schützte mich jetzt. Kämpfen wollte ich, aber gegen wen? Wohin fliegt eine Rakete mit einem Freund-Feind-Zielsystem, wenn die eigenen Eltern zum Gegner übergelaufen sind?

War ich der einzige, dem es so ging? Ich weiß es nicht, ich habe mich mit Freunden nie darüber unterhalten.

Der Zerfall beginnt im Fernsehen. Ich sehe weinende Menschen, starre Menschen, graue Menschen, meistens vor irgendwelchen Schornsteinen oder Werktoren und immer macht irgendetwas zu. Dann zerfallen die Männer auf dem Dorf. Wenn ich von der Schule komme, sitzen sie an den Garagen. Sie haben früher Kräne gefahren, große russische Traktoren und Mähdrescher. Jetzt erzählen sie sich Witze über ihre Frauen, die mit irgendwelchen Putzjobs oder Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen versuchen, die Familien über Wasser zu halten. Sie sagen: ,,Die Alte nervt". Dann trinken sie noch einen Schnaps. Oft reden sie gar nicht.

In den Zeitungen, im Radio, im Fernsehen lesen, sehen und hören wir die passenden Botschaften dazu. Ostdeutsche sind zu doof, sich in der neuen Welt zurecht zu finden. Ostdeutsche sind faul. Ostdeutsche sind betrunken. Erst schäme ich mich noch, dann schaue ich der geworfenen Scheiße belustigt beim Fliegen zu und noch später bin ich stolz darauf, dass ,,wir" härter sind als die so leicht zu schockierenden Wessis, die ihr ganzes Leben als Kausalzusammenhang erzählen können, in dem es für alles einen guten Grund und keine dunklen Flecken gibt. Es kann auf eine dämonische Art befreiend sein, wenn von dir und den Leuten um dich herum nur noch das Schlechteste erwartet wird. Als Zwölf- oder Dreizehnjähriger sehe ich das noch nicht, ich sehe nur die Männer in ihren Garagen und ich sehe meine Zukunft.

Mein Vater trinkt dort nicht. Die Bundeswehr hat ihn übernommen. Im Frühjahr 1992 werden sie bei der Kontrolle eines sowjetischen Stützpunkts beschossen. Mein Vater verlässt die Armee und verkauft später Versicherungen. So wie viele andere Männer aus der Polizei, dem Ministerium für Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee. Ein Abstieg war es, aber er war nicht so hart.

Im Fernsehen sieht man Häuser brennen, in denen vietnamesische Vertragsarbeiter leben. Man sieht Männer, die mit Gehwegplatten auf Menschen werfen. Ich sehe, wie die Polizisten verloren vor der Meute stehen. Ich sehe, wie sie zurückweichen.

,,Offenbar ist vielen im Westen nicht klar, dass in Ostdeutschland zwei Generationenkohorten existieren, deren kollektive politische Erfahrung sich daraus speist, ein politisches System gestürzt und anschließend den neuen Staat in Hoyerswerda und Rostock gezwungen zu haben, vor ihrem rassistisch motivierten Willen zurückzuweichen." Das schreibt der Rechtsextremismus-Experte David Begrich nach den Märschen von Chemnitz in einem Text, den viele auf Facebook teilen. Begrich war damals in Rostock-Lichtenhagen, er war einer derjenigen, auf den die grölenden Männer Gehwegplatten warfen.

Bis Ende der neunziger Jahre weicht dieser neue Staat zurück – in den Kleinstädten und Dörfern. Viele Menschen, die so alt sind wie ich, rechnen nicht mehr mit ihm. Wir sehen alle dasselbe: Es kommen keine Polizisten, wenn dreißig Kahlrasierte vor einem Jugendklub auftauchen und Leute vermöbeln oder sie kommen nur zu zweit und bleiben dann in ihren Autos sitzen. Was sollen sie machen? Selbst verdroschen werden? Das passiert manchmal auch.

Die große Macht der Volkspolizisten ist ebenso gebrochen wie die unserer Lehrerinnen. In der DDR konnten diese Autoritäten noch im Alleingang ganze Biografien versauen – du darfst studieren und du nicht – und jetzt lachen wir sie aus, wenn sie vor uns stehen. Wir lachen, bis sie heulen. Sie haben Angst vor der neuen freien deutschen Jugend.

Heute bin ich öfter in osteuropäischen Staaten unterwegs, die früher ebenfalls sozialistisch waren. Wenn ich dort mit Leuten meines Alters über die Brüche der Neunziger rede, die Barbarei, die Entgrenzungen, die sie oft härter und krasser beschreiben, weil es dort härter und krasser war als in Deutschland, dann finde ich bei ihnen ein Verhältnis zur Polizei, was mich an meines damals erinnert: irgendetwas zwischen Furcht und Verachtung.

Und natürlich sind das heute nicht die Neunziger, der neue Staat hat sich konsolidiert. Aber wenn wie in Chemnitz dann doch zu wenige Polizisten dort stehen, wenn Beamte in Köthen eine rechtsextreme Rednerin bei ihren Vergasungs- und Mordfantasien nur filmen, statt sofort in die Demo zu gehen, dann bestärkt das Nazis wie ihre Gegner in dem, was sie gelernt haben: Der Staat weicht zurück.

Nach dem Mauerfall lernte ich noch etwas, in den folgenden Jahren, als die Liste der Toten immer länger wurde: Du kannst sterben, ganz leicht. Wenn in einer Horde von Nazis nur ein Psycho dabei ist, nur einer, dem deine Fresse nicht gefällt und der dann nicht aufhören kann, dann bist du tot. Manche Bekannte bildeten sich ein, sicher zu sein, weil sie weiß waren. Sie glaubten, sich verstecken zu können. Aber wer anders ist und wer nicht, das legst nicht du selbst fest, sondern der Nazi. Es starben Mahmud Azhar und Farid Guendoul ebenso wie Wolfgang Auch und Horst Hennersdorf.

Als ich dem Hass zum ersten Mal persönlich begegne, bin ich elf oder zwölf Jahre alt. Meine Mutter arbeitet noch immer als Agrochemikerin, sie berechnet, wie viel Dünger das gelbe Streuflugzeug auf die Felder um unser Dorf herunterfallen lässt. Der Pilot dieses Flugzeuges sitzt eines Tages bei uns im Wohnzimmer auf einem brauen Stoffsessel, er wartet auf meine Mutter und ich frage ihn, weil ich ihn mag, weil ich ihn cool finde, ich meine, er ist schließlich Pilot, jedenfalls frage ich ihn, wie es denn jetzt für ihn weitergeht. Und er erzählt von den ,,Wallstreetjuden", die das alles zu verantworten hätten, er wird lauter, erregter, brennende Röte erst am Hals, dann im Gesicht. Ich weiß das noch so genau, weil ich mit dem Wort ,,Wallstreet" nichts anfangen kann und Juden, denke ich, gibt es doch bei uns gar keine. Der Mann überrollt mich mit einer Wut, von der ich weder die Quelle kenne noch das Ziel.

Neue Regeln. Ich hätte sie gerne gelernt, wenn ich denn welche begriffen hätte. Ist es besser, den Bus zu nehmen, aus dem man nicht mehr rauskommt, wenn Glatzen einsteigen? Oder besser laufen oder Fahrrad, aber dann bist du zu langsam, wenn sie dich mit dem Auto jagen? Auch andere versuchten, die neue Welt zu ordnen: Die Kreisstadt ist rechts, die Dörfer sind links. Aber diese Ordnung zerbröselte sofort wieder, wenn fünfzehn, zwanzig, dreißig Nazis ein Dorffest aufmischten.

Viele Glatzen kamen aus großen Familien, die lebten in ihren Häusern inmitten von Hitlerbüsten und Reichskriegsflaggen. Die Clan-Söhne mit den Namen, die man fürchten musste, waren vier bis acht Jahre älter als ich. Mit ihren tiefergelegten Golfs oder zu Fuß patrouillierten sie durch die Stadt. Wen sie verschonten und wen sie sich vornahmen, folgte einem Kodex, den vor allem sie selbst verstanden. Wenn sie jemanden aus DDR-Zeiten kannten, aus der Schule, konnte das gut sein. Oder eben besonders schlecht, wenn sie ihn schon damals nicht mochten. Bunte Haare waren scheiße, lange auch. Aber wer aus der Kreisstadt kam, die übrigens Mitte der Neunziger zur Kleinstadt degradiert wurde, der war auch mit langen Haaren an einem Abend okay, und man mischte lieber eine andere Nazi-Gang auf, weil die vom Dorf nebenan war und ,,sich hier breit gemacht hatte".

In den neunziger Jahren habe ich diese Zusammenhänge nur vage begriffen. Vieles habe ich erst bei Gesprächen für diesen Text erfahren. Ich kannte keinen der wichtigen Nazis, ich kam vom Dorf, ich war weit entfernt vom Zentrum der Macht. Ich konnte nicht zwischen denen unterscheiden, gegen die ich mich vielleicht hätte wehren können, ohne dass gleich fünf Mann auf die Suche gingen, und denen, die Lebensgefahr bedeuteten.

Mir passierten einfach Dinge.

Ich sitze im Bus, drei Glatzen steigen ein, ohne zu bezahlen. Sie laufen nach hinten durch, ich tue so, als würde ich lesen. Sie laufen an mir vorbei, plötzlich ist es nass in meinem Gesicht. Einer hat mir ins Gesicht gespuckt. Bevor ich das kapiere, drückt mir der kleinste der Typen seinen Daumen in die linke Wange und reibt kräftig, bis mir die Zähne wehtun. ,,Du musst dich doch saubermachen", sagt er mit hoher Stimme. ,,Muss Mutti dir erst bis in den Bus nachlaufen, hm?" Wahrscheinlich sehe ich aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht eines Autos, die drei bepissen sich fast vor Lachen. Die Hand des Kleinen riecht nach altem Tabak.

Als ich die drei Kilometer von der Schule mal nach Hause laufe, hält ein Auto mit quietschenden Reifen neben mir. Ich renne sofort los, rein ins Feld. Hinter mir höre ich es lachen. Ich laufe über zartes Frühlingsgrün, schwere Brocken Matsch kleben an meinen Schuhen und fallen wieder ab. Sie fahren auf der Straße nebenher, rauchen und schauen mir zu. Ein Kilometer vor dem Dorf geben sie Gas und verschwinden.

Der Junge, der in der DDR auf die ,,Scheißrussen" geschimpft hat, erklärt mir die Bordbewaffnung seiner Karre. Er zeigt mir seinen Baseballschläger und wo er die Schreckschusspistole unter dem Beifahrersitz versteckt hat. ,,Ich fahr nicht mehr unbewaffnet raus", sagt er, ,,ich bin doch nicht blöd."

Wie durch die Milchglasscheibe eines Bahnhofsklos sehe ich die Zeit von 1991 bis 1998. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern. Es geht nicht nur mir so. ,,Manchmal habe ich mich gefragt, ob ich mir die ganzen Neunziger nur eingebildet habe", sagt Manja Präkels, als wir uns darüber unterhalten. Sie sagt: ,,Selbst Freunde, die dabei waren, konnten oder wollten sich nicht mehr erinnern."

Als Kind war ich noch klein und dick, aber in der Pubertät schieße ich in die Höhe. Genetisch bin ich Nazi, fast 1,90 Meter groß, blond, graublaue Augen. Ich trainiere mit Hanteln. Aber mir fehlt das Schläger-Gen, die Lust am Blut der anderen, ich sehe den Hunger in den Augen der Clan-Söhne und ihrer Handlanger und ich weiß, ich bin Beute. Also versuche ich zu verschwinden, ich trage grau, ich bin ein Mäuschen. Gott, wenn ich doch nur kleiner wäre.

Hatte ich nicht erst gestern noch alles über Ernst Thälmann und seine Genossen gelesen? Wie sie gestorben waren im Kampf gegen den Faschismus? Ich will nicht sterben, ich will nur in Ruhe gelassen werden. Ich schäme mich. Wir schämen uns alle. ,,Die neunziger Jahre sind in Ostdeutschland ein großes Tabu", sagt Manja Präkels. ,,Diese Zeit ist mit großer Scham behaftet." Jeder hat seinen eigenen Grund dafür. Der eine wird gefeuert und findet nie wieder Arbeit, der nächste steht hinter der Gardine und freut sich heimlich, weil das Asylbewerberheim brennt und ich, ich bin eben ein Feigling.

Es wäre durchaus anders gegangen. Es gab die aufrechten Antifaschisten, die Punks, ich wusste von ihnen, ich sah sie allerdings nie auf der Straße. Frauen, die mit mir zur Schule gingen und mit denen ich für diesen Text gesprochen habe, sagten mir, sie hätten keine Angst gehabt. Eine erzählte mir, die Glatzen aus ihrem Dorf hätten meist versucht, sie zu beeindrucken. Sie sagt auch, sie wüsste nicht, ob die schlimmsten Schläger wirklich Nazis waren. Es war und ist nicht ganz einfach, die Trennlinie zwischen denen zu ziehen, die schlagen wollten und sich dafür eine Rechtfertigung in ,,Mein Kampf" suchten und denen, die schlugen, weil sie es politisch geboten fanden. Gewalt war normal und in dieser Normalität schwammen die Nazis wie Fische im Meer.

Meinen Eltern erzählte ich nichts. Das wäre petzen. Die Jungs haben die Dinge früher unter sich ausgemacht und das sollen sie jetzt auch. Außerdem war mir ja nichts passiert. Kein Zahn ausgeschlagen, alle Augen noch drin, tot war ich auch nicht. Andere haben ihren Vätern und Müttern etwas erzählt, Manja Präkels schreibt darüber in ihrem Buch und sie schreibt auch, was viele Eltern geantwortet haben: Provozier doch nicht!

Die Erwachsenen konnten sich nicht vorstellen, dass die lieben kleinen Ricardos, Michaels und Kais von früher zu Kampfmaschinen mutiert sein sollten. Ich hätte es ihnen auch nicht erklären können. Also beschworen sie eine Parallelwelt herauf. Es gibt kein Problem mit Rechtsextremismus, sagten die Bürgermeister, wenn wieder mal einer verpocht wurde oder starb. Ich fragte mich, wer verrückt ist, die oder ich?

,,Über die Eltern brach die Katastrophe herein, die mussten überleben", sagt Manja Präkels dazu, ,,und dabei gingen ihnen die Kinder oft verloren." Und wenn ständig nur geleugnet werde, wenn sich gegenseitig permanent bestätigt werde, es sei normal, wenn bei den Spielen der A-Jugend das Horst-Wessel-Lied gesungen werde, dann entstehe eine neue Normalität.

Und heute? Ein sächsischer Ministerpräsident, der erst einmal betonen möchte, in Chemnitz sei alles nicht so schlimm gewesen. Ein Verfassungsschutzchef, der in der Bild sagt, ein Video von einem Angriff sei veröffentlicht worden, um von einem Mord abzulenken. Welche Realität ist die richtige? Die meisten Menschen glauben einem Ministerpräsidenten mehr als einem Mann, der nicht weiß ist und erzählt, wie er verfolgt wurde.

Ab der siebten Klasse, im Herbst 1991, gehe ich aufs Gymnasium. Meine Freunde vom Dorf treffe ich nur noch selten, ich war jetzt etwas Besseres, zumindest sehen sie das so oder ich denke, dass sie es denken. Ich ziehe mich zurück. Ich habe früher schon gern gelesen, jetzt lese ich eben noch mehr. Kurz vor der Wende sind wir in einen anderen Block gezogen, ich habe ein eigenes Zimmer und muss nicht mehr mit meinem Vater und meiner Mutter in einem Bett schlafen. Das macht es einfacher, mich zu verstecken. Als ich sechzehn Jahre alt bin, kaufen meine Eltern einen Computer und ich spiele Eishockeymanager. Diese Welten sind vom Draußen unberührt und kontrollierbar. Ab und an gehe ich raus, tauche auf wie ein U-Boot nach langer Fahrt. Die Nachrichten von der Oberfläche sind über Jahre die gleichen: Entweder es gibt Stress oder einer erzählt, wie es Stress gab.

,,Der hat seine Freundin gezwungen, als Nutte zu arbeiten und die dann mit dem Kabel erwürgt."

,,Neulich haben sie den einen an der Havel fast kaltgemacht."

,,Die sind mit der Axt in den Jugendklub rein. Die hinter der Tür hat es gleich erwischt. Die Bullen waren wieder bloß zu zweit da."

Freunde habe ich wenige. Ich bin ein Trottel vom Dorf. Meine Mutter hat mir zwar nach langer Bettelei eine Levis gekauft, aber an meinem dicken Hintern sieht die Jeans so aus, als versuchte jemand, meinen Arsch zu zwei dünnen Würsten zu kneten. Tragen muss ich sie trotzdem, die Hose war teuer. Im Schulbus lachen sie über mich. Ich bin oft alleine, also ein Ziel und deshalb gehe ich noch weniger raus.

Nach drei Jahren am Gymnasium finde ich andere Freunde.

Dabei sind: Ein kleiner Dünner, der oft lächelt und der mich mit dem Auto nach Hause fährt, wenn es spät wird. Er sagt: Schon mein Vater war ein Rechter. Dafür hatte er Ärger mit den Scheißkommunisten.

Ein anderer aus der Clique schaut oft finster, aber kitzelt einen ab, wenn es in der Schule scheiße gelaufen ist. Er findet die NPD gut und hat Kontakte zu einem Fascho-Clan in einem größeren Dorf in der Nähe.

Außerdem: Der Sohn eines Polizisten, der immer laut ist, immer Faxen macht, großzügig mit allen teilt und der Kanaken scheiße findet.

Dann einer, der immer ganz ruhig ist, obwohl ihm seine Mutter Stress macht, er dürfe nicht absacken, nicht versagen, nicht untergehen in dieser neuen Welt. Er hört zu Hause CDs von Bands wie Zyklon B und Zillertaler Türkenjäger. Auf der Heckscheibe seines Autos prangt in Fraktur der Schriftzug ,,Euthanasie". Die Band heißt eigentlich ,,Oithanasie", aber er findet es damals ein lustiges Wortspiel, den Namen so zu schreiben.

Wir durchstreifen das Land im Konvoi. Zum nächsten McDonald's an der Autobahn, an die Ostsee, nach Tschechien, nach Dänemark. Je mehr wir sind, desto mehr weitet sich unsere Landkarte.

Zwei Autos sind gut, vier Autos sind besser. Im Schwarm schrecken wir andere ab. Ich entdecke, wie geil es sein kann, jemandem Schiss zu machen statt selbst der Schisser zu sein. Ich pinkle einem Wessi auf die Motorhaube.

,,Rechts" und ,,links", das ist eine Sache der Klamotten, der Frisur und der ,,inneren Einstellung", wie wir das damals nennen. Die Mode der harten Nazis verbreitet sich in Molekülen auch an den Gymnasien, die grünen Bomberjacken mit dem orangefarbenen Innenfutter tragen viele. Ich habe lange Haare, ich habe ,,nichts gegen Ausländer", ich finde es scheiße, sie zu jagen und zu verprügeln. Das sage ich manchmal auch und dann streiten wir uns. Ich muss vor Nazis wegrennen. Also bin ich links.

In der Nahrungskette der Jungsgruppen stehen wir nicht weit oben. Wenn die Tighten aus der Muckibude anrücken, die tätowierten Riesenbrocken mit Kampfsport oder Knast im Lebenslauf und keiner der anderen hat irgendeine Beziehung zu jemandem, der jemanden kennt, dann machen wir uns klein oder lösen uns in Luft auf.

Stress gibt es immer noch, natürlich. Wir wollen zum Herrentag, wie das bei uns konsequent heißt, raus an einen See fahren. Zwei möchten da unbedingt mit dem Fahrrad hin. Scheißidee, sagen wir anderen, da kommt ihr alleine niemals an. Sie ziehen es durch. Wir sammeln sie später blutend von der Landstraße und lachen sie aus.

Der Soundtrack dieser Zeit kam von den Böhsen Onkelz. Ich hasste diese Band, bei ihren weinerlichen Liedern für gefallene Jungs dachte ich an die saufenden Männer in den Garagen. Ein Lied der Onkelz ist allerdings bis heute in meinem Kopf: ,,Wir waren mehr als Freunde/Wir war'n wie Brüder/Viele Jahre sangen wir/Die gleichen Lieder." Es heißt ,,Nur die Besten sterben jung" und ich mochte es, vielleicht, weil ich die blöden Jungpioniere vermisste, die Zeit, als wir lieber Papier und Flaschen gesammelt haben, als uns gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen und weil ich dachte: Ja, sterben kannst du ja wirklich.

Sicher bin ich noch immer nicht. Eines Abends fahre ich zufälligerweise nicht zu dem Parkplatz am Netto-Markt, wo wir uns immer treffen. Es sind nur wenige da und sie sind leichte Beute für eine größere Gruppe Schläger, die aus einem Nachbarort anrückt. Einen erwischt es besonders schlimm. Er fährt noch mit dem Moped nach Hause, bekommt dann aber seinen Kopf nicht mehr aus dem Helm, Tritte und Schläge haben ihn zu sehr anschwellen lassen. Er landet auf der Intensivstation.

Manche Erinnerungen reißt man sich ein wie Splitter und sie schmerzen noch Jahre danach. Der türkische Freund, den ich erfunden habe, ist so ein Splitter. Wir sind nach Ungarn gefahren, das letzte Mal zusammen. Wir liegen am Balaton, spielen Fußball. Wir reißen die Türen unserer Klos auf und fotografieren uns gegenseitig beim Kacken, wir rasieren einander die Brusthaare. Und dann, wir sitzen in einem Café, ich lese Zeitung, vielleicht habe ich da etwas über einen Überfall gelesen, ich weiß es nicht mehr. Ein Freund sagt irgendetwas über ,,blöde Kanaken" und dass sie es verdient hätten und ich bin sofort auf hundertachtzig. Ich schreie, ich hätte einen türkischen Freund und der läge in Berlin im Krankenhaus, ,,wegen Leuten wie dir". Es ist ein kurzer Moment, wenige Sekunden nur und sofort fühle ich mich mies.

Weil ich gelogen habe, ich habe keine türkischen Freunde und auch keine mit türkischen Namen, woher auch? Es gab an unserer Schule den Sohn eines Ingenieurs aus Angola oder Mosambik, der war nicht weiß. Selbst die Dönerfrauen, die ich kannte, waren in der Kreisstadt oder in einem der Dörfer geboren. Ich schäme mich auch, weil ich weiß: Es gibt Menschen, die sind wirklich verbrannt oder wurden zu Tode getreten. Und ich erfinde einen. Gleichzeitig habe ich Angst, dass jetzt unsere Freundschaft vorbei ist.

Das gehört auch zur Wahrheit jener Jahre, viele kannten die Rechten, die Rechtsradikalen, die Neonazis nicht nur von Weitem. Wir waren mit ihnen befreundet, wir mochten manche von ihnen, wir profitierten von ihrem Schutz. Im Buch von Manja Präkels hat der Obernazi der Protagonistin vielleicht das Leben gerettet. ,,Dass die Nazis oft unsere früheren Freunde aus der Schule waren, unsere Brüder, unsere Cousinen, das machte die Auseinandersetzung damals so schwierig", sagt Manja Präkels. ,,Und das macht sie auch heute schwierig."

Sie sagt auch, sie habe damals manchmal das Gefühl gehabt, jemand halte eine schützende Hand über sie. ,,Vielleicht aus der Zärtlichkeit der kindlichen Erinnerungen aneinander. Aber derlei Zärtlichkeit gibt es für Fremde, für Menschen anderer Hautfarbe nicht."

Heute haben dieses Dilemma nicht mehr nur Ostdeutsche, die AfD ist auch im Westen erfolgreich. Wenn man sich mit seinem Bruder oder einem Freund streiten muss, dann lässt sich der Nazi nicht mehr nach Sachsen auslagern, dann ist man mitten in einer deutschen Identitätskrise. Präkels sagt, das sei doch die große Frage: ,,Sitzen wir lieber mit einem uns vertrauten Rechtsextremen am Tisch und tun so, als wäre alles normal oder stellen wir ihn und damit auch uns selbst infrage, indem wir uns für die einsetzen, die für uns Fremde sind?"

,,Hm, scheiße, ist der schwer verletzt?", sagt der Freund. Ich murmle irgendwas von nicht ganz so schlimm, ich lüge weiter, wer damit einmal angefangen hat, kann nicht einfach aufhören. ,,Tut mir leid, habe ich nicht so gemeint", sagt er.

Für meinen Zivildienst gehe ich nach Berlin. Ab 1999 studiere ich in Leipzig. Ich habe Glück und treffe gute Leute aus dem Westen und dem Osten. Wenn ich mich in den richtigen Bezirken aufhalte, treffe ich keine Männer mit Glatzen. Nur ab und an höre ich Echos aus der Vergangenheit. Anfang der Nullerjahre findet ein Freund ein Loch in der Heckscheibe seines Autos, das Kind der Familie über ihm hat eine Vase aus dem Fenster geworfen. Der Vater des Kindes, eine Glatze mit Glatzenkumpels, hat keinen Bock, für den Schaden aufzukommen und das macht er meinem Freund klar. Ich überlege, ob ich meine Leute in Brandenburg anrufen soll, aber der Nazi ist aus Leipzig und muss nicht 200 Kilometer weit fahren, um mit mehr Leuten zurückzuschlagen.

In der Kleinstadt, in der ich zur Schule ging, leben heute auch Frauen mit Kopftüchern, die ihren Söhnen auf Russisch hinterherbrüllen, sie sollen gefälligst auf sie warten. In den Kneipen und Cafés bedienen Menschen, deren Eltern aus Vietnam und der Türkei kamen. Der Freund, der damals ,,Euthanasie" auf seiner Heckscheibe stehen hatte, und den ich für diesem Text wiedergetroffen habe, sagt, er sei mit ,,Kurden, Türken, Russen, Vietnamesen" befreundet. Er findet aber, man solle doch die Leute verstehen, die lieber nicht mit so vielen Ausländern zusammenleben wollen. Als ich ihn frage, ob er auch so leben will, sagt er: ,,Ach, ich weiß es doch auch nicht."

Ich habe nicht gekämpft und schon gar nicht gewonnen. Ich bin einfach gegangen.


Aus: "Jugendliche in Ostdeutschland: Wir waren wie Brüder" Daniel Schulz, Reportage und Recherche (01.10.2018)
Quelle: https://www.taz.de/!5536453/

QuotePrimitivismuskeule
Mittwoch, 09:03

Danke für diesen Text. Er erinnert mich stark an mein Heranwachsen in einem rechtslastigen Dorf in Westdeutschland - nur deutlich extremer.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Die Menschen in Ostdeutschland stehen der Demokratie deutlich skeptischer gegenüber als Westdeutsche. Dies geht aus einer repräsentativen Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hervor. Demnach gaben lediglich 42 Prozent der Befragten in Ostdeutschland an, dass die in Deutschland gelebte Demokratie die beste Staatsform sei. In Westdeutschland meinten dies 77 Prozent.

Auch das Vertrauen, dass der Staat seinen Aufgaben gerecht wird, ist in Ostdeutschland signifikant niedriger als in Westdeutschland. So vertrauen zwei Drittel der Westdeutschen, aber nur jeder zweite Ostdeutsche darauf, dass Grundrechte wie die Meinungsfreiheit wirksam geschützt sind. 56 Prozent der Westdeutschen, aber nur 39 Prozent der Ostdeutschen sind überzeugt, dass die Gerichte unabhängig urteilen.

Das Wirtschaftssystem wird in Ost und West ebenfalls sehr unterschiedlich beurteilt. In Westdeutschland meinten 48 Prozent der Befragten, es gebe kein besseres System als die Marktwirtschaft. In Ostdeutschland waren lediglich 30 Prozent dieser Auffassung.

In anderen Punkten hingegen gibt es laut der Umfrage, für die zwischen Anfang und Mitte Januar 1.249 Menschen befragt wurden, größere Übereinstimmungen. So war für die Mehrheit der Westdeutschen wie der Ostdeutschen das vergangene Jahr ein gutes Jahr. Nur jeder Fünfte zieht für 2018 eine negative Bilanz. In das neue Jahr sind Ost- und Westdeutsche demnach gleichermaßen optimistisch gestartet, lediglich 14 Prozent in Ost wie West mit Befürchtungen.

Auch mit ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage sind die Menschen sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland zufrieden: In beiden Landesteilen ziehen 53 Prozent von ihnen derzeit eine positive Bilanz. Als Wohlstandsverliererinnen sehen sich über die letzten Jahre hinweg 18 Prozent der West- wie der Ostdeutschen. 34 Prozent der Westdeutschen und 36 Prozent der Ostdeutschen bilanzieren hingegen eine Verbesserung ihrer ökonomischen Lage in diesem Zeitraum. Auch die Zufriedenheit der Rentner unterscheidet sich kaum: Im Westen sind 56 Prozent der Rentner mit der Höhe ihrer Rente zufrieden, im Osten 50 Prozent.

Knapp 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist indes die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung davon überzeugt, dass zwischen Ost und West eine Trennlinie verläuft. Der Herkunft wird dabei in Ostdeutschland eine ungleich größere Bedeutung zugeschrieben als im Westen: Laut der Umfrage ist dies nur für 26 Prozent der Westdeutschen, aber für 52 Prozent der Ostdeutschen eine der wichtigsten Trennlinien. Auch die politischen Einstellungen gelten demnach in Ostdeutschland weitaus mehr als Spaltungsthema als in Westdeutschland: 46 Prozent der Westdeutschen, aber 63 Prozent der Ostdeutschen sind überzeugt, dass hier besonders gravierende Trennlinien verlaufen.

Die Unterschiede machen viele Beobachter vor allem anhand des Wählerverhaltens und der Einstellung zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung fest. Die Allensbach-Umfrage zeigt dazu erstmals konkrete Zahlen. Demnach halten es 74 Prozent der Westdeutschen und 66 Prozent der Ostdeutschen für vordringlich, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Migranten zu bekämpfen. In der Frage, inwieweit man die Zuwanderung nach Deutschland begrenzen sollte, dreht sich dieses Verhältnis um: 65 Prozent der Westdeutschen halten dies für dringlich, in Ostdeutschland sind es 75 Prozent der Befragten.


Aus: "Allensbach-Umfrage: Ostdeutsche vertrauen der Demokratie weniger als Westdeutsche" (23. Januar 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-01/allensbach-umfrage-ostdeutsche-vertrauen-demokratie-marktwirtschaft

Quote21prozent #1.35

Aus dem Artikel: Demnach gaben lediglich 42 Prozent der Befragten in Ostdeutschland an, dass die in Deutschland gelebte Demokratie die beste Staatsform sei.

Ihr Zitat: [...]Nur was wollen denn die Demokratieverächter und EU-Feinde? Honeckers Paradies 2.0, das 4.Reich? Kann da mal jemand helfen?


Interessant! Genau diese Frage habe ich mir beim Lesen auch gestellt. Schön wäre es, wenn Allensbach auch die Frage zur Alternative zur Demokratie gestellt hätte. Das würde uns sicherlich weiterbringen, denn dann hätten wir zumindest eine Idee davon, wo denn die Reise hin gehen soll.


QuoteKatrins Septembermärchen #1.66

"Da frage ich mich, wofür die Ostdeutschen 1989 auf die Straße gegangen sind."

Jedenfalls nicht dafür, dass jetzt schon wieder alles vollkommen anders wird. Eine große Bruchstelle pro Biographie reicht eigentlich. Westdeutsche können da nur bedingt mitreden.


QuoteDer Traum ist aus #1.61

Ich will gar nicht in Abrede stellen, dass viele Menschen in Ostdeutschland ein besonderes Gespür für soziale Schieflagen oder gar Demokratiedefizite haben. Was ich jedoch nicht verstehe, warum entscheidet sich ca. jede/r 4. WählerInnen für eine Partei, die die Werte der Demokratie radikal zerstören und unsere (reformbedürftige) Demokratie durch eine autoritäre Staatsform ersetzen will? Wenn man seinen Demokratiehunger stillen will, wäre es sinnvoll, für mehr BürgerInnenrechte einzutreten, statt für ,,Grenzen dicht", ,,Ausländer raus", ,,Lügenpresse", ,,Gesinnungsjustiz", Geschichtsrevisionismus usw. Denn seien wir ehrlich, die AfD bietet für diese Themen keine sinnvollen Lösungen an, weil sie außerhalb unserer demokratischen (!) Rechtsordnung liegen würden, die in reale Politik gegossen nur sein können: Nationale Alleingänge, Beschneidung der Bürgerrechte hier lebender Menschen mit Migrationshintergrund, Einschränkung der Pressefreiheit und Beschneidung der Unabhängigkeit der Justiz. Die Liste der Gängelung vieler hier lebender Menschen ist damit noch lange nicht vollständig. Ich sage nur Lehrerpranger, ,,dann wird aufgeräumt" usw.
Halten Sie diesen Weg für geeignet, (subjektiv empfundene) Demokratiedefizite auszugleichen? Ich nicht.


QuoteBuonista verde #38

Die Ostdeutschen welche die DDR bewusst erlebt haben, sind eben sensibler für korrupte, verlogene Eliten, tendenziöse Medien, Systemkunst und Kultur, Verbrämung etc. ... und sie sahen zurecht die NSA-Überwachung kritischer als viele Westdeutsche. Was ereifern wir uns über die Stasi-Vergangenheit, wenn NSA und Konsortien da viel weiter sind.

Und wenn ich heute im Cicero vom korrupten Elmar Brok lese, weiß man: System-Skepsis ist liberal, ist demokratisch, ist Bürgerpflicht!


Quoteterra nullius #1.44


"DAS SYSTEM" - das ist seit den 20er jahren die Bezeichnung der Rechtsradikalen für eine demokratische Verfassung.


QuoteBratan187 #3

"Demnach gaben lediglich 42 Prozent der Befragten in Ostdeutschland an, dass die in Deutschland gelebte Demokratie die beste Staatsform sei."

Äußerst besorgniserregend.


Quotepeter_79 #1.71


"Die Wahrheit ist oft schmerzlich."

Das ist richtig, Sie sind aber nicht in der Lage, zu erkennen: Ihr Wessis habt erstmal nichts gepumpt. Sondern erstmal einen riesigen Markt und ausgebildete, willige, für weniger Geld als ihr arbeitende "Verbraucher" geschenkt bekommen. Und wie es im Kapitalismus so üblich ist, erstmal Konkurenz ausgeschaltet und die "neue Kolonie" mit euren Waren zugeschüttet und damit eure Wirtschaft ordentlich angekurbelt und die Gewinne eurer Konzerne ordentlich in die Höhe getrieben.
Die paar Milliarden für die Rentner und Straßen im Osten sind dagegen Peanuts. Und habt immer noch das Kolonialmacht-Gehabe, daher werden Sie im Osten so geschätzt.


QuoteFKOF #4.27

,,Wenn man noch 40 Jahre nach dem Krieg in einem Staat verbringen musste, der seine Bürger hinter Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl gehalten hat, ist ein feineres Gespür nicht verwunderlich."

Das feine Gespür, die AfD zu wählen, die den Schießbefehl wieder einübten will? Es scheint eher, man habe aus der Vergangenheit nichts gelernt und wählt nun wieder eine radikale Partei, die die Freiheit der Menschen einschränken will.


Quote
Ura5 #4.42

"Meine Verbesserungsvorschlag? Rollback."

Wie weit?

In die 50er als Frauen nur mit Erlaubnis des Ehemanns arbeiten durften?
In die 40er als der deutsche Mann heldenhaft im östlichen Lebensraum und die Juden im Gas standen?
In die 10er als der deutsche Mann heldenhaft für den Kaiser verblutete oder im Berliner Hinterhof Kohlestaub einatmete?

Aber klar, früher war alles besser. Es gab in dort auch nie Nudging, Indoktrination oder Fake News in der Presse. Die Zukunft liegt in der Vergangenheit!

/Ironie off


Quotejajaimmerdasgleichemiteuch #4.55

Die Meinungsfreiheit IST gefährdet. Stellen Sie sich doch nicht absichtlich dumm. Das sind sind Sie doch offensichtlich nicht.

Der Korridor das Sagbaren wird von der Regierung unter Zuarbeit der Grünen/Linken und der Medien Stück für Stück eingeengt. Auch Gewerkschaften sorgen dafür, dass man nicht mehr offen reden kann, ohne persönliche, weitgreifende Konsequenzen zu fürchten.

Unter diesen Umständen von Meinungsfreiheit zu sprechen, ist einfach dreist.


Quoteichgebsauf #4.61

Pegida?


Quote
JeanLuc7 #4.64

"Der Korridor das Sagbaren wird von der Regierung unter Zuarbeit der Grünen/Linken und der Medien Stück für Stück eingeengt"

Unsinn. Dieser "Korridor" wird hingegen von AfD, Pegida und Konsorten imemr wieter nach rechts geöffnet. In der BRD hätte man sich 1989 nicht getraut, von einem "Vogelschiss" zu reden.

Und falls Sie mit "einengen" eine weniger männerbezogene Sprache meinen - nun ja, Herrenwitze waren auch früher schon ein Privileg der Stammtische. Dass man heute Frauen nicht mehr ungestraft sexuell belästigen kann, ist ein Fortschritt, kein Einengen.


QuoteGOE101 #4.65 Antwort auf #4.60 von jajaimmerdasgleichemiteuch


"Sind Sie nicht fähig, größer zu denken? Muss ich erst Beispiele nennen, wie Amadeu Antonio-Stiftung oder IG Metall?"

Lassen Sie uns doch bitte an der Größe Ihres Denkens teilhaben und bringen Sie ein paar konkrete Beispiele. Ansonsten könnte der Eindruck entstehen Dresden sei immer noch das Tal der Ahnungslosen......


Quotebtc76 #4.67


"Der Korridor das Sagbaren wird von der Regierung unter Zuarbeit der Grünen/Linken und der Medien Stück für Stück eingeengt. "

Mmh seltsam, was kann man denn in Dresden nicht offen sagen ? Ich kenne Dresdner Polizisten welche offen darüber sprechen die AfD zu wählen. Offen über Ihre Wahrnehmung bezüglich der Kriminalitätsentwicklung in der Stadt parlieren und keinerlei Konsequenzen befürchten. Also werden Sie doch einmal konkret. Dann können wir reden und dann schauen wir uns einmal den "Rechten" Gesinnungskorridor an. Oder am Besten wir treffen uns Samstag Abend am Postplatz oder gehen am Montag zu Lutz und tragen Reefugies Welcome TShirts,.


Quotejajaimmerdasgleichemiteuch #4.68

Ja, die Frauen müssen heute keine Brüderle-Sprüche mehr über sich ergehen lassen, werden dafür aber eben vermehrt umgebracht.
Als Mann überlasse ich die Bewertung dieser Änderung natürlich großzügig den Frauen.

Antwort auf #4.64 von JeanLuc7


Quotesonneundmond #4.69

"die Meinungsfreiheit IST gefahrdet" Natürlich kann man nicht alles sagen. Wenn sie Leute beleidigen, dann mussen sie mit den Konsequenzen rechnen. Wenn sie jemanden verleumden auch. Das ist doch selbstverständlich. Wenn sie zu Gewalt aufrufen mossen sie auch mit Konsequenzen rechnen. Wir haben ein Grundgesetz an das mussen sich alle halten auch Sie. Wo ist das Problem? Allerdings möchte die AFD Lehrern ja auch gerne einen Maulkorb erteilen, wenn die etwas sagen, was DENEN nicht passt. Wie stehen sie dazu?

Antwort auf #4.55 von jajaimmerdasgleichemiteuch


Quotejajaimmerdasgleichemiteuch #4.71

https://www.cicero.de/innenpolitik/kita-broschuere-rechtspopulismus-amadeu-antonio-stiftung-franziska-giffey

http://www.metropolico.org/2017/03/24/ver-di-checkliste-zum-ausspionieren-und-denunzieren/

Pardon, es war nicht IG Metall, sondern ver.di.
Antwort auf #4.65 von GOE101

[Beim "Lehrerpranger" geht es um Verstöße gegen das Neutralitätsgebot. Da man vermutet, die Schulleitungen gehen nicht konsequent genug gegen Lehrer vor, die dieses verletzen, halte ich eine Initiative die auf Mitarbeit der Schüler setzt für nicht verkehrt.
"Maulkörbe erteilen" ist allein Ihre Interpretation und natürlich nicht die Intention der AfD.]


QuotePausD #4.74

Ohje, ohje. Wie wir in Bayern sagen:

Da sind Hopfen und Malz verloren.

Antwort auf #4.72 von jajaimmerdasgleichemiteuch


QuoteGeistschreiber #8


"aber nur 39 Prozent der Ostdeutschen sind überzeugt, dass die Gerichte unabhängig urteilen."

Auf welcher Basis entsteht so eine Überzeugung? Gefühlte Wahrheit?


QuoteCompatito #8.2


Wenn ich meine GEZ Gebühren nicht zahlen will, weil ich nicht einsehe, dass ein großer Teil der Einnahmen für überhöhte Pensionen der ehemaligen Mitarbeiter verwendet wird und der andere Teil für ein Programm, welches mich nicht anspricht, dann kann es mir mit großer Wahrscheinlichkeit passieren, dass ich dafür ins Gefängnis gehe! Wenn aber ein Intensivtäter mehr als hundert Straftaten verübt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dieser noch am selben Tag wieder freigelassen wird und wieder seiner "Arbeit" nachgehen kann.

Antwort auf #8 von Geistschreiber


QuoteGeistschreiber #8.7


"Wenn ich meine GEZ Gebühren nicht zahlen will, "

Und ich will nicht fürs Falschparken zahlen. Ich will im Laden nicht für Waren zahlen und sie einfach mitnehmen. Ich will auch keine Steuern zahlen...Sie verstehen?

Ihre Ausführungen haben 0 damit zu tun, ob die deutschen Gerichte unabhänig urteilen oder nicht. Wenn Sie nicht wissen, warum und unter welchen Voraussetzungen bestimmte Entscheidungen getroffen werden, machen Sie sich schlau oder seien Sie nicht so schnell mit Ihren Beurteilungen.

Krasse Einzelfälle gibt es immer, aber der Gesamtheit der deutschen Gerichtsbarkeit die unabhängige Urteilsfindung abzusprechen ist mMn bezeichnend für bestehende Unkenntnis der Materie.


Quote
Frank-Werner #8.10

Wenn ich meine GEZ Gebühren nicht zahlen will, (...)

Dann treten Sie in eine Partei ein und bringen Ihr Anliegen vor.
Wenn Sie es erreichen, für Ihr Vorhaben (Abschaffung des ÖR-Rundfunks) bei Wahlen eine entsprechende Mehrheit zu erreichen, so wird dies geschehen.
Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch bestehen die demokratisch legitimierten Gesetze / Regelungen zur Finanzierung des ÖR fort.

[Falls Sie auf schärfere Gerichtsurteile aus sein sollten: Gerichtsurteile werden auf der Grundlage von Gesetzen gefällt, welche wiederrum demokratisch legitimiert beschlossen werden. ...]


Quote
Bernardo Soares #9


Alles sehr subjektiver Blödsinn. Wenn man die Leute im Osten fragen würde, welches politische System sie denn für besser halten oder warum so viele glauben, dass die Gerichte nicht unabhängig urteilen, würde wahrscheinlich nur noch heiße Luft kommen. Als Ossi kann ich mal wieder nur sagen: die Leute projizieren ihre Probleme halt in irrationale Ansichten. Irgendwer muss eben Schuld an den Verhältnissen haben und da die Sozialisten nicht mehr an der Macht sind, muss wer anderes dafür herhalten. Dass wird auch in Zukunft so bleiben, weil die Bevölkerung im Osten weiter schrumpfen wird und die neuen Bundesländer weiterhin keine große Wirtschaftskraft anziehen werden.

Die Ansichten spiegeln sich dann natürlich auch mit der Ignoranz gegenüber fanatischen Rechten wie Kalbitz und Höcke, die als Spitzenkandidaten mit ihrer Partei jeweils stärkste Kraft werden könnten. Regieren werden sie natürlich nicht, aber es zeigt trotzdem, dass die Spaltung in Deutschland nicht nur in der Migrationsfrage besteht, sondern seit der Wiedervereinigung und bis heute sehr tiefe Gräben zwischen Ost und West bestehen.


QuoteSuper-Migrant #11

Ost- und Westdeutsche sind grundverschieden. Als nicht-weißer Migrant - also jemand der allein durch seine Optik auffällt - habe ich schon die ein oder andere "meinungsfreie" Äußerung mitbekommen. Ich wurde vor ein paar Jahren am Dresdner Hauptbahnhof wüst rassistisch beschimpft und als ich den Kerl zur Rede stellen wollte, hat mich ein Bundespolizist mit den Worten "Lass Stecken Freundchen" hinauskomplimentiert.

Es ist auch kein Wunder, dass viele Ostdeutsche ihre Umgebung satthaben und in den Westen gegangen sind. Gewisse weltoffene Gesinnungen sind dort leider nach wie vor nicht gewünscht. Das bestätigen mir Ostdeutsche und einige meiner Kumpels, die sich dorthin zum Studieren verirrt haben. Zwei (1x Türke, 1x Tunesier) werden eigentlich regelmäßig auf der Straße rassistisch beschimpft. Kein schöner Anblick, wenn die Mutter zu Besuch ist man beim Vorbeialaufen an einer fragwürdigen Gestalt mit Affengeräuschen begrüßt wird.

Die Brüder auf der anderen Seite wurden jahrelang vom Westen gepampert, Zeit das diese mal etwas zurückgeben!


QuoteNemo Nolan #13

Muss es eigentlich immer diese Ost/West-Einteilung sein? Vielleicht wären andere Unterscheidungsmerkmale (z. B. Mieter/Eigenheimbesitzer; selbständig/angestellt; Gewerkschaftsmitglied/Nichtmitglied etc.) ganz interessant.


QuoteWieselDiesel #22

... Die Ostdeutschen wollten Sozialismus und Westgeld. Das Westgeld haben sie bekommen und den Sozialismus für Banken gibt es ja auch schon.


QuoteDr.Gott #25

Statt Ossi-Bashing sollte man eventuell erst mal den Sinnzusammenhang betrachten. Die ostdeutschen Bundesländer sind niemals wirklich integriert und auf den Standard westdeutscher Länder angeglichen worden. Viele verloren nach der Wende den Arbeitsplatz und die Karriere, nicht nur Arbeiter, sondern auch alles vom Bauern bis zum Akademiker. Stellen Sie sich vor, die BRD kollabiert morgen. Der Staat ist weg, die daram verbundenen Strukturen auch. Und niemand holt Sie ab. Das ist den meisten Ostdeutschen mittlerweile mehr als klar geworden, der Frust oder gar Hass gegen die BRD kommt nicht von ungefähr. Man hat viele Menschen einfach vergessen. Wenn ich das als Wessi sage, kommt von anderen Wessis immer sofort das Apologetentum und das "Jaja.." Wenn ich mir dabei vorstelle, ich wäre Teil des Schicksals vieler Ostdeutscher - mir würde die Hutschnur hochgehen.

Dazu kommt, dass Menschen ohne Demokratieverständnis dann über Nacht aus einem Einparteiensystem in eine Demokratie geworfen werden, an die nur Westdeutsche gewöhnt waren. Das ist gewissermaßen ein Kulturschock. Der zudem mit hohen Erwartungen gepaart kam. Und weil diese nicht erfüllt wurden, wählt man heute halt rechtsextreme Parteien. Weil die Identität litt, das Soziale und allem voran das Vertrauen. Und wir verallgemeinern nur allzu gerne, indem "die" Sachsen dann halt Nazis sind, oder "die" Chemnitzer allesamt Menschenjäger.

Von beiden Seiten muss Einsicht und Annäherung geschehen. Nicht nur von den Ossis.


Quoteprinzessin.leia #28


Kohl hat ihenen "blühende Landschaften" versprochen - erhalten haben sie eine Brache mit massenhafter Arbeitslosigkeit. Das soll sich jetzt im Bergbau wiederholen. Wie soll man da einen positiven Eindruck vom Wirtschaftssystem erhalten?

Und selbstverständlich ist "Herkunft" ein wichtiges Thema, nachdem man nach der Wende sich für seine Ossi-Herkunft und -Mentalität rechtfertigen mußte. #1 ist ein ganz typisches Beispiel dafür ("Da frage ich mich, wofür die Ostdeutschen 1989 auf die Straße gegangen sind. War es die Freiheit? Wenn ja. Für welche Art der Freiheit? Oder waren es doch eher materielle Dinge wie Bananen und Schokolade?") und zeigt, dass das Bashing bis heute andauert.


Quotecdurban #31

Es war 1990, da saß ich als irrelevanter Lokalreporter einem Vortrag von Frau Elisabeth Noelle-Neumann vor Burschenschaftern bei. Grauenhaft. Bereits damals hat Noelle-Neumann ausschließlich Wert darauf gelegt, in ihren Umfragen die eigenen Vorurteile gegen Ostdeutsche und -land zu belegen: Ossis sind demokratieunfähig, passiv, obrigkeitsgläubig, usw., das ganze Programm. Die Krönung bildete dann Neumanns Konklusion: Die Ossis müssen umerzogen werden. Kein Witz, leider. Als ob die DDR-Bürger nicht gerade eine Diltatur gestürzt hätten gerade auch um die elende Bevormundung zu beenden! Das Publikum aber fand's super - waren ja auch alles Wessis.

Es wird Zeit, die besondere Geschichte Ostdeutschlands als Ressource zu begreifen und nicht als Makel, der irgendwie überwunden werden muss. Fangen wir zum Beispiel bei der kritischen Distanz zu allen / allem an, was Macht im Lande hat. Ossis lassen sich nach wie vor viel weniger leicht von Politikergedöns einlullen, als Wessis. Das ist natürlich ein Problem für die "etablierten" Parteien, aber eben nur deshalb, weil sie glauben, dieses Problem könne durch eine Umerziehung der Ossis gelöst werden, und nicht etwa durch eine bessere Politik. Noelle-Neumann - Gott hab' sie seelig - lässt freundlich grüßen.


QuoteBCO #31.2

"Ossis lassen sich nach wie vor viel weniger leicht von Politikergedöns einlullen, als Wessis."

Kohl (im Grab) und die AfD-Spitze bekommen bei solch einer Aussage sicherlich einen heftigen Lachanfall.


QuoteTessa im Boot #32


2014 waren 82 % der Ostdeutschen für die Demokratie (West 90 %)
http://www.bpb.de/nachschlagen/datenreport-2018/politische-und-gesellschaftliche-partizipation/278503/akzeptanz-der-demokratie-als-staatsform


QuoteHugo Henner #36

Die Allensbach-Umfrage sollte nur um einen Punkt erweitert werden: das Verhalten von Deutschland gegenüber Russland.
Diesbezüglich liegen sicherlich Welten zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen mit entsprechenden Auswirkungen auf viele andere Problemzonen im Verhältnis von Bürger zu Staat.


Quote
vincentvision #52

Die Nachwehen der ostdeutschen Diktatur zeigen sich eben immer noch.

Es natürlich ist zu kurz gegriffen, die statistisch höhere Quote an Demokratie- UND Fremdenfeindlichkeit einfach nur "den Ostdeutschen" zuzuschieben - damit macht man denselben pauschalen Fehler wie die, die oft gegen ,,die Muslime" sind...

Aber es scheint tatsächlich so zu sein, dass die Auswirkungen des DDR-Systems immer noch einen zu langen Schatten werfen.

Denn üblicherweise werden Menschen in Diktaturen auf schnelle, autoritäre Lösungen konditioniert.

Eine Debattenkultur, die Vermittlung, dass demokratische Entscheidungen immer kompromissbehaftete, oft unbefriedigende Prozesse sind und eine Förderung der Vielfalt und des Individuums finden nicht statt.

Zudem entstand durch die deutsche Wende ein hohes Maß an gebrochenen Biografien und bis heute ein verunsichertes Misstrauen gegenüber politischen Prozessen und Institutionen und Aussagen.

Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass diese Einflüsse über mehrere Generationen weitergegeben werden können.

Zusammengenommen kann dies schon Auswirkungen haben, die die Reaktionen in manchen ostdeutschen Provinzen erklären helfen und dazu führen, dass dort alles Fremde, die Politik und die Medien mit dermaßen roher Dynamik abgelehnt werden.

Und dass demokratiefeindliche Parteien wie die AfD ein leichteres Spiel haben.


QuoteBuonista verde #52.1

Das lässt ja dann für die Integration von Millionen Migranten aus autoritären Staaten, Diktaturen oder fundamental-religiösen millieus Afrikas und Arabiens nichts Gutes erahnen in Zukunft.

Komisch dass sie die soziologischen Mechanismen anscheinend so gut kennen, sie die aber für diese Gruppen in ihren Open-Border Kommentaren geflissentlich auszublenden vermögen.


Quote
vincentvision #52.3

@ Buonista verde

,,Das lässt ja dann für die Integration von Millionen Migranten aus autoritären Staaten, Diktaturen oder fundamental-religiösen millieus Afrikas und Arabiens nichts Gutes erahnen in Zukunft."

Weil es eben keine ,,Millionen" waren und hoffentlich nicht sein werden.

Das will keiner. Aber dass ihr Rechten immer mit den üblichen Katastrophenszenarien, mit fremdenängstlichen Übertreibungen und Schüren von Ängsten vorm schwarzen Mann glaubt, punkten zu können, macht die Diskussion nicht leichter.

Und erschwert zudem pragmatische Lösungen.


QuoteBuonista verde #52.4


Jetzt leugnen sie schon die Zahlen, sehr schade.


Quotevincentvision #52.5

@ Wolkenschaf: ,,Was würde nach Ihrer Meinung passieren, kämen weitere Millionen Menschen aus Diktaturen nach Deutschland?"

Die Frage stellt sich nicht, weil sie rein hypothetischer Natur ist.
Tun Sie also bitte nicht so, als ob Deutschland morgen von Horden radikalisierter Antidemokraten überrannt würde.

Aber abgesehen davon sehe ich schon einen Unterschied darin, ob theoretisch junge, verzweifelte Menschen auf der Suche nach Lebensperspektiven immigrieren - oder ob man sich mit einem älteren, frustrierten und demokratieskeptischen Rest im Land herumstreiten muss.


Quote
Inoagent #57

Das Problem bei vielen meiner "Landsleute" ist, dass sie glauben, Demokratie würde bedeuten, dass eine Mehrheit des "Volkes" losgelöst von allen Beschränkungen ihren Willen durch eine übermächtige Regierung durchgesetzt bekommt. Darum finden viele Ostdeutsche auch das System Putins so attraktiv. Der einzelne muss sich gar nicht um Politik kümmern, weil eine rechtschaffene übergeordnete Macht sowieso bestimmt und tut, was für das "Volk" richtig ist. Rechte von Minderheiten oder Religionen sind eher nervig. So entsteht dann angesichts des Parteiengerangels im Bundestag bei vielen der Eindruck, es fehle ein souveräner Staatsmann, der mal auf den Tisch haut. Und da setzt die AfD an und verspricht eine nationalistische und klar an autochthon deutsche Bürger addressierte Politik, bei der das Kollektiv " Volk" über allem steht.


QuoteNeapolitanische Nächte #56

In Westdeutschland meinten 48 Prozent der Befragten, es gebe kein besseres System als die Marktwirtschaft.

Diese 48 % an Westdeutschen sind die demokratiefeindlichste Gruppe überhaupt. Denn sie gehen offenbar irrtümlicherweise davon aus, dass diese kapitalistische Gesellschaftordnung, in der wir leben, vernünftig und gerecht wäre, weshalb sie jeden Fortschrittsglauben aufgegeben und sich in jener wohligen Gewohnheit eingerichtet haben, auf denen verbrämte Pfarrerstöchter wie Merkel und May ihr Regime der Alternativlosigkeit aufbauen. Diese Leute, bei denen schon Nietzsches letzter Mensch über die Schulter gafft, während sie sich der Banalität des konsumgesellschaftlichen Alltags hingeben und nur noch gehorchen wollen, sollten mal genauer hinschauen auf diese schreckliche Harmonie zwischen Freiheit und Unterdrückung (Niedriglohnbereich, Hartz IV), Produktivität und Destruktivität (Klimawandel), Wachstum und Regression (rechte Bewegungen, Abschottung), die das von ihnen präferierte System kennzeichnet. Weil Vernunft ja auch dazu dient, Dinge infrage zu stellen und zu sagen: nein, das, was ist, kann nicht wahr sein.


QuoteBuonista verde #56.2

Klasse Kommentar, danke dafür! - Ja, in der Tat sind unter diesen 48% viele Antidemokraten zu verorten, die mangels Bildung oder Einsicht den Widerspruch zwischen dereguliertem Kapitalismus und Demokratie nicht erkennen. ...


Quoteraengtengteng #62

Mir kommen hierzu spontan zwei Gedanken/Thesen:
- Vielleicht ist die BRD schlichtweg nicht so erfolgreich Menschen fair und gut in das System zu integrieren. Zu sehr werden "andere/neue" benachteiligt. Dann sind auch Effekte wahrscheinlicher, die z.B. die "ursprüngliche Herkunft" als besonders wichtig empfunden wird.(Das lässt sich auch wissenschaftlich ganz gut zeigen) Das kennen wir ja auch bei klassischen Migraten (z.B. türkischstämmmigen).
- Zum Thema willkommenheißen der Neuen: Wie Seradar Somunco es so schön provokativ sagte: "Scheiß Ossis kommen nach Deutschland und nehmen uns Türken die Arbeitsplätze weg" (IRONIE UND STARIRE!!!) Immer wieder sind es Abgrenzungen und imaginierte (Eigen-und Fremdgruppen) die uns allen das Leben schwer machen. Ach wie schön wäre ein WIR statt wir gegen DIE.



...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] "Ich bin Jahrgang 1975, habe die DDR, die Wendezeit, zwei Systeme, zwei Schulsysteme, zwei Kulturen miterlebt. Unsere Generation hat so viel zu erzählen, und keiner fragt uns. Zumindest nicht im Westen, in dem ich seit 1992 lebe. Als die Mauer fiel, war ich in der achten Klasse. Alles brach zusammen, Chaos, alles war aufregend. Die Ernüchterung folgte aber schnell. Die Nachwendezeit war schwierig. Wir Jugendlichen fühlten uns komplett alleingelassen. Wir hatten irgendwie nur uns. Unsere Eltern waren mit sich beschäftigt (Wo finde ich Arbeit? Wie bekomme ich den Kühlschrank voll?). Unsere Lehrer waren in ihrer individuellen Vergangenheitsaufarbeitung gefangen. Toll. Da sitzt du als Jugendlicher in Westmecklenburg fest, wo nichts los ist. Hohe Arbeitslosigkeit, existenzielle finanzielle Probleme, Alkoholmissbrauch, Zukunftsangst. Das war für uns der mentale Super-GAU.

Juli 1992, letzter Schultag und mit wehenden Fahnen in den Westen. Ich habe dann den Osten verlassen. Von einem kleinen Dorf in die Metropole. Die totale Reizüberflutung, neues System, andere Kultur, anderes Leben. Dann Handelsschule, Berufsausbildung. Unsere Eltern haben das nie verkraftet. Sie hatten so viele Sorgen und Ängste in dieser Zeit. Und dann hauen auch noch die Kinder in Scharen ab. Da ging ein Riss durch viele Familien. Viel Neid und Hässlichkeiten. Auch darüber spricht bis heute niemand. Als ich dann 1995 meine Berufsausbildung angefangen habe, begriff ich sehr schnell: Oute dich nicht als Ossi! Einige unserer Vorgänger hatten wohl für einen gewissen Ruf gesorgt. Aber ich bin meinen Weg gegangen. Ich lebe heute immer noch im Westen. Meine Entscheidung war für mich richtig. Aber ich habe mich vom Osten entlebt. Und mir geht es gut dabei. Ich glaube, viele Biografien ähneln meiner. Die Neunziger waren die geilste Zeit meines Lebens. Ich möchte nichts missen, ich habe so viel gelernt. Ich würde alles wieder so machen."

Andreas Grunberg, 43, stammt aus Mecklenburg. Er lebt in Hamburg und arbeitet im Marketing

"Erwachsene Ostdeutsche ab 40 haben eine zweigeteilte Biografie. Das macht sie einzigartig. Beide meiner Elternteile sind Akademiker. Hätte es die Wende nicht gegeben, ich hätte schlechte Voraussetzungen gehabt, im Arbeiter-und-Bauern-Staat in den Genuss höchster Bildung zu kommen. Die identitätsstiftenden Assoziationen mit der eigenen ostdeutschen Vergangenheit gliedern sich bei mir in drei Hauptkategorien: Stolz, Dankbarkeit und Unverständnis. Stolz auf meine Herkunft: Halle-Neustadt. Stolz zu sein auf die eigene Herkunft, das liest man von anderen Autoren, die sich mit ihrer ostdeutschen Herkunft auseinandersetzen, erstaunlich selten. Ich habe meine ostdeutsche Herkunft nie verheimlicht, nie versteckt – im Gegenteil, ich gehe damit sehr offensiv um. Meine Heimat ist und bleibt Mitteldeutschland – auch wenn ich schon seit 13 Jahren in Frankfurt am Main wohne und davor eine Zeit lang in Wien studiert sowie in Singapur, München und Düsseldorf gelebt und gearbeitet habe.
Die ostdeutsche Herkunft zu erwähnen, das sorgte in einigen wenigen Situationen für Ablehnung. In den allermeisten Fällen, und interessanterweise im Ausland ausschließlich, entwickeln sich daraus aber sehr interessante Gespräche. Regelrechte Verbrüderungen erlebe ich regelmäßig, wenn ich in den Ländern des Ostblocks unterwegs bin. Die Geschichte und auch die Mentalität eines Polen, Slowaken oder Ungarn ist der eines Ostdeutschen eben doch sehr ähnlich. Wer die Menschen dieser Länder verstehen will, sollte mit dem Osten des eigenen Landes beginnen (oder umgekehrt). Neben dem Stolz auf meine ostdeutsche Herkunft empfinde ich Dankbarkeit – für die sich mir eröffnenden Möglichkeiten, die sich mit Sicherheit ohne eine politische Wende in der DDR nicht ergeben hätten. Und zwischen Stolz und Dankbarkeit mischt sich in meiner Gefühlswelt aber zunehmend auch Unverständnis über die Ignoranz, mit der einer 40-jährigen Geschichte eines Teils der Republik begegnet wird."

Tobias Volk lebt in Frankfurt/Main und arbeitet bei der Bundesbank. Er stammt aus Halle/Saale

Quote"Vor etwas mehr als 16 Jahren bin ich von Greifswald nach Berlin gezogen. Mein damals 42-jähriges Leben hatte ich in dieser Stadt verbracht. Und alles Mögliche aus beiden Systemen kennengelernt. Ich fahre ungerne 'nach Hause', nach Greifswald. Es ist mir eigentlich etwas unverständlich, aber ich habe eine regelrechte Aversion, in die alte Heimat zurückzukommen. Wenn mich jemand fragt, behaupte ich immer, die Stadt ist mir zu klein geworden. Aber ich habe auch das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Die Stadt ist sehr hübsch geworden, bunt, niedlich und grün. Aber ich gehöre dort nicht mehr hin."

Andrea Schulteisz, 60, lebt als Buchhalterin in Berlin

"Ja, der goldene Westen lockte schon. Aber nicht jeder konnte gehen. Als meine Vorgesetzte bei einer Besuchsreise gleich im Westen blieb, wurde ich Chefin einer kleinen Sparkassen-Geschäftsstelle. Da hatte ich voll zu tun. An Auswandern war nicht zu denken. Mein Haus, meine Eltern hätte ich nie verlassen. Also habe ich meinen Weg hier im Osten bestritten. Die Währungsumstellung war für uns in der Sparkasse die größte Herausforderung. 14 Stunden am Tag haben wir Frauen gearbeitet. Wir wollten schon Campingbetten aufstellen. Nach der Währungsumstellung ging es weiter: Weiterbildungen, Weiterbildungen, Weiterbildungen. Wichtig war es, die Kunden zu behalten. Auf einmal waren jetzt ja noch andere Banken da. So begann für mich ein Weg mit einem Studium nach dem anderen. Jetzt bin ich Sparkassenbetriebswirtin. Arbeite jedoch nicht mehr in meinem Beruf. Ja, wir Dagebliebenen mussten einen hohen Preis bezahlen. Die Wege der Ost-Frauen sind so unterschiedlich."

Sibylle Hörtz, 57, lebt als Autorin in Stralsund



Aus: "Wir da drüben" (2. Februar 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/2019/06/ost-west-wanderung-persoenliche-geschichten

QuoteUnterlinner #4

,,Und zwischen Stolz und Dankbarkeit mischt sich in meiner Gefühlswelt aber zunehmend auch Unverständnis über die Ignoranz, mit der einer 40-jährigen Geschichte eines Teils der Republik begegnet wird."

Geht mir genauso.

Wieviele der Ostdeutschen interessieren sich dafür, wie die BRD zu dem Staat wurde, der er 1990 war?

Spiegelaffäre, Fritz Bauer, 68'er, Wyhl [AKW-Widerstandes am Kaiserstuhl], heißer Herbst, NATO-Doppelbeschluß, Brockdorff usw.


Quoteunabhängiger beobachter #5

Der Westen lockte und lockt mit Jobs und besserer Bezahlung. 30% Unterschied nach nunmehr 30 Jahren 'Wiedervereinigung' ist immer noch schwer erträglich!


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Der Osten steckt schon längst im Wahlkampf. Auch wenn es nur drei Bundesländer sind, die in diesem Jahr neue Regierungen wählen. Und in allen dreien droht die AfD mit hohen Wahlergebnissen zu punkten. Logisch, dass der Wahlkampf auch die Bundesebene erreicht und dass die SPD nach Jahren der Stille wieder Vorschläge für die Niedriglöhner und Armutsrentner im Osten macht. Auf die ausgerechnet der Ostbeauftragte der Bundesregierung mit dem Vorwurf der Jammerei reagierte. Dafür bekam er jetzt einen Offenen Brief von Martin Dulig.

,,Die SPD hat den falschen Ansatz", erklärte der Christdemokrat und Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie Christian Hirte, der aus Thüringen stammt und deshalb auch die Funktion des Ostbeauftragten der Bundesregierung bekleidet, in der ,,Thüringer Allgemeinen". ,,Es hilft nicht, nur herumzujammern, dass die Ostdeutschen zu kurz gekommen sind und deshalb mehr Geld verteilt werden muss."

Und er legte noch einen drauf, der dann aber ganz schlecht ankam: ,,Die Larmoyanz, welche die SPD vor sich herträgt, bestätigt nur das falsche Image des Jammerossis und schadet uns als attraktiver Standort im Wettbewerb der Regionen."

Schon am 7. Februar hatte er im Interview mit der LVZ ganz ähnliche Töne von sich gegeben. Die hatte provozierend gefragt: ,,Ein letztes Feld des Unbehagens ist das mentale. Plötzlich stehen ,Besserwessis' und ,Jammerossis' wieder gegeneinander. Wie erklären Sie sich das?"

,,In der Tat, die Debatte war völlig weg, bis sie jetzt auf einmal wieder hochkam – besonders ausgelöst durch die AfD", meinte Hirte. ,,Dass dabei auch unser Koalitionspartner in den Jammer-Duktus einfällt, kann ich politisch nicht nachvollziehen. Wir haben mehr Anlass, mit Stolz auf das Erreichte und mit Optimismus in die Zukunft zu blicken, als auf die Dinge zu schauen, die eben nicht hervorragend funktioniert haben."

So habe es zwar ,,politische und wirtschaftliche Unfälle auf dem Weg nach 1990, gerade wenn man sich die Treuhand anschaut" gegeben, räumte Hirte ein. Gesamt habe man jedoch eine tolle Entwicklung gehabt und jeder ,,der rumjammert, der soll sich mal in Osteuropa umsehen". Um noch nachzuschieben, wie es denn gekommen wäre, wenn es keinen Mauerfall oder die Einheit gegeben hätte. Ein Totschlagargument, mit welchem nun seit Jahren jede differenzierte Diskussion über die ökonomische Sonderstellung in Ostdeutschland vor allem seitens der CDU abgebügelt wurde. Eines, welches zudem niemand anführt, wenn es um die Zeit eben nach 1990 geht.

Auf die Aussagen in der ,,Thüringer Allgemeinen" reagierte am Sonntag, 10. Februar, Martin Dulig, der sächsische SPD-Vorsitzende, schon mit einer geharnischten Kritik. ,,Die Aussagen von Christian Hirte offenbaren fehlendes Wissen und eine fehlende Haltung gegenüber den Lebensleistungen und die Lebenssituation der Menschen in Ostdeutschland. Dass Hirte das alte Klischee des ,Jammer-Ossis' bedient, ist seiner Funktion als Ostbeauftragter der Bundesregierung unwürdig. Er zielt auf die SPD, trifft aber die Würde aller Menschen, die hier leben. Das werde ich nicht zulassen", sagte Dulig, der seinerseits in der SPD der Sprecher für den Osten ist.

,,Herr Hirte nennt es ,herumjammern', wenn man eine Grundrente für jene fordert, die gerade im Osten ihr Leben lang gearbeitet haben und dennoch genauso in der Grundsicherung landen würden wie die, die nicht gearbeitet haben. Diese Einschätzung halte ich für falsch. Die Grundrente ist eine Anerkennung von Lebensleistung. Das hat etwas mit Respekt zu tun. Deshalb lehnen wir eine entwürdigende und bürokratische Bedürftigkeitsprüfung auch ab."

Da hat Dulig sichtlich mehr Kontakt zu den arbeitsamen Ostdeutschen, die gerade im Niedriglohnland Sachsen wissen, was am Ende übrig bleibt, wenn man jahrelang in prekären Jobs beschäftigt ist. Christian Hirtes Worte klingen nach all den Motivationskursen, die man auch im Osten seit 1991 erleben konnte.

Kurse, die ihren Teilnehmern auch ein Leben in Wohlstand verhießen – wenn sie sich nur eben anstrengen und ranklotzen. Aber genau zwischen diesen Verheißungen (die auch in der Eigenwerbung der Landesregierungen noch immer dominieren) und der finanziell sehr knappen Realität vieler Ostdeutscher klafft eine große Lücke.

,,Herr Hirte meint tatsächlich, es schade dem Standort Ostdeutschland, wenn man über Ungerechtigkeiten in der Nachwendezeit und ihre Folgen bis heute spricht. Ich kann verstehen, dass ein CDU-Politiker nicht gerne über die rücksichtslose Privatisierungspolitik der Treuhand und gebrochene Versprechen unter Helmut Kohl sprechen möchte. Aber ich glaube, wir müssen das tun, um die Herzen der Menschen für die Zukunft zu öffnen", sagte Dulig.

Mehr noch wahrscheinlich. Die Geschichte der Deindustrialisierung durch DDR- und Nachwendezeit ist maßgeblicher Bestandteil der neueren ostdeutschen Geschichte. Die Folgen bekam Hirte anlässlich seines Besuches bei der IHK Leipzig von IHK-Präsident Christian Kirpal am 20. Juni 2018 noch einmal deutlich vor Augen geführt. Nur 10 Prozent aller Leipziger Unternehmen beschäftigen mehr als 10 Leute, so Kirpal, den Sprung auf das wirkliche Mittelstandsparkett schaffe man nur mit Förderungen von 2 bis 10 Millionen Euro. Höchste Zeit also eigentlich für ein echtes Mittelstands-Förderprogramm, dessen Nutznießer ortsansässige Firmen sein müssten.

Da hilft auch Hirtes Blick nach Bayern nichts, die angebliche Begründung für den Reichtum des südlichen Bundeslandes geht zudem gründlich an den Fakten vorbei. Es läge am ,,souveränen Auftritt".

Was Dulig nun zur Replik nötigte: ,,Es ist außerdem bemerkenswert, wie wenig Ahnung Hirte von der Geschichte Bayerns hat: Bayerns wirtschaftlicher Aufstieg liegt nicht an einem ,souveränen Auftritt', sondern daran, dass Firmen wie Siemens, die Allianz oder Agfa ihren Sitz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Berlin nach München verlegten. Genau diese Firmenzentralen fehlen im Osten bis heute. Deswegen plädieren wir als Ost-SPD auch dafür, dass der Osten insgesamt eine größere Rolle spielt. Zu häufig herrscht in der Bundespolitik ein Westblick. Spezifische ostdeutsche Bedingungen und Bedürfnisse werden oft zu wenig mitgedacht."

Ganz zu schweigen von den vielen gut ausgebildeten Mitarbeitern, die auch bayrische Firmen nach 1990 aus dem Osten ernten konnten, mindestens 700.000 waren es beim großen Braindrain nach der Wende.

Dulig empfahl Christian Hirte zudem, die kürzlich veröffentlichten Papiere der Ost-SPD zu lesen: ,,Natürlich sind neben der sozialen Frage die Themen von Innovation-, Forschung und Infrastruktur für Ostdeutschland zentral. Deswegen wundere ich mich, dass Hirte seiner CDU-Kollegin Karliczek nicht lauter widersprochen hat, als diese behauptete, man brauche 5G ,nicht an jeder Milchkanne'. Ich denke, Christian Hirte ist sich hier eigentlich mit der Ost-SPD einig: Wir brauchen im Gegenteil eine Versorgung bis in die kleinen Dörfer – also auch an jeder Milchkanne."

Und dann hat er sich hingesetzt, und auch noch einen ganz persönlichen Brief an Christian Hirte geschrieben. Obs dabei hilft, dem ,,Ostbeauftragten" der CDU den Osten jenseits der Titulierung als ,,Standort" zu erklären?

Hier ist er: Offener Brief Martin Dulig an Ostbeauftragten Christian Hirte (Berlin/Dresden, 10.02.2019)
https://www.l-iz.de/wp-content/uploads/2019/02/190210-Offener-Brief-Martin-Dulig-an-Ostbeauftragten-Christian-Hirte.pdf


Aus: "Den Vorwurf Jammerossi will Martin Dulig dem Ostbeauftragten so nicht durchgehen lassen" Ralf Julke & Michael Freitag (11. Februar 2019)
Quelle: https://www.l-iz.de/politik/sachsen/2019/02/Den-Vorwurf-Jammerossi-will-Martin-Dulig-dem-Ostbeauftragten-so-nicht-durchgehen-lassen-258652


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Nicht alles war in der DDR so einfach, wie sich scheiden zu lassen. Eine durchschnittliche Trennung erfolgte in der sozialistischen Republik innerhalb eines Monats, unkompliziert und kostengünstig. Vom Ehekonflikt und von den emotionalen Belastungen abgesehen, blieb das für Ostfrauen wirtschaftlich folgenloser als für Westfrauen. Sie sollten dem sozialistischen Ideal nach emanzipiert und unabhängig sein. Im Verlauf der knapp 40 Jahre DDR-Geschichte wurden sie das auch, mal staatlich verordnet, mal aus eigenem Antrieb – mit oder ohne Gatten.

Im Zuge meiner Forschungen habe ich unter anderem Juristinnen und Juristen aus Ost und West interviewt. Sie erinnern sich an die Verblüffung vieler ehemaliger DDR-Bürger, dass sie trotz der Trennung füreinander sorgen und miteinander verbunden sein sollten. Hatten sie sich nicht scheiden lassen, um genau das zu beenden? DDR-Familienrichterinnen wie Evelyn Tretschow* waren irritiert, dass Dinge wie nachehelicher Unterhalt – für die Frau! – plötzlich eine Rolle spielten. ,,Es gab ja kaum Hausfrauen. Die Eigenverantwortung war jedem klar." Rückblickend sagt sie, sie habe ,,wenig Einfühlvermögen für viele Westfrauen" gehabt, ,,die hier rüberkamen" und ,,flotte Locke Unterhalt geltend gemacht haben". Für die Ostfrau sei klar gewesen, ,,die muss arbeiten gehen". Der Westfrau habe sie entgegnet: ,,Du kannst dich hier nicht ausruhen."

Das DDR-Scheidungsrecht folgte dem Emanzipationsgedanken im SED-Regime. Die Trennung beendete jegliche familienrechtliche Bindung, außer bezüglich der Kinder. Die geschiedenen Gatten sollten ihr Leben unabhängig voneinander führen und sich entsprechend eigenverantwortlich versorgen. Das klassische Versorgermodell – also die Regelungen des sogenannten Ehegattenunterhalts – gab es nicht. Dieses Konstrukt war Ostdeutschen fremd. Sozialistische Gerichte gewährten es nur in Ausnahmefällen.

Seit den 1970er Jahren erhielten vor allem Mütter mit Kleinkindern finanzielle Unterstützung vom Ex-Ehemann, wenn sie beispielsweise keinen Krippenplatz hatten und den Unterhalt nicht selbst bestreiten konnten. Insgesamt war Ehegattenunterhalt bis zum Ende der DDR zur Marginalie geworden und wurde nur noch in etwa drei Prozent der Scheidungsfälle zugesprochen.

Der Anwältin Marie Bergmann* und der Richterin Hanna Nordmann*, die beide in der Bonner Republik sozialisiert wurden, aber in beiden Teilen Deutschlands tätig waren, ist noch sehr präsent, wie selten ostdeutsche Frauen nach der Einheit nachehelichen Unterhalt beantragten. Sie seien erst gar nicht mit dieser Erwartung gekommen, während westdeutsche Mandantinnen massiv auf Alimente gedrängt hätten. Marie Bergmann sagt, der Versorgungsgedanke aus der Ehe heraus sei im Westen noch heute ausgeprägter als im Osten, wo ,,man für sich selber verantwortlich war". Die 2008 in Kraft getretene Unterhaltsrechtsreform habe jedoch dazu geführt, dass ,,die gesamtdeutsche Wirklichkeit den Westen eingeholt" habe.

Hanna Nordmann pflichtet ihr bei. Aus ihrer Sicht sei es für ostdeutsche Frauen normal, ,,immer ihr eigenes Geld" zu haben. Sie wollten mit der Scheidung nicht nur unter die emotionalen, sondern auch unter die wirtschaftlichen Beziehungen einen Schlussstrich ziehen. Für viele ostdeutsche Frauen war es trotz der neuen Bedingungen nach 1990 keine Option, ,,nur" Hausfrau zu sein, sich vom Ehemann versorgen zu lassen und nach der Scheidung finanziell an den Ex-Mann gebunden zu bleiben. Fast 30 Jahre nach der deutschen Einheit hat sich die Gesellschaft in Ost und West weiter verändert. Ein Blick in die Familiengerichts-Statistiken der Jahre 2012 und 2017 zeigt aber, dass die Frage des Ehegattenunterhalts im östlichen Bundesgebiet im Vergleich zum westlichen bis heute deutlich seltener, nämlich weiterhin nur halb so oft, relevant ist.

Die Gleichberechtigung war ein sozialistisches Ideal. Frauen sollten nicht nur Familienarbeit als Hausfrau und Mutter, sondern auch Erwerbsarbeit leisten – offiziell im Interesse ihrer Selbstverwirklichung. Jenseits dieser ideologischen Vorstellung veranlassten das SED-Regime auch praktische Nöte dazu, Frauen für die Arbeit zu gewinnen. Es versuchte die Vereinbarkeit von Familie und Beruf also auch aufgrund des Arbeitskräftemangels in der DDR zu fördern. Insbesondere seit den 1970er Jahren setzte die Parteiführung auf zusätzliche Vergünstigungen für Mütter wie geringere wöchentliche Arbeitszeiten, den monatlichen Haushaltstag, finanzielle Unterstützung während des Studiums oder der Ausbildung oder das sogenannte Babyjahr. Zudem wurde das Kinderbetreuungsnetz ausgebaut, sodass 90 Prozent der Kinder 1989 einen Kindergarten besuchten. Die Frauenerwerbsquote lag bei etwa 80 Prozent. Die Doppelverdiener-Ehe wurde zum dominierenden Modell.

Das Postulat der Gleichberechtigung galt auch für die Ehe. Schon das Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau von 1950 trat dem tradierten Geschlechterbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) entgegen. Frauen durften demnach nicht daran gehindert werden, einen Beruf auszuüben, und sollten gleichberechtigt mit ihrem Ehemann über die eheliche Wohnung oder das Vermögen entscheiden. Nach dem Familiengesetzbuch von 1965 sollten explizit beide Ehepartner bei der Kindererziehung und Haushaltsführung mitwirken.

Trotz dieser ,,Emanzipation von oben" trugen Frauen im Alltag die Doppelbelastung durch Vollzeiterwerb und Familie. Sie verrichteten weiterhin etwa 80 Prozent der Hausarbeit, der nur sekundäre Bedeutung zugemessen wurde. Viele Frauen arrangierten sich aber mit dieser Rolle und empfanden sich insgesamt als gleichberechtigt. Zusammen mit dem in der Familien- und Arbeitswelt stetig propagierten Slogan der Gleichberechtigung entstand eine Art ,,innerer Emanzipation", die bis heute spürbar ist.

In der alten Bundesrepublik blieben Frauen häufig zu Hause oder arbeiteten in Teilzeit. Es dominierte das sogenannte Allein- oder Zuverdiener-Modell. Sie sollten ihren Lebensstandard auch nach einer Scheidung aufrechterhalten können. Entsprechend stellte nachehelicher Unterhalt bei westdeutschen Scheidungen einen gängigen Regelungsgegenstand dar. Im Zuge der deutschen Einheit 1990 trafen die gesellschaftlichen Prägungen der ostdeutschen Bevölkerung auf das bundesdeutsche Versorgerleitbild und seine familienrechtlichen Regelungen.

Den Versuch, Unterhalt geltend zu machen, unterließen ostdeutsche Eheleute oft, egal ob beide arbeiteten oder nicht. Es gab sogar eine ausgeprägte Neigung, darauf zu verzichten – selbst bei Not oder Berufs- und Erwerbsunfähigkeit. Wies eine Juristin oder ein Jurist auf die Tragweite eines solchen Verzichts hin, erklärten die scheidenden Eheleute bisweilen, sie beabsichtigten schließlich nicht, ihren Beruf aufzugeben.

Richterin Hanna Nordmann meint, die ,,Wende" habe in den vergangenen Jahren auch im Westen einen Bewusstseinswandel befördert. Das Verständnis dafür, dass Frauen arbeiten und die Kinder in eine Krippe gehen könnten, sei gewachsen. Die Realität ist auch, dass das Familieneinkommen selten ausreicht, in der Regel müssen beide arbeiten, weil ein Gehalt nicht mehr genügt. Laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums werteten 2015 über 56 Prozent der West- und 77 Prozent der Ostdeutschen das System der Kinderbetreuung und die Frauenerwerbstätigkeit in der DDR als ,,positive Impulse für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf" und als Gleichstellungsgewinn für die gesamtdeutsche Gesellschaft.

Der Transfer zwischen West und Ost war keine Einbahnstraße. Beim Vereinigungsprozess wurden nicht lediglich westdeutsche Normen und Werte auf den Osten übertragen. Die innere Emanzipation der ostdeutschen Frauen überdauerte den Systemwechsel und seine umfangreichen Brüche. Bis heute wirkt sie in die vereinigte Gesellschaft hinein.

* Die Namen der Interviewten wurden geändert

Anja Schröter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Ihre Dissertation wurde unter dem Titel Ostdeutsche Ehen vor Gericht. Scheidungspraxis im Umbruch 1980 – 2000 veröffentlicht


Aus: "Wer braucht schon Kerle?" Anja Schröter (Ausgabe 04/2019 )
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/wer-braucht-schon-kerle

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Grenzpunkt 0 | Community

Sehr guter Text, aber wer braucht solch eine Überschrift und welchem Denken entspringt diese?


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Magda | Community
@ Grenzpunkt 0

Da darf ich mal zustimmen. Vor allem haben die Frauen im Osten so nicht gedacht. Es gab einen sehr viel respektvolleren Umgang zwischen den Geschlechtern. Es gab durchaus Konflikte, aber die hatten mit Geld oder Versorgung weniger zu tun.

Das beste Lied aus jener Zeit stammt von der tragischen Gestalt Kurt Demmler mit seinen hervorragenden Liedern und Texten.

Lied für Maria: https://www.lyrix.at/t/kurt-demmler-dieses-lied-sing-ich-den-frauen-maria-e0b
QuoteKurt Demmler Dieses Lied sing ich den Frauen (Maria) Songtext

Künstler: Kurt Demmler
Titel:     Dieses Lied sing ich den Frauen (Maria)
Typ:     Liedertext

Dieses Lied sing' ich den Frauen
Die allein sind in den Nächten
Ihr Alleinsein nicht verdau'n
Und so gern bei ihm sein möchten
Dieses Lied sing ich Maria
Die schon auf der Penne alles ausprobierte
Und dann abging, denn sie kriegte etwas Kleines
Und der Vater von Maria
Und der des begonnen Kindes
Wollten nichts mehr von ihr wissen
Geh' Maria und verwind' es
Und Maria schluckte heftig
Und es lag ihr schwer im Magen
Und ihr Kindchen lag daneben
Und sie wollt 's nicht nur ertragen
Sie besorgte sich ein Zimmer
Schlug mit ihrer kleinen frommen Faust
Das Mutterschutzgesetz auf den Tisch
Bis sie 's bekommen
Und sie malte es auch selber
Wusste bald schon
Mit den Türen und Handwerkern umzugehen
Wenn sie knarren, muss man schmieren
Nach gesetzmäßigen Ablauf
Und wie man ihr sagte: "schmerzarm"
Schenkte sie 'nem Sohn das Leben
Der machte ihr das Herz warm
Klagte auf mehr Alimente
Denn das Söhnchen war ihr treuer
Zahlpflichtig ein Tanzmusiker
Der beschiss nämlich die Steuer
Später ging sie selbst verdienen
Lange stand es auf der Kippe
Arbeit gab es, wo sie suchte
Aber dort gab 's keine Krippe
Als sie eine Krippe hatte
War die Arbeit ihr nicht lieb
Doch was nicht war, wollt' man ihr machen
'S war ein Zulieferbetrieb
Abends ging sie noch zur Schule
Und das Abitur viel schwer
Ihre Augen kriegten Ringe
Und ihr Ringfinger blieb leer
Manchmal saß zwar ein dem Kinde
Fremder Mann am Tische früh
Doch 's war immer nur ein Onkel
Und ein Vati war es nie
Dann bekam sie noch ein Studium
Das man gerade reformierte
So dass sie es ein Jahr kürzer
Als vorher und nachher passierte
Und sie wurde Redakteurin
Einer guten Wochenzeitung
Kam, weil sie den Mund aufmachte
Gleich in die Gewerkschaftsleitung
Wurde Mitglied DFD, DSF
Na, und so weiter
Setzte sich nicht immer durch
Wurde doch Abteilungsleiter
Wurde mit dem Kollektiv
Sozialistische Brigade
Manchmal lag sie auch schief
Doch auch dafür stand sie g'rade
Elternbeirat war sie auch
Doch ihr Sohn war gut gelungen
Kürzlich hat sie nun dem Handel
'Nen Trabanten abgerungen
Und der fuhr die zwei in 'n Urlaub
Dort erholten sie sich sehr
An den Vater dachten beide
Angeblich schon längst nicht mehr
Heute Nacht sah ich Maria
Eine Frau von Mitte dreißig
Steh'n in einer Telefonzelle
Tränen sah ich und nun weiß ich,
Dass emanzipierte Frauen
Die uns ach so stark erscheinen
Noch Jahrzehnte lang und länger
Nachts um ihre Schwächen weinen


Eines ist allerdings auch wahr: Ich kannte viele Frauen, die ein Kind hatten, aber nie den Kindesvater heiraten wollten.


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christina.m | Community

Das war schon eine interessante Zeit. Wenn man solche Dinge liest, stößt das schon zum Nachdenken an. Kann gut sein, dass früher wirklich einige Dinge besser waren. Nicht unbedingt alles, aber einiges bestimmt.


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moinmoin | Community

"Nicht alles war in der DDR so einfach, wie sich scheiden zu lassen."

Es war in der DDR einfach sich scheiden zu lassen - wie vieles andere auch, z.B. eine Arbeit zu finden, einen Krippen- oder Kindergartenplatz zu bekommen, Ausbildung, Beruf und Familie dank stattlicher Unterstützung unter einen Hut zu bekommen, mit der ganzen Familie Urlaub zu machen, als alleinerziehende Mutter wirtschaftlich unabhängig zu sein und nicht in unwürdige, armselige Verhältnisse "abzustürzen" wie in der BRD und um Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe ... betteln zu müpssen usw.

" Sie sollten dem sozialistischen Ideal nach emanzipiert und unabhängig sein."

Es wird Sie jetzt total überraschen Frau Dr. Schröter, aber ich kenne zig DDR-Frauen, einschließlich meiner Wenigkeit, die nicht SOLLTEN, sondern WOLLTEN und KONNTEN und DURFTEN - mit mehreren Kindern und mit und ohne (nicht erwerbstätigen, sondern studierenden) Kindesvater - und großzügige staatliche Unterstützung bekamen.

Und in der BRD habe ich das erste Mal Frauen kennen gelernt, die sagten: "Ich lass mir ein Kind machen, dann hab' ich ausgesorgt."


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moinmoin | Community


"Die Gleichberechtigung war ein sozialistisches Ideal."

Gleichberechtigung von Frauen war und ist seit Jahrhunderten ein Wunsch von Frauen. Sozialistische, insbesonders aber kommunistische Bewgungen haben maßgeblich und unter großen Opfern dazu beigetragen, dass in sozialistischen Ländern dieser Wunsch (mehr oder weniger, da abhängig von unterschiedlichen Faktoren) realisiert werden konnte.

"Frauen sollten nicht nur Familienarbeit als Hausfrau und Mutter, sondern auch Erwerbsarbeit leisten – offiziell im Interesse ihrer Selbstverwirklichung."

Ist es für Sie als Frau so schwer sich vorzustellen, dass Frauen Familienarbeit und Erwerbsarbeit leisten WOLLEN? Es bedeutet nicht nur ökonomische/finanzielle Unabhängigkeit, sondern auch ein gesundes Selbstwertgefühl, Stolz, Gemeinschaft, Erfolgserlebnisse, ein großes Stück Freiheit und und und!


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Regenwärmer | Community
@ moinmoin

Scheiden lassen war aber schon unangenehm, schließlich saß immer ein Schöffe, der aus der näheren Umgebung stammte, dabei.

Was den Unterhalt betrifft, das war irgendwie seelisch schon ein Bedürfnis. Hab weit über das 18. Lebensjahr der Kinder hinaus monatlich 550 DDR-Mark bezahlt. Das war einfach mein Wille. Obwohl es keine so genannte "Schuld" gab, wegen der wir uns scheiden ließen. Ich war "fremd" gegangen, was mit 22 nicht schwer war, weil man ja dauend mit selbstbewußten Frauen zu tun hatte. Sie war auch "fremd" gegangen, weil sie es einfach ausprobieren wollte. Es war wohl eine Art Befreiung undnatürlich Bestätigung..

Damals heiratete man ja früh. Mit 20. Das war normal. Es gab Ehekredit 5000 Mark. Wir bekamen sofort Wohnung. Und schliefen in der neuen Wohnung 4 Wochen nur auf Matratzen, die auf dem Boden lagen. Daß man uns beim Vögeln zusehen konnte war uns egal. Sexuell waren wir - im Gegensatz zu den Eltern -völlig unverklemmt.

Die Frauen zu DDR-Zeiten waren nicht "OHNE". Mann war auch öfter mal *Objekt der Begierde*. Es war auch schwer zu widerstehen, wenn sich eine Frau hinstellte und zu der eigenen Frau sagte: "Den will ich und den krieg ich auch!"

Später mit Ende 20 Anfang 30 - ich war damals junger NVA-Offizier in Schwerin - kam ich mal ins Lederwarenwerk. Hohohoho! Da wurde gepfiffen und gejohlt, als wir jungen Männer da hinein gingen.

Die Frauen waren einfach selbstbewußt und unabhängig. Wenn wir Männer über längere Zeit nicht zu Hause waren, dann arbeiten die Frauen im Haus eng miteinander zusammen. Kinder abholen, Schichtdienst, ins Bett bringen der Kinder, Schularbeiten, lernen und Nachhilfe für Kinder, da halfen sich alle gegenseitig. Der Zusammenhalt war sehr stark. Die Frauen halfen sich natürlich auch seelisch untereinander. Bei Liebeskummer, Streß bei der Arbeit...und und und. Wenn etwas nicht in Ordnung war, dnn bekam man schon mal von 2 oder 3 anderen Frauen die Leviten gelesen.

Wir hatten uns einen süßen kleinen Club geschaffen. Dort wurde gefeiert oder Hausversammlung gemacht. Meist mehr gefeiert :)

Nach der Wende waren einige Frauen doch sehr erstaunt, daß vertraute Dinge dann weg waren. Meine Tochter nervt mich heute noch, daß alle älteren Frauen "aus DDR-Zeiten" ganz etwas anderes erzählen, wenn ich von den sozialpolitischen Maßnahmen erzähle. Speziell Babyjahr und Thema Kinder. Irgendann hab ich sie gefragt:"Du, könnte e sein, daß sie nicht daran erinnert werden wollen, was sie verloren haben?"

Ab 1991 mußte ich dann ja Geld im Kapitalismus verdienen. Man hatte am Beginn jede Menge Ängste. Plötzlich war die Miete von 89 Mark auf 680 DM hochgeschnellt. Die 550 - jetzt DM -Alimente wollte ich auch nicht beenden. D.h. die fixen Kosten waren plötzlich enorm. Also ran an den Speck und Kohle machen. Was auch prima geklappt hat. Bestimmte Firmen haben uns noch während der Zeit als NVA-Offizier praktisch die Türen eingelaufen. Die wußten einfach, daß wir selbstständig und erfolgreich arbeiten konnten.Was auch geholfen hat, man kannte die leninschen Prinzipien des Wettbewerbs. (Hahahaaa!) Und wenn ich eines gelernt hab nach der Wende, die Wessis können sich daran - also an "ihrer Produktion" - total aufgeilen.

Zum Thema: Es ist enorm, was nach der Wende zerstört wurde. Man kann von einem Wende-Trauma reden. Besonders für Frauen. ( Franz Ruppert und Gerold Hüther sind da meine Buchfavoriten)

Nachsatz: Nach der Wende war ich mit meinen spritzigen jungen Leutnants ja auch logischerweise in Hamburg, in St. Pauli...warja ein Muss für Männer. Warum eigentlich?

Damals wurde mann da angesprochen, von süßen jungen Damen. Meine Jungs wollten mich absolut überreden, da mitzugehen. Ha! Das geht nicht bei mir. Mann braucht doch ein Gefühl, oder? Bin halt Ossi.

Bei meiner Arbeit hab ich dann mehrere Frauen aus dem Westen kennen gelernt. Deren Männer hier her gekommen waren, teilweise ehrlich zu helfen, teilweise einfach Karriere zu machen oder nur abzuzocken. Diese Frauen hatten echt Probleme hier im Osten normale zwischenmenschliche Kontakte zubekommen. Darum wurde ich ausgefragt von ihnen. Sie hatten einfach keinen Schimmer von der DDR und dem Drum und Dran. Sie hatten ein Schema das bestand aus:"Ihr Armen, ihr hattet ja nichts!" und "Stasi".


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Sexuellen Missbrauch von Kindern gab es nicht in der DDR – nicht offiziell. Die Vorstellung, im selbst ernannten Arbeiter- und Bauernstaat könnten sich einige Arbeiter und Bauern an Schutzbefohlenen vergehen, war mit dem Anspruch des SED-Regimes nicht vereinbar, das moralisch überlegene Gesellschaftssystem zu sein. So heißt es in dem 1970 in der DDR publizierten Buch Gewalt- und Sexualdelikte: "In der DDR wurden im Ergebnis der gesellschaftlichen Umwälzungen die kapitalistische Ausbeutung als soziale Hauptursache der Kriminalität und damit auch die Gewalt- und Sexualdelikte beseitigt." 

Dabei konnten die Machthaber sehr wohl wissen, dass das Ausmaß des sexuellen Kindesmissbrauchs im Osten ähnlich hoch war wie im Westen, ergab eine Studie im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs im vergangenen Jahr. Doch um dies zu vertuschen, wurden Opfer nicht gehört, Kriminalstatistiken geheim gehalten und unzureichend geführt, Täter in den wenigsten Fällen verurteilt und, wenn überhaupt, nur milde bestraft. Die Folge war ein erzwungenes Schweigen. Es überlebte die DDR und geriet erst nach 2010 mit der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs unter dem Dach der Kirche in den Fokus der Forschung. 

Was die Studie von 2018 jedoch nur unzureichend erfasste, waren die individuellen Schicksale der Überlebenden. Das holt eine Fallstudie nun nach. Einer der Betroffenen ist Siegfried M. Er wurde von einem Erzieher im Kinderheim vergewaltigt. "Irgendwann", beschreibt M. in der Studie, "hat er von mir gelassen, hat sich angezogen und hat gesagt: 'Du brauchst keinem was zu erzählen, dir glaubt keiner was.' Und ist gegangen." Am Abend lagen zwei Tafeln Schokolade auf M.s Kopfkissen, ein Geschenk des Heimleiters. "Da wollte ich nur noch eines: Ich wollte weg. Weg aus diesem Heim, dass mit mir so was nicht wieder passiert. Ich hatte eine Heidenangst."

105 Anhörungen führten die Forscher um Beate Mitzscherlich von der Westsächsischen Hochschule Zwickau und Cornela Wustmann von der Technischen Universität Dresden durch, 34 Betroffene schilderten schriftlich ihre Erfahrungen.

Sexuellen Missbrauch, so ein Ergebnis der Fallstudie, gab es in allen Schichten und Berufsgruppen der DDR. Meist geschah er wie auch im Westen im Schutzraum der Familie. In der DDR habe die Familie jedoch den "ideologischen Auftrag des gesellschaftlichen Erziehungsgedankens" zu erfüllen gehabt, wie es in der Fallstudie heißt. Schließlich sollte in der Familie die "sozialistische Persönlichkeit" entwickelt werden, weshalb die Familie auch unter besonderer Beobachtung des allgegenwärtigen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) stand. Opfer sexuellen Missbrauchs hätten unter einer "hochgradigen Verschwiegenheitsverpflichtung" gestanden, heißt es in der Fallstudie. Sie konnten mit niemandem darüber reden, was es im sozialistischen Einparteienstaat nicht geben durfte.

Doch nicht nur im Schutzraum der Familie gab es sexuellen Missbrauch. Er kam, wie die Fallstudie ebenfalls erforscht, auch in den staatlichen Institutionen der Heimerziehung vor. Dort wurde Siegfried M. zum Opfer gemacht. Wie er hat auch Corinna Thalheim das Repressionssystem der DDR-Heimerziehung er- und überlebt. Sozial auffällige Kinder und Jugendliche sollten in den Jugendwerkhöfen der DDR zu "guten Sozialisten" umerzogen werden. Dazu war den Erziehern jedes Mittel recht. "Wir waren der Willkür unserer Erzieher schutzlos ausgeliefert", erinnert sich Thalheim bei der Vorstellung der Fallstudie. Physische und psychische Gewalt waren an der Tagesordnung. Zum sexuellen Missbrauch kam es, weil niemand den Erziehern Grenzen setzte.

Im Jahr 1984 wurde Thalheim wegen "Schulbummelei" den Eltern entzogen und in den Jugendwerkhof Lutherstadt Wittenberg eingewiesen. Dort begann, was die Forscher der Unabhängigen Kommission die "Eskalation der Heimkarriere" nennen. Wie viele der Zwangseingewiesenen versuchte sie, zu fliehen, andere begingen Selbstmord. Nach einem Fluchtversuch kam Corinna Thalheim im Jahr 1985 in den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Der Jugendwerkhof war berüchtigt in der DDR. Beate Mitzscherlich von der Westsächsischen Hochschule Zwickau nennt Torgau das "Herz der Finsternis" im Heimsystem der DDR. Bis Ende der Achtzigerjahre wurden Kinder hier systematisch gebrochen. "Es war die organisierte Gewalt", sagt Corinna Thalheim heute. 

Heime wie Torgau sind allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der DDR. Es gab sie auch im Westen. Auch dort kam es in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in Heimerziehung und Kinderpsychiatrie zu sexuellem Missbrauch und systematischer Gewalt. Doch während im Westen im Zuge der 68er-Bewegung das Konzept der "schwarzen Pädagogik" ab den Siebzigerjahren zunehmend hinterfragt und Kinder durch unabhängige Kontrollinstanzen besser vor Willkür geschützt wurden, geschah dies in den Jugendwerkhöfen der DDR nicht. In Torgau wurden Kinder bis zum Mauerfall gequält. In anderen Heimen und Jugendwerkhöfen setzte erst die Wiedervereinigung den Repressalien ein Ende.

Danach spielte das Leid der Überlebenden viele Jahre keine Rolle. Viele Betroffene konnten und wollten ihre Geschichten nicht öffentlich machen. Hinzu kam ein spezifisches Institutionenmisstrauen: Weil die Umerziehung durch Missbrauch in der DDR staatlich gewünscht und organisiert war, haben viele Überlebende bis heute Hemmungen, sich an staatliche Organe zu wenden. "Man hat uns zu vertrauenslosen Menschen erzogen", resümiert Corinna Thalheim. Um anderen Überlebenden eine Stimme zu geben, engagiert sie sich seit einigen Jahren als Vorstandsvorsitzende der Betroffeneninitiative Missbrauch in DDR-Heimen. 

Einen Anspruch auf Entschädigung haben die meisten Überlebenden bis heute nicht. So gilt das Opferentschädigungsgesetz etwa nur für Missbrauchsfälle, die nach 1990 stattgefunden haben. Zwar können Betroffene aus einem Entschädigungsfonds des Familienministeriums Leistungen beziehen. Nur gilt der bislang lediglich für Überlebende des sexuellen Missbrauchs in Familien. Heimkinder wie Corinna Thalheim werden nicht berücksichtigt. Ein entsprechender Heimkinderfonds ist seit dem Jahr 2014 geschlossen.

Auch das von einigen Bundesländern initiierte Ergänzende Hilfesystem (EHS) für Betroffene sexuellen Missbrauchs in staatlichen Institutionen der DDR steht vielen Betroffenen nicht zur Verfügung. Zum einen sind die Antragsfristen abgelaufen. Zum anderen hat sich das Bundesland Sachsen-Anhalt gar nicht erst an der Finanzierung des EHS beteiligt. Corinna Thalheim ist empört und resigniert zugleich: "Wir sind auf uns allein gestellt."

Erschwerend komme das Wissen hinzu, dass die meisten Täter aufgrund der abgelaufenen Verjährungsfristen nicht mehr belangt werden können. Viele Täter leben heute als vermeintlich unbescholtene Bürger in Deutschland. Corinna Thalheim könnte einem von ihnen jeden Tag begegnen. Mit dieser Möglichkeit muss sie leben. Irgendwie. 


Aus: "DDR: "Wir waren der Willkür unserer Erzieher schutzlos ausgeliefert"" Raoul Löbbert (6. März 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-03/ddr-missbrauch-heime-familie-studie-sexuelle-gewalt/komplettansicht

QuoteE.Moritz #7

... und dabei hatte man immer gedacht, in der DDR gehe es humaner zu als in der Katholischen Kirche. Wieder mal bestätigt, wie misslungen der Mensch erschaffen wurde.


Quotemailo1 #12


Anderes System andere Art der Verschwiegenheit Grundproblem dort wie hier war und ist gleich. Aufarbeitung tut Not, ist aber schwer. Wie schnell ist ein Leben Zerstört weil jemand falsch beschuldigt wird, wie schnell ist ein Leben zerstört, weil keiner dem Betroffenen glaubt. Verschwiegenheit auch in der biederen Familie aus vielerlei Gründen. Das Thema ist ernst, traurig Aufarbeitung schwierig. Nur war es im Osten nicht schlimmer, diese Perversion zieht sich durch alle Gesellschaften und Schichten.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Ines Geipel, auch Ines Schmidt (* 7. Juli 1960 in Dresden), ist eine ehemalige deutsche Leichtathletin und heute Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst ,,Ernst Busch" Berlin. Sie betätigt sich als Schriftstellerin und Publizistin, besonders in der Aufarbeitung ihrer Erfahrungen als Opfer der DDR-Diktatur, vor allem des staatlich verordneten Dopings im DDR-Leistungssport. Als Themenfeld ergab sich in der DDR unterdrückte Literatur. Sie war maßgeblich daran beteiligt, die Schriftstellerin Inge Müller (1925–1966) bekannt zu machen. Zeitweise beschäftigte sie sich mit den Hintergründen von Massenmorden durch Einzeltäter.

... In ihrem 2019 veröffentlichten Buch Umkämpfte Zone. Mein Bruder, der Osten und der Hass greift Geipel das für die DDR-Geschichte so signifikante Thema des Verschweigens aus der Sicht mehrerer Generationen auf. ... Ines Geipel ,,schreibt die Geschichte der DDR als ein Drama der jahrzehntelangen Schuldverdrängung", in dem die zahlreichen Belege für antisemitische Übergriffe in den Schubläden der SED-Funktionäre verschwanden, während in der Spätphase des Regimes ,,die versprengte, linke Punk-Szene kriminalisiert und zerrieben, die grassierende Skinhead-Kultur aber ignoriert oder sogar geduldet wurde. Auffallend oft, so Geipel, waren Skins Kinder von Stasi-Mitarbeitern, die dann Straftaten der eigenen Söhne deckten." Geipel ermöglicht einen objektiven, fast mikroskopisch-genau anmutenden Blick auf die politischen und psychologischen Wirkkräfte, die die DDR-Gesellschaft formte. Die Sprachgewalt der Literaturprofessorin Geipel stellt den erhellenden Innenansichten zur DDR-Geschichte die Wucht der Anklage zur Seite, die einer Aufdeckungsschrift per se innewohnt.


Aus: "Ines Geipel" (19. März 2019)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Ines_Geipel

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QuoteWas ist los im Osten? Die Frage stellen sich viele seit Pegida und hiesigen AfD-Erfolgen. Ines Geipel , 1960 in der DDR geboren und in einer Familie des bedrohlichen Schweigens aufgewachsen, Leistungssportlerin und 1989 Flüchtling, war bis vor kurzen Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe. Jetzt beschäftigt sie sich in ihrem neuen Buch ,,Umkämpfte Zone" mit der Vergessenspolitik, die bis in die Eltern-Kind-Beziehung hin­ein unheilvoll wirkte. ...

[...] Jena/Berlin. Ines Geipel hat mit ,,Umkämpfte Zone – mein Bruder, der Osten und der Hass" ein sehr persönliches Buch geschrieben: Die einstige Spitzensportlerin und heutige Professorin und Schriftstellerin befasst sich mit ihrer Familiengeschichte – und sie zieht aus dem, was ihre Vorfahren in der Nazizeit und ihre Eltern in DDR-Zeiten getan, gelassen und verschwiegen haben, Rückschlüsse auf einiges, woran die Gesellschaft vor allem im Osten krankt. Anstoß für diesen Blick zurück gab die intensive Zeit, die Ines ­Geipel mit ihrem sechs Jahre jüngeren Bruder Robby verbrachte, als dieser Ende 2017 im Sterben lag.

Frau Geipel , die Großväter Nazis, deren Taten innerfamiliär immer verschwiegen wurden. Der Vater ein Stasimann, der heimlich im Westen zum Einsatz kam. Großmutter und Mutter sorgten dafür, dass der Nachwuchs nie die Wahrheit erfuhr. Wann haben Sie gespürt, dass das Ganze eine Lüge war?

Ines Geipel: Dass etwas nicht stimmt, nicht stimmen konnte, spürte ich schon als Kind. Das Schweigen, der Nebel, das Weggedrückte, die Gewalt. Aber wie dahinterkommen? Man läuft durch eine Zeit mit dem Gefühl: Hier ist so viel geschehen, aber es wird dir keiner sagen, was. Das war ein frühes Grundgefühl: Dass jeder von etwas anderem schwieg. In belasteten Familien existiert sicher noch einmal ein anderes Sanktuarium, sind die Mauern noch einmal dicker. Dabei geht es mir nicht um Vorwürfe, sondern um den Versuch, genau das zu verstehen: Was es so schwer macht, dafür eine Sprache zu finden.

Ihr Buch ,,Umkämpfte Zone" geht der Frage nach, warum die Menschen im Osten so sind, wie sie sind. Dabei kommen Sie zu dem Ergebnis, dass vor allem das seit Jahrzehnten anhaltende Schweigen – sowohl in und nach der Nazizeit, als auch in und nach der SED-Diktatur – die Menschen verbogen hat. Wenn Ihnen vorgehalten wird, Ihre Familie sei nicht typisch, was entgegnen Sie dann?

Ines Geipel: Mir ist natürlich klar, dass es auch viele gute, fürsorgliche Familien gegeben hat. Grundsätzlich aber mussten alle Familien im Osten mit Druck, Zumutungen, Ängsten, hochkarätigen Konflikten, Unbesprechbarem klarkommen. Das ist wie eine Lebenshaut, die sich über alles und jeden gezogen hat und die auch etwas Unentrinnbares hatte. Man ist nur sehr verschieden damit umgegangen. Und darum geht es mir: Das Dilemma des Ostens über eine lange Zeitschiene und den generellen Druck anzuschauen. Sicherlich ist in meiner Familie das Ganze zugespitzt, aber ein Extrem legt doch auch immer das Prinzip frei. Etwas wird kenntlicher dadurch.

Warum lässt sich aus dieser persönlichen Betrachtung ein genereller Schluss ziehen?

Ines Geipel: Ich erzähle von den Belastungen in einer Familie, die weit zurückreichen. Es ging mir dabei um historische Kontinuitäten und um lang wirkende Familienloyalitäten. Ich schreibe ja ausdrücklich, dass es schwer ist, damit klar zu kommen. Oft genug ist es unmöglich. Ich wollte noch einmal deutlich machen, dass der Osten damit zu kämpfen hatte und noch immer hat, eben, weil sich vieles unaufgelöst ineinandergeschoben hat. Ich schreibe von historischen Umschreibungen im Osten nach 1945 und von denen nach 1989. Das geht dann eben weg vom Einzelnen und bekommt etwas Symptomatisches, auch wenn die Ausprägungen natürlich sehr unterschiedlich sein ­konnten.

Jana Hensel und Wolfgang Engler greifen in ihrem Buch ,,Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein" ein ähnliches Thema, aber mit anderer Zielrichtung auf. Hensel etwa spricht vom ,,ossiphobischen Blick", wenn dem Osten sein Rechtsruck und seine latente Fremdenfeindlichkeit vorgehalten werden. Dieser Vorwurf der Ossiphobie könnte auch Sie treffen, oder?

Ines Geipel: Es gibt die unterschiedlichsten Ansätze. Aber die Phänomene sind ja nicht wegzublinzeln und belegt: 1. Jeder Zweite im Osten ist fremdenfeindlich. 2. Die Gewalt ist dreimal so hoch wie im Westen. 3. Jeder zweite Ostdeutsche will muslimische Zuwanderung untersagen. Es bringt doch nichts, das als Ossiphobie zu bezeichnen. Es sind Tatsachen. Sie tun weh und gehen auch nicht durch Entlastungsstrategien weg. Erst hatten wir die glückliche Einheitserzählung, grad finden wir es ganz angenehm, wenn all unsere Probleme mit der Einheit begonnen haben sollen. Wir haben aber, und das hat mit unserer speziellen Ostgeschichte zu tun, noch immer ein paar heiße Eisen im Eisschrank zu liegen, was nach mehr als einem halben Jahrhundert Diktaturgeschichte zwar nicht verwunderlich ist. Aber da werden wir wohl ranmüssen.

Ihr jüngerer Bruder, der Anfang 2018 so früh so schnell gestorben ist, hatte einen anderen Blick auf Familie und Geschichte als Sie. Steht er mit seiner Haltung auch für die Menschen, die vor allem ihre Ruhe haben wollen und die Vergangenheit verklären?

Ines Geipel: Verklärung, Entlastung oder auch Verdrängung sind ja nicht per se schlecht. Sie werden nur dann schwierig, wenn sie anfangen, einen zu blockieren. Mein Buch verzahnt Familiengeschichte und Zeitgeschichte. Da kann es nicht darum gehen: Der eine hat es richtig gemacht, der andere nicht. Ich liebe meinen Bruder. Das werde ich immer tun. Ich wollte anschauen, was mit dem Einzelnen ist, was er versucht oder eben nicht hinkriegt. Mein Bruder hatte zwei SS-Altväter und einen Vater als Terroragent. Also auf welches Männermodell konnte er zurückgreifen? Was war seine Orientierung? Nein, mein Bruder wollte keine Ruhe. Er hat in einem fort gesucht. Er war einer der sanftesten Männer und Menschen überhaupt. Aber was kann das Sanfte sein mitten im Terror? Wie findet man seinen eigenen inneren Ort? Das hat mich interessiert.

Was genau hatte Sie und Ihren Bruder entzweit, so dass sie sich jahrelang aus dem Weg gegangen waren vor seiner Erkrankung?

Ines Geipel: Es ging natürlich um die Familienlüge. Um das, was die SS-Altväter getan haben, was der Vater getan hat und was die Altmütter und die Mutter eisern beschwiegen haben. Das sind Kernfragen. Sie sind nicht nur sehr persönlich, sondern auch enorm angstbesetzt. Wenn es um Familie geht, geht es ja immer ums Eingemachte. Und im Osten halt um das psychische Erbe zweier Diktaturen und um Generationsweitergaben. Mein Bruder hat die Familiengeschichte verdrängt, aus Scham. Er wollte im Inneren nie mehr an den Ort zurück, wo er all die Gewalt erfahren hat. Er hat versucht, diesen Ort zu überlaufen. Sein Lebensprinzip lautete: positives Verleugnen. Das war unser Disput nach 1989. Und irgendwann war Sprechen nicht mehr möglich. Als er starb, waren wir uns sehr nah und auch versöhnt. Diese Nähe war unser Geschenk an den anderen im Abschied. Robby war, und das hat viel mit Kindheit zu tun, mein nächster Innenmensch.

Stellen Sie solche Entzweiung in vielen Familien gerade im Osten fest?

Ines Geipel: Jedenfalls ist heftig was los in den Familien. Man kann das auch als eine große Suche lesen, die noch immer mit der Wucht der Umbrüche nach 1989 zu tun hat. Soziologen sagen, dass die Familie im Osten nach dem Zeitenbruch zum Stabilisator, zur Orientierungs-Instanz und zum intimen Magneten gegen die große Verunsicherung werden musste. Umso wichtiger, was an den Familientischen, was an der Wurzel geschieht.

Sie erzählen in Ihrem Buch auch von Michael, einem einstigen Studienkollegen in Jena , widerständig zu Ostzeiten, engagiert zur Zeit der friedlichen Revolution, dann im Kulturbereich engagiert, eigentlich eher links ... Inzwischen ist er in Berlin , bei der AfD engagiert und hat offenbar keine Scheu vor Pegida und Neonazis bei der Chemnitz-Demo im Sommer 2018, weil er sich jetzt diesen Gruppen zugehörig fühlt ... Was ist mit Menschen wie Michael passiert?

Ines Geipel: Es gibt in unserer Kriegsenkel-Generation so viele, die ewig auf der Suche sind, nach der Zeit, nach guten Beziehungen, nach ihren Familien, nach sich selbst. Nun sind sie fünfzig, über fünfzig. Der Zeitraum für die große Klarheit oder den großen Zauber wird enger. Und nun bietet etwa die AfD etwas an, ihr ,gäriges Wir'. Das bedeutet Halt, Schutz, Kuhwärme. Das hat viel mit dem autoritären Charakter zu tun. Den sind wir nicht los. Und auf einmal ist so eine Partei plötzlich keine dramatische politische Verschiebung mehr, sondern ein Mainstream-Ding. Dabei geht es knallhart um Umschreibungen, Diskursräume, letztlich um politische Macht.

Der Michael von früher hätte wahrscheinlich dem Michael von heute die Meinung gegeigt, oder? Oder war dieses Unverortete, dieses Fundamentlose, dieses früher schon immer Dagegengewesene womöglich ein Anlass, sich jetzt, wo die Linken zum Teil sogar regieren, eben auf der anderen Seite außen anzusiedeln?

Ines Geipel: Es sind ja auch unsere Erfahrungen, die sich beschleunigen. Vieles kommt mir dabei wie eine Neubeatmung vor. Was wir nicht geklärt, nicht aufgelöst haben, die alten Gefühle, das alte Gift, siedelt sich nun leicht auf der anderen Seite an. Als gäbe es ein Diktat des vergangenen Jahrhunderts.

Die DDR ist jetzt bald 30 Jahre nicht mehr existent. Welche Rolle spielen denn konkret welche Art von Vereinigungsfehlern, wenn davon die Rede ist, dass sich Menschen im Osten als Bürger zweiter Klasse empfinden?

Ines Geipel: Ich habe in diesem Buch ausdrücklich nicht auf Treuhand, Geld, Rente geschaut, sondern auf das immaterielle Erbe der beiden Diktaturen, die den Osten geprägt haben. Es ging mir um seine Bewusstseinshaut, die mit der des Westens schlicht nicht kompatibel war. Hier kollidierten zwei politische Mythenströme, letztlich zwei Selbstverständnisse, die in meinen Augen nicht wirklich besprochen sind und regelmäßig zu harschen Missverständnissen führen. Das scheint mir aber als Verständigung, wohin Ost und West gemeinsam wollen, überfällig.

Im Trauerjahr haben Sie dieses Buch geschrieben. Was würde Ihr Bruder wohl dazu gen, wenn er es lesen könnte?

Ines Geipel: Ich wollte meinem Bruder mit diesem Buch einen Ort geben. Er sollte da sein, da sein können. In Bildern, mit Worten. Mehr kann ich nicht dazu sagen.

...

Ines Geipel: Umkämpfte Zone. Klett-Cotta-Verlag, 276 Seiten


Aus: "Ines Geipel beschäftigt sich in Buch ,,Umkämpfte Zone" mit der Vergessenspolitik" Gerlinde Sommer (18. März 2019)
Quelle: https://www.otz.de/startseite/detail/-/specific/Ines-Geipel-beschaeftigt-sich-in-Buch-Umkaempfte-Zone-mit-der-Vergessenspolitik-1755795807

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Quote[...] Ines Geipel hat ein Archiv der unterdrückten DDR-Literatur mitgegründet. Es sammelt Texte, die nicht erscheinen durften und in Kladden überdauert haben. Bei ihrer Recherche stolperte die Schriftstellerin immer wieder über erschütternde Schicksale.

Ute Welty: Wie viel Freiheit braucht die Kunst? Literatur in der DDR war vielfältiger und ambivalenter, als es die publizierten Texte aus dieser Zeit vermitteln.

Etliches weiß man über staatstragende und über staatskritische Schriften, und dann weiß man wenig über das, was im Geheimen entstand. Schriftstellerin und Professorin Ines Geipel tritt an, um das Verborgene ans Licht zu holen. Sie nimmt heute teil an der Diskussionsrunde nach der szenischen Lesung im Museum für Kommunikation in Berlin. Was ist denn das für eine Literatur gewesen, die in der DDR keine Rolle spielen durfte?

Geipel: Sie sagen es ja schon, wir kennen die Staatsnamen – ich nenne einfach mal Namen: Hermann Kant. Wir kennen die Kritisch-Loyalen, Christa Wolf oder Brigitte Reimann, die ja auch heute noch sehr gelesen werden. Wen wir nicht kennen, sind die kritisch-illoyalen, also die subversiv-systemkritischen Autorinnen und Autoren.

Und Joachim Walther und ich, wir haben uns auf den Weg gemacht, haben Texte gesucht und haben ein Archiv unterdrückter Literatur zusammengestellt, über 100 Autorinnen und Autoren mittlerweile, an die 70.000 originale Manuskriptseiten, ein sehr, sehr intensives, reiches, auch disparates Material.

Welty: Sie haben die staatskritisch-loyalen Autorinnen und Autoren angesprochen im Gegensatz zu den staatskritisch-illoyalen, was bedeutet das für die Literatur, wie unterscheidet die sich?

Geipel: Dass man die einen kennt und die anderen tatsächlich nicht. Also es ist auch eine Geschichte der bislang verleugneten DDR. Wir sehen unsere Sammlung auch ein Stück weit als ein Versuch eines Gegengedächtnisses im Sinne des geschützten Bestandes der DDR-Literatur an. Was uns auch immer wieder ganz neu erschreckt, sind diese sehr, sehr harten Schicksale, also sehr viel Zuchthaus, früh verstummt, erkrankt, Suizid.

Die Staatssicherheit, das System hat sich schon sehr viel Mühe gegeben. Literatur – das wissen wir ja – wird in einer Diktatur immer extrem behandelt, und insofern ist diese Geschichte natürlich auch eine große Geschichte des denunzierten Wortes, der gestohlenen Sprache, aber eben auch des reduzierten und verstümmelten Denkens, und da haben wir viel zu entdecken.

Welty: Wie sind Sie dann auf die Idee gekommen, ein Archiv dafür zu gründen? Ich stelle es mir extrem schwierig vor, etwas archivieren zu wollen, was offiziell gar nicht existiert.

Geipel: Die DDR war lang und sie war gründlich, es gibt viel Material, aber das ist völlig richtig, was Sie sagen. Literaturgeschichte gründet sich ja oder auch eine Kanonfrage gründet sich ja natürlich auf Veröffentlichtes, und das haben wir versucht. Wir haben akribisch gesucht in den Nebennachlässen, zum Beispiel Franz Fühmann hat sich sehr für junge Autoren stark gemacht.

Wir haben, als wir begonnen haben mit dem Archiv, sehr viele Interviews gegeben, haben versucht, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen, aber das ist die Ironie der Geschichte: Der stärkste Materialgeber war für uns die Stasi-Unterlagenbehörde, eben gerade weil Autor*innen verhaftet wurden und die Texte eben auch immer Material für die Prozesse waren.

Welty: Welche Schicksale haben Sie für die Arbeit fürs Archiv kennengelernt, was hat Sie da besonders beeindruckt?

Geipel: Ein Beispiel nur: Edeltraud Eckert, 1930 in Schlesien geboren, Flucht mit den Eltern nach Brandenburg, in die Stadt Brandenburg, früher Widerstand, Gefängnis, Frauenzuchthaus Hoheneck, schwerer Haftunfall in dieser Zeit, kurz vor dem Unfall bekommt sie einmalig die Möglichkeit, ein Schreibheft, wo wir im Grunde auch jetzt diese Texte veröffentlichen konnten, mit 25 Jahren stirbt sie an Wundstarrkrampf im Haftkrankenhaus Meusdorf. Das sind diese Schicksale, denen wir begegnet sind und auf die wir nur mit Glück gestoßen sind, weil die Schwester sich bei uns gemeldet hat.

Welty: Und wie gehen Sie dann damit um, mit dieser Erfahrung? Das kann man ja dann nicht im Archivregal abstellen.

Geipel: Nein, eben, genau, darum geht es. Wir wollen nicht ein Archiv machen, um noch mal Leben zu archivieren, sondern es gibt eine Edition, die ,,Verschwiegene Bibliothek" bei der Büchergilde Gutenberg. Dort haben wir zehn Autorinnen und Autoren veröffentlichen können. Wir machen viele Veranstaltungen wie heute in Berlin, um eben auch die Texte, die Autoren mit ihren Schicksalen öffentlich zu machen. Wir finden, dass es richtig und Zeit ist, dieser in den Riss gefallenen Literatur und diesen Leben zu begegnen.

Welty: Im November ist der Mauerfall dann 30 Jahre her, das ist in einem Menschenleben eine lange Zeit, aber offensichtlich gelten für Geschichte und für Literatur andere Maßstäbe, oder?

Geipel: Ja, das wissen wir, und hier musste man ja auch ein bisschen um die Ecke denken, eben etwas, was so versteckt wurde, notwendigerweise, damit so ein System halten kann, versteckt wurde, in die Öffentlichkeit zu bringen. Und nun ist es da, nun kann es kennengelernt werden, und wir sind sehr gespannt auf die Resonanz.

Welty: Wen wünschen Sie sich als Leser, als Leserin?

Geipel: Alle, die Literatur lieben, es ist ein Literaturarchiv, und vor allen Dingen kann man in diesem Archiv ja den Gefühlen, nicht den Klischees, sondern den tatsächlichen Gefühlen in einer Zeit begegnen, und ich glaube, sich einfach hinsetzen – diese Texte sind möglich, sie sind da, sie sind öffentlich, und ein bisschen stöbern, das ist doch schon viel.


Aus: ",,Eine Geschichte der bislang verleugneten DDR""
Ines Geipel im Gespräch mit Ute Welty (05.03.2019)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ines-geipel-ueber-unveroeffentlichte-ddr-literatur-eine.1008.de.html?dram:article_id=442703


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Quote[...] Film [Der Funktionär Andreas Goldstein Deutschland 2018, 72 Minuten] - Andreas Goldstein spürt seinem lange verstorbenen Vater nach, dem einstigen DDR-Kulturminister Klaus Gysi

... Goldstein spricht an einer Stelle davon, dass er in der DDR-Schule keine Angst gehabt hätte, zu sagen, was er dachte. Erst später habe er begriffen, dass das ein Privileg war, das er nur als Sohn eines hohen Funktionärs genoss. ...


Aus: "Beschränkt funktional" Michael Suckow (Ausgabe 15/2019)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/msuckow/beschraenkt-funktional

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Quote[...] Die Treuhandanstalt (THA, kurz Treuhand) war eine in der Spätphase der DDR gegründete Anstalt des öffentlichen Rechts in Deutschland mit der Aufgabe, die Volkseigenen Betriebe der DDR nach den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft zu privatisieren und die ,,Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu sichern" (§ 8 Treuhandgesetz) oder, wenn das nicht möglich war, stillzulegen. Im Umfeld der Privatisierung kam es zu Fällen von Fördermittelmissbrauch und Wirtschaftskriminalität. Zum 1. Januar 1995 wurde die Treuhandanstalt in Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) umbenannt. Die Treuhandanstalt hatte eine maßgebliche Rolle beim Aufbau Ost. ...


https://de.wikipedia.org/wiki/Treuhandanstalt (29. März 2019)


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Quote[...] 30 Jahre nach der friedlichen Revolution in Ostdeutschland halten die Grünen im Bundestag eine Aufarbeitung der Treuhand-Arbeit für notwendig. Bis heute seien wesentliche Fragen im Zusammenhang mit den Privatisierungen durch die Treuhand und ihre Nachfolgeorganisationen Gegenstand der öffentlichen Debatte und nicht vollständig aufgearbeitet, sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt am Dienstag dem Tagesspiegel. "Die Probleme und Fehler bei den Verkäufen sind ein Hindernis auf dem Weg hin zu gleichwertigen Lebensverhältnissen."

Göring-Eckardt zeigte sich grundsätzlich bereit, mit der Linksfraktion über die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Treuhand zu sprechen. Vor wenigen Tagen hatte Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch einen solchen Ausschuss gefordert. Ob dieser "das richtige Instrument ist, um damit Vergangenheitsbewältigung zu betreiben, werden die Gespräche ergeben, die wir miteinander führen werden", sagte Göring-Eckardt. Die Grünen-Politikerin erinnerte daran, dass der Bundestag bereits mehrfach Untersuchungsausschüsse zum Treuhandkomplex eingerichtet habe.

Für die Einrichtung eines solchen Ausschusses benötigt die Linke die Unterstützung anderer Fraktionen - mindestens ein Viertel der Abgeordneten müssten dafür stimmen. Bartsch hatte angekündigt, insbesondere mit Ost-Abgeordneten von Union, SPD, FDP und Grünen sprechen zu wollen. Das "Treuhand-Trauma" sei nicht überwunden, sagte er. Die politischen Fehler, die in der Nachwendezeit gemacht worden seien, müssten ans Tageslicht und aufgearbeitet werden.

Der Schaden, den die Treuhand angerichtet habe, sei bis heute eine wesentliche Ursache für den ökonomischen Rückstand des Ostens und für politischen Frust vielerorts, sagte Bartsch. In einem Untersuchungsausschuss will die Linke auch klären, inwieweit und warum "überlebensfähige" Unternehmen geschlossen und Jobs vernichtet worden seien, die hätten erhalten werden können.

Die Treuhandanstalt war im März 1990 gegründet worden, um die etwa 8500 Volkseigenen Betriebe der DDR zu privatisieren, zu sanieren oder abzuwickeln. Die frühere Ost-Beauftragte der Bundesregierung, die SPD-Politikerin Iris Gleicke, hatte die Arbeit der Behörde vor einigen Jahren scharf kritisiert. Sie gelte im Osten als "das Symbol eines brutalen, ungezügelten Kapitalismus, verbunden mit Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit".

Insgesamt hat die Bundesbehörde im Laufe der Jahre rund 45 Aktenkilometer produziert, die nun zu großen Teilen vom Bundesarchiv übernommen und absehbar der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Das Finanzministerium, dem die Treuhand früher unterstellt war, hat beim Institut für Zeitgeschichte in München eine umfangreiche wissenschaftliche Studie zur Treuhand-Geschichte in Auftrag gegeben. Doch nach Ansicht etlicher ostdeutscher Politiker reicht eine solche wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas nicht aus.

Angesichts der bevorstehenden Veröffentlichung der Akten hatte die sächsische Integrationsministerin Petra Köpping eine "Wahrheitskommission" ins Gespräch gebracht - eine Forderung, die auch der SPD-Ostbeauftragte Martin Dulig aufgriff. Im Osten gebe es Vorwürfe der Marktbereinigung und Vermögensverschiebung zugunsten des Westens, über die 30 Jahre nach der Wende nun endlich geredet werden müsse, argumentiert Dulig. Man müsse eine offene Debatte darüber führen, was damals schiefgelaufen sei.

Der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU), lehnt hingegen eine Wahrheitskommission ebenso ab wie die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses. Es werde der Eindruck erweckt, als sei der Osten mit Vorsatz und krimineller Energie über den Tisch gezogen worden. Die Ursachen in den Problemen der ostdeutschen Wirtschaft lägen zuallererst in der Zeit vor 1989, nicht danach.



Aus: "Grüne wollen mit Linken über U-Ausschuss reden" Cordula Eubel (23.04.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/fehler-der-treuhand-gruene-wollen-mit-linken-ueber-u-ausschuss-reden/24246400.html

Quote2monitor 19:38 Uhr
Gute Idee! Der Untersuchungsauschuss kann dann auch mal klären, was mit dem DDR-Vermögen in der Schweiz passiert ist.
Die Bundesanstalt hatte die Bank auf Rückzahlung von mehr als 100 Millionen Franken (heute 88 Millionen Euro) plus Zinsen verklagt. Deutschland bemüht sich seit mehr als 20 Jahren, die nach dem Fall der Mauer wohl in der Schweiz versteckten DDR-Millionen wiederzubekommen. Damals sollen SED-Mitglieder große Beträge über das Konto einer DDR-Außenhandelsgesellschaft in die Schweiz geschafft haben. Die Alleingesellschafterin der Firma war Rudolfine Steindling, die lange Treuhänderin der österreichischen Kommunistischen Partei war und gute Beziehungen zu SED-Chef Erich Honecker pflegte.
Steindling soll das Geld später abgehoben und in Bank-Safes gelagert haben. Wohin es von dort aus verschwand, nahm die im Oktober 2012 mit 78 Jahren verstorbene Frau wohl mit ins Grab.
(SPON, Mittwoch, 06.02.2019   21:53 Uhr)
http://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/schweizer-bank-julius-baer-verliert-rechtsstreit-um-verschwundene-ddr-millionen-a-1251964.html


QuoteGophi 18:50 Uhr

    Es werde der Eindruck erweckt, als sei der Osten mit Vorsatz und krimineller Energie über den Tisch gezogen worden. Die Ursachen in den Problemen der ostdeutschen Wirtschaft lägen zuallererst in der Zeit vor 1989, nicht danach.

Wäre das nicht genau die Fragestellung an einen Untersuchungsausschuss bzw. eine Wahrheitskommission? Oder soll das "der Ost-Beauftragte der Bundesregierung, Christian Hirte (CDU)" ganz allein beantworten? Damit wären die Menschen in den neuen Bundesländern wahrscheinlich nicht richtig zufrieden, nehme ich mal an.


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Quote[...] Es waren nur einige Dutzend Bergleute, die sich 1993 in der Kantine des thüringischen Salzbergwerks ,,Thomas Müntzer" zum Hungerstreik verabredeten, doch ihre Verzweiflung gilt bis heute als Sinnbild für die dunkle Seite der Wiedervereinigung. ,,Bischofferode ist überall" skandierten sie damals, und in der Tat gibt es wohl niemanden, der diese Zeit erlebt hat und keine der vielen Geschichten von den Plattmachern, den Glücksrittern und den Selbstbedienern jener Tage zu erzählen weiß.

Massenarbeitslosigkeit, Zukunftsangst und der Niedergang ganzer Regionen: All das hatte eine Namen und trägt ihn bis heute: Treuhandanstalt. Synonym für den eiskalten Kapitalismus, der auf den Freiheits-Freuden-Taumel der Nachwendezeit folgte - und bis heute in den Augen vieler Ostdeutscher der Beleg dafür ist, wie der Westen dem Osten sein System gnadenlos übergestülpt hat. Manches von der Wut und der Schmach ist verblasst, die Betroffenen sind jenseits der 80, und ihre Kinder sind in die Fremde gezogen. Soll die Erinnerung an die Treuhand trotzdem jetzt, fast 30 Jahre danach, noch einmal hervorgekramt werden und alte Wunden aufreißen?

Dass die Linkspartei rasch einen Untersuchungsausschuss im Bundestag ins Leben rufen und dort die Geschichte der Birgit-Breuel-Behörde verhandeln will, versteht man. Schließlich treffen die rechtspopulistischen Warnungen der AfD vor Überfremdung der Heimat auf offene Ohren in Sachsen, Brandenburg und Thüringen. Die Linke muss fürchten, ihre jahrezehntelange Rolle als Sachwalter ostdeutscher Interessen an die AfD zu verlieren. Da passt es gut, alte Ressentiments rechtzeitig wieder auszupacken und das ,,Wir im Osten" gegen das ,,Die im Westen" neu zu befeuern.

Doch das durchsichtige Motiv sollte nicht als Argument für eine allzu rasche Ablehnung herhalten. Ja, es hat schon zwei U-Ausschüsse gegeben und niemand sollte erwarten, dass eine Neuauflage zu grundstürzlerisch neuen Bewertungen des Wirkens der Treuhand führt. Die meisten Fakten sind bekannt: Das Ausmaß der ökonomischen Katastrophe des DDR-Erbes war unterschätzt worden, die Treuhand wurde neben ihrer ursprünglichen Aufgabe der Privatisierung der ostdeutschen Industrie mit unverantwortlich vielen sozialen und gesellschaftlichen Aufträgen überfrachtet und so zum Sündenbock für jeden Fehler der Wiedervereinigung. Und am Ende, als die Treuhand geschlossen wurde, waren alle Parteien froh darüber, das unschöne Kapitel beenden zu können. Doch so leicht geht das mit dem Vergessen der Geschichte bekanntlich nicht.

Heute können weit mehr Unterlagen der einstigen Privatisierungsbehörde eingesehen werden als noch vor einigen Jahren. Sich ernsthaft mit den Fehlern von damals auseinanderzusetzen, könnte gerade für Union, SPD, FDP und Grüne eine Chance sein, sich Anerkennung im Osten zu verschaffen und ihre West-Dominanz wenigstens ein bisschen zu korrigieren. Wer die frühen neunziger Jahre noch einmal rekapituliert, wird Antworten auf die Frage finden, warum der Osten so ist, wie er ist: voller Wut und Ablehnung der demokratischen Strukturen des Westens und seiner Repräsentanten.

In diesem Zusammenhang können Politiker gleich auch noch verstehen lernen, warum ihnen die Menschen etwa im Braunkohlerevier der Lausitz nach den Erfahrungen mit der Treuhandanstalt nicht mehr glauben wollen, wenn diese beteuern, man werde die sozialen Folgen des Kohleausstiegs abfedern. Das ist umso wichtiger, wenn jetzt weitere Strukturveränderungen anstehen. Die frühen neunziger Jahre in Ostdeutschland bieten vor diesem Hintergrund einen nur allzu guten Raum des Verständnisses. Denn sie lehren unter anderem, wie groß die Bedeutung von Arbeitsplätzen für das Selbstbewusstsein von Menschen und den Zusammenhalt von Regionen ist - und welchen Schaden es anrichten kann, wenn Politiker darüber leichtfertig hinweggehen.


Aus: "Die Fehler von damals sind eine Chance für heute" Ein Kommentar von Antje Sirleschtov (23.04.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/das-erbe-der-ddr-die-fehler-von-damals-sind-eine-chance-fuer-heute/24246866.html

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Quote[...] BERLIN taz | An diesem Freitag ist es mal wieder so weit. Der Bundestag in Berlin diskutiert vier Anträge der Opposition zum Thema Ostrenten. Es geht darin um Altersarmut, Lebensleistungen, Alterssicherung für bestimmte Berufsgruppen sowie in der DDR geschiedene Frauen. Es geht um gutes Leben im Alter, um das mühsame Ringen um Gerechtigkeit einer mittlerweile hochbetagten Bevölkerungsgruppe aus dem Osten. Reden werden gehalten, warme Worte wie Katzengold verteilt – doch am Ende werden die Abgeordneten der Großen Koalition mehrheitlich dem Vorschlag des Haushaltsausschusses folgen und alle Anträge ablehnen.

Keine rentenrechtliche Entlastung des Ostens, keine Gleichstellung der in der DDR geschiedenen Frauen mit ihren männlichen Altersgenossen. Wenn es gut läuft, könnte es demnächst einen Härtefallfonds geben für jene Rentnerinnen, die am Existenzminimum leben, obwohl sie ihr Leben lang gearbeitet haben. So steht es jedenfalls auf Seite 93 im Koalitionsvertrag.

Zu Hause in Chemnitz, Gera oder Schwedt können hochbetagte Frauen und Männer im Parlamentsfernsehen dabei zuschauen, wie das gesamtdeutsche Parlament ihnen mal wieder zeigt, wie egal sie ihm sind. Ostthemen sind im politischen Berlin nun mal keine Gewinnerthemen. Doch im Superlandtagswahljahr sind fruchtlose Parlamentsdebatten wie diese ein weiterer Grund für viele ostdeutsche RentnerInnen, sich noch weiter von ihren politischen VertreterInnen abzuwenden.

Wenn es eine Partei in der Regierung gibt, die sich zuständig fühlen sollte für die sozialen Belange der ostdeutschen Rentner, dann wäre das die SPD. Von den zurückliegenden 20 Jahren ist sie 15 in Regierungsverantwortung. Doch Carsten Schneider, Parlamentarischer Geschäftsführer der SozialdemokratInnen, antwortet auf die Frage, ob die noch lebenden etwa 250.000 benachteiligten in der DDR geschiedenen Frauen auf Unterstützung durch seine SPD hoffen dürfen: ,,Ich habe denen nie was vorgemacht. Das Recht, das zu DDR-Zeiten gegolten hat, kann nachträglich nicht durch Gesetzgebung geheilt werden. Deswegen lehnen wir das ab."

Das Recht, von dem Carsten Schneider spricht, ist kompliziert und sorgt seit einem Vierteljahrhundert für ein nagendes Gefühl der Ungerechtigkeit im Osten. DDR-Frauen, die wegen der Kindererziehung zeitweise weniger arbeiteten, konnten mit einem symbolischen Betrag von monatlich drei Mark ihre spätere volle Rente absichern. Der Betrag war deshalb so niedrig, weil für die Höhe der später auszuzahlenden Rente ohnehin nur die letzten 20 Arbeitsjahre berücksichtigt wurden, in denen die Löhne und Gehälter am höchsten waren. Jüngere Frauen sollten sich also keine Sorgen machen müssen, wie sie Familie, Beruf und Weiterbildung unter einen Hut kriegen – am Geld für die Rente sollte es nicht scheitern. Auch Ausbildungsjahre oder Teilzeitphasen wurden als volle Rentenjahre angerechnet.

Einen Versorgungsausgleich jedoch, wie ihn das westdeutsche Scheidungsrecht vorsah, kannte die DDR nicht. Man ließ sich scheiden und ging fortan als ökonomisch unabhängige, ihr Einkommen selbst erarbeitende Person durchs Leben. Es herrschte ja Vollbeschäftigung. 1989, im letzten Jahr der DDR, lag die Frauenerwerbsquote bei neunzig Prozent.

Mit der Wiedervereinigung änderte sich das. Der eilig von den Regierungen Helmut Kohl und Lothar de Maizière ausgehandelte Einigungsvertrag sah vor, dass für Frauen aus dem Osten das West-Rentenrecht erst ab dem 1. Januar 1997 gelten soll. Bis dahin sollte ein Gesetz erarbeitet und beschlossen werden, das die Anwartschaften der in der DDR-geschiedenen Frauen regelt.

Ein solches Gesetz fehlt bis heute.

Statt dessen wurden auch die frühen Kindererziehungsjahre als Verdienst gewertet – machte also bei drei Mark pro Monat 36 Mark Rentenbeitrag pro Jahr. Seit nunmehr 22 Jahren fehlen diesen Frauen – von einst 300.000 leben noch etwa 100.000 – mehrere hundert Euro. Viele arbeiten bis heute, um ihre Miete zahlen zu können, und wenn sie eine neue Brille oder neue Zähne brauchen, bitten sie ihre Kinder um finanzielle Hilfe. Ostdeutsche Männer – das nur nebenbei – passten exakt ins gesamtdeutsche Recht; ihre Renten genießen bis heute Bestandsschutz.

In Magdeburg hebt Gerlinde Scheer den Telefonhörer ab. Die frühere Maschinenbauingenieurin ist heute 76 Jahre alt. Scheer ist Vorstandsmitglied im Verein der in der DDR geschiedenen Frauen. Für acht Euro Jahresbeitrag können dort Frauen Mitglied werden, der Verein kümmert sich dann um ihre Belange. Bis zur UNO haben sie es mit ihrer Klage geschafft, benachteiligt zu werden. Eine Abordnung von ihnen reiste gemeinsam nach New York, um ihr Anliegen zu schildern. 2017 dann hat der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau die Bundesregierung aufgefordert, bis März 2019 dazu Stellung zu nehmen. Ob es diese Stellungnahme inzwischen gibt und was möglicherweise drin steht – die Vereinsfrauen wissen es nicht.

,,Zurzeit kriege ich laufend Mitteilungen: Verstorben! Verstorben!", erzählt Gerlinde Scheer. Sie führt die Mitgliederkartei. Von früher einmal zweieinhalbtausend Frauen leben mittlerweile nur noch etwa tausend. Das, was die Betroffenen seit Jahren fürchten – und manche PolitikerInnen möglicherweise insgeheim erhoffen – nimmt längst seinen Lauf. Die Frauen vom Verein nennen es ,,die biologische Lösung".

Gerlinde Scheer ist aber noch nicht bereit aufzugeben. Vielleicht, sagt sie, kann sich der Bundestag wenigstens auf einen Härtefallfonds für die ärmsten Rentnerinnen be­schließen. ,,Obwohl das eigentlich auch wieder eine Ungleichbehandlung wäre, Anspruch auf den Ausgleich haben wir schließlich alle. Wir haben unser Leben lang gearbeitet." Die meisten der geschiedenen Frauen waren Lehrerinnen, technische Assistentinnen, Ingenieurinnen, sie haben gutes Geld verdient. Dass ihnen das heute nichts nützt, sehen sie jeden Monat auf ihrem Kontoauszug. Es sind Geschichten wie diese, die im Osten von Mund zu Mund gehen; Erzählungen von Zweitklassigkeit und von der Tatenlosigkeit der Politik.

Seit vielen Jahren ist die Linkspartei an dem Thema dran. Für die Kümmererpartei des Ostens sind die Rentnerinnen eine wichtige Wählerinnengruppe. An diesem Freitag greift die Fraktion deshalb auf die Geschäftsordnung des Bundestages zurück, damit ausnahmsweise Bodo Ramelow, Thüringer Ministerpräsident der Linken, zum Thema sprechen darf. Der wird die richtigen Worte finden. Doch für die betroffenen Frauen ändert es nichts, die Opposition auf ihrer Seite zu haben. Sowohl der Haushaltsausschuss als auch der Wirtschaftsausschuss und der Familienausschuss empfehlen die Ablehnung des Linke-Antrags , die Forderung der Vereinten Nationen sofort umzusetzen.

In den Ausschussprotokollen ist nachzulesen, welche Fraktion wie argumentiert. Die Union zeigt Verständnis, verweist aber auf die Stichtagsregelung im Einigungsvertrag. Außerdem: Wenn die Frauen Recht bekämen, könnten sich auch andere benachteiligte Gruppen darauf berufen. Die FDP argumentiert, es handele sich um ,,unvermeidbare Strukturbrüche", die nun mal entstünden, wenn zwei Sozialsysteme verschmolzen werden.

Und die SPD sieht die Ungerechtigkeit, verweist aber auf den Koalitionsvertrag, in den sie den Nothilfefonds hineinverhandelt hat. Eine Nachfrage der taz in der Fraktion ergibt, dass man dort mehr als ein Jahr nach dem Start der Großen Koalition von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe weiß, die sich mit der Frage befasst, wie viele Frauen überhaupt betroffen wären. Ebenfalls unbekannt ist, welches Ministerium federführend ist und welche Kosten auf den deutschen Staat zukämen. So recht scheint bei der SPD niemand daran zu glauben, dass Gerlinde Scheer und ihre Mitstreiterinnen jemals Geld sehen könnten. Wie sagt Carsten Schneider, der Parlamentarische Geschäftsführer mit Thüringer Wahlkreis? ,,Ich mache den Frauen lieber keine unberechtigten Hoffnungen."

Mittlerweile hat auch die AfD im Bundestag das Potenzial des Themas für sich entdeckt. Die Rechtspopulisten bringen an diesem Freitag gleich zwei Anträge zum Thema Ostrenten ein, für die geschiedenen Frauen fordern sie den von der SPD in den Koalitionsvertrag geschriebenen Härtefallfonds. Und die Regelung solle nicht nur von Altersarmut betroffenen Frauen zugute kommen, sondern allen Anspruchsberechtigten.

Gerlinde Scheel ist jede Unterstützung recht. Sie lobt den Wahlkämpfer Ramelow von der Linken, der ,,immer für uns eintritt", und ärgert sich, dass sich ,,die Politiker aus den alten Bundesländern" nicht für sie und ihre Mitstreiterinnen interessierten. ,,Aber wissen Sie", sagt sie am Telefon, ,,eigentlich ist es egal, wer für uns moniert. Wenn das die AfD macht – verkehrt kann es nicht sein."


Aus: "Die Pech-gehabt-Frauen" Anja Maier (10.5.2019)
Quelle: https://www.taz.de/Ostrenten-und-Altersarmut/!5593997/

QuoteReinhold Schramm


Es sind vor allem westdeutsche Frauen in der Armutsrente. Hier liegt in allen westdeutschen Bundesländern die GRV-Altersrente für Frauen im Durchschnitt deutlich unterhalb der gesetzlichen Grundsicherung (Sozialhilfe).

Meine (westdeutsche) Mutter hatte nach 33. Vollzeitarbeitsjahren, davon etwa 10. Jahre eine 7.Tage-Woche in unterbezahlter Arbeit, auch im Haushalt von Multimillionären, eine eigenständige Armutsrente auf dem geringen Niveau der Sozialhilfe. Sie hatte zudem drei Kinder. // In der DDR wäre sie gewiss eine anerkannte ''Heldin der Arbeit'' geworden! // Die GRV-Durchschnittsrente für ostdeutsche Frauen liegt heute bei etwa 880 Euro.

Eine Ausnahme besteht lediglich für Beamtinnen und Pensions-Witwen. Auch Ehefrauen von Politikern und Bürgermeistern können auch ohne lebenslange Erwerbsarbeit mit sehr hohen Witwenpensionen rechnen. Sogar, nach dem frühen Tod des Partners, über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren, mit aktuell mtl. mehr als 6.000,- Euro. Hierfür ist die Gesellschaft auch dazu bereit, mehrere Millionen Euro an Bürgermeister- und Beamten-Witwen zu zahlen; auch wenn diese Damen der Gesellschaft keinerlei Erwerbsarbeit nachgehen!


Quoteamigo

Die AfD weiß doch, wer letztlich immer Schuld hat: Der Ausländer, der Asylant und anderes undoitsches.


QuoteHanne

Interessant wird es für einige nur, wenn es sie selbst betrifft.

Was sagen diese Damen zu Entschädigungen und Renten für ehemalige Zwangsarbeiter/innen oder gar Lagerinsassen, die diese nicht bekommen? Auch da sterben die Betroffenen einfach weg.

Den Damen ging es wenigstens ihr Arbeitsleben lang finanziell gut, dass kann heute bei Vollarbeitszeit auch kaum noch eine Frau - zumindest nicht die Mehrheit - sagen. Auch etlichen Männern geht es bei Vollerwerbstätigkeit finanziell nicht gut.

Und ja, wenn die AfD diesbezüglich was tut, auch okay.

Solche Typen sind mir sehr suspekt - egal, wo sie herkommen und was sie "geleistet" haben.

Wie viele von denen waren denn z.B. Spitzel und haben andere in ihren Positionen geknechtet? Wenn ich mir diese grimmigen Gesichter auf der Straße und in der Bahn im ehemaligen Ostgebiet ansehe, dann möchte ich oftmals gar nicht wissen, wie sie ihr Leben im System brav erfüllt haben.

Das mag bei den Männern genauso gewesen sein, aber auch Frauen in anderen Ländern, auch im Westen, bekommen aus welchen Gründen auch immer, keine oder kaum Lebensleistungsrente.

Sollen sie sich doch für eine Mindestrente für alle einsetzen, das hätte Charme und Sinn für die Zukunft und viele nach ihnen.

Diese Ego- und Opfergejammere nervt echt.

Es gibt so viele andere Benachteiligte, aber den Frauen geht es nur um sich selbst - egal, was es politisch kostet.


QuoteRolf B.

@Hanne Die Brutalität und Dummheit, die Sie hier verbreiten, ist erschreckend.


QuoteHolzhirn

Und urch solche Dinge verspielen sich die großen Parteien ihren Rückhalt in der Bevölkerung. Ist nur die Frage ob die Mitte nach Links oder Rechts zerbröckelt.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Wieder hat die AfD bei einer Wahl in Ostdeutschland abgeräumt. Nichts hat die Radikalisierung von Cottbus bis Chemnitz aufgehalten. Ist der Osten noch zu retten?  ...

Es gibt progressive Menschen im Osten, an manchen Orten sind sie auch tonangebend, doch überall ist auch das, was der Rechtsextremismus-Experte David Begrich eine "regressiv-autoritäre gesellschaftliche Unterströmung" nennt, die in allen Milieus anzutreffen sei. Zugleich sähen sich viele "einer Art kulturellen Fremdherrschaft unterworfen, in der sie mit ihren Erfahrungen nicht vorkommen". Das Ergebnis ist bei vielen die Ablehnung dessen, was sie als westdeutschen Mainstream erleben: Pluralismus, Minderheitenschutz, eine kompromissorientierte politische Praxis.

Vielleicht befreit sich der Osten von dieser Grundströmung. Kann sein, dass sich mehr Städte so erfreulich wie Jena, Leipzig, Rostock, Frankfurt (Oder) oder Halle entwickeln. Doch angesichts der sozialen Konstellationen des Ostens besteht auch das Risiko einer viel düstereren Zukunft. Björn Höcke träumt schon lange von Wehrdörfern im Osten, von denen aus eines Tages die "Rückeroberung" der Bundesrepublik durch die Rechtsextremen ihren Ausgang nehmen soll.

Auch wenn vielen genau nach dem Gegenteil zumute ist: Wenn man diesen fatalen Zusammenhalt der Ablehnungsmilieus aufbrechen will, muss man zuhören und verstehen wollen, und zwar doppelt so viel.

Es führt noch immer kein Weg daran vorbei, ernsthaft und tiefgründig aufzuarbeiten, was in den vergangenen 30 Jahren im Osten geschehen ist. Mag sein, dass die Treuhand, dass die Alimentierung des Ostens gut und patriotisch gemeint waren. Doch es wird Zeit, auf das nüchterne Ergebnis zu schauen: Der Osten ist, abgesehen von einigen Aufschwungregionen im Süden, weitgehend deindustrialisiert, er hat infolgedessen eine Massenabwanderung und Überalterung erlebt, die vielen Regionen dort heute jede Perspektive rauben. Die Löhne sind unterirdisch, die wenigsten werden ihren Kindern etwas hinterlassen. Selbst nach dem historischen gesamtdeutschen Aufschwung des vergangenen Jahrzehnts empfehlen Experten, manche Gebiete besser der Natur zu überlassen.

Vielleicht gibt es auf all das keine schnelle ökonomische und politische Antwort, doch soll das verstärkte Ansiedeln von Behörden im Osten tatsächlich die letzte Idee sein, die einer der bedeutendsten Industriestaaten der Welt dazu hat?

Es ist diese Wurstigkeit, mit der in der Politik jede neue Hiobsbotschaft aus dem Osten behandelt wird. Es gab in den 30 Jahren seit der friedlichen Revolution nicht einen einzigen bedeutenden westdeutschen Politiker, der den Osten zu seinem großen Anliegen gemacht hätte – außer einigen Senioren, die dort ihre zweite Karriere machten. In der gesamtdeutschen politischen Öffentlichkeit gibt es nur wenige, die mit Ostthemen wirklich durchdringen. Die hin und wieder mal warnen, welche Abgründe sich in einer Region auftun können, in der nicht so wenige Bewohner zu der Überzeugung gelangt sind, sie seien feindlich besetzt worden.

Deswegen ist es leider nichts Neues, was man seit der Europawahl wieder auf Twitter lesen kann. "Baut die Mauer wieder auf", "Leipzig abspalten" und Ähnliches schreiben Leute. Sie wollen nichts mehr hören davon, dass es auch einen anderen Osten gibt, dass einfache bis überwältigende Mehrheiten auch im Osten die AfD ablehnen. Sie sehen es nicht ein, darüber nachzudenken, ob irgendetwas an der ostdeutschen Wut auch gerechtfertigt sein könnte. Sie wollen jetzt einfach mal schreiben, dass der ganze Osten naziverseucht ist. Aber wie viele von denen, die jetzt schreiben, sie wollten das Gelaber der demokratischen 75 Prozent nicht mehr hören, haben das Gelaber der demokratischen 87 Prozent nach der Bundestagswahl mitgemacht?

Dabei bräuchte es nur ein wenig mehr Differenzierung, um nicht alle Ossis zu Mitläufern einer rechten Revolution zu machen. Es gibt ihn ja, den schulterzuckenden oder sogar beifallklatschenden Rassismus mancher, die längst nicht mehr unterscheiden wollen zwischen Unbekannten und Böswilligen. Es gibt dieses Autoritäre, diese Knüppel-auf'n-Kopp-Welt derer, die Orbán und Putin so lieben. Diese Verachtung mancher gegenüber der Vorstellung, dass es Schwächere außer einem selbst gibt, die beschützt werden müssen.

Westdeutschland hin oder her. Es sind diese Herrenmenschen, die den Osten kaputt machen. An keinem der Orte, an denen sie seit Jahrzehnten immer wieder "Fuck you" wählen, ist irgendetwas dadurch besser geworden. Im Gegenteil, diese Regionen entleeren und verarmen noch mehr und noch schneller als die anderen. Wie auch anders. Wirklich niemand, der Menschen nach Religion oder Hautfarbe oder Wert sortiert, hat eine Ahnung davon, wie man eine Gegend für Menschen attraktiv macht. Nichts wird besser werden im Osten, wenn dort eines Tages Leute regieren, die nur ihresgleichen dulden.

Es ist so viel schiefgelaufen im Nachwendeosten, es gab so viele Ungerechtigkeiten. Aber das ist kein Grund, das war es nie, Rechtsextreme zu wählen und damit das Land von der Außenwelt abzuschotten. Niemand wird von der Geschichte gezwungen, ein Rassist zu sein. Niemand hat das Recht, andere zu misshandeln, weil ihm selbst übel mitgespielt wurde. Und auch sonst nicht.

Wo immer im Osten das nicht klar ist, wird es Zeit für mehr, nicht weniger Streit. Denn so sind nicht alle, bei Weitem nicht. Es gibt so viele, die das Grundgesetz jeden Tag in ihrem Tun und Reden respektieren. Sie sind an den meisten Orten in der Mehrheit, und es wird Zeit, dass sie sich durchsetzen.

Diese Menschen brauchen Unterstützung, manche brauchen konkret Geld. Was sie jedenfalls nicht brauchen, sind wohlfeile Kommentare aus Hannover-Linden. Die Lage im Osten ist zu ernst, um nicht zu differenzieren.


Aus: "Ernstfall Ost" Ein Kommentar von Christian Bangel (27. Mai 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/wahlergebnis-ostdeutschland-europawahl-afd-rechtsextremismus/komplettansicht

QuoteBells of Freedom #8

"Ist der Osten noch zu retten?"

Solche arroganten Kommentare aus den Redaktionsstuben linksliberaler Medien sind sicherlich auch ein Beitrag für die wachsende Polarisierung.


QuoteNomeeNaomi #8.2

Ach Unsinn. Die Menschen wählen doch nicht AfD, weil ihnen die Zeit-Kommentare nicht gefallen. ...


Quotederi punkt partei #11 

Ablehnung von Pluralismus, Minderheitenschutz und kompromissorientierter politischer Praxis.
Warum sollte man dem zuhören?


Quotefolgt #11.1

Pluralismus, Minderheitenschutz und kompromissorientierter politischer Praxis.
Worthülsen - was wollen sie sagen?


QuoteNomeeNaomi #12

Alles eine Frage der Perspektive. Ist der Westen noch zu retten?


QuoteRahus #12.8

>>Ist der Westen noch zu retten?<<

Am ostdeutschen AfD-Unwesen wird und kann der Westen nicht genesen.

Der Osten wird weiterhin mit zig Milliarden Transfergeldern aus dem dekadenten, inter- und multikulturell gescheiterten Westen subventioniert werden.

Dass der Osten angesichts dieses Wahlergebnisses trotzdem noch zu retten ist, ist für alle Bewohner unseres lebenswerten Landes - mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft, mit und ohne Ressentiments gegen Einwanderer, Ossis oder Wesis, in Ost und West - sehr zu hoffen.

Die in Ostdeutschland lebenden Leser dieser Zeilen mögen das bitte nicht auf sich als Gruppe beziehen, ich bin ein großer Fan der deutschen Wiedervereinigung und habe viele - antifaschistische und tolerante - Freunde in Sachsen und Brandenburg. Aber einem unbelehrbaren AfDler wie NomeeNaomi muss man doch mal den Ossi-Wessi-Spiegel vorhalten.


Quoteastor131 #12.9

Die Grünen kann man wählen oder nicht, der Osten bleibt.


QuoteRahus #12.10

>>Die Grünen kann man wählen oder nicht, der Osten bleibt.<<

Der Osten bleibt, aber viele Menschen - insbesondere die jungen - werden nicht in den Regionen bleiben, die heute AfD-Hochburgen sind.
Sie werden nach Leipzig, Halle, Erfurt, Jena, Berlin oder in den Westen abwandern.
Finde ich bedauerlich, kann ich aber nachvollziehen.


QuoteTychus F1ndlay #13

In einer pluralistischen Demokratie muss man auch akzeptieren, dass jemand Dinge ablehnt. Migration mit der verbundenen Integrationsaufgabe kann man auch ablehnen.
Nicht aus rassistischen Motiven, sondern auch aus Egoismus. ...


Quote
Balschoiw #13.1

Ihr Motiv ist also Neid. Irgendwie erbärmlich.


QuoteBurning Daylight #13.2

"Wenn ihr schon für uns keine Jobs schafft, warum sollen wir dann noch mit Fremden teilen?".

Nennt sich Solidarität, eines der Grundprinzipien unseres Landes. War in großen Teilen sehr schön zu sehen nach der Wiedervereinigung...


QuoteSchnucki3 #13.3

Ich: 84er Ossijahrgang aus dem Grenzgebiet, wo heute Höcke wohnt, finde Sie haben recht. Viele wählen (meistens) aus egoistischen Motiven ihre Partei.
Wenn ich an Omi und Opi denke, an DDR-Hort und Schicht im Schacht, an Badeofen und Kohleeimer, sage ich Ihnen, dass ich die wir-kriegen-den-Hals-nicht-voll-Mentalität an den Ossis und ihrer blauen Geiz-ist-geil Partei zutiefst verachte. Sie scheint größer zu sein als die, die man den superkapitalistischen Haudegen hinter der Mauer je unterstellt hätte.
Meine Meinung: Die Ossis, die AFD wählen haben keinen Stolz und ganz ehrlich: es blamiert mich mit. Selbstachtung darüber beziehen, indem man sich mit nationalistischen Surrogaten (Scheinlösungen) für umme das Ego subventionieren lässt? ...


QuoteBakfiets22 #13.7

... Wenn man sich den Ossis gegenüber unsolidarisch verhält (= keine Jobs und keine gleichwertigen Lebensverhältnisse für sie schafft), dann kann man nicht erwarten, dass sie auf diesen unsolidarischen Angang mit einer Solidaritätsadresse reagieren. Die sprechen dann die Wahrheit aus, indem sie sagen: wenn wir keine Solidarität erfahren, geben wir auch keine, denn die Gelackmeierten sind in diesem Lande seit dreißig Jahren wir.
Wenn Sie jetzt auf den Soli anspielen, dann kann man sagen: ja, die Straßen in Ostdeutschland sind jetzt blitzblank, aber es können sich viel nicht das Auto leisten, um sie auch zu benutzen. In den schön renovierten Altbauten können die Ureinwohner in der Regel auch nicht leben (zu teuer, egal ob Miete oder Kauf), und die Führungsetagen in Wirtschaft, Politik und Kultur sind westdeutsch besetzt. Diese Menschen sind es, die an den Wochenenden sehr bequem auf den renovierten Straßen in ihre alte Heimat sausen und somit etwas vom Soli haben.


QuoteBurning Daylight #13.10

"Wenn man sich den Ossis gegenüber unsolidarisch verhält"

Der Westen hat sich dem Osten gegenüber unsolidarisch gezeigt? Das ist Ihr Ernst?

Weil wir da aktuell nicht genug Jobs schaffen? Ich bin im Ruhrgebiet aufgewachsen, inzwischen gibt es dort grob 10% Arbeitslosigkeit. Wenn ich wieder meine Freunde und Familie dort besuche höre ich aber niemanden jammern, das diese Hohe Arbeitslosigkeit eine Folge mangelnder Solidarität ist

"denn die Gelackmeierten sind in diesem Lande seit dreißig Jahren wir."

In der DDR war alles besser, oder wie?.


QuoteOssilant #14

Die Überschrift ist missverständlich gewählt "Ist der Osten noch zu retten?".

Hier möchte keiner wieder "gerettet" werden, wer gerettet wird ist nicht auf Augenhöhe mit dem Rettenden.
Das ist genau der Punkt, der viele meiner Landsleute zu dieser unsäglichen Partei bringt.
Als sie das letzte Mal "gerettet" wurden, gab es gefühlte 90% Arbeitslosigkeit danach - in einem ehemaligen Arbeiterstaat, in der der Arbeitsplatz wie das Zähne putzen zum Leben gehörte.
Was "wir" brauchen ist eine Partizipation in -zumindest unsere- Ämter, Behörden, Gerichte. "Wir" wollen in der Politik auch stattfinden. Nicht als Jammerossis, als Soli-Zuschlagskassierer oder als Nazipack.
Doch genau dazu macht man uns.
Man redet über uns, seltener mit uns. Wir werden 30 Jahre nach der Wende immer noch nach "Osttarif" bezahlt.
Uns wird tagtäglich damit klar gemacht, dass wir weniger wert sind.

Unsere DDR-Ganztagsbetreuung wird "Finnisches Modell" genannt, weil man sich nicht traut, das wenig Gute an der DDR zu benennen. Natürlich wissen alle, dass das Ganztagsbetreuungsmodell von der DDR abgeguckt ist.
Da unsere DDR aber in der Wahrnehmung nur aus FKK, Broiler und Stasi bestand wird das unter den Tisch gekehrt.
Ich verstehe den Missmut meiner Landsleute. Ich habe selbst Protest gewählt - die PARTEI. Das war im übrigen die einzige Partei die sich in der Provinz mit ihrem Oberindianer hier hat blicken lassen. Mark Benecke war auch dabei.
Soviel Wertschätzung haben die etabl. Parteien vermissen lassen.

... Was meinen Landsleuten hier fehlt sind die positiven Wahrnehmungen, auch hinsichtlich Europa.


QuoteKrawallbürste #14.4 

> Soviel Wertschätzung haben die etabl. Parteien vermissen lassen.

Das fand ich auch krass, wenn ich mit dem Motorrad aus der sächsischen Großstadt raus auf die Dörfer gefahren bin - dort hängen nur AfD Plakate. Es war kaum eine andere Partei zu sehen. Die AfD dafür aber auch im letzen 40 Seelen-Nest. Das zieht dann halt leider.


Quotespringer1 #17.1

Würde ich im Osten leben, würde ich auch aus Protest dem Westen gegenüber die AFD wählen.


Quoteastor131 #17.3

"Würde ich im Osten leben, würde ich auch aus Protest dem Westen gegenüber die AFD wählen."

Und das bringt dann was? Wem haben Sie es damit gegeben?


QuoteBurning Daylight #17.5 

"Würde ich im Osten leben, würde ich auch aus Protest dem Westen gegenüber die AFD wählen."

Protestverhalten wie ein Kleinkind aber wie ein verantwortungsbewusster Erwachsener behandelt werden wollen. Sorry, aber so funktioniert das nicht.


QuoteÜbergangsweise #17.8

Genau! Warum nicht ,,aus Protest" sich selbst ins Knie schießen?


Quotefolgt #20

"Ist der Osten noch zu retten?"
Ich sehe das genau umgekehrt, ich denke der Westen ist nicht mehr zu retten.
Leider zieht der dann auch den Osten mit in den Abgrund.


QuoteDraußen nur Kännchen #20.6
 
Was ist denn das 2. Thema neben "Ausländer raus"?


QuoteBCO #21

Von den 11 gewählten AfD-Kandidaten kommen 10 aus dem Westen.

Danke, liebe Ossis!


Quote
gEd8 #21.1

Migranten.


Quotehunter100 #33

Der Artikel liefert die besten Begründungen dafür, warum die Menschen im Osten "rechts" wählen (was ist schon rechts, wo die gesamte ehemalige konvervative Mitte links abgebogen ist?): Sie haben einfach genug davon, als Bürger zweiter Klasse ausgrenzt und nicht für voll genommen zu werden und was Gesinnungsjournalismus angeht - ja, davon wissen sie sie nun wahrlich ein Liedchen zu singen.


QuoteMilch0815 #36
 
Die Deutsche Einheit als Illusion: gespalten Ost und West, in Schwarz und Rot, in Jung und Alt. Alle Parteien polarisieren und heucheln von Einheit - und tun kaum was dafür. Die Mauer ist wieder da; in den Köpfen. ...


Quoteddfrog #42

Ich denke, Herr bangel hat es aus seiner westdeutschen Journalistensicht ganz gut hinbekommen - ich finde den Artikel als Ossi nicht schlecht. Aber was nun? Es graust mich etwas vo der Landtagswahl in Sachsen im September. Herr Kretschmer sagt, er will nicht mit der AfD koalieren, aber siehe James Bond: Sag niemals nie. Übrigens haben in Chemnitz 22% AfD gewählt. Ist das schon Radiaklisierung? Was in der Tat auffällt, ist der zunehmende Gradient Stadt-Land. Gut zu sehen bei der Kommunalwahl in Dresden: Innenstadt, Grüne vorn, Außenstadt - AfD.



QuotePutschdämon #44

"Ist der Osten noch zu retten?"

Das Gleiche fragen sich dort viele über den Westen. Es gibt nun mal unterschiedliche Meinungen. Bitte gewöhnen Sie sich daran, dass nicht ganz Deutschland wie das hanseatische Bildungsbürgertum tickt. Die anderen müssen ja auch hinnehmen, dass nicht alle wie sie denken. Vielfalt statt Einfalt. ...


Quote
SubversionUndNegation #49

Ich bin viel zu Adorno-Verseucht um mir einreden zu lassen, dass im Westen irgendwas nicht autoritär ist.


Quote
Nazijäger seit 45 #53

"Wenn man diesen fatalen Zusammenhalt der Ablehnungsmilieus aufbrechen will, muss man zuhören und verstehen wollen, und zwar doppelt so viel."

An 'Ausländer raus' gibt es nichts, das es nicht zu verstehen gibt und genau das dringt durch die Zeilen der Rechtsextremen und der Rechtspopulisten mit, egal ob die Zeilen verpackt sind in irgendwelchen pseudowissenschaftlichen Behauptungen oder quasi auf "sachlich" getrimmt sind. Letztendlich geht es darum, einen Sündenbock zu finden, für die eigene Frustration, für die eigene Ambitionslosigkeit.


Quotebemüht #54

Vielleicht ist einfach die Vorstellung des westlichen Durchschnittjournalisten falsch, dass es den Menschen in der DDR vor allem um Freiheit ging und nicht um Wohlstand.


QuoteEpicurus #58

Man lese Falter: Hitlers Wähler.

Auch in Weimar wurde in diesen Gebieten zuerst rechts gewählt.
Das hat eine lange historische Tradition.


QuotePalmeras #71

Wenn man den Einheitsprozess nicht aus Archiven, Essays und Büchern kennt oder sich von Wolf Biermann vorsingen lässt, sondern ihn hautnah und leibhaftig in der ersten Reihe erlebte, was uns Westberlinern durch den territorialen Umstand in den Schoss fiel, muss man sich über die Wahlergebnisse im Osten bis heute nicht wundern. Es wurden von unserer West-Seite nicht nur Fehler begangen, wie es heute verniedlichend dargestellt wird. Politik, zentral die meisten Medien und vor allem die Wirtschaft sind mit eine Herablassung und Inquisitionshaltung auf den Osten los, haben dort tiefe Wunden hinterlassen, die selbst bei den Kindern der Geschädigten und Gedemütigten noch neue Narben wachsen lassen. Man versprach Demokratie und Freiheit, kam aber mit den Werkzeugen des Neoliberalismus und einem latenten Überlegenheitsgedusel in die neuen Bundesländer. Nun bestaunen wir, was wir selber gesät.


QuoteMaximus Decimus Meridius #78

Tja, die AfD feiert Erntedankfest.
Und besonders bedankt sie sich bei den Medien, die praktisch über gesamte Regierungszeit Merkel jubelpersernd der Regierung Beistand leisteten, anstatt durch kritische Distanz mit ihrem professionellen Einblick den Verantwortlichen eine Politik fürs Volk mit Weitsicht und Erklärungspflicht abzuverlangen.  ...


QuoteKrausinho1967 #82

Natürlich gibt es nicht den Grund für die relative Stärke der AfD im Osten. Ein gewichtiger könnte aber in der habituellen Differenz liegen. Zunächst durch die PDS aufgefangen, wurde diese im Zuge der gesamtdeutschen Entwicklung der Partei ,, die Linke" heimatlos. Die AfD profitiert zweifellos davon.


QuoteDieMenschheitIstGut #84

"Ist der Osten noch zu retten? " Geht es noch platter? Das klingt nach der - sorry - etwas dümmlichen Annahme, dass der Osten nicht wisse, was er tut und dass müsse man ihm Politik einfach nur besser erklären müsse. Dazu sage ich, als Wessie, dass die Ostdeutschen meist viel besser wissen über Politik und wie sie funktioniert als der notorisch verwöhnte Westen. Und Ossies scheinen besser zu wissen, was sie wollen, denn sie wurden jahrzehntelange politisch drangsaliert. Und vielleicht können deswegen Ossies auch politisch substanzlose Besserwisser klarer identifizieren?...


QuoteDeine Freiheit ist auch die der Anderen #85

Es ist erbärmlich und für mich als Ostdeutscher beschämend, dass nur wegen eigener Befindlichkeiten ( nicht berücksichtigt gefühlt, abgehängt gefühlt etc ) rechte Hetzer und Faschistenverehrer gewählt werden. Nichts rechtfertigt das! ...


QuoteRL59 #100

Alle reden immer davon, dass die EU gespalten ist. Es scheint Deutschland ist ein leuchtendes Beispiel für die Trennung einer Gemeinschaft.


QuoteBarbaer #104

Auch im Osten haben ~80 Prozent der Wähler nicht die AfD gewählt, selbst in den genannten rechtsextremen Hochburgen sind sie weit davon entfernt eine Mehrheit zu erreichen. Statt sich ständig auf ein paar braublaue Dörfer zu versteifen (Bautzen: 40.000 Einwohner), wäre doch mal ein freundlicher Aufmacher, dass in der größten Stadt die Grünen stärkste Kraft sind (in Berlin, ebenfalls im Osten, ja ohnehin). Offenbar können sich die Ostdeutschen auch selber "retten"...


QuoteInni-Lisa #107

Wie wär's mal mit der Wiederherstellung der sozialen Gerechtigkeit?


QuoteSebastian G. #124

Tja, als Chemnitzer weiß ich auch nicht so recht, wo das hinführen soll. Es ist ja nicht nur die AfD sondern auch das noch rechtsradikalere Pro Chemnitz, was hier Erfolge feiert. Deren Wahlkampfbroschüre hatte ich im Briefkasten und seitdem ist mir klar, dass die Aussage, dass nur dumme und ungebildete Menschen solche Parteien wählen, keine Beleidigung oder Pauschalisierung darstellt. Wer das liest und dann tatsächlich noch dort sein Kreuz macht (egal ob aus Zustimmung oder aus Protest), dem ist nicht mehr zu helfen - schon gar nicht mit Sachargumenten.
Dazu kommt ja auch noch das Agieren der Rechtspopulisten im europäischen Ausland. Wo hat sich denn was gebessert? England, Polen, Ungarn, Italien - wo genau haben die Rechten was gerissen? NIRGENDS! Nimmt man dann noch die USA hinzu, zeigt sich, dass rechte Aufrührer eben nur schreien können, aber kläglich versagen, wenn es um Ergebnisse geht. Bei der AfD ist es nichts anderes. Was haben die denn bitte schön geleistet, seit sie Politik mit gestalten können? Null. Im Chemnitzer Stadtrat sitzt einer von denen in einem Ausschuss und der sagt zu allem Ja und Amen. Das ist die. Alternative? Lächerlich. Im Herbst wird Sachsen wohl AfD-Land werden. Toll. Man schämt sich schon bei dem Gedanken. Aber wahrscheinlich müssen die Rechten erst in der Praxis versagen, bevor ihre Wähler merken, dass sie nix taugen. Schade um 5 vertane Jahre...


QuoteGertrud. die Leiter #125

Das Problem ist ja kein rein deutsches. Es ist weltweit das gleiche und heißt nur überall anders: in den USA Trump, in Großbritannien Brexit, und bei uns eben AfD. Seit mehr als drei Jahrzehnten machen die sogenannten Volksparteien, großen Koalitionen und Parteien der "Mitte" eine scheinbar alternativlose neoliberale Einheitspolitik, die wenige große Gewinner erzeugt, viele Verlierer und noch viel mehr, die Angst haben, irgendwann zu den Verlieren zu gehören. Und von den letzten beiden Gruppen derer, die sich zurückgelassen, überrollt oder schlicht ver*rscht fühlen, rennen eben viele denen hinterher, die die einfachsten Antworten geben. Und die allereinfachste Antwort auf alles ist es, einen Sündenbock zu benennen, auf die Wut und Ärger projiziert werden können.

Alles schon mal da gewesen. Und nicht nur einmal.


QuoteJulier #133

"Aber das ist kein Grund, das war es nie, Rechtsextreme zu wählen..."
Das ist die entlarvende Passage. Die Menschen in Mecklenburg, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen waren nun Jahrzehntelang Steigbügelhalter für Emporkömmlinge aus dem Westen. Deren Parteien sind abgefrühstückt, haben Aufschwung und Aufmerksamkeit versprochen, aber es kam nichts. Also wird Rechts gewählt.


QuotejustAmoonwalker #127

Ich für meinen Teil, welcher nun schon seit 3 Jahren in Dresden wohnt, habe es langsam aufgeben mit Afd Wählern zu diskutieren. Die Argumentationsstruktur ähnelt auffällig kleinen Kindern welche sich weigern vorm Bett gehen die Zähne zu putzen. Da kann man noch so viele Erfahrungen und Studien zitieren dass Karies langfristig die Zähne ruiniert. Die Wähler/Kinder behaupten dann einfach, sie hätten schon am Tag vorher keine Zähne geputzt und vom Karies sei nichts zu sehen. Also haben sie recht & ich Unrecht. Punkt.

Als Vater mag man da noch Gedult haben bzw. die Möglichkeit ein Machtwortes zu sprechen ist gegeben. Mit Erwachsenen mündigen Bürgern geht das leider nicht mehr so gut. Aber vielleicht wollen die Leute auch einfach so jemanden der für sie Entscheidungen trifft. Ein Papa a la Putin der seine Schützlinge behütet.


Quotethomaseisenhuth #139

Der Artikel beschreibt ein brisantes Thema und doch wird der Kern des Problems nicht getroffen. Leider! Ich bin ein Kind der DDR. Positive Kindheitserlebnisse gegenüber Freunden aus dem Westen zu erzählen ist all die 30 Jahre immer ein Problem gewesen. Egal, was ich aus meiner Kindheit erzählen wollte: Wenn ich nicht noch die Geschichte mit dem Satz beendete "und es war doch ein Unrechtsregime" wurde und werde ich stets misstrauisch angeschaut wie ein Ewiggestriger und sicher mit Gedanken meiner westlichen Freunde wie "War er bei der Stasi?" oder "Wählt er die AfD?". Es ist immer die selbe Leier. Man ist stets verdächtig. Ein Freund aus dem Westen erzählte mir vor Jahren ganz stolz wie er nach dem Mauerfall alte Westaustos den unwissenden Ossis zu vollkommen überhöhten Preisen verkauft hat. Seit einiger Zeit diskutieren wir immer wieder über den angeblich ach so rechten Osten. Kommentar von ihm: 'Warum sind den bloss die Menschen im Osten so undankbar? Sie können jetzt alles kaufen und haben schöne Autobahnen.' Leider denken so viel zu viele Menschen im Westen, die gern - auch als Journalist oberlehrerhaft über den Osten dozieren und urteilen über eine Situation, die sie selbst nicht verstehen und auch nicht verstehen wollen. Wenn Menschen und ein Land nicht vereinigt werden, sondern angeschlossen und der Westen seinen Plan, nach Vereinigung das Grundgesetz durch eine Verfassung zu ersetzen aufgibt, weil der Westen alles besser weiss, wundern mich die Wahlen nicht!


Quotekuhnoix #141

Eine westlich-abgrenzende Bevormundung muss wieder her

Der Arbeiter-und-Bauernstaat, von 1961 bis 1989, hat - dauerhaft -seine Spuren hinterlassen, bis heute.


Quote
Shenia #148

Es war auch Naivität des Westens zu glauben, dass die westliche Demokratie sofort von dem Osten übernommen wird. Es war auch für Westen ein langer Weg dorthin ...


QuoteAdam Kowalski #155

In einem hat der Autor zumindest recht: Über die Treuhand und anschließende Förderungspolitik muss diskutiert werden. Es ist doch beachtlich, dass genau in den Gebieten, in die Milliarden an EU-Fördergelder flossen, das System am meisten abgelehnt wird.


QuoteAlter Hartzer #156

Ich kann dem Autor nur empfehlen mal über seinen Tellerrand Deutschland hinaus zu sehen: es gibt da noch ganz viele andere Länder in Europa.

Und viele Menschen in diesen Ländern haben (leider) auch die Neuen Rechten gewählt. Sind Frankreich, Belgien, Italien, Polen, Ungarn oder England auch nicht mehr zu retten? Gilt da auch der Ernstfall? In diesen Ländern haben die Neuen Rechten nämlich ungefähr die selben Prozentanteile erhalten wie in der ehemaligen DDR - und teilweise deutlich mehr.

Wenn Sie ganz Europa berücksichtigen ist nicht Ostdeutschland der Sonderfall, ganz im Gegenteil; der Sonderfall ist Westdeutschland, mit den vielen Grünwählern in den prosperienden Großstädten.


QuoteSt.Expeditus #158

Vermutlich liegt das unterschiedliche Wahlverhalten zwischen West und Ost auch an der Altersstruktur. Denn im Osten machen die über 60-Jährigen mehr als ein Viertel der Bevölkerung aus.
Gerade auf dem flachen Land ist der Anteil der über 60-Jährigen noch höher. Diese Menschen haben also zwischen 20 und 40 den Umbruch der Wende erlebt und waren davon am Meisten betroffen. Vielleicht erklärt das, dass die AfD dort so stark ist.


QuoteSuperkommentator #166

Der "Osten" ist natürlich sehr pauschal, und niemand kann für alle Menschen im Osten in ein paar Sätzen alles gerecht kommentieren. Wenn der Osten aber mehrheitlich rechts wählt, dann ist der Osten mehrheitlich rechts. Wenn Universitätsstädte im Westen grün wählen, dann sind diese Stäste mehrheitlich grün. Im Osten wie im Westen gibt es arm und reich, soziale Härten und üblen Finanzkapitalismus. Jung und alt unterscheidet sich auch stark. Es gibt also keine Pauschalurteile und keine Pauschallösungen. Eins bleibt für alle aber gleich. Wer friedlich leben will, Reisen will, Infrastruktur (vom Bürgersteig bis zur Internet-Firma) haben will, der muss auch mit allen anderen zusammenleben können, nicht mal eben nur in Chemnitz, Ost-Deutschland oder Europa, sondern mit allen auf der Welt. Zur Welt gehört die Türkei, der Islam, afrikanische Migranten und sogar die AfD-Wähler. Die Jüngeren verstehen das meistens besser. Für diese ist primär auch die Zukunftspolitik wichtig. Oft heißt es im Osten, man wolle eben unter sich bleiben. Hier muss man doch denen mal klar sagen: Das könnt ihr total vergessen ...


QuoteSören Callsen #170

All diese Artikel verkennen, was mich schon über 30 Jahren erschreckt hat:
Die Mentalität war schon zu DDR-Zeiten genau so. Man hat es nur nicht so mitbekommen.


Quotem.schmidt67 #176

40 Jahre ein eingesperrtes Volk prägt eben.
Mit fremden Kulturen können die kaum was anfangen.
Dann kommt die AFD mit ihrer Polemik gerade recht, der man einfach folgen kann.


QuoteLillly #176.1 

70 Jahre Demokratie und immer noch Schwierigkeiten, Wahlergebnisse zu akzeptieren.


Quotesecret77 #179

Wie hat ein ca 50jähriger Sachse, der bei Audi einen guten Job hat, zu mir mal auf einer Fahrt gesagt:

"Die Ossis haben einfach ein paar Jahrzehnte zu wenig Kontakt zur Außenwelt gehabt, die haben immer irgendwo in ihrer eigenen Welt gelebt."

Dazu kommt - meiner Meinung nach! - noch atheistisch-materialistische, völlig unspirituelle Sozialisation. Die viele Menschen im Westen durch den Atheismus Hype und Konsum Wahn ja nun auch einholt, mit den bekannten unguten Veränderungen der Menschen.

Ich war schon seit nach dem Mauerfall entsetzt über den Ausverkauf des Ostens und auch Lohnungleichheit geht gar nicht (gleiches Recht für alle!) -
aber Rechtsextremismus ist durch NICHTS zu entschuldigen, und die brennenden Asylunterkünfte seinerzeit hatten auch eher mit "Fidschi"-Gewohnheiten als mit Lohnungleichheiten zu tun.

Wie sehr die "Ossis" unter sich bleiben wollten, das habe ich in 20 Jahren Berlin oft gespürt. Mir ist klar, dass sie nicht mega begeistert waren, als die "Wessi-Invasion" nach Ost-Berlin begann, aber wie gesagt: gleiches Recht für alle. Wie viele sind in den Westen?

Ich will sicher nicht alle über einen Kamm scheren, ich habe täglich auch normales und positives erlebt, aber eben auch abstruses, weltfremdes oder egoistisches.


QuoteTorrente #183

Wer glaubt Rechtsextremisten und ihre Fans durch "Zuhören" zum konstruktiven Miteinander bewegen zu können, hat offenbar noch nie ein Geschichtsbuch in der Hand gehabt.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Verhältnisse in Deutschland nicht überall gleich. Am Arbeitsmarkt zeigt sich das nicht nur an unterschiedlichen Gehältern, sondern auch an der Arbeitszeit: Im vergangenen Jahr haben Westdeutsche durchschnittlich 1.295 Stunden gearbeitet. In Ostdeutschland – Berlin eingeschlossen – waren es 1.351 Stunden, also 56 Stunden mehr. Auch die Löhne sind im Westen höher: Im Jahresdurchschnitt verdienten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit 36.088 Euro brutto fast 5.000 Euro mehr als die Beschäftigten im Osten (31.242 Euro). Die Bundestagsfraktion der Linken wertete diese Zahlen auf Grundlage der Daten der Statistischen Ämter von Bund und Ländern aus.

Die Linken-Sozialexpertin Sabine Zimmermann sagte, es sei inakzeptabel, dass sich die Bundesregierung offensichtlich mit einem "Sonderarbeitsmarkt Ost" abgefunden habe. Als Lösungsansatz nannte sie eine Stärkung der im Osten deutlich schwächeren Tarifbindung. Dafür müssten Tarifverträge in einer Branche leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Zudem fordert die Linke schon seit Längerem eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro pro Stunde. Aktuell liegt er bei 9,19 Euro, ab 2020 soll er auf 9,35 Euro angehoben werden.

Den Statistiken zufolge arbeiteten im vergangenen Jahr die Menschen in Sachsen-Anhalt mit 1.373 Stunden am meisten. Am niedrigsten war diese Zahl im Saarland mit 1.269 Stunden pro Arbeitnehmer. Der bundesweite Schnitt liegt bei 1.305 Arbeitsstunden.

Bei den Löhnen und Gehältern bleibt Hamburg an erster Stelle. In der Hansestadt verdienten Beschäftigte durchschnittlich 41.785 Euro brutto. Die niedrigsten Gehälter werden in Mecklenburg-Vorpommern gezahlt: 28.520 Euro betrug das mittlere Bruttogehalt. Bundesweit waren es 35.229 Euro je Arbeitnehmer.

Beim Arbeitsvolumen erfasst der Arbeitskreis Erwerbstätigenrechnung des Bundes und der Länder die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden am jeweiligen Arbeitsort – auch bei Beschäftigten mit mehreren Jobs. Nicht einbezogen werden etwa Urlaub, Elternzeit, Feiertage, Kurzarbeit oder Abwesenheit wegen Krankheit.


Aus: "Ostdeutsche arbeiten mehr und verdienen weniger" (6. Juli 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/2019-07/ostdeutschland-mehr-arbeitsstunden-weniger-lohn


Quoteansv #8

Was soll diese Statistik eigentlich sagen? Es gibt unendlich viele prekär Beschäftigte, die sehr gerne mehr als 20 Stunden arbeiten würden, sind die berücksichtigt? Und was genau sagt der Durchschnittsverdienst eines ganzen Bundeslands aus? Von dem, was man im oberbayerischen Dorf verdient, bezahlt man in München auch keine Wohnung. ...


Quotebromfiets #8.1

Es gab 2018 weniger Vollzeitarbeitsplätze als 1998, obwohl die vielbejubelte Arbeitslosenquote 1998 weit höher lag. Dafür haben wir halt 4 Mio. neue Teilzeitarbeitsplätze bzw. eine Teilzeitquote von mittlerweile 40%. Rund 3.2 Mio. Menschen haben Nebenjobs. Details siehe hier: http://doku.iab.de/arbeitsmarktdaten/AZ_Komponenten.xlsx

Wenn es das Ziel der Agenda 2010 war, den Arbeitsmarkt zu amerikanisieren, dann kann nur sagen: Ziel erreicht. ...


Quoteansv #8.4

"Amerikanisierung" klingt irgendwie zu harmlos. Herr SPD-Schröder hat es 2005 in Davos deutlicher gesagt "Wir haben unseren Arbeitsmarkt liberalisiert. Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt".

Das war das Ziel, das wurde erreicht. Mit den Hartz-Reformen hat man dafür gesorgt, dass Qualifikation sich nicht mehr rentiert. Wer arbeitslos wird, muss jede Arbeit annehmen, sonst wird die Unterstützung gestrichen. Und wer einmal im Callcenter sitzt, kommt dort nur schwer wieder raus.

Gleichzeitig wird alles unterlaufen, was einmal von Gewerkschaften erstritten wurde. Kündigungsschutz entfällt z. B. wenn man nur mit Teilzeitkräften arbeitet. Im Handel ist das nahezu standard, Discounter stellen ihre ganze Personalpoliltik darauf ab, dass bei einem Kranheitsausfall nie mehr als 20 Stunden zu verteilen sind. Und bei anderen gibt es gleich nur eine Garantie für 20 Stunden / Monat, der Rest ist auf Abruf und Goodwill.

Trotz allem - das betrifft ganz Deutschland. Nicht nur den Osten. Und ich kann mich gar nicht beruhigen über diesen Artikel. Was will man damit erreichen? Wohl kaum Zufriedenheit im Saarland (wir arbeiten am wenigsten) sondern Unzufriedenheit im Osten (wir habens immer gewusst, wir sind so arme Schweine)...


Quotexvulkanx #14

Was nützt das höhere Einkommen in den westdeutschen Metropolen, wenn das von den hohen Mieten aufgefressen wird. ...


Quotewd #26

Das mit der "Produktivität" ist eine lustige Sache.
Monteurstunde in Hamburg 120€
Monteurstunde Niedersachsen Provinz 60€
Beide Monteure erledigen die gleiche Arbeit in der gleichen Zeit.


...


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Druschba, Freundschaft. Das wünschen sich viele Ostdeutsche. Doch die Beziehungen zu Russland zeigen alle Symptome eines neuen Kalten Krieges. Jüngsten Umfragen zufolge befürworten 54 Prozent der Westdeutschen eine neue Annäherung an Russland, bei den Ostdeutschen sind es 72 Prozent.

...  ,,Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!", erfuhren schon die Kinder in der DDR, was eine frühe Anlage zum Sarkasmus durchaus beförderte. Der Alltag Ost war durchzogen mit Gegensprüchen, wobei die Feststellung ,,Das gibt's in keinem Russenfilm!" die ultimative Reaktion auf Zumutungen aller Art darstellte. Russenfilm, das hieß: zu viel Pathos! Schon das Logo der sowjetischen Filmproduktionsgesellschaft Mosfilm, bäuerliche Heroine und Arbeiterheld kreuzen Hammer und Sichel, war eine schwere Bürde für alles Folgende, obgleich das manchmal auch ziemlich gut war.

Nein, die Russen hatten es nicht leicht in der DDR. Kurz vor ihrem Ende waren mehr als sechs Millionen ihrer Bürger Mitglied in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, meist, weil sie glaubten zu müssen. Die Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft war ein großes Hindernis für die deutsch-sowjetische Freundschaft. Was aber am schwersten wog: Die Russen hatten den Rock'n Roll nicht erfunden! Die DDR-Jugend lernte Russisch mit Dauerblick gen Westen, natürlich über die Bundesrepublik hinweg gleich bis nach Amerika, eine Minderheit schaute mehr nach Paris.

Nein, die starke ostdeutsche Anteilnahme an Russland lässt sich nicht einfach aus der Vergangenheit erklären. Die Betonung liegt auf ,,einfach".

Immer mehr meist etwas ältere Leipziger betreten das Café Yellow in der Steinstraße. Sie wollen hier gleich zusammen einen Russenfilm sehen, und zwar einen, den sie schon kennen: ,,Die Kraniche ziehen" von 1957. Ein junges Paar, so alltäglich-unalltäglich wie Verliebte sind und wie es das sowjetische Kino bislang doch nicht kannte, blickt auf die Kraniche am Himmel über Moskau: ,,Schau einmal hin, schau zweimal hin, dann sieh' mich wieder an!" Es ist der 21. Juni 1941, der letzte Abend im Frieden, und keiner weiß es.

,,Die Kraniche ziehen" von Michail Kalatosow gewann 1957 in Cannes die Goldene Palme, aber dies hier ist kein Cineasten-Treffen, nein, es ist die etwas andere Art, des 22. Juni zu gedenken, des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Kino statt Sanktionen! Also ist das hier eine Zusammenkunft der letzten Veteranen der deutsch-sowjetischen Freundschaft? Lauter Russland-Versteher, wie jene sagen, die sich nichts vormachen lassen?

Wenn ihr wüsstet, was ihr euch alles vormachen lasst!, antworten dann gewöhnlich die Gäste des Café Yellow. Vor drei Jahren haben sie die Bürgerinitiative ,,Gute Nachbarschaft mit Russland e.V." gegründet. Wie nötig sie sei, hätten gerade die letzten Wochen gezeigt, begrüßt die Vorsitzende des Abends die Gäste. Wahrscheinlich haben die meisten Mitbürger West auf den großen Gedenkveranstaltungen zum D-Day-Jahrestag niemanden vermisst, die Ostdeutschen schon: die Russen. Schon im Namen der historischen Wahrheit.

Alle hier wissen, dass es den Westalliierte nicht eilig war mit dem D-Day. Dass sich Faschisten und Kommunisten im Osten gegenseitig die Köpfe einschlugen, schien ihnen so verkehrt nicht. Erst als klar wurde, dass die Rote Armee auf ihrem Weg gen Westen nicht mehr aufzuhalten war, spürten die Alliierten ernsten Handlungsbedarf. ,,Ich habe im Radio gehört, die Schlacht in der Normandie sei die größte Schlacht des II. Weltkriegs gewesen", ruft einer. Eine Art von trauriger Heiterkeit legt sich über den Raum. Cornelius Weiss, Mitgründer der Bürgerinitiative, Chemiker, bis 1997 Rektor der Leipziger Universität, SPD-Landtagsabgeordneter, zuletzt Alterspräsident des Sächsischen Landtags, lacht nicht.

Es gab bestimmt nicht viele deutsche Halbwüchsige, die wie er 1946 über die Schlachtfelder kurz vor Moskau gingen. ,,Die zerschossenen deutschen Panzer standen alle noch da, die russischen waren schon fort", wird Weiss nachher sagen. Bilder, die bleiben. Weiter im Süden war es noch apokalyptischer. Die Schlacht am Kursker Bogen war die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs und sein Wendepunkt, die größte Landschlacht der Geschichte überhaupt.

Wie sähe die Welt aus, hätten es die Deutschen noch geschafft, die Atombombe zu bauen? Die Radiumreserve des Deutschen Reiches – wichtig für die Nutzbarmachung der gerade erst entdeckten Kernspaltung – wog 21 Gramm. Millionen Dollar wert. Der Atomphysiker Carl Friedrich Weiss sollte die 21 Gramm im April 1945 SS-bewacht auf den Obersalzberg schaffen. Als die SS weglief, hat er es unterwegs vergraben. Doch zu Hause warteten die Amerikaner schon auf den 21-Gramm-Kurier: Ausgraben!

Sie wollten nicht nur die 21 Gramm, sondern auch den Atomphysiker gleich mitnehmen, aber der weigerte sich: er sei Sozialist! Als kurz darauf die Sowjets nach Thüringen kamen, fragten sie gar nicht erst. Und darum lebte sein dreizehnjähriger Sohn Cornelius nun in einem Lager 130 Kilometer vor Moskau, lief über die Schlachtfelder, begriff sich als Opfer einer Entführung und verstand doch allmählich, was die Deutschen diesem Land angetan hatten. Dass er nie Hass spürte, nicht von den alten, nicht von den jungen Russen, erstaunt ihn noch immer.

Cornelius Weiss schämt sich wie die anderen hier für die Europäer und Amerikaner, die so tun, als hätten sie den Krieg allein gewonnen – und die zugleich Sanktionen gegen Russland verhängen. Gerade haben sie dem Ministerpräsidenten aller Sachsen einen Beifalls- und Beistandsbrief geschrieben, denn Michael Kretschmer hatte im Juni eine neue Russland-Politik gefordert: ,,Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ... unsere Leipziger Bürgerinitiative müht sich seit drei Jahren darum, dass dieses für den Frieden in Europa eminent wichtige Verhältnis aus dem Tal herauskommt, in das es geschichtsvergessene und kurzsichtige Politiker und Medien hineingesteuert haben."

Die Mehrheit der Sachsen sehe das übrigens genauso, erfuhr der Ministerpräsident, schließlich hat eine Bürgerinitiative das Ohr grundsätzlich am Volk. Aber was ist mit der Krim, was mit der Ostukraine, was mit Flug MH 17?

Der Film ist zu Ende. Weiss und der Architekt Johannes Schroth, der einst gemeinsam mit russischen Bauleuten ,,Experimentalwohnkomplexe" für Nischni Nowgorod plante, als es noch Gorki hieß, sehen sich an. Sie sitzen im Hofgarten des Kulturzentrums, zu dem das Café gehört. Schräge bunte Keramiken rahmen die Szene. Meist treffen sich hier junge alternative Gruppen, sie sind eine eher ältere alternative Gruppe.

,,Wir wissen, dass wir uns auf schwierigem Terrain bewegen", sagt Schroth, aber einfach zuzusehen, wie ,,der Russe" als Feindbild wiederkehrt, das sei ihnen nicht gegeben. Bei jedem neuen Nato-Manöver, das zumindest gefühlt den Grenzen Russlands nahekommt, stocke ihnen der Atem. Schroth und Weiss sagen, sie hätten das Versprechen des amerikanischen Außenministers James Baker aus dem Jahr 1990 nicht vergessen, dass die Nato ihre Ostgrenze nie über das Gebiet der DDR hinaus erweitern würde – als Vorbedingung der Sowjetunion für die deutsche Einigung.

Ein solches Versprechen indes ist in den Verhandlungspapieren nicht dokumentiert, formell hat es eine solche Zusage also nicht gegeben. Nur Baker selbst machte sich handschriftliche Notizen eines Gesprächs mit Michail Gorbatschow zu dem Thema, in einem Brief an Helmut Kohl erklärte er, er habe Gorbatschow nach seiner Meinung dazu gefragt.

Es kommt nicht darauf an, Putin zu mögen, ihn gar zu verteidigen. Aber Schroth und Weiss sind ihm dankbar für seine Besonnenheit, mit der er zugesehen habe, wie an der Westgrenze seines Landes zum Gründungsmitglied Norwegen schließlich auch Estland, Lettland und Litauen als Nato-Staaten dazukamen. Dass in Polen und Rumänien an einem Raketenabwehrschirm gearbeitet wird. Der Wittenberger Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer hat das einmal so formuliert: ,,Was wäre, wenn Russland auf die Idee käme, in Mexiko einen Raketenschutzschirm aufzubauen und zu behaupten, das richte sich nicht gegen die USA?"

Dass irgendwann Schluss sein würde, war beiden klar. Bei Georgien und der Ukraine würde Schluss sein. ,,Sollte die russische Schwarzmeerflotte plötzlich in einem Nato-Land liegen? Sewastopol, diese so hart umkämpfte Stadt?" Sieben Monate lang, bis zum 4. Juli 1942, verteidigte die Rote Armee den Hafen. Fast abgeschnitten von jeder Versorgung, unter Dauerbombardement. Am Ende standen nur noch neun unversehrte Häuser in der ganzen Stadt, eine halbe Million Soldaten der Roten Armee waren gefallen. Nein, Sewastopol ist kein guter Ort für einen Nato-Stützpunkt.

Und warum, fragen Schroth und Weiss, fiel die seit Katharina der Großen urrussische Krim überhaupt an die Ukraine? Weil der Ukrainer Chruschtschow 1954 auf die Idee kam, die Krim an die Ukraine zu verschenken. Eine kleine symbolische Aufmerksamkeit, mehr konnte es nicht sein innerhalb der Sowjetunion. Was man so macht, wenn man – nach Stalins Tod – noch Gefolgsleute braucht. Wir sind kein Präsent, wir sind nicht zu verschenken!, protestierten damals die Bewohner der Krim, sogar die örtliche KPdSU.

Das Verständnis der Ostdeutschen für Russland ist größer, schon weil sie es besser kennen. Und vielen fällt es schwer, sich eine nichtrussische Krim vorzustellen. Aus der einstigen Reserve ist doch eine nachträgliche Fernnähe geworden, wie es oft passiert, wenn Menschen eine gemeinsame Vergangenheit teilen. Bei dem Wort Dostoprimetschatelnosti fangen sie an zu lächeln, vielleicht, weil sie es so lange nicht mehr gehört haben, vielleicht aus Freude, dass sie es immer noch verstehen. Dostoprimetschatelnosti heißt Sehenswürdigkeiten. Aber es ist viel mehr.

Die innerdeutsche Grenze gibt es immer noch: Es ist eine unsichtbare, eine epistemologische Grenze. Osten und Westen denken verschieden. Der Westen denkt primär rechtsförmig, der Osten primär genealogisch. Er fragt zuerst, wie eine Sache geworden ist. Die Dinge ausschließlich rechtsförmig zu betrachten, heißt abstrakt zu bleiben. Aber Interessen sind nie abstrakt, Sanktionen sind nie abstrakt. Nahezu jedes Jahr am 22. Juni wurden die Sanktionen gegen Russland verlängert, am Tag des Überfalls auf die Sowjetunion. In diesem Jahr war es der 20.

,,Treffen Sanktionen nicht immer die Falschen?", fragt Ulrike Euen. ,,Russland ist unser Riesennachbar, die sind so dicht dran an uns, da können wir nicht einfach auf Konfrontation gehen." Da ist ein großes Unbehagen angesichts der westlichen Politik der Stärke.

Wer aus der DDR kommt, aus dem Land, das die Bundesrepublik lange Zeit in Gänsefüßchen setzte, hat ein feines Gespür für solche Dinge. Und weil sie einst selbst Sanktionierte waren, wissen Ostdeutsche auch, dass Druck von außen den inneren Zusammenhalt eher fördert. Manche vermuten, der russische Nationalismus sei unter tätiger Mitwirkung des Westens entstanden, gewissermaßen ein Kollateralschaden der europäischen Ostpolitik.

,,Ich mag diese Arroganz des Westens nicht, anderen zu erklären, wie sie zu denken, wie sie zu leben haben", sagt Andrea Roscher-Muruchi, Jahrgang 1957, ein eher jüngeres Mitglied der Leipziger Bürgerinitiative. Andrea Roscher-Muruchi aus dem Erzgebirge hatte sowjetische Brieffreunde wie viele andere auch, erinnert sich aber nicht mehr an ihre Namen, es war doch eine zu mühsame Verständigung. Sie war nie gut genug in Russisch, um mit dem ,,Freundschaftszug" in ein sowjetisches Ferienlager fahren zu dürfen, aber dafür machte sie mit achtzehn eine Lenin-Reise. Nach Moskau, Uljanowsk und Wolgograd.

,,Lenin war mir egal, aber es gab keine andere, und es war so großartig weit weg." Wer Russland gesehen hat, sagt sie, diese unerhörte Weite des Landes, der muss doch spüren, dass es sich nicht vom Westen aus regieren lässt.

Manchmal wird die Leipziger Bürgerinitiative darauf hingewiesen, dass Russland keine Demokratie sei. Meist antwortet sie nur: Wissen wir!

Es ist – noch immer – das Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft. Und das, obwohl die Ostdeutschen stets wussten, dass sie stellvertretend für ganz Deutschland die Kriegsschuld bezahlten, indem sie vierzig Jahre lang in einem besetzten Land lebten, in dem die Russen quasi noch die letzte Schraube abgebaut und mitgenommen hatten.

Das zentrale Ereignis im Leben vieler Ostdeutscher war der Herbst '89, und dessen Vater war ein Russe: Michail Gorbatschow. Er war, mehr noch als Kohl, auch der der deutschen Einheit. Kaum ein Ostdeutscher hat Gorbatschows schönes Bild vom gemeinsamen europäischen Haus, das man nun bauen werde, vergessen. Nichts anderes war nach 1990 vorstellbar, als der Kalte Krieg vorbei war. Doch die USA haben von dieser WG noch nie etwas gehalten. Nein, es ist kein Zimmer frei für Russland im europäischen Haus. Wahnsinn sei das schon, finden Schroth und Weiss.

Nicht die Politik der Konfrontation und der Stärke, sondern einzig die Politik der Entspannung hat den Ost-West-Konflikt gelöst und die deutsche Einheit möglich gemacht. Das ist die zentrale historische Erfahrung der Ostdeutschen. Sie ist nicht widerrufbar, nicht löschbar, sie ist nicht einmal relativierbar.


Aus: "Woher die Nähe der Ostdeutschen zu Russland rührt" Kerstin Decker (25.07.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/schicksalsgemeinschaft-woher-die-naehe-der-ostdeutschen-zu-russland-ruehrt/24696258.html

Quotepeterfree 12:56 Uhr
Der Ossi ist ein Underdog. Im Mittel wenigstens. Und Putin ist auch einer. Aber einer, der sich wehrt. Dafür hat der Ossi großes Verständnis und ziemliche Sympathie. Und das überträgt sich auch auf Kinder und Enkel des gemeinen Ossis.

Der Ossi mag Typen, die von den Medien jahrelang niedergemacht werden, aber immer noch da sind. Und irgendwie auch recht behalten.
Ich vermute mal, dass der gemeine Ossi auch Boris Johnson ganz in Ordnung findet. Und kein großes Problem mit dem Brexit hat.


Quotepeterfree 14:49 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Zbig_brzezynsky 13:34 Uhr
Da steckt keine Ironie, aber auch keine Böswilligkeit drin. Underdogs halten zu Underdogs. Ich finde das auch völlig in Ordnung. Der Ossi hat in Bezug auf ein gutes Verhältnis zur Russland meine volle Unterstützung.

Schreibt ein Ossi.


Quoteminimal 12:41 Uhr
Es gibt viele Gründe, warum viele Menschen im Osten anders ticken als im Westen. Einer besteht darin, dass die Ex-DDR-Bürger aufgrund ihrer Erfahrungen mit gleichgeschalteten Medien ausgiebig gelernt hatten, zwischen Propaganda, hohlen Phrasen, Erziehungsauftrag der Partei und der Realität klar zu unterscheiden. Die Menschen ließen sich nicht für dumm verkaufen, sie entwickelten regelrecht ein Gespür dafür selbst die meisten SED-Genossen durchschauten die Propaganda, hielten aber meistens die Klappe. (so taz-Redakteur Ambros Waibel)

Und heute?
,,Wenn man den Rechner anmacht: Putin. Wenn man die Zeitung aufschlägt: Putin. Wenn man den Fernseher einschaltet: Putin. Wenn man irgendwo in Europa einen Stein umdreht -
wahrscheinlich stößt man auf Putin. Vom Ukrainekonflikt über die Flüchtlingskrise bis hin zu Pegida: Der russische Präsident wird für alles verantwortlich gemacht, was auf dem Kontinent schiefläuft. Demnächst noch für Merkels Frisur.
Putin ist wie ein Geist. Aber wie für alle Geister gilt auch für
diesen: Den Putin, den wir überall sehen, den erfinden wir uns
selbst."(Jacob Augstein in SPON)

Im Osten haben alle 5 Ministerpräsidenten – parteiübergreifend - die Forderung von Sachsens MP Kretschmar nach Abbau der Sanktionen gegen Russland unterstützt. Nicht nur Linke und Rechte sind mehrheitlich dafür, auch große Teile von SPD und CDU, Vertreter der ostdeutschen Wirtschaft und die große Mehrheit der Bevölkerung im Osten.
Aber was zählt das schon? Der Osten eben!


QuoteDragonfighter 12:38 Uhr

    Woher die Nähe der Ostdeutschen zu Russland rührt

Schon die Überschrift ist so pauschal formuliert schlicht falsch.

Es gab zu DDR-Zeiten genauso wie heute viele Menschen, die eine Nähe zu Russland spüren, aber es gab und gibt auch viele, die von der (damals sowjetischen, heute) russischen Politik mindestens irritiert sind. Selbst im Politbüro der DDR wurde der Große Bruder nie als Freund auf Augenhöhe wahrgenommen. Und mit Gorbatschow war es dann ganz vorbei mit der Nähe.

Viele Ostdeutsche können mit Russland nur wenig anfangen. Genauso können viele Westdeutsche mit den USA nur wenig anfangen. Wichtiger finde ich daher die Frage: Was genau wird an anderen Ländern als positiv angesehen und mit welcher Art von Politik kann man sich nicht mehr identifizieren. ...


QuoteHavelmueller 11:40 Uhr
Ihren nächsten Artikel, verehrte Frau Decker, bitte zu dem Thema "Woher die Nähe der Westdeutschen zu den U.S.A. rührt".
Sie werden diesen dann, hoffe ich, ebenso klug und differenziert schreiben. ...


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] ,,Geschichte wird gemacht", das wusste die Band Fehlfarben mit dem Maler Markus Oehlen am Schlagzeug schon 1980. Neun Jahre später wurde für jeden anschaulich, welche Macht von dem ausgeht, der die Deutungshoheit über die kulturelle Historie besitzt: Nach den politischen Umbrüchen in der DDR bekam die Kunst der sozialistischen Republik null Chance, sich im Westen zu profilieren.

Wer nicht schon dort gewesen – und erfolgreich – war, wie Gerhard Richter, A.R. Penck oder Georg Baselitz, an dem klebte das Etikett des Staatskonformisten. Ein Maler wie Baselitz befeuerte die Debatte noch, indem er 1990 in einem Interview behauptete, es gäbe ,,keine Künstler in der DDR" – und wenn doch, dann seien das ,,Arschlöcher". Anderswo ging man mit mehr Differenzierungswillen an die Sache, sah aber ebenfalls bloß Kunst, die nach dem berüchtigten Formalismusstreit vor allem ein Attribut auszeichnete: falsche Themen, falscher Stil, falsche Seite. Die Kunst verschwand, aus den Dauerpräsentationen der Museen ebenso wie vom Markt, der neben Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer nur wenige ostdeutsche Namen kennt.

Drei Jahrzehnte später ist das Museum der Bildenden Künste am ,,Point of No Return" angelangt. So heißt die Ausstellung, die noch vor den ersten Feierlichkeiten zum Mauerfall-Jubiläum ihre eigenen Schlüsse aus der Vergangenheit zieht. An die 300 Werke von 106 Künstlerinnen und Künstlern haben die Kuratoren – Christoph Tannert, Paul Kaiser und der Leipziger Museumsdirektor Alfred Wedinger – zusammengeholt. Sie zeigen, wie ungeheuer vielstimmig die Kunst aus der DDR und wie komplex ihre Geschichte ist. Da tauchen Maler wie der umstrittene Willi Sitte auf, dessen Biografie eine erstaunliche Kurve fährt: Vom staatlich überwachten Picasso-Anhänger wandelte er sich zum offiziellen Staatskünstler, der 1977 an der Documenta in Kassel teilnahm und gleichzeitig Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR war. Sein berühmtes Bildnis ,,Chemiearbeiter am Schaltpult" hängt statt in Leipzig auf der Moritzburg in Halle. Doch dafür ist Moritz Götze mit einer poppigen Interpretation des Gemäldes vertreten, das 2003 und damit über drei Jahrzehnte nach dem Original entstand.

Der 1964 geborene Götze wiederum symbolisiert jene Generation, die in der DDR nicht als Künstler anerkannt und deshalb vom staatlichen Kunsthandel ausgeschlossen war. Götze arbeitete dennoch in seiner Werkstatt – und gehörte nach dem Mauerfall zu jenen, die im Westen und bald darauf international Karriere machten. Ein Maler wie Albrecht Gehse, 1955 nahe Leipzig geboren und Schüler von Bernhard Heisig, zeigt in der Ausstellung sein ,,Gesicht aus der Vergangenheit": ein zerfließendes Antlitz von 1989, lesbar als Abbild einer verunsicherten Existenz. Vier Jahre später entstand Gehses offizielles Kanzlerbild von Helmut Kohl. Im Westen herrschte also sehr wohl ein Bewusstsein für die Qualitäten einzelner Künstler, wenn ihnen wie bei Gehse der Ruf eines herausragenden Porträtisten vorauseilte.

Andere wurden abgedrängt. Die Malerin Doris Ziegler unterrichtete ab den frühen Neunzigern bis zu ihrer Emeritierung 2014 zwar an der Leipziger Kunsthochschule und sicherte so ihre Existenz. Zieglers expressiver, an Bilder von Max Beckmann erinnernder Zyklus ,,Große Passage" aus der Wendezeit aber bekam man in den vergangenen Jahrzehnten nicht zu sehen. Nun füllen die grauen Figuren, vorsichtig über eine Brücke in eine unbekannte Zukunft stolpernd, einen ganzen Saal. Auch Ziegler taucht als Figur auf, sie steht in der Menschenmenge, schaut etwas skeptisch und melancholisch auf einen Mann im gelben Shirt, in dessen Händen eine Kerze brennt.

Skepsis war angebracht, in den Jahren vor 1989 wie auch danach. Vor allem auf diese Umbruchs- und Übergangszeit konzentrieren sich die Kuratoren. Da erweist sich die Kunst der DDR mit ihren überwiegend figurativen Sujets als außerordentlich dankbar. ,,Spaziergang im Regen" nannte Peter Graf ein Bild von 1989, das eine dunkle Gestalt vor nächtlicher Kulisse zeigt – und vor einer Mauer aus vermummten Polizisten, die in jenem Oktober tatsächlich vor dem Dresdner Hauptbahnhof standen. Und wer würde im ,,Titanic"-Triptychon eines Lutz Friedel mit seinen verzweifelt sich aneinander klammernden Gestalten nicht jenen ,,ungeschönten Blick in den Maschinenraum des Sozialismus" um 1982 erkennen, den ihm Kurator Peter Kaiser attestiert? Schließlich assoziiert man auch Sighard Gilles' ,,Fähre" mit schwankendem Liebespaar auf gefährlichem Kurs von 1977 sofort mit einer Flucht aus der DDR.

Doch gibt es unter diesem Blickwinkel kaum ein Werk, das sich nicht als Reflex auf die politische Lage lesen ließe. Die fotografischen Körperfragmente von Thomas Florschuetz? Eine Identitätskrise des Künstlers vor seiner Übersiedlung nach West-Berlin 1988. Der sich im Schlamm wälzende Frank Herrmann auf den sechs Bildern seiner Serie ,,ER-Schöpfung": eine Antwort auf die Agonie der späten DDR? Ja sicher, aber vielleicht auch eine Auseinandersetzung mit dem radikalen Werk der Wiener Aktionisten.

Es entwertet die Werke, wenn sie nun wieder den inneren Zustand und Fall eines Systems nachzeichnen sollen. Diese Deutung kommt auffallend oft zur Sprache, ist am Ende jedoch das Einzige, was einem in dieser sonst so wichtigen, sehenswerten Ausstellung aufstößt. Dabei steht dreißig Jahre nach dem Mauerfall nichts weniger als die Aufarbeitung einer Ära unter ästhetischen Kriterien an – eine Revision der Kunstgeschichte, die längst überfällig war. Allein die Herkunft der Bilder, Skulpturen und Installationen spricht Bände. Die Leihgaben aus Museen sind deutlich in der Minderheit, und hätte das Kölner Sammlerpaar Peter und Irene Ludwig nicht nach dem legendären Ludwig-Staubsaugerprinzip auch ostdeutsche Kunst ab 1977 in ganzer Breite für die eigene Stiftung angekauft, fiele die Bilanz noch ärmer aus.

Rund zwei Drittel der Exponate stammen aus den Ateliers ihrer Schöpfer, Freunde und Nachlassverwalter halfen bei der Ergänzung. So gewinnt der Titel ,,Point of No Return" am Ende durchaus mehrere Bedeutungen. Zum einen war die DDR in den späten Achtzigern ein zerfallender Staat ohne Aussicht auf Restrukturierung. Zum anderen kann auch die Kunst nicht zurück auf Wendezeit: Selbst wenn das Recht jener DDR-Künstler auf Teilhabe am Kanon endlich eingelöst wird, fehlen vielen von ihnen nun Jahrzehnte in der biografischen Karriere. Schließlich behauptet die Ausstellung selbstbewusst ihren eigenen ,,Point of No Return". Nach der Schau in Leipzig, der 2019 noch diverse Projekte wie etwa im Düsseldorfer Kunstpalast folgen, kann die ostdeutsche Kunst nun nicht wieder in den Depots und Ateliers verschwinden.


Aus: "Ausstellung in Leipzig: Maschinenraum des Sozialismus" Christiane Meixner (11.08.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/ausstellung-in-leipzig-maschinenraum-des-sozialismus/24892752.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Zum Jubiläum hat Angelika Hampel drei Gerbera gekauft. Vor 45 Jahren hatten die ersten Bewohnerinnen und Bewohner im Haus ihre Schlüssel erhalten. Damals waren die Hochhäuser in der Pfotenhauer Straße 22 in der Dresdner Johannstadt ein Glückstreffer. Für die Wohnungen gab es lange Wartelisten. Ein Neubaugebiet, das nach frischem Beton roch und ein bisschen Luxus in der DDR versprach. Kaufhalle, Kindergarten, Schule direkt vor der Tür, die Wohnungen mit Zentralheizung, moderner Küche, schickem Bad. Der Traum vieler Familien. Kein bröckliger Altbau mit Etagenplumpsklo, wie auf dem Lausitzer Dorf, aus dem Angelika Hampel stammt.

Im Frühsommer 1974 zogen sie ein. 113 Quadratmeter Neubau für 154 Mark und 70 Pfennig Monatsmiete. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern, Angelika Hampel war gerade zum dritten Mal schwanger. Sie arbeitete als Lehrerin, ihr Mann in einem Kühlhaus. "Etwas Besseres als diese Wohnung gab es für uns damals nicht", sagt sie.

Im Jahr 2019 ist von diesen Glücksgefühlen nichts geblieben. Angelika Hampel ist jetzt 78, immer noch eine quirlige Frau, stets zu einem Schwatz aufgelegt. Der Block, zehn Geschosse, vier Wohnungen auf jeder Etage, ist immer noch ihre Adresse. Sie lebt mittendrin, im sechsten Stock. Doch eine Heimat ist die Platte für sie nicht mehr. "Der Wandel kam schleichend. Irgendwann habe ich gemerkt, das ist nicht mehr mein Haus." Das liege am Dreck auf den Fluren, am Müll vor den Türen, am klapprigen, stinkenden Fahrstuhl. Viele Flure sind beschmiert wie Klowände.

Die Jubiläumsblumen hat sie im Haus verschenkt. An die drei Erstbezieher, die noch übrig geblieben sind. Eine ältere Nachbarin direkt nebenan, ein Herr in der vierten Etage, die dritte behielt sie selbst. Sie hat sie für sich und ihren Mann gekauft. Nach einem Schlaganfall wird er in einem Pflegeheim in der Nähe betreut. Hampel besucht ihn jeden Tag. Sie berichtet ihm auch, was sich daheim so alles verändert. Selten sind es schöne Dinge, so wie früher.

Die Johannstadt liegt nur zehn Fahrradminuten entfernt von der Dresdner Altstadt, hier stehen Bürgerhäuser, die während der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg verschont blieben, neben Neubaublöcken, die vor allem in den Siebzigerjahren errichtet wurden. Gutverdiener treffen auf Hartz-IV-Empfänger, Rentner auf Familien. Und viele der Häuser im Viertel erzählen von Umbrüchen.

Heute sehnt sich keiner mehr nach der Pfotenhauer Straße 22. Hier leben vor allem Rentner und Migranten. Menschen, die nur wenig verdienen oder Unterstützung vom Amt bekommen. Hinter vielen Türen sind Sozialwohnungen. Wer heute in diesem Haus wohnt, kann sich nichts Besseres leisten. Oder will auf seine alten Tage nicht mehr umziehen. Die meisten Nachbarn sind sich fremd.

Es ist nicht leicht, mit ihnen in Kontakt zu kommen. Ständig ist jemand in Eile. Oder will seine Ruhe haben. Ein junger Mann will bloß noch packen. "Endlich weg aus diesem Haus, das geht hier gar nicht mehr", sagt er, Pinsel und Farbeimer in der Hand. Die alte Dame aus dem Erdgeschoss lächelt immerhin freundlich, versteht aber nur Russisch. Wie lange wohnt sie schon hier? Sie schüttelt nur den Kopf.

Über manchen Nachbarn gibt es seltsame Gerüchte. Den Herrn zum Beispiel, der an seine Wohnungstür das Bild eines Schäferhunds gepinnt hat. Wenn man klingelt, öffnet er nie. "Komischer Typ", wispern die Nachbarn.

Wenn Angelika Hampel durchs Treppenhaus läuft, ekelt sie sich. Bloß nichts anfassen. Sofort, wenn sie ihre Tür aufgeschlossen hat, wäscht sie sich die Hände. Ihre Wohnung ist für sie eine Insel geblieben. Alles da, was sie braucht: ein Balkon, von dem man weit in die Landschaft schauen kann, im Wohnzimmer ein Riesensofa, Topfpflanzen, an den Wänden Erinnerungen. Auch eine goldene Hausnummer, in der DDR eine Auszeichnung für vorbildliche Hausgemeinschaften. Die Pfotenhauer Straße 22 war so eine.

Irgendwann nach dem Mauerfall hat jemand die goldene Hausnummer neben der Eingangstür abgeschraubt, DDR-Schnickschnack, den keiner mehr brauchte. Angelika Hampel hat das Schild gerade noch gerettet. Ein Überbleibsel von früher, so wie die beiden dicken Bücher, in denen sie manchmal blättert, die Hauschroniken. Hampel hat sie viele Jahre geführt. Was sie wichtig fand, hat sie reingeschrieben, was ihr gefallen hat, reingeklebt.

"Ich habe an den Sozialismus geglaubt", sagt sie. Sie war ehrenamtliche Parteisekretärin. Nie unkritisch, sagt sie, sie habe auch Fehler im System gesehen. Die Mangelwirtschaft, der schleichende Niedergang, immer sichtbarer in den Achtzigerjahren. Die DDR war für sie aber auch: mehr Gemeinschaftsgefühl. "Wir waren ein gutes Haus. Es gab fast nichts, was wir nicht gemacht haben."

Die Chroniken sind Collagen aus vergilbten Fotos, eingeklebten Schnipseln, Dokumentationen der jährlichen Leistungen. Es gab Skatturniere auf den Etagen, Wanderausflüge, Willkommensaktionen für jeden neuen Mieter, Postkarten aus dem Urlaub, die im Haus die Runde machten. Ein Gemeinschaftsraum wurde eingerichtet, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner regelmäßig gefeiert haben. Weihnachten, Kindertag, gern auch ohne Anlass. Lichtbildvorträge über das Bruderland Sowjetunion fanden statt, Wandzeitungswettbewerbe, Friedensaktionen und Arbeitseinsätze, die sogenannten Subotniks, etwa Gartenarbeit oder Putzaktionen. Gemeinschaft, das war damals auch ideologische Arbeit.

Angelika Hampel hat das nie gestört. "Wer bei irgendetwas nicht mitmachen wollte, wurde nicht gezwungen. Aber die meisten wollten eben gern." Hampel gehörte irgendwann zur Hausleitung. Nur die Einhaltung der Pflichten hätten sie genauer kontrolliert. Wer nicht Ordnung hielt oder sich um die VMI-Stunden drückte, die Volkswirtschaftliche Masseninitiative, eine andere Art der Arbeitseinsätze, sei schief angeschaut worden.

Im Haus habe ein Mikrokosmos der DDR gelebt, sämtliche Klassen und Typen. "Zeugen Jehovas, SEDler, aber auch Leute, die mit der Partei nichts zu tun hatten." In der Pfotenhauer Straße 22 wohnte die Schichtarbeiterin neben dem Stasi-Offizier, die bekannte Sängerin neben dem Lehrer. Und ganz oben sogar ein Politiker. Hans Modrow, Erster Sekretär der SED-Bezirksleitung in Dresden. In der Wendezeit wurde Modrow der letzte DDR-Ministerpräsident der SED.

In der Platte, sogar im Viertel, war Modrow eine Berühmtheit. Den Supermarkt gegenüber nannten sie Modrow-Kaufhalle. Die Versorgung, erzählte man sich früher, soll besser gewesen sein als in anderen Kaufhallen. Modrow war aber auch ein ganz normaler Nachbar. "Wenn der Hans sah, dass ich mit vollen Einkaufstaschen nach Hause kam, hat er mir sofort beim Hochtragen geholfen", erzählt Angelika Hampel. "Er war bei vielen Hausaktionen dabei, ganz selbstverständlich wie die meisten anderen." Später, in den Wendejahren, zogen die Modrows aus, der Kontakt brach ab. Inzwischen ist der Politiker 91 und lebt in Berlin. Vor einiger Zeit hat Hampel ihm eine Karte mit Geburtstagsglückwünschen geschickt, doch die Adresse stimmte nicht, die Karte kam zurück. Schade, sagt sie. Sie denke immer noch gern an diesen Nachbarn.

Und dabei auch an den Herbst 1989, der mit einem Schlag Unruhe in die Hausgemeinschaft brachte.   

Für Angelika Hampel war der Mauerfall "ein niederschmetterndes Erlebnis". Sie ging nicht auf die Straße, nahm an keiner Demonstration teil, rief nicht "Wir sind das Volk!" Sie saß mit ihrem Mann auf dem Sofa und sah im Fernsehen, wie das Land zerbrach, an das sie geglaubt hatte. Als Günter Schabowski bei der legendären Pressekonferenz am 9. November erklärte, dass DDR-Bürger ins Ausland reisen dürften, und zwar nach seiner Kenntnis "sofort, unverzüglich", da schaute Angelika Hampel ihren Mann an und sagte: "Das war's. Jetzt beginnt eine neue Zeit." So erzählt sie es heute.

Die Hampels verloren ihre Jobs. Das Vorratslager, in dem Herr Hampel gearbeitet hatte, wurde aufgelöst. Im wiedervereinigten Deutschland wurde er Versicherungsvertreter. Frau Hampel wurde als Lehrerin aussortiert, man prüfte, ob sie trotz SED-Verbundenheit noch tauglich für den Schuldienst war. Das Verfahren empfand sie damals als verletzend. "Ich habe in der DDR als Unterstufenlehrerin nie Staatsbürgerkunde oder so was unterrichtet, nur Geografie. Und trotzdem wurde ich da reingeritten." Später bekam Angelika Hampel einen Job bei einer Musikschule und arbeitete dort bis zur Rente.

Immer mehr Mieter verließen die Platte, gingen nach Westdeutschland oder bauten sich im Dresdner Umland Eigenheime. Manche starben. Hausbälle, Wanderungen, Geburtstagsgrüße, das alles gab es nicht mehr. Die Eigentümer wechselten. Zuerst gehörte die Platte der städtischen Gesellschaft Woba, später wurde sie an Investmentfirmen verkauft, inzwischen gehört sie Deutschlands größtem Wohnungsunternehmen, der Vonovia. Die Mieten stiegen, doch die Platte verfiel zusehends. In die Hauschronik, die Angelika Hampel jahrelang akribisch geführt hatte, schrieb sie immer seltener, irgendwann hörte sie ganz auf. Einer der letzten Einträge im Jahr 1997: "Unser Haus wird zunehmend anonymer. Der Schmutz nimmt zu. Große Hausordnungen werden unregelmäßiger gemacht. Für die Beete gibt die Woba kein Pflegegeld mehr aus. Hakenkreuze findet man im Keller geschmiert. An Renovierung/Sanierung ist nicht zu denken."

Die Fluktuation der Mieter ist hoch, ständig gibt es Umzüge. Im Erdgeschoss ist eine Migrationsberatung, die meisten Klienten kommen von auswärts. Auch in der Platte leben Menschen mit ganz verschiedenen Wurzeln: Syrer, Iraker, Russlanddeutsche, Vietnamesen, Deutsche. Ganz oben, zehnte Etage, in der Wohnung, wo viele Jahre Hans Modrow wohnte, gibt es auch schon wieder neue Mieter. Eine tschetschenische Großfamilie ist gerade eingezogen, Mutter, Vater, fünf Kinder.

Madina Satueva, eine junge Frau mit Kopftuch, öffnet die Tür. Schüchtern schaut sie heraus. Sie ist die älteste Tochter, 23 Jahre alt, und spricht gut Deutsch. Die meisten anderen Familienmitglieder verstehen kaum etwas. Von dem Mann, der hier früher mal wohnte, haben sie noch nie gehört. "Ist er ein Präsident?", fragt Madina Satueva. Kennt sie den früheren Staat, die DDR, überhaupt? Sie schüttelt den Kopf und bittet herein, serviert süßen Tee und Kekse.

Ihre Familie, erzählt die junge Frau, sei 2009 aus Tschetschenien geflohen. Ihr Vater habe dort Probleme gehabt, mehr will sie dazu nicht sagen. Für die Satuevas begann eine jahrelange Reise durch Europa, auf der Suche nach Asyl. Sie haben in Norwegen, in den Niederlanden und Frankreich gelebt, wurden überall wieder weggeschickt. In Deutschland sind sie nun schon seit sieben Jahren. Die kleinen Kinder gehen hier zur Schule und in den Kindergarten, der 20-jährige Bruder arbeitet bei einem Sicherheitsunternehmen. Die Eltern leben von Sozialhilfe. Madina ist oft zu Besuch, obwohl sie selbst zwei kleine Kinder hat. Mit ihnen wohnt sie in einem anderen Dresdner Plattenbaugebiet. Von ihrem Mann, auch Tschetschene, hat sie sich getrennt. "Er sitzt im Gefängnis, auch wegen Drogengeschäften. Damit will ich nichts zu tun haben", sagt sie.

Ist Deutschland inzwischen ihr Zuhause? Könnte es dieses Hochhaus vielleicht werden? Bei dieser Frage schaut Madina Satueva ins Leere. "Wir wissen nie, ob wir bleiben können. Wenn das Amt sagt, wir müssen gehen, reisen wir in ein neues Land. Ich bin in dieser Welt wie ein Tourist, nirgendwo zu Hause." Angelika Hampel kennt die Neuen in der Zehnten nicht. Sie hat nur gehört, dass es oben schon wieder Veränderungen gegeben hat. Früher hätte sofort ein Begrüßungskomitee vor der Tür gestanden.

Angelika Hampel ist immer noch eine aufgeschlossene Frau, sie sucht Kontakte. "Im Fahrstuhl fange ich lieber ein Gespräch an, als an die Wand zu starren." Mit einigen neuen Nachbarn hat Hampel sich angefreundet und war traurig, als sie doch wieder fortzogen. Inzwischen nimmt sie das ständige Kommen und Gehen bloß noch zur Kenntnis. Vielleicht ergibt sich irgendwann ein Gespräch mit den Neuen. Vielleicht nicht.

Manche Bewohner sagen: "Mit den Ausländern ist der Schmutz ins Haus gekommen." Aber es gibt auch genug Migranten, die sich über den Dreck aufregen. Eine junge Frau steht in ihrer Wohnungstür, drinnen wartet der kranke Vater. Sie spricht gebrochen Deutsch. "Es ist alles so eklig, der Fahrstuhl vollgepinkelt, überall Schmutz." Sie habe schon sauber gemacht, "aber das bringt gar nichts". Sie wünscht sich, dass ihr Vater in ein besseres Haus umziehen könnte, aber das sei aussichtslos. Er sei auf diese Sozialwohnung angewiesen. 

Angelika Hampel sagt, mit manchen Menschen mache sie gute Erfahrungen, mit anderen nicht. Sie hat arabischen Familien geholfen, beim Einleben und beim Deutschlernen. Als in der Wohnung über ihr eine Familie einzog und anfangs Krach machte, ging sie mit Filzstückchen hoch und bot an, sie unter die Stühle zu kleben. Es war der Anfang einer netten Bekanntschaft.

Aber einmal wohnte über ihr eine WG, junge arabische Männer, mit denen sie keinen Frieden fand. Einer der Männer habe sie im Fahrstuhl angemacht: "Hey, bist du Deutsche? Brauchst du einen Mann? Wollen wir heiraten?" Nachts sei es in der Wohnung laut gewesen. Die Rentnerin vermutete Drogengeschäfte und beschwerte sich beim Sozialamt. Wenig später zog die WG aus.

2003 sind die Hampels innerhalb der Platte umgezogen, in eine kleinere Wohnung, die Kinder hatten ja längst eigene Leben. Sie haben damals sogar überlegt, das Haus ganz zu verlassen. Schließlich habe sich das Paar aber doch für die Vorzüge des Viertels entschieden, für die gute Infrastruktur, die Ärzte in der Nähe, die Einkaufsmöglichkeiten vor der Haustür, erzählt Angelika Hampel. Dann wurde ihr Mann krank. Das Pflegeheim ist teuer. Die Miete für die Wohnung, rund 600 Euro warm für 80 Quadratmeter, muss Angelika Hampel allein von ihrer Rente bezahlen.

Und es könnte teurer werden. Denn nun gibt es noch größere Veränderungen. Das Hochhaus wird saniert. Die Gerüste stehen schon, Handwerker rücken an. Die alte Platte wird nach 45 Jahren auch äußerlich eine neue. Angelika Hampel hängt zwar nicht mehr mit dem Herzen an ihrem Hochhaus. Aber raus will sie auch nicht mehr. "Nur mit den Füßen zuerst", sagt sie. "Einen alten Baum verpflanzt man nicht."


Aus: "DDR: Ach, meine Platte"  Doreen Reinhard, Dresden (19. August 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-08/ddr-plattenbau-wandel-sozialismus-nachbarschaft-gemeinschaft/komplettansicht

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Quote[...]  Steffen Mau, geboren 1968, wächst in den 1970er Jahren im Rostocker Neubauviertel Lütten Klein auf. Als die Mauer fällt, ist er bei der NVA, nach der Wende studiert er, wird schließlich Professor. Sein Buch Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft erscheint dieser Tage bei Suhrkamp

... Die DDR hat eine enorme Sozialisationsleistung gegenüber der Bevölkerung erbracht. Die Leute wurden geradezu in die DDR hineingesogen. Und die so entstandenen Gemeinsamkeiten sind auch der Humus für dieses besondere Miteinander. Manches davon wird heute idealisiert, aber man stand schon näher beieinander. Es bildeten sich Formen der Gemeinschaftlichkeit, der sozialen Netzwerke, der wechselseitigen Hilfestellung heraus, natürlich auch eine informelle Ökonomie, die von Tausch und sozialer Reziprozität lebt. Die Kehrseite dieser Binnengemeinschaftlichkeit ist in gewisser Weise aber die harsche und ablehnende Haltung gegenüber Personen, die als andersartig, fremd wahrgenommen werden. ... Es gibt viele [ ] Verletzungen, die bei einigen das Zu-kurz-Kommen zum Teil des Lebensgefühls machen. Man könnte einen darauf bezogenen Hang zur emotionalen Buchführung diagnostizieren, bei dem vieles immer wieder verrechnet wird. Wenn man heute mit den Leuten spricht, hört man gegenüber den Flüchtlingen ganz oft das Argument: Als wir in die Bundesrepublik gekommen sind, da mussten wir alles abstreifen, neu lernen, nichts durfte so bleiben, wie es war, und wenn die Flüchtlinge jetzt kommen, sollen die weiterhin alles so machen können wie bisher. Die müssen sich nicht anpassen, die dürfen ihr Kopftuch tragen und so weiter. Kurz: Da werden die Zumutungen, die man selbst auszuhalten hatte, auf andere Gruppen projiziert.

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Aus: "Der Sog der DDR" Katharina Schmitz (Ausgabe 32/2019)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/katharina-schmitz/der-sog-der-ddr

Quote
reziplikativ

Was die Ostdeutschen immer auf der Couch oder unter der wissenschaftlichen Lupe sollen? Taugen dem Staat nicht als gleichberechtigte Bürger geben aber gute Studienobjekte ab. So gewinnt man Menschen. Man muss die Verwerfungen nicht in der DDR suchen, weil sie längst gesamtdeutsch. In der Politik der Regierungen von Kohl, Schröder, Merkel muss man suchen, da wird man fündig. Der eine überzieht das Land mit der Inquisition, nennt sie Treuhand, plündert für gesamtdeutsche Wahlsiege schon mal die Sozialkassen aus, der andere demontiert den Sozialstaat, schafft Niedriglohnsektoren, ein verniedlichendes Wort für moderne Sklaverei und erhebt den Neoliberalismus zur Staatsdoktrin. Die nächste am Ruder dreht nichts davon zurück, nimmt sich aber in der Flüchtlingskrise die Freiheit von ,,wir schaffen das" zu reden ohne je einen Plan oder einen Lösungsweg zu haben. Der untere Rand der deutschen Gesellschaft kann in Folge bei Sozialämtern und Behörden erleben, wie Flüchtlinge Mittel und Zuwendungen bekommen, die man ihm verweigert oder nur unter demütigenden Vorgängen zugesteht. Diese Realität ist in Lütten Klein so fatal wie in Duisburg-Marxloh.

Was glaubt ein Staat eigentlich von abgehängten und entrechteten Menschen noch erwarten zu können? Man kann auch einen Hund nicht beliebig lange treten, irgendwann beißt er zurück. Dazu kommt noch eine Medienlandschaft, deren Realitäts- und Alltagsferne den Leuten den Rest gibt. Mit DDR Sog hat das alles nichts zu tun, wohl aber mit einer kontinuierlich gegen weite Teile der Bevölkerung ausgerichteten Politik.

Die Unterschicht wächst und wächst. Ich muss nicht nach Duisburg oder Rostock. Ein Spaziergang durch das alte Westberlin reicht. In den zentralen Bezirken müssen immer mehr Menschen ihre Wohnungen und Mietshäuser verlassen und können sich in der angestammten Lebensumgebung keine Wohnung mehr leisten. (Mit der DDR hat das nichts zu tun.) Der Kapitalismus ganz real. Und die angeblich so tolle Mietenpolitik des Senates ändert daran gar nichts, ist nur fürs Schaufenster und für Medien, zeigt aber keinerlei Wirkung. Wie gesagt, ein Spaziergang und wacher Blick zu solch trauriger Erkenntnis reicht aus. ...


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