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[DDR (Afterglow) // Notizen... ]

Started by Textaris(txt*bot), March 01, 2017, 01:31:25 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Meine Mutter war mit mir schwanger, als die Mauer fiel. Hätte sie gewusst, dass die Wende kommt, hätte sie mich nicht bekommen, hat sie mir einmal erzählt.

Nicht, weil sie sich kein weiteres Kind gewünscht hätte, sondern weil sie damals –wie so viele – in einer Art Schockstarre war. Über Nacht verloren Hunderttausende Menschen ihre Arbeit und ein Stück ihrer Identität; manche ein kleineres, manche ein großes. Es war ein Schnitt, der auch meine Eltern traf, als sie mit Mitte 30 auf dem Höhepunkt ihrer Karriere waren.

Wie sie um Himmels willen arbeiten wolle, mit einem Kleinkind zu Hause, wurde meine Mutter kurz nach der Wiedervereinigung gefragt. Die Firma wurde abgewickelt, sie musste sich neu bewerben. Als ,,Formgestalterin" der Kunsthochschule Burg Giebichenstein, in der die ostdeutsche Designer-Elite ausgebildet wurde, war ihr Arbeitsplatz damals sicher. Nicht aber in der Bundesrepublik.

Diplome und Arbeitserfahrungen wurden selten anerkannt, viele Berufe verschwanden. Meine Mutter war eine Frau. Mit Kind. Und eigentlich überqualifiziert. ,,Uff, lassen Sie mal." Ein Bruch im Leben, im Lebenslauf. Noch einer.

Unter ostdeutschen Bekannten fragt man oft: ,,Was sind deine Eltern eigentlich?", und: ,,Womit verdienen sie heute ihr Geld?" Auf die Wende folgte meist ein beruflicher Rückschritt. Vor allem Männer mittleren Alters haben oft nicht mehr richtig in die Spur gefunden. Sie sind heute Einzelkämpfer, sehen sich als ,,Wendeverlierer". Frauen aus dem Osten konnten sich besser in die westliche Gesellschaft integrieren, analysiert der Soziologe Steffen Mau. Sie haben sich (häufig im Westen) ein neues Leben aufgebaut.

Hätte es diesen Bruch im Leben meiner Eltern nicht gegeben, würde ich mich heute nicht so ostdeutsch fühlen. Meine Generation, die erste Nachwendegeneration mit ostdeutschen Wurzeln, ist heute um die 30 Jahre alt, und sie ist gar nicht so ,,wiedervereint" und ,,gesamtdeutsch", wie die meisten vielleicht denken. Gerade, wenn sie die Abwertung ihrer Eltern miterlebt hat.

Immer wieder werde ich gefragt, was ich überhaupt noch mit Ostdeutschland zu tun hätte, ich hätte es schließlich gar nicht mehr miterlebt. Das ist natürlich richtig. Und doch: Nur weil die Mauer fiel, haben sich die Erziehungsweisen der Eltern und das direkte Umfeld noch lange nicht verändert. Unser Zuhause stand plötzlich in einem neuen Land, ohne dass sich jemand bewegt hätte. Wie in einer Zeitkapsel ging das Leben Anfang der 90er Jahre erst mal genauso weiter. Drinnen tickte eine andere Uhr als draußen.

Bei uns herrschte lange ein Lebensstil der Vorwendezeit. Die Bücher, die Möbel, die Werte. Malen lernte ich auf vergilbtem Papier (mit dem Aufdruck ,,EVP 0,55 M"), das doppelt so alt war wie ich. Ich wuchs in feministischer Selbstverständlichkeit auf, die Rückseite von Teebeutelverpackungen wurde als Einkaufszettel verwendet, Kleidung so lange getragen, bis sie wirklich kaputt war, ständig wurde an Heizöl und Wasser gespart. Das macht einen Unterschied. Meine Mutter hat mir am Frühstückstisch das kapitalistische Prinzip der Monopolbildung mit Milchkrügen erklärt. Sie setzte den großen Krug auf den kleinen. Weg war der kleine.

Westdeutschland tröpfelte langsam von außen in den Alltag ein. Für mich war es ein Gefühl zwischen Capri-Sonne und dem König der Löwen; etwas greller, aufregender und mit mehr Zucker. Zwitterhaft trage ich bis heute beide Seiten, beide Welten in mir: die äußere Westwelt und die innere Ostwelt. Immer schlage ich mir irgendwo zwischen den Stühlen das Schienbein auf, fühle mich zerrissen, wie viele. Bei großen Familienfeiern bin ich als Jüngste zwangsläufig der ,,Wessi", klar. Aha, roter Nagellack! Doch die ,,Wessis" selber sehen das ganz anders. Noch nie habe ich mich so ostdeutsch gefühlt wie unter Kollegen in Westdeutschland.

Kleine Sticheleien zu meiner Herkunft gehörten dazu, als wäre sie eine Schwäche, etwas Exotisches. Beim Mittagessen in der Kantine habe ich einmal eine Spargelcremesuppe nach dem Hauptgericht gegessen. Sie war sehr heiß, ich ließ sie abkühlen. Daraufhin fragte mich ein Kollege, ob wir denn im Osten nicht wüssten, dass man die Suppe vor dem Hauptgang zu essen habe. Ich wurde ostdeutsch in Westdeutschland, und dieses Gefühl ist kein Einzelfall (siehe Johannes Nichelmann, Freitag 37/2019).

Die Wendegeneration aus den neuen Bundesländern fühlt sich ,,ostdeutsch"; die vergleichbare Generation aus Westdeutschland hingegen ganz einfach ,,deutsch". Für den Soziologen Daniel Kubiak hat das einen klaren Grund: ,,Westdeutsch-Sein" entspreche so sehr der Norm, dem Normalen, dem ,,Deutschen", dass ,,Ostdeutsch-Sein" als Abweichung, als ,,anders", als unnormal empfunden – und dann oft abgewertet – werde.

Selbst diese Debatte um das deutsch-deutsche Othering ist eingefärbt: Dass die Westdeutschen sich nicht westdeutsch fühlen, wird nur von Ostdeutschen thematisiert. Kein Münchner, der um 1989 geboren wurde, würde sich jemals als ,,Wendekind" verstehen. Wer in der vermeintlichen Norm lebt, ist oft blind für seine eigene Position. Ostdeutsch-Sein ist wie die Dauerwelle, die doch bitte endlich aus der Geschichte herauswachsen soll, hat Alexander Osang vor Kurzem in einem Spiegel-Essay geschrieben. Aber wie soll das gehen?

Deutschlands Nachkriegsgeschichte wird zu oft stillschweigend mit westdeutscher Historie gleichgesetzt. Schlager-Hitparaden spielen zwar Dieter Thomas Heck, aber nicht Silly, die spielt man zur Sondersendung Ost. Im Grunde ist die DDR eine andauernde Sondersendung. Der Osten kommt im deutschen Narrativ nur als Spezialfall vor. Damit tut man Menschen nicht nur unrecht, man verfestigt auch auf eigentümliche Weise ihre Identität. Wer von anderen Gruppen kategorisiert oder abgewertet wird, entdeckt erst, was die eigene Gruppe ausmacht. Wer im Ausland ist, kennt das: Plötzlich gilt man als ,,typisch deutsch", weil man pünktlich zum Termin erscheint.

Die Urteile der anderen bilden dann den Hintergrund, vor dem sich das Eigene erst abzeichnet. Der Migrationsforscherin Naika Foroutan zufolge fühlen sich Ostdeutsche heute ähnlich benachteiligt wie Migranten. Beide Gruppen haben etwas durchlebt, das man ,,Migrationserfahrung" nennen kann. Sie vereint oft die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, eine Tendenz zur Verklärung der eigenen Vergangenheit und das Gefühl, nicht so richtig dazuzugehören. Beide Gruppen erleben Abwertung.

Nicht nur Einwanderer-, sondern auch Wendekinder sind in einem ähnlichen Paradox aufgewachsen: Einerseits möchte man aus Loyalität das Lebensmodell der Eltern weitertragen, andererseits versucht man sich im ,,neuen Land" an die Regeln anzupassen. Diese Regeln, zwar keine elementaren, aber die feinen Unterschiede, musste man sich allein erarbeiten – die Eltern konnten sie einem ja nicht erklären.

Manche Codes sind mir bis heute fremd. Selbstdarstellung etwa war in meiner Familie eher verpönt; bei meinen westdeutschen Freunden gehört sie zum kulturellen Kapital. Teil des westdeutschen Habitus ist auch, zu wissen, dass man manchmal etwas rücksichtsloser sein muss oder auch mal etwas hingebogen wird. Der eigene Lebenslauf beim Vorstellungsgespräch zum Beispiel, nur ein kleines, entscheidendes bisschen. Junge Westdeutsche können bis heute im Studium und im Beruf risikobereiter sein, weil sie weniger existenzielle Bedrohungen kennen. Es existieren über die Eltern Verbindungen in die Arbeitswelt und in vielen Fällen die Gewissheit, eines Tages etwas zu erben. Bei Ostdeutschen ist es häufiger ,,randgenäht".

Auf Familienfeiern spüre ich oft eine unterschwellige Wut. Über Ungerechtigkeiten, wie die Abwicklungen durch die Treuhand, oder darüber, als Bürger zweiter Klasse heruntergestuft (und dann noch als rückwärtsgewandt bezeichnet) zu werden.

Bis heute sind Ostdeutsche in einer gesellschaftlichen Minderheitenposition. Man findet sie kaum in Führungspositionen, sie verdienen weniger, haben deutlich weniger Vermögen, dafür aber höhere Arbeitszeiten als Westdeutsche.

80 Prozent der ehemaligen DDR-Betriebe wurden nach der Wende von Firmen aus der Bundesrepublik übernommen, während westdeutsche Führungskräfte die schönsten Brandenburger Seegrundstücke gekauft haben. In der Familie fallen häufig diese Begriffe: der ,,Ausverkauf" des Ostens, die ,,verlorene Schlacht" und ,,Sie haben uns den Stolz genommen". Man hätte sich gar nicht ,,wiedervereinigt", sondern den Osten schlichtweg angeschlossen, ihn einfach übernommen. Wie der große Milchkrug über den kleinen gestülpt wurde. Übrigens wählt niemand in meiner Familie AfD.

Es war ein warmer Tag im Juli, als mein Vater seinen Arbeitsplatz als Ingenieur verlor. Er hatte es längst kommen sehen. Das ehemalige Kombinat wurde um Millionen betrogen – von einem Kunden aus dem Westen, der eine Luxusjacht in Auftrag gab. Und dann mitnahm, ohne sie zu bezahlen. Der Betrieb wurde abgewickelt. Mein Vater wollte nicht noch einmal umsatteln.


Aus: "Halb hier, halb da" Juliane Marie Schreiber (Ausgabe 46/2019 )
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/halb-hier-halb-da


Textaris(txt*bot)

Quote[...]  Bei Rammstein ist er der "Tastenficker" – DDR-Jargon für Keyboardspieler. Eigentlich heißt er Christian Lorenz, nennt sich aber seit Jugendtagen "Flake", deutsch ausgesprochen, versteht sich. Seit einem Vierteljahrhundert gibt der gebürtige Ostberliner in der Deutschrockband den Außerirdischen, den dünnen Freak unter den starken Muskelmännern. Mittlerweile haut Flake auch als Autor in die Tasten: In "An was ich mich so erinnern kann" (2015) schrieb er seine DDR-Erfahrungen auf, 2017 folgte mit "Heute hat die Welt Geburtstag" eine literarische Autobiografie über Rammstein. Am 26. 3. kommt Flake für eine Lesung ins Wiener Globe-Theater.

Interview: Stefan Weiss (26. Jänner 2020)

STANDARD: Derzeit feiert man 30 Jahre Wende. Ihre Freude hält sich in Grenzen, wie man weiß. Wie nehmen Sie das Jubiläum wahr?

Flake: Wende und Wiedervereinigung muss man trennen. Die Wende habe ich als damaliger Punk miterlebt. Das verknöcherte alte Betonkopfgerüst des DDR-Politbüros war ja auch unser Feind. Wir wollten dieses idiotische Regime nicht mehr und haben dafür gekämpft, dass es aufgelockert wird. Als die Mauer fiel, wussten wir mit unserer plötzlich erlangten Freiheit zunächst überhaupt nichts anzufangen. Dann begann aber eine irre spannende Zeit, in der wir versucht haben, uns beruflich, politisch und musikalisch in jeder Richtung zu verwirklichen.

STANDARD: Und dann kam die Wiedervereinigung.

Flake: Ab da ging ganz viel schief. Wir wurden als unnützes Land angegliedert, ganze Biografien für wertlos erklärt, Firmen geschlossen, damit sich die Westfirmen breitmachen konnten. Wir sind so sehr zurückgesetzt worden, dass sich ein Groll und eine Enttäuschung aufgebaut haben, die bis jetzt anhalten. Im Großen und Ganzen war die Wiedervereinigung in dieser Form eine Sauerei.

STANDARD: Wenn Sie heute auf Deutschlands Osten blicken, hat dort politisch zuletzt der Rechtspopulismus großen Erfolg gehabt. Ein Erbe der Wiedervereinigung?

Flake: Viele Menschen sind enttäuscht, weil sich bestimmte Versprechungen nicht erfüllt haben. Das politisch Linke hatten sie aber schon in ihrem Leben, jetzt probieren sie es mit rechts. Ich persönlich kann nicht nachvollziehen, wie man AfD wählen kann. Aber die, die es tun, machen es zum Großteil aus Protest gegen die etablierten Parteien. Dass die AfD die Erwartungen auch nicht erfüllen kann, ist klar. Wenn die AfD regieren würde, würden viele Leute sehr schnell merken, dass es nicht besser, sondern schlimmer wird.

STANDARD: Sie sind in der Ostberliner Punk-Szene aufgewachsen. Wodurch unterschieden sich Ost- und Westpunks?

Flake: Es gab einen grundlegenden Unterschied: Die Ostpunks brauchten kein Geld, denn das Leben war absurd billig, Miete um die 25 Mark. Mit einem Konzert kam man über einen Monat. Also konnte man die Musik machen, die man machen wollte, und nicht bloß die, die sich gut verkauft. Absurderweise waren wir dadurch auch sehr frei.

STANDARD: Unter Ihren damaligen Bandkollegen gab es auch IM-Stasi-Spitzel (IM: Inoffizieller Mitarbeiter, Anm.). Sind Sie nicht wütend auf den repressiven Überwachungsstaat DDR?

Flake: Auf IM-Spitzel in den Bands bin ich nicht wütend. Denn die haben durch ihren IM-Status oft erst ermöglicht, dass die Bands überhaupt existieren konnten. Die Stasi hat ja nicht ihre eigenen Leute eingesperrt. Bestes Beispiel dafür ist die DDR-Band Die Firma. Die wurde von IM-Spitzeln gegründet. Der Gag bestand darin, dass "Die Firma" eigentlich ein Synonym für "Stasi" war. Von der Stasi gedeckt, haben die dann staatsfeindliche Texte gesungen. Fast schon wieder genial.

STANDARD: Verstehen Sie es, wenn es heißt, die DDR war ein Unrechtsstaat, Stasi-Repression eine Art von Terror?

Flake: Ich kann es verstehen, wenn das Leute sagen, die das so erlebt und darunter gelitten haben. Aber ich persönlich kann nicht sagen, dass der ganze Staat schlecht war. Ich möchte nicht wissen, wie viele unschuldige Menschen im Westen eingesperrt und überwacht wurden bzw. werden. Die Pauschalisierung "Unrechtsstaat" finde ich nicht in Ordnung.

STANDARD: Wäre Rammstein in der DDR denkbar gewesen?

Flake: Innerhalb der DDR hätten wir eine Band wie Rammstein nicht gegründet, weil es die falsche Antwort auf dieses System gewesen wäre. Rammstein haben wir gegründet, weil wir gemerkt haben, dass wir im Westen mit unserer Punkmusik nicht weiterkommen. Da brauchte es Härteres.

...


Aus: "Rammstein-Keyboarder Flake: "Die Wiedervereinigung war eine Sauerei"" Stefan Weiss (26.01.2020)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000113670270/rammstein-keyboarder-flake-die-wiedervereinigung-war-eine-sauerei

Quote
Nepukadnezar

Flake hat schon Recht wenn er die Wiedervereinigung ... kritisch hinterfragt.
Schließlich ist das Produkt einer Vereinigung ja eine Mischung aus allen Elementen.

Hier wurde aber einfach alles was BDR war über die DDR darübergestülpt.
Egal ob Rechtssystem, Schulwesen, Vereinsangelegenheiten, Sportorganisation ... praktisch nichts wurde vom Westen als für Wertvoll angesehen und übernommen.

Man kann es Wiedervereinigung nennen so oft man will, faktisch ähnelt es mehr einer Okkupation ...


Quote
Andreas Pieper

Was wäre denn die Alternative gewesen? Nachher meckern ist einfach, Sie müssen sich die Größe der Aufgabe damals vorstellen, und dann bitte bedenken das nichts vergleichbares jemals stattgefunden hatte.


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DeinKetzer

Die Treuhand hat auf ganzer Linie versagt
Dazu kann man ja gern Bücher lesen.

Viel einfacher ist es aber einfach Beispiele zu bringen.
Keine 100 km von der Salzgitter AG bestand um 1990 ein modernes Kali-Bergwerk.
Von der Salzgitter AG übernommen und schnellstens geschlossen.
Mit den billigen Ossis wäre es ein mehr als nur unbequemer Konkurrent gewesen.

Bekannter sicherlich: Rotkäppchen
Ostdeutsche Sektkellerei sollte nach der Wende abgewickelt werden.
Doch mehrere Mitarbeiter übernahmen den Laden.
Obwohl dies eigentlich nicht gern gesehen war.
Die Rotkäppchen Sektkellerei war ja wertlos.
Heute ist Rotkäppchen Marktführer in Deutschland.

Das größte Problem war die sorglose Deindustrialisierung weiter Bereiche Ostdeutschlands. Wenig hat sich davon bis heute erholt.


Quote
Glen Flagler

"Ich möchte nicht wissen, wie viele unschuldige Menschen im Westen eingesperrt und überwacht wurden bzw. werden."

Im Vergleich zur ehemaligen DDR? Flake, das ist jetzt schon ein bisserl deppert.


Quote
Cuca Racha

Standard: "Die Wiedervereinigung war eine Sauerei"

Original: "Im Großen und Ganzen war die Wiedervereinigung in dieser Form eine Sauerei."

Erkennen Sie den Unterschied?


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aichfelder

Wenn jemand meint, die DDR war pauschal kein Unrechtsstaat, ... Naja... Die DDR hatte mehr Geheimdienstmitarbeiter pro Einwohner, als jedes andere Land. republikschädigendes Verhalten, Republikflucht und als Strafe "Zersetzung", um nur ein paar Stasibegriffe zu verwenden. Wenn jemand so relativiert, dann möcht ich gar nicht mehr weiterlesen!


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KRW_Leaf

Es geht nich darum, das die Wiedervereinigung eine "Sauerei" war, sondern um das WIE.
Letztendlich war es eine feindliche Übernahme, keine freundliche Vereinigung.
"Geschichte der Treuhand"


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WoS2u
Kraftwerk, Bier für die Roboter 1

Schon sehr eindimensional seine Sichtweise der Wiedervereinigung.
Die Westdeutschen haben ihren Solidaritätsbeitrag geleistet und zahlen heute immer noch.
Und auch als Linker muß man sagen, die Ostdeutschen Firmen waren in der damaligen Form nicht überlebensfähig, von Produktivität ganz zu schweigen.
Was stimmt ist, dass einiges zu billig verkauft wurde.
Auffallend auch, dass die ehemalige Führungsschicht der DDR, bis auf wenige Anklagen, wieder auf die Sonnenseite gefallen ist.


Quote
Der allerletzte Endgegner

Flake trauert nicht dem DDR Regime nach, noch der Wiedervereinigung, sondern die Art und Weise der Wiedervereinigung.
So schwer zu verstehen?


Quote
TimT.

Ich mag den Flake ja. Ich kenne ihn schon aus seiner Zeit bei Feeling B in den späten Achtzigern. Filmempfehlung: "Flüstern und Schreien" (Flüstern & SCHREIEN – Ein Rockreport)

Seine regelmäßigen Radiosendungen bei radioeins vom RBB sind große Klasse.

Mit seinen Ansichten über die Wende kann ich nicht ganz mit gehen, aber das ist letztlich auch nicht wichtig.
Auf alle Fälle ein kluger Beobachter und kritischer Mensch, von denen wir nicht genug haben können!


Quote
JFXXV

Diese Ostnostalgik langweilt mich
Redens mal mit Leuten dessen Freunde oder Angehörige an der Mauer erschossen wurden, oder mit Schlafentzug und sonstigen Methoden gefoltert wurden, von der dauerbespitzelung rede ich noch gar nicht.


Quote
Excom55

Es kommt nicht immer Kluges raus wenn sich Musiker politisch äußern..
Flake sollte sich mal mit den gigantischen Transfers die von West nach Ost gingen beschäftigen. Die DDR war faktisch pleite und wurde über Jahrzehnte vom Westen aufgepäppelt. Lächerlich all das auszublenden.


Quote
Dirty ol Bastard

Wo blendet er das aus? Und wenn wir schon beim Vergleich sind: Was ist mit den Transfers von Ost nach West? - Die Firmen und Immobilien waren Volkseigen. Man hätte die Besitze auch mal fragen können, bevor ihr Eigentum verkauft wird.
Großzügig wurde ihnen angeboten ihr Eigentum kaufen zu können.
Bauaufträge im Osten gingen großteils an westdeutsche Firmen. Der ostdeutsche Markt wurde von westdeutschen Produkten überflutet, mit der Konkurrenz die unvorbereiteten ostdeutschen Firmen nicht umgehen konnte... etc...


Quote
Kombucha-Jünger

Man mag von dem Interview halten was man mag, aber ich finde es immer wieder spannend, wie festgefahren hier Einige teilweise sind...

Wissen einfach alles besser. Sie wissen es sogar besser, als Menschen welche in/ unter diesem System Tag für Tag gelebt haben.
Andere Meinungen und Erfahrungen anzuerkennen, fällt hier sichtlich schwer...


Quote
LL MM

Zu den IM in den Bands: Die Antwort "Uns ist nix passiert, daher war eh alles nicht so schlimm" ist an Perfidie nicht zu überbieten. Dass solche Bands quasi als "Agent Provocateur" missbraucht wurden, um einzelne Konzertbesucher später zu drangsalieren, vergisst der nette Herr hier einfach.


Quote
Dirty ol Bastard

Wenn sie aufmerksam gelesen hätten, wäre ihnen aufgefallen, dass er nichts damit entschuldigt. Ganz im Gegenteil. Darüber hinaus wird die nicht unwichtige Frage gestellt, inwiefern die BRD nicht auch selbst auf die eigene Geschichte schauen sollte, bevor Andere so pauschal verurteilt werden.


QuoteDiogenes

Rechtspopulismus in Ostdeutschland als Folge der Wiedervereinigung

Allein diese Frage ist ein Schwachsinn! Besser könnte auch ein Stalinist nicht die Wahrheit verdrehen.


Quote
Ben Vassy

Ich habe ziemlich viel mit Menschen aus der Zone zu tun. Junge Menschen so um die 25. Die sehen den Grund für alles Schlechte in ihrem Leben in der Wiedervereinigung, hassen den Westen und wählen AfD, weil die angeblich als einzige Partei ihre spezifischen Ost-Probleme versteht. Ich halte die Theorie also für äußerst glaubwürdig


Quote
Hattie Caroll

Man stelle sich vor, Österreich würde mit Deutschland vereinigt und alle unsere Produkte (Mannerschnitten, Almdudler, Schwedenbomben etc.) verschwänden plötzlich vom Markt.
Die Gemeindebauwohnungen und die Gratiskindergärten in Wien würden privatisiert und plötzlich drei mal so teurer.
Unsere Musik sowie unsere Filme würden nur noch belächelt und der ORF abgeschafft.
Im Gegensatz zu den Deutschen bekämen wir weniger für die gleiche Arbeit bezahlt, dafür würde man uns aber bei jeder Gelegenheit erklären, wie gut wir es doch hätten, dass wir nicht mehr im rückständigen Österreich leben müssten.
So ungefähr hat sich die Wiedervereinigung für viele Ossis angefühlt.


Quote
Erzsébet Lucas

,,Aber ich persönlich kann nicht sagen, dass der ganze Staat schlecht war. Ich möchte nicht wissen, wie viele unschuldige Menschen im Westen eingesperrt und überwacht wurden bzw. werden."

Da habe ich aufgehört zu lesen.


Quote
Joe Z.

Ist hart von jemandem zu hören der als Punk in Ostdeutschland aufgewachsen ist, nicht wahr? Ich bin mir sicher Ihr Bild ist wesentlich genauer durch Ihre Erfahrung in der DDR.
Aufhören eine Meinung zu lesen nur weil sie von der Ihren abweicht, zeugt von ihrer intellektuellen Deprivation.


Quote
gnadevorrecht

"Aber ich persönlich kann nicht sagen, dass der ganze Staat schlecht war."

Danke, keine weiteren Fragen. Man könnte auch genausogut ssgen: "Es war nicht alles schlecht".


Quote
...l...

Man kann von BRD aber auch nicht sagen, dass der ganze Staat gut war. so what


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Das Jahr 1990 freilegen Editiert von Jan Wenzel Spector Books 2019 ...

... Als der Diskurs sich noch um das Für und Wider eines wie auch immer gearteten ,,Dritten Weges" drehte, standen die westdeutschen Konzernchefs längst Schlange vor den ostdeutschen Werkstoren, um die Erbmasse zu begutachten. Unverblümt stellte der damalige FDP-Vorsitzende und verurteilte Steuerhinterzieher Graf Lambsdorff in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung Anfang Januar seine Bedingungen, als er süffisant feststellte, natürlich entscheide die Bevölkerung der DDR frei darüber, in welcher ökonomischen und gesellschaftlichen Form sie leben wolle. Aber ,,ohne marktwirtschaftliche Entscheidungsformen, ohne etwa ein Gesellschaftsrecht, das privatwirtschaftliche Beteiligungen zulässt", könne es keine wirtschaftliche Kooperation geben, die zum Erfolg führt. Schon am 2. Januar eröffnete die Dresdner Bank ihre erste Filiale in den zukünftigen ,,neuen Bundesländern". Wie unmittelbar die ökonomischen Mechanismen der Marktwirtschaft gleich nach dem Mauerfall zu wirken begannen, macht der Schriftsteller Rolf Schneider an einem Detail deutlich: In den hessischen Ortschaften nahe der Grenze zu Thüringen gerieten die Friedhofsunternehmen infolge der Grenzöffnung in Bedrängnis, weil die Bestattungsinstitute ihre Einäscherungen flugs in die östlich der Grenze gelegenen Krematorien verlegten, wo die Preise unschlagbar niedrig waren. Allerdings auch die Umweltstandards, was bei ungünstigem Wind auch im Westen bemerkbar war.

... Der Spiegel konstatierte eine ,,unglaubliche Naivität" unter den Neuzuzüglern, deren Erwartungen, im Westen mit offenen Armen empfangen zu werden, schnell an der Realität in den Übergangswohnheimen und Notquartieren zerschellte. Das ,,erhoffte flotte Leben" rückte für die meisten Ostbürger in weite Ferne und die Massenquartiere wurden zu Dauerlösungen, was den Unmut unter den Bundesbürgern schürte, die ihre Turnhallen gerne wieder nutzen wollten.

Auch in der DDR selbst wuchs allmählich die Abwehr gegen die basisdemokratischen Zumutungen der Bürgerrechtler. Allzu mündig wollte der deutsche Michel eigentlich gar nicht werden, und in einem Brief an das ,,Neue Forum" vom 17. Januar 1990 beklagten sich die ,,Werktätigen" eines nicht näher bezeichneten Betriebes über die Unruhe, die in ihr Leben getreten war: ,,... aber wir wollen wieder Ruhe, Ordnung, Sicherheit, wie wir sie hatten, und verzichten auf die Freiheit der Anarchie, unbedachte Streiks und Vandalismus ... – wir legen auch nicht übermäßigen Wert auf Reisefreiheit, da wir es uns gar nicht leisten können, große Flausen zu haben und froh sind, ab und an in unser Betriebsferienlager zu fahren!" Dass es diese Ferienlager bald schon nicht mehr geben würde, kam ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht in den Sinn.

Das Füllhorn an Geschichten und Anekdoten auf den 600 Seiten des Buches scheint unerschöpflich, und dabei ist noch nicht einmal etwas über die Bilder gesagt. Die zum Teil ausführlichen Fotostrecken verleihen dem Band eine zusätzliche visuelle Ebene und stehen als Bildessays für sich. Stellvertretend sei Ute Mahlers fotografische Erzählung vom Aufstieg und Fall des Manfred (,,Ibrahim") Böhme genannt. Mit der ihr eigenen Empathie Menschen gegenüber besuchte sie den gefallenen Hoffnungsträger der Ost-SPD auch noch lange nach dessen Enttarnung als Stasispitzel, als alle Weggefährten sich längst von ihm abgewandt hatten. Dank ihrer Ausdauer entstand eine eindrückliche Bildserie über eine der seltsamsten Karrieren in dieser an Seltsamkeiten reichen Zeit.

Rückblickend erscheint vor allem die Naivität erstaunlich, mit der viele DDR-Bürger sich noch an ihrem Land rieben und für dessen Erneuerung fochten, als die Zeichen längst auf Anschluss standen, die ,,Altbesitzer" ihre Grundstücke inspizierten, Manager Übernahmeverhandlungen vorbereiteten, Verleger die ostdeutschen Regionalzeitungen auf ihre Verwertbarkeit hin taxierten und sich all die anderen Glücksritter der Marktwirtschaft auf Schnäppchenjagd in den Osten begaben. Die Unbedarftheit vieler Ostdeutscher mag aus heutiger Sicht drollig wirken, doch angesichts des aktuellen Ost-West-Diskurses dürfte Cees Nooteboom recht behalten haben, als er in seinen Berliner Notizen 1989/90 schrieb: ,,In der Geschichte geht nichts verloren, jedes Atom der Schmach und Erniedrigung summiert sich und bleibt erhalten."


Aus: "Ein stilles Ende" Frank Schirrmeister (Ausgabe 13/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ein-stilles-ende

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Ich bin 1987 in Potsdam geboren und aufgewachsen und lebe, nach einigen Jahren in Frankreich und der Schweiz, nun in Berlin. ... Das Jubiläum zu 30 Jahre Einheit nehme ich zum Anlass, über den Osten im Zusammenhang zur Klassengesellschaft nachzudenken. Dabei kommt unweigerlich meine eigene Generation in den Blick, und ihr gespaltenes Verhältnis zur Leistungsgesellschaft, das zwischen 80-Stunden-Woche und Ausbeutungsverweigerung pendelt.

Mein Geburtsland DDR, an das ich keine eigenen Erinnerungen habe, beschäftigt mich zunächst nur als widersprüchliche Zuschreibung von außen: Ich werde zum Ossi gemacht, als mich mein erster westdeutscher Freund, in Wortverspielung der Wespe, liebevoll Ospe nennt. Von ihm lerne ich auch, dass man über Geld nur spricht, wenn man keins hat. Fest in meiner Erinnerung zementiert ist außerdem der Satz eines Unternehmers aus dem Westen, der etliche Firmen aufgebaut hat: ,,Es gibt nichts Besseres, als auf dem Klo zu sitzen und zu wissen, dass deine Firma gerade Umsatz macht."

Es ist ein Satz aus einer anderen Welt. Dort, wo ich herkomme, ist es undenkbar, Geld auf dem Klo zu verdienen; Geld verdient man durch Arbeit. Und ebendort werde ich etwa zeitgleich zum Wessi gemacht, als mir am Küchentisch attestiert wird, von der DDR keine Ahnung zu haben und ein Kind des Kapitalismus zu sein. Es dauert fünf Jahre Auslandsaufenthalt und einen Roman, bis ich beide Zuschreibungen von mir weise und in der Ostsozialisierung ein begriffliches Zuhause finde.

In der Zeitung sehe ich eine Infografik. Der Osten erbt anders, ist sie überschrieben und zeigt anhand der Erbschaftssteuer pro Einwohner, dass in westdeutschen Familien ein Vielfaches an Vermögenswerten von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Kein Wunder, in ostdeutschen Familien fehlen 40 Jahre, in denen Vermögen hätte angehäuft werden können. Ich denke an das Grundstück, auf das meine Großeltern in den 1960ern eine Datsche gebaut haben.

Ein Ankaufsrecht, wie es das für Eigenheime auf fremdem Boden nach der Wende gab, ist bei Wochendendhäusern und Garagen nicht eingeräumt worden. Der Pachtvertrag für die Datsche fällt damit unter das Schuldrechtsanpassungsgesetz, das die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse von DDR und BRD nur befristet regelt: Bis 2022 gilt ein Investitionsschutz, danach müssten wir das Grundstück in seinem unbebauten Zustand zurückgeben, sollte der städtische Eigentümer den Pachtvertrag kündigen. Im Klartext kann das Abrisskosten um die 10.000 Euro bedeuten. Das ist das Kleingedruckte ostdeutscher Erbschaften, das sich auch die nächste Generation durchlesen muss.

Gregor Gysi schreibt über den Wiedervereinigungsprozess: ,,Diese Entwicklung, die den Ostdeutschen und dem Osten seit 1990 nie das Gefühl von Gleichwertigkeit vermittelte, hat vielleicht mehr zur Herausbildung einer ostdeutschen Identität beigetragen, als es die Führung der DDR je vermochte." Mag sein, dass sich die Ostdeutschen in der Bundesrepublik ostdeutscher fühlen als je zuvor. In Umfragen stimmt die Mehrheit jedenfalls der Aussage zu, sie fühlten sich gegenüber Westdeutschen als Bürger zweiter Klasse – bilden die Ostdeutschen eine ökonomische Klasse? Wenn wir mal großzügig die sehr verschiedenen Nachwendebiografien in einen Topf werfen, bleiben klar strukturelle Gemeinsamkeiten erkennbar. Angesichts niedrigerer Löhne, Renten und Vermögenswerte kann ökonomisch von Einheit keine Rede sein. Erstaunlich daran finde ich den optimistischen zweiten Platz. In Deutschland besitzen die reichsten zehn Prozent mehr als die Hälfte des Vermögens. Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit von Vermögensverteilung beziffert, ist seit 1991 von 0,25 auf fast 0,3 gestiegen. In diesem Land kann höchstens von einer dritten Klasse die Rede sein.

Als ich gefragt werde, welcher Klasse ich mich zugehörig fühle, ist meine erste Antwort nicht ,,ostdeutsch", sondern ,,kreatives Prekariat" – kaum ökonomisches, aber viel kulturelles Kapital. Mir fällt L. ein, die Philosophie studiert hat und jetzt im Wendland Gemüse anpflanzt – welcher Klasse wäre sie zuzuordnen? Unsere mehrschichtigen Herkünfte und Selbst-Neuerfindungen ergeben so wilde wie verwirrende Biografien in den Zwischenräumen der herkömmlichen Klassenbegriffe. Wenn wir in dieser Unübersichtlichkeit über Klasse sprechen, brauchen wir mehr als nur die Ost-West-Unterscheidung – und vor allem die Bereitschaft, überhaupt über Klasse zu sprechen. Die Frage danach zerrt die eigenen Eltern ins Rampenlicht. Wir wollen aber eine Gesellschaft sein, in der egal ist, woher man kommt, und nur zählt, wo man jetzt ist, als hätte das eine nichts mit dem anderen zu tun – eine Utopie, die ich mag, der wir aber nicht näher-kommen, indem wir sie einfach behaupten und dabei Unterschiede tabuisieren. Tatsächlich benutze ich das Wort Klasse so selten, dass es sich wie aus einer Fremdsprache anfühlt. Meiner Vokabelliste füge ich das kreative Prekariat hinzu.

[...] Zu Hause gibt es den Glaubenssatz: In unserer Familie bereichert man sich nicht. Als Abgrenzung zum Raubtierkapitalismus überträgt er das Konzept Klassenfeind auf mich, auf die nächste Generation. Dabei entsteht eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Geldverdienen, gleichzeitig wird die vergleichsweise schlechte Lage aller Ostdeutschen beklagt. Man gehört dazu, wenn man prekär lebt, und man steht unter Verdacht, wenn man zu Geld kommt. Meine Höhenangst betrifft nicht nur Schluchten, Türme und Flugzeuge, sondern auch das obere Ende der Karriereleiter. Zum Glück verdiene ich als Autorin nicht besonders viel. Die Ostsozialisierung beinhaltet ein diffuses Orakel: Die Erzählung, dass von heute auf morgen alles anders sein kann, ist so fest in meine DNA eingeschrieben, dass ich nicht an eine politische und ökonomische Stabilität glaube. Worte wie Bausparvertrag und Rente gehen mir nicht über die Lippen, weil ich Zweifel habe, dass es das System, innerhalb dessen diese Dinge erst sinnhaft werden, noch geben wird, wenn sie für mich relevant werden. Das Orakel beschwört den Zusammenbruch des Kapitalismus mal utopisch, mal dystopisch herauf und verhindert, dass ich bauspare oder altersvorsorge. ... Das Prekariatsrisiko für die Kunst in Kauf zu nehmen, ist vertrauter Kinderzimmerboden, oder wie J. es mal formulierte: ,,Ich habe genug Hartz IV im Blut."

Anlässlich eines Stipendiat*innen-Empfangs bin ich zu Gast in der reichsten Privatwohnung über drei Etagen, in der ich je gewesen bin. Während mir ein weißhemdiger Bediensteter den Mantel abnimmt, denke ich an einen Satz von K.: ,,Die Sprache verrät uns", und frage mich, welches Wort mich an diesem Abend verraten wird. Dann hält ein FAZ-Journalist für die kleine Gesellschaft einen Kurzvortrag, frei und derart eloquent, dass ich heimlich Atemübungen mache, bevor ich in der anschließenden Vorstellungsrunde an der Reihe bin. Auf dem Buffet steht, wie der weiße Milchzahn in all der Dunkelheit von Wald bis Wasserglas, eine ja! – Flasche Orangensaft. Ich behalte sie im Augenwinkel, während ich spreche, und trinke sie später aus, nachdem ich mich getraut habe, die Angestellten nach Bier zu fragen, das es nicht gibt, und vielleicht hätte mich diese Frage verraten, wenn es denn etwas zu verraten gegeben hätte. Beim Abschied bezeichnet mich eine Frau als ,,erfrischend", und als ich heimgehe, halb Getränk, halb Pool, denke ich: Es ist schön, dass mich nichts verraten kann, weil ich kein Geheimnis bin.


Aus: "Er nennt mich Ospe" Paula Fürstenberg (Ausgabe 11/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ich-bin-eine-ospe

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Sehr häufig wird in den nächsten Jahren die Debatte über die Lage der deutschen Einheit nicht mehr strapaziert werden. Das Thema verschwindet langsam im Hintergrund. Man sollte es meinen, mit 30 Jahren Abstand. Und dann empfängt man wieder Beispiele, die anderes bezeugen, Abstand, Trennung, Herablassung. Christoph Hein, ein deutscher Schriftsteller, seit seine Novelle Der fremde Freund 1982 im Osten und im Westen des Landes veröffentlicht worden ist und ein außerordentlicher Erfolg wurde. Hein gab in einem Interview mit der Zeit im März 2019 ein Beispiel seiner Erfahrung mit der Einheit: ,,Letztens ist mir während einer Buchvorstellung etwas Amüsantes passiert. Der westdeutsche Moderator, jemand, den ich sehr schätze, sagte, meine Novelle Der fremde Freund sei zunächst in der DDR veröffentlicht worden, erst später in Deutschland. Mit Deutschland meinte er die BRD. Das ist nun wirklich kein Skandal, aber es ist ja nicht untypisch. Im deutschen Feuilleton gibt es bis heute deutsche Schriftsteller und ostdeutsche Schriftsteller, aber keine westdeutschen Schriftsteller." Schulze konstatierte Ähnliches, und auch Hein ist weit davon entfernt, sich über diese Gedankenlosigkeit zu erregen. Er hat sie als ,,etwas Amüsantes" verbucht und betont, dass sie ,,nun wirklich kein Skandal" ist. Ist sie auch nicht, ein Skandal. Aber was ist mit Willy Brandts legendären Worten vom 10. November 1989: ,,Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört?" Das Versprechen, vor 30 Jahren gegeben, ist nicht erfüllt. Oder?


Aus: "Der Westen als Norm" Michael Hametner (Ausgabe 31/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/der-westen-als-norm


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#40
Quote[...] [ Zu: "Prostitution in der DDR: Eine Untersuchung am Beispiel von Rostock, Berlin und Leipzig, 1968 bis 1989" (Deutsch) Taschenbuch – 9. Juli 2020
von Steffi Brüning (ISBN-13: 978-3954102174)
]


Wer an Sexualität in Deutschland im Jahr 1968 denkt, hat wahrscheinlich Rainer Langhans und die freie Liebe vor Augen. Doch während in der Bundesrepublik die sexuelle Revolution in vollem Gange war, gab es in der DDR mit dem 1968 beschlossenen neuen Strafgesetzbuch ein weiteres Repressionsinstrument, das speziell auf die weibliche Sexualität zielte. Denn dort galten mit Einführung des Paragrafen 249 Prostituierte als Asoziale und konnten mit mehrjährigen Haftstrafen belegt werden. Der Paragraf betraf jedoch nicht nur Frauen, die sich prostituierten: Schon sexuelle Freizügigkeit wurde unter der Prämisse "Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten" unter Strafe gestellt.

Die SED verwendete mit "Asozialität" den gleichen Begriff, der im Nationalsozialismus zur Verfolgung und Ermordung von Menschen diente, die auf verschiedene Art von der Norm abwichen. "Die SED übernahm diesen Begriff und verknüpfte ihn mit dem Fehlen einer legitimen Form von Arbeit, ohne die Kontinuität zum Nationalsozialismus zu thematisieren, obwohl diese Kontinuität nicht zu leugnen ist", sagt Historikerin Steffi Brüning, die mit ihrer neu erschienenen Arbeit "Prostitution in der DDR" die erste Untersuchung der vielfältigen Facetten des Rotlichtgewerbes im Sozialismus veröffentlicht hat.

Brüning hat sich auf die Städte Berlin, Leipzig und Rostock konzentriert. "Finanzstarke Kunden trafen Prostituierte in allen drei Städten, oft in den Bars der Interhotels. Überall sicherten und organisierten Netzwerke mit. Kellner vermittelten beispielsweise Kontakte, Prostituierte sorgten im Gegenzug für guten Umsatz und hohes Trinkgeld. Sexuelle Kontakte verlagerten sich oftmals in den privaten Raum der Frauen, da es keine Bordelle oder andere Arbeitsorte gab", so Brüning.

Brünings Analyse zeigt: Faktisch war Prostitution verboten, doch die Realität war komplizierter. Denn einerseits wurde Prostitution nicht immer geahndet, sondern teilweise sogar unterstützt, wenn sie der SED zuträglich erschien. Gleichzeitig fand der Paragraf 249 auch Anwendung, wenn es darum ging, Frauen zu unterdrücken, die ihre Sexualität allzu aktiv lebten oder deren Leben den Normvorstellungen des SED-Regimes aus anderen Gründen nicht entsprach. So war Prostitution im Sozialismus mit dem Fehlen einer legitimen Arbeit verknüpft, wurde also erst dann strafbar, wenn man sich Frauen der sozialistischen Wirtschaft nicht als Arbeitskraft zur Verfügung stellten. Hier, wie in anderen Bereichen, bekommt das Bild der "emanzipierten Ostfrau" bei näherer Betrachtung Risse.

"Die SED rühmte sich damit, quasi automatisch durch die Einführung des 'Sozialismus' Geschlechtergerechtigkeit hergestellt zu haben. Der Umgang mit Prostituierten zeigt, dass das nicht gelang", sagt Brüning. "Frauen wurden enge Normen gesetzt, aus denen sie nicht ausbrechen sollten. Sexuelle Freizügigkeit, der Kontakt zu verschiedenen Männern, die nicht aus der DDR kamen, mit Sex Geld zu verdienen, sich selbstbestimmt Freiheiten zu nehmen - all das verstieß gegen die konservativen Moralvorstellungen und arbeitspolitischen Interessen der SED. Sobald Frauen sich wie selbstbestimmte Akteurinnen verhielten, konnten sie Probleme bekommen, und das betraf nicht nur Prostituierte", so Brüning.

Ihre Analyse offenbart auch das engstirnige Frauenbild der SED: Die Partei sah sie als sexuell passiv, regimekonforme Sexualwissenschaftler unterstellten ihnen, nur bei Liebe Lust empfinden zu können. Die monogame Beziehung zwischen Mann und Frau galt als Ideal - und "kleinstes Kollektiv in der DDR".

Amtsdeutsch hießen Frauen, die viele Partner hatten, Personen mit "häufig wechselnden Geschlechtspartnern" oder kurz "HWG". War eine Frau einmal als eine solche erfasst, so konnte sie zu regelmäßigen ambulanten Kontrollen auf Geschlechtskrankheiten verpflichtet oder in geschlossene Krankenanstalten wie die venerologische Station in Berlin-Buch zwangseingewiesen werden. Die Station in Buch wurde in der Umgangssprache abwertend als "Tripperburg" bezeichnet. Dabei waren die Mädchen und Frauen, die dort nach Geschlechtskrankheiten untersucht wurden, zu etwa 70 Prozent gesund, sagt Birgit Marzinka, Leiterin des Dokumentationszentrums "Lernort Keibelstraße". Ziel dieser Stationen sei die Disziplinierung der Frauen und Mädchen gewesen sowie ihre Erziehung zu dem, was als sozialistische Persönlichkeit galt.

Prostitution wurde von der SED als kapitalistisches Phänomen dargestellt und damit auch instrumentalisiert, um den Westen abzuwerten. An junge Mädchen wurde die Warnung verschickt, sie würden in westdeutschen Rotlichtvierteln versklavt, sollten sie Republikflucht begehen. Gleichzeitig war den Herrschenden des SED-Regimes jedes Mittel recht, um an Informationen aus dem Westen zu gelangen - auch der Einsatz von Prostituierten.

Als "Honigfallen" wurden Informantinnen auf Diplomaten, Unternehmer und Journalisten überwiegend aus dem nichtsozialistischen Ausland angesetzt. "Dabei waren sexuelle Kontakte immer auch Mittel zum Zweck, aber nie das ausschließliche Ziel der Tätigkeit. Es ging darum, dass Frauen als Inoffizielle Mitarbeiter (IM) möglichst langfristige vertrauensvolle Beziehungen zu diesen Männern aufbauen und keine schnellen sexuellen Begegnungen stattfinden. Diese Informantinnen waren intelligent, gut ausgebildet, sehr attraktiv und politisch loyal gegenüber der SED. Sie wurden oft nicht als Prostituierte wahrgenommen", sagt Brüning. Zu den Anforderungen für diese Frauen zählte unter anderem eine "vaterländische Gesinnung".

Auf der anderen Seite wurden Prostituierte von der Staatssicherheit unter Druck gesetzt, als Informantinnen mit ihr zusammenzuarbeiten. "Angedroht wurden zum Beispiel Inhaftierungen, die Wegnahme der Kinder, der Verlust von Arbeit. Das führte dazu, dass Prostituierte sich oft sehr schnell auf eine Tätigkeit als IM einließen", so Brüning. Für ihre Untersuchung befragte sie vier Frauen, die in der DDR als Prostituierte gearbeitet hatten. Diese zu finden sei umständlich gewesen, so die Historikerin - doch als sie schließlich erzählen konnten, taten sie dies sehr umfassend. "Die Frauen wählten für sich in der Rückschau sehr verschiedene Beschreibungen. Für eine Frau, die sich aufgrund von Armut und Sucht auf der Straße prostituierte und nur eine geringe Bezahlung erhielt, war diese Zeit mit Scham verbunden. Eine andere Frau, die mit wohlhabenden internationalen Kunden in Kontakt war und Luxus erlebte, schwärmte von ihren Erlebnissen. Beide sehen sich im Nachhinein als Prostituierte, haben sich in der DDR aber selbst nicht so wahrgenommen", so Brüning.

Quelle: ntv.de


Aus: "Zwischen Honigfalle und asozial: DDR lehnte Prostituierte ab und benutzte sie" Sarah Borufka (Montag, 10. August 2020)
Quelle: https://www.n-tv.de/leben/DDR-lehnte-Prostituierte-ab-und-benutzte-sie-article21899486.html

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Quote[...] DIE ZEIT: Frau Michel, Frau Grimm, Sie plädieren in Ihrem demnächst erscheinenden Buch dafür, dass die Generationen des Ostens ins Gespräch miteinander kommen sollen. Warum ist es gerade jetzt an der Zeit dafür?

Sabine Michel: Ich habe schon lange das Gefühl, dass uns dieser Dialog fehlt. Wir brauchen eine kritische Selbstbefragung. Die hat bisher kaum stattgefunden. Das erste Mal ist mir das vor inzwischen sieben Jahren extrem aufgefallen. Damals, 2013, kam meine Dokumentation Zonenmädchen in die Kinos. Eigentlich bin ich ja Filmemacherin. Ich setze mich in dem Film mit der Vergangenheit meiner Schulfreundinnen und auch meiner eigenen auseinander – und suche zwangsläufig den Dialog mit unseren Eltern.

ZEIT: Wie waren die Reaktionen darauf?

Michel: In den Filmvorführungen saßen viele Leute, die ungefähr so alt waren wie ich damals, Anfang 40, und vor allem viele ältere Frauen um die 60. Es stellte sich in den Gesprächen mit den Zuschauern heraus, dass viele von ihnen noch nie so richtig innerhalb ihrer Familien über ihre DDR-Vergangenheit und die Zeit nach 1989 geredet haben. Gleichzeitig gab es aber das große Bedürfnis, sich auszutauschen. Manchmal haben die Zuschauer von mir Erklärungen erwartet, die sie eigentlich in ihren Familien suchen sollten. Die Sprachlosigkeit schien mir ein strukturelles Problem zu sein. Sie sitzt wie ein Deckel fest auf all dem Erlebten. Aber wir wissen: Wo keine Luft rankommt, dort entsteht Schimmel oder Druck.

Dörte Grimm: Oder Wut.

ZEIT: Frau Grimm, woher rührt diese Sprachlosigkeit?

Grimm: Mein Eindruck ist, dass die Generation unserer Eltern – ich bin jetzt 42 – in den ersten Jahren nach dem Mauerfall voll und ganz damit beschäftigt war, das neue Leben irgendwie zu organisieren. Da standen wirtschaftliche, also existenzielle Fragen im Mittelpunkt. Und als endlich Zeit gewesen wäre, darüber nachzudenken und vielleicht auch darüber zu sprechen, was eigentlich passiert ist im Osten – da hatte sich die Stimmung im Land längst gedreht. Die Euphorie der Jahre 1989/90 war verschwunden, im gesellschaftlichen Diskurs hatten sich mehr und mehr Zuschreibungen des Westens über den Osten durchgesetzt.

ZEIT: Was genau meinen Sie?

Grimm: Diejenigen, die im neuen System nicht so schnell zurechtkamen und sich vielleicht darüber beklagten, wurden "Jammerossis" genannt. Das hat schnell dazu geführt, dass die Älteren sich verschlossen haben und in eine Art Verteidigungshaltung gegangen sind. Eine eigene Auseinandersetzung mit all dem Erlebten war dann kaum mehr möglich.

ZEIT: Und die jüngere Generation, Sie nennen sie die "Wendekinder", hat das einfach so hingenommen?

Michel: Diese Generation hat sich schneller im neuen System zurechtgefunden, sie wusste die vielen neuen Chancen oftmals besser zu nutzen. Insgeheim hätten die Jüngeren ihren Eltern sicher gern einige kritische Fragen gestellt, aber es wäre wie Verrat aus den eigenen Reihen gewesen.

Grimm: So entstand auf beiden Seiten Schweigen. Bei den Eltern aus Scham. Bei den Kindern aus Scheu. Wir haben unsere Eltern geschont, gewissermaßen, weil sie ja schon genug zu kämpfen hatten.

ZEIT: Sie beide haben in Filmprojekten das Gespräch mit Ihren Eltern gesucht. Wie war das?

Michel: Ich habe mir lange gewünscht, dass meine liebevollen Eltern aus ihrem biografischen Hintergrund heraus eine kritischere Sicht auf die DDR entwickelt hätten. Hatten sie vielleicht auch, aber das haben sie nicht mit mir geteilt.

ZEIT: Sie werfen ihnen Angepasstheit vor?

Michel: Es ist komplizierter. Es gibt besonders in der Familie meiner Mutter eine lange Geschichte der Sprachlosigkeit, und dafür gab es auch Gründe. Aber mich schmerzt das auf eine Art bis heute.

ZEIT: Nun haben Sie für Ihr Buch Die anderen Leben zehn Generationengespräche innerhalb ostdeutscher Familien erst arrangiert und dann dokumentiert. Wie viel Überzeugungsarbeit mussten Sie leisten, damit die Dialoge zustande kamen?

Grimm: Sehr viel, deswegen haben wir auch fünf Jahre an dem Buch gearbeitet. Wir haben unzählige Absagen bekommen, vor allem von den Älteren. Bei den Kindern ist der Gesprächsbedarf größer.

ZEIT: Woher kommt das?

Grimm: Die jüngere Generation musste keine schwerwiegenden Entscheidungen in der DDR treffen. Sie muss sich weniger rechtfertigen. Vielleicht empfinden das Eltern manchmal als ungerecht. Nach dem Motto: Ihr hattet es ja leicht, ihr musstet nicht wählen, ob ihr als Grenzsoldaten dient, ob ihr in die SED eintretet.

ZEIT: Alle Gesprächspartner im Buch sind anonymisiert. Warum?

Michel: Unser Ziel war es, eine Atmosphäre für bedingungslos ehrliche Gespräche zu schaffen. Die Anonymisierung half dabei.Wir geben das Gesagte im Buch wörtlich wieder und erzählen gleichzeitig subjektiv von den Begegnungen.

ZEIT: Welche Geschichten haben Sie besonders berührt?

Michel: Die Geschichte einer Frau, die im Buch Anja heißt. Sie hat als sehr kleines Kind eine Wochenkrippe besucht ...

ZEIT: ... also eine Einrichtung, in der man von montags bis freitags rund um die Uhr untergebracht war.

Michel: Genau, ihre Mutter war berufstätig und alleinerziehend. Das und anderes konnte zwischen ihnen nie thematisiert werden. Ein Gespräch der beiden dann doch zu organisieren war schwierig. Und als es schließlich stattfand, war die Atmosphäre ziemlich angespannt. Aber am Ende hat die Mutter der Tochter zuliebe auch die schmerzhaften Kapitel ihres Lebens geöffnet.

ZEIT: Wir drucken einen Auszug aus Ihrem Text über diese Begegnung [https://www.zeit.de/2020/34/die-anderen-leben-generationengespraeche-ost-doerte-grimm-sabine-michel]. Gibt es eigentlich etwas, das Sie persönlich aus diesem Gespräch gelernt haben?

Michel: Ich beschäftige mich schon lange mit ostdeutschen Frauen, sie sind ja die "Erfolgsgeschichte" der Wiedervereinigung. Die Mutter, die wir im Buch Ingrid nennen, ist stolz auf das, was sie allein geschafft hat – und zum Teil hat die DDR ihr das ermöglicht. Davon erzählt es sich toll, und das ist es auch. Aber ihre Geschichte zeigt, dass in den Familien dafür auch harte Preise gezahlt wurden.

ZEIT: Haben Sie sich manchmal gefragt, ob es wirklich richtig ist, die Elterngeneration nach so vielen Jahren noch mit ihren Verfehlungen in der DDR zu konfrontieren?

Michel: Ja, aber wir brauchen diesen selbstbewussten Austausch.

Grimm: Ich kenne viele Geschichten von Menschen, die entweder ihre ostdeutsche Herkunft komplett unkritisch idealisieren oder nach wie vor verschweigen. Vielleicht, weil sie glauben, so besser Karriere machen zu können. Vielleicht aber auch, weil sie sich mit ihrer Geschichte selbst noch nicht richtig auseinandergesetzt haben. Beides ist wenig hilfreich.

Michel: Die Aussprache bewirkt auch etwas bei den Eltern. Wenn sie einmal die Themen auf den Tisch packen können und das so stehen gelassen wird, ohne dass es gleich ein Etikett bekommt – das kann befreiend sein. Und es ist gut, wenn auch Leserinnen und Leser, die all das nicht erlebt haben, merken, wie unterschiedlich Ost-Biografien verlaufen sind. Das kann den Weg öffnen für eine Weiterentwicklung im gesamtgesellschaftlichen Diskurs.

ZEIT: Nun ist es ja nicht so, dass in allen ostdeutschen Familien über die Vergangenheit grundsätzlich geschwiegen worden wäre. Aber Sie würden am liebsten einen Generationenstreit in ganz Ostdeutschland anzetteln, eine Art ostdeutsches '68, oder?

Grimm: Das muss kein Kampf der Generationen werden, im Gegenteil. Es geht darum, die persönlichen Geschichten zu beleuchten, ohne dass gleich alles unter einem Generalverdacht landet.

Michel: Ein ostdeutsches '68 wäre produktiv gewesen, nach zwei aufeinanderfolgenden Diktaturen. Aber das gab es nicht, und das hat eine Leerstelle hinterlassen, die inzwischen andere Bewegungen auszufüllen suchen. Ich habe für meinen Dokumentarfilm Montags in Dresden mehrere Pegida-Anhänger über einen längeren Zeitraum hinweg begleitet. Und eine meiner Lehren daraus ist, dass noch viel mehr Gespräche vonnöten sind, dass es mehr Aufarbeitung braucht. Sprechen allein ist natürlich kein Wundermittel. Es braucht viele andere, auch politische Maßnahmen. Aber wenn man will, dass sich viele Menschen in diesem Land beteiligt und in ihrer Lebensleistung respektiert fühlen, braucht man den Dialog.

ZEIT: Und die Kritik soll nun – statt von außen – von den eigenen Kindern kommen?

Michel: Die jüngere Generation muss das aussprechen, was sie nicht versteht, anders sieht. Auch das, was sie in der DDR anders gemacht hätte. Nur durch diese kritische Selbstbefragung kann eine selbstbewusste ostdeutsche Haltung entstehen.

Grimm: Wenn man wirklich versteht, wie sich Biografien in Ostdeutschland entwickelt haben, erhält man einen ganz anderen Blick, auch auf das Wahlverhalten oder die wachsende Wut und Resignation. Ich glaube, dass im Betrachten der kleinsten Zellen der Gesellschaft, also der Familien, eine große Kraft liegt. Daran kann jeder anknüpfen.


Aus: "DDR: "Wir haben unsere Eltern geschont"" Interview: Martin Nejezchleba (12. August 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/2020/34/ddr-leben-familien-sabine-michel-doerte-grimm

QuoteKapaster d.J. #2

Viel Schuld, viel Schweigen.
Die Anzahl der Menschen, die das System gestützt haben, ist viel größer, als es der Westen je wahrhaben wollte. Denn auch dort wollte niemand Millionen Diktaturhelfern gegenüber stehen. - Wie hätte man sonst auch die Wiedervereinigung feiern können?

Repression war Alltag, wurde in ganz alltäglichen Situationen exerziert, von ganz "normalen" Leuten. Sie war Teil der Alltagskultur.
Und das verschwindet nicht so einfach.
Die Mehrheit verkaufte das ihren Kindern als unausweichlich.


QuotePrimarch der Ultramarines - Roboute Guilliman - #2.8

Typische Betrachtungen eines Wessis der schon immer sein gesamtes Wissen und Weltbild aus seinen bevorzugten Medien aufgebaut hat und damit fast immer mehr daneben als richtig liegt...


QuotePlanloser #3.1

Ich stelle mir immer vor wenn Deutschland in seiner jetzigen Form zusammenbrechen würde und sich ein neuer Staat etabliert - würden wir über die BRD genauso darüber denken wie wir jetzt über die DDR? Ich denke schon, je mehr dokumentiert und je mehr nachweisbar ist umso wahrscheinlicher wird es das v.a. negative Aspekte in der Geschichte zum Vorschein kommen. Wir haben heutzutage viel mehr überforderte Eltern, Menschen in finanzieller Not, Armut und Ghettos als noch zu DDR-Zeiten, mit welchen Summen ein heutiger Politiker privat herumhantiert ist zum Vergleich der DDR gering, man sieht es heute ebenso kritisch.

Wobei Ghetto und Armut immer in Relation zu bestehenden Wohlstand der Gesellschaft steht, heute geht es einen ALG-II Empfänger i.d.R. konsumtechnisch besser als ein Arbeiter mit unteren Verdienst in der DDR aber dafür war sowas wie Gettoisierung und der daraus resultierende soziale Druck fast unbekannt.

Man ist als Mensch eben auch dazu konzipiert negative Erfahrungen besonders gut einzuprägen aber eins verstehe ich sehr gut: Man kann ein Staat nur führen wenn der Großteil der Bevölkerung mitzieht und das ist völlig unabhängig ob das politische System wie in Nordkorea, Schweden oder Deutschland ist.Ohne die Zustimmung fliegt es auseinander, letztlich ist es immer ein demokratischer Entscheid der Bevölkerung.


QuoteWolframW #3.4

Ich habe zwei Kinder Baujahr 1979 und 1975. Diese können mich gerne zu und nach meiner Zeit in der DDR fragen.
Jetzt würde ich aber gerne wissen, was diese fragen sollen. Welchen Dialog sollen diese mit mir führen?

Vielleicht kann ja Kapaster, Frau Grimme oder Frau Michel mal einen Fragenkatalog zusammenstellen?!

Ich wurde nicht vom MfS festgenommen, ich hatte kein Bedürfnis die Grenze in Richtung Westen zu übertreten, ich habe gefeiert, ich habe gelacht, ich habe gearbeitet, ich habe geliebt, ich habe Kinder gezeugt und erzogen, ich habe die Kinderkrippe und den Kindergarten besucht. ich war Mitglied der Pioniere (leider ein Jahr zu spät, wegen Fehlverhalten:-)), ich war Mitglied der FDJ, ich war Mitglied der SED, ich habe den zinslosen Ehekredit von 5.000 Mark der DDR genutzt, ich war über den FDGB im Urlaub mit den Kindern, ich brauchte kein Auto, ich hätte gerne einen Farbfernseher gehabt, ich nutzte Butter als Nahrungsmittel, ich versorgte mich mit saisonbedingten Gemüse- und Obstsorten.

Mir fehlten unwichtige Dinge! Ich musste keine existenziellen Sorgen haben!
Das wissen meine Kinder aber alles.

Was sollen sie mich also noch fragen?
(...) Dass ich nicht reisen durfte, wohin ich wollte, wie auch die Bewohner der Bundesrepublik, denen dazu einfach die finanziellen Mittel fehlen?

Gekürzt. Bitte verzichten Sie auf überzogene Vergleiche. Danke, die Redaktion


QuoteOssilantin #3.9

Ich war nicht in der SED, habe vieles in der DDR kritisch gesehen und verfügte über keine Care-Pakete aus dem Westen, trotzdem bin ich froh über drei Jahrzehnte im Osten gelebt zu haben. Wir waren glücklich und kreativ Das Gleiche gilt für unsere Kinder. Unsere Alltagssorgen waren Peanuts gegen die Sorgen, die viele Deutsche aus Ost und West heute unverschuldet haben.


Quote
Thomas Coltran-Jazzsaxer #4

Entfernt. Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen. Danke, die Redaktion/as


QuoteZetti78 #4.1

Der Kommentar, auf den Sie Bezug nehmen, wurde bereits entfernt.


Quotekcaco #4.6

Wiese wurde denn dieser Kommentar gelöscht?! Das waren doch keine Unterstellungen. ...


QuoteThomas Coltran-Jazzsaxer #4.12

Liebe ZON Redaktion: Leider keine Unterstellung. Selber zigfach erlebt, dass ganze ost-deutsche Familien dem Nazi-Wahn verfallen sind und nicht wenig.Allein in meinem Nachbar-Umfeld kann ich ihnen 3 Familien nennen, welche genau in mein dargestelltes Schema passen. Warten wir auf die nächste wissenschaftliche Soziologenarbeit zu diesem Thema und auch sie werden es, wie ich, mit Angst zu tun bekommen.
Aber schon OK verallgemeinern darf man das natürlich nicht, gell! :)

[Durch den Verschluss des Dampfkochtopfes DDR durch das DDR-Regime hat sich eine Pseudo-Opposition von Nazis gebildet, die ob ihrer oppositionellen Haltung gegen diese Unterdrückung mehr und mehr etabliert hat und munter vor sich hin köchelte. Die Folgen sehen sie nun den neuen Bundesländern klar, nach der "Wende" entfaltete sich dieses unrühmliche Blatt der DDR-Geschichte vollends, der Kochtopf oder sagen wir mal besser die Büchse der Pandora öffnete sich!]


QuoteGumbalaya #7

Die ostdeutsche Geschichte ist durch viele intensiven Brüche in relativ kurzer Zeitspanne gekennzeichnet.
So haben verschiedene Altersgruppen überlappend Kombinationen dieser Brüche erlebt.
Deswegen glaube ich, dass das Erleben der DDR sehr individuell war. Es gibt nicht DIE DDR Generation oder DIE DDR Erfahrung oder DIE Schuld.
Die meisten Menschen, die in dieses System hinein geboren waren, versuchten unter den gegebenen Umständen ihren Familien ein lebenswertes Leben zu gestalten.
Unrecht und Missstände waren eigentlich allen klar. Aber wenige hatten den Appetit ihre Perspektiven und Ihre Familien zu verheizen.
Meine Eltern wuchsen im Krieg und während der Nachkriegszeit auf. Eine Zeit über die sie wenig sprechen wollten, sie taten es aber auf Anfrage.
Um auf den Titel des Artikels zu projizieren: vielleicht taten sie das um uns Kinder von diesen Erfahrungen zu verschonen.
Genauso wie sie uns im Alltag damit verschonten, welche Kompromisse sie für das Wohl der Familie eingingen.

Geschont habe ich meine Eltern keinesfalls. Nicht als ich das Regime frühzeitig infrage stellte und schon garnicht durch meine 16-monatige Stasihaft oder den daraus resultierenden Freikauf durch die Bundesregierung. Sie alterten während dieser Zeit um ein Vielfaches.

Dass sie 88 ausreisen konnten war dann auch diesem Dialog geschuldet. Er hatte sie letztlich überzeugt, dass sie mich nicht mehr schonen und besser ihre Lebensansprüche verwirklichen sollten.


QuoteZeitGeistGestörter #7.1

(...) Erleben der DDR sehr individuell war. Es gibt nicht DIE DDR Generation oder DIE DDR Erfahrung oder DIE Schuld.(...)

Ja, bevor die Duskussionen beginnen, sollte das klar gezeichnet sein. Die DDR hatte vier unterschiedliche Phasen. Intensiv und drakonisch/ideoligisch nach der Gruendung aufstrebend, erfolgreich und gefestigt bis zum Ende der Ulbricht-Aera. Im Zenit um die Jahrzehntmitte der 70er, im wirtschaftlich/politischen Abstieg in den 80ern. Entsprechend reagierte das Regime nach innen verschieden radikal. Unter Ulbricht grob mit etwas linksliberaler Offenheit zu den Weltfestspielen, wurde die Ideologie in den Schulen und Betrieben perfektioniert und die vlt. strikteste Linie von 70-82 exerziert, dann gab es einen Bruch und die straffe Durchsetzung/Wahrnehmung in der Gesellschaft ging merklich zurueck. Man konnte schon mal Westklamotten anziehen und musste nicht mehr mit vollstaendiger Montour zu diversen Apellen und Veranstaltungen in der Schule erscheinen, das Käppi der Pioniere war z.B. nicht mehr noetig (noch 1979 undenkbar an unserer Schule), aber auch im Land gab es starke Binnendifferenz, d.h. in sehr linientreuen Staedten wie Gera oder Rostock gab es weniger Toleranz als in Vororten. Meine Frau hat das Blauhemd im Vorort insgesamt 2x angehabt. Ich brauchte sogar zwei davon, weil in der sozialistischen Musterstadt jede Woche irgendwas in dieser Uniform gefeiert wurde.


QuotePeter Meyer HH #8

Mit den Kindern darüber zu reden, wie es war, mit allen Fehlern, die man gemacht hat und denen, die man nicht erkennen konnte, wäre eine Möglichkeit und könnte ganz befreiend sein.
·
Thema dieses Artikels ist, dass dies bezüglich der DDR-Vergangenheit kaum geschieht, auch 30 Jahre nach dem Untergang der DDR. Verglichen mit dem 3. Reich stehen wir also in der alten Bundesrepublik von etwa 1975. Da war es so, dass die vorbehaltlose Aufarbeitung gerade erst begann. Herr Filbinger musste, wenn ich mich recht entsinne, 1978 zurücktreten.
·
Sieht man sich Fernsehberichte aus der 68er-Zeit an, stößt man sehr verbreitet auf Interviewaussagen von Erwachsenen am Rande der Demonstrationen, die ganz unbefangen nicht nur "dann geht doch 'rüber", womit die DDR gemeint war, rufen, sondern vor den Mikrofonen auch von "Lagern" und sogar von "Gas" zur Begegnung der Studentenunruhen reden. Ganz offen, in Fernsehinterviews. In den 10 Jahre von Ende der 60er bis Ende der 70er-Jahre hat sich also viel getan. Die Rede Herrn von Weizsäckers 1985 wäre noch in den 70er-Jahren nicht denkbar gewesen.
·
Und die Rede war 40 Jahre später. Warten wir also mal bis 2030 ab: durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass wir erst dann zu einem nüchternen Blick auf die DDR finden, finden können. Zeit heilt alle Wunden, da ist schon was dran: Rückblicke aufs eigene Leben und vor allem auf eigene Fehler und Versäumnisse fallen mit zuehmendem Abstand weniger schwer.
·
Ihnen allen wünsche ich einen angenehmen Tag.


QuoteOF-am-Meer #8.1

Danke dafür, dass Sie hier mit der Mär von der 68er Revolte aufräumen.
Hier (in der neueren Deutschen Geschichtsschreibung) wird so getan, als wäre das eine zig Millionen umfassende Bewegung gewesen.
Die weit übergroße Mehrheit hier hat das bestenfalls schweigend hingenommen, selten mal toleriert, dafür war eigentlich niemand. Viele haben genau das gesagt, Was sie schon geschrieben haben.
Außer die Protagonisten selbst war niemand dafür und für die hat man in Berlin hinter den sieben Bergen ein wunderbares Habitat vorgehalten, wenn der Boden in Hessen oder Ba-Wù oder gar Bayern mal wieder zu heiß wurde ...
Die DDR musste ihre Menschen einsperren.
So viel dazu.


Quote
ZeitGeistGestörter #8.2

(...) in Berlin hinter den sieben Bergen ein wunderbares Habitat vorgehalten ... Die DDR musste ihre Menschen einsperren.(...)

Sehr gut beobachtet!! Erst 70/80 konnte mit dem Freikauf politischer Haeftlinge eine gewisse Reduktion des Druckes im Kessel herbeigefuehrt werden. Die ganzen Diskussionen verkennen aber, das nur die Weltlage die Vorgaenge in den beiden dt. Staaten bestimmte. Keiner der beiden Teile konnte selbstbestimmte Politik machen. In gewisser Weise gilt das noch heute. Die infantilen innerdeutschen Schuldzuweisungen wegen dieser Geschichtsphase sind daher vlt auch ein gewisser sozialer Luxus.
Haette der Ostblock den kalten Krieg fuer sich entschieden, stuenden die westdt. Eliten heute winkend vor den Tribuenen der SED.


QuoteOF-am-Meer #8.5

"Allerdings hat diese Bewegung wohl einiges verändert!"

Verändert hat das die zeitgleich, spätestens um 1970 einsetzende Pensionierungswelle, die per Biologie (Alter) die ganzen Betätigungsstellen von Altnazis gleichsam "gesäubert" hat.
Ende der 1970er Jahre war niemand mehr in den Hochschulen, Ministerien, Gerichten und Amstsstuben usw. vorhanden, der vor 1945 in irgendeiner Weise mit dem NS-Regime verstrickt war.

Hier am Beispiel die TU Darmstadt:

"An vielen Hochschulen fand bis in die 1970er-Jahre hinein keine systematische Aufarbeitung der Verstrickungen in den NS-Staat statt. Das unterstrich bei der Darmstädter Veranstaltung der renommierte Historiker Christof Dipper. Der Grund: Erst zu diesem Zeitpunkt verließen viele Professoren und wissenschaftliche Mitarbeiter endgültig ihren Arbeitsplatz, die noch selbst während der Nazi-Zeit an Unrechtshandlungen der Hochschulgremien beteiligt gewesen waren. Und deswegen kein Interesse an der Aufarbeitung hatten."

,,Wir finden deswegen die erste kritische Selbsterforschung einer Universität am Beispiel Tübingen im Jahre 1977."

https://www.deutschlandfunk.de/tu-darmstadt-spaete-aufarbeitung-der-nazi-vergangenheit.680.de.html?dram:article_id=309869

Und so war es auch in den Ministerien, Gerichten und Amtsstuben der Republik.

...


QuoteOtto2 #9

So wird das nichts,
wenn man das Leben in der DDR verstehen will. Man kann all die üblen oder belastenden Dinge des Lebens wieder hervorholen und große Fragen feinfühliger stellen als bisher meist üblich.
Wer begreifen will, warum sich wer mit der DDR (inwieweit) identifizierte oder sie ablehnte oder wem das politische System mehr oder weniger egal war, muss anders herangehen.
Das Land existierte 40 Jahre, das ist nicht wenig für ein Menschenleben. Selbst die Bürgerbewegung zum Ende der DDR wollte lange Zeit eine bessere DDR - nicht aber einen Beitritt. So etwas hat doch Ursachen!
Wie könnte es gelingen?
Man müsste sich in die Lage der Menschen dieses Landes - ausgehend von dem, was nach 1945 war - hineinversetzen. Deren Beweggründe für ihr Handeln erfragen, sich deren persönliche Entwicklung beschreiben lassen und vor allem erklären lassen, was sie damals (!) dachten. Ähnlich kann man an die Beweggründe der jüngeren Generationen herangehen.


QuoteDG #10

Für Menschen, die in einer halbwegs freien Gesellschaft leben, ist es schwierig, sich in das Leben in einem totalitären System hineinzuversetzen.
Bei den meisten ist nicht einmal der Wille dazu da, dann ist keine Diskussionsbasis gegeben.
In einer totalen Diktatur können sie entweder mitmachen (25% SED) oder sich in eine private Nische verkriechen (75% Rest) und auf eine reale Chance des Umbruchs warten.


QuoteComputer sagt NEIN #10.1

"entweder mitmachen (25% SED) oder sich in eine private Nische verkriechen (75% Rest) und auf eine reale Chance des Umbruchs warten."

Die Grenzen waren viel fließender.


Quotewatisiti #12

Ich denke, es ist schwierig mit Menschen über ihre Vergangenheit zu reden, wenn sie erwarten dafür verurteilt zu werden. Wenn ihre Erfahrung einfach als Tatsache hingenommen und als Vorlage zum Lernen aus der Vergangenheit genommen werden würde, hätten sich sicher viele geöffnet. Es ist doch wirklich immer noch so, dass der Ostdeutsche als der "Böse" und der Westdeutsche als der "Gute" hingestellt wird. Tatsache ist doch aber, dass Westdeutschland einfach nur Glück hatte von Amerika und England kontrolliert zu werden und der Osten Pech, dass es dort die Russen waren. Auf keiner Seite gibt es bessere oder schlechtere Deutsche. Wir Westdeutschen mussten nicht zwischen der richtigen politischen Einstellung und unseren Familien wählen. In den Fünfzigern gab es zum Beispiel bereits einen Aufstand im Osten, der aber niedergeschossen wurde. Danach überlegt man sich einen Protest, wenn man Familie hat. Das klingt nicht heldenhaft, ist aber menschlich. Ich habe Familie im Osten und konnte auf Anfrage mit ihnen über ihre Vergangenheit offen reden. Ich hatte allerdings auch ehrliches Interesse und habe niemanden verurteilt.


Quoteleioans #12.3

Am Lustigsten fand ich es bei Maischberger, als die Helmut Schmidt fragte,
warum er nicht so ein Widerstandskämpfer wie die Geschwister Scholl war.
Da hat es der "Schmidt-Schnauze" doch die Sprache verschlagen. Was hätte
er ihr auch antworten sollen? Ob sie sich lieber mit seinem Grabstein unterhalten würde...


QuoteZeitGeistGestörter #13.12

(...) Wollen Sie trotzdem hören, wie es für MICH in der DDR war?(...)

Nein, das [...] wollen auch die Meinungsfuehrer/macher nicht. Das Bild der DDR zeichnen die 2-3% inhaftierter Buergerrechtler und Guido Knopp gibt das dann mit inbruenstigem Grinsen in den moralischen Geschichtsmixer, fragt, bevor er auf den Knopf drueckt, rhetorisch nach: "Stasi, Mauer, SED-Apparat - war das nicht FURCHTBAR?!!" Dazu ein paar Interviews mit Querulanten und Zeitzeugen aus DDR-Gefaengnissen; Fertig ist der Unrechtsstaat.

Sicher, das gab es alles und viele haben gelitten - aber es war nicht die Erfahrung des normalen DDR-Buergers. Der Staat mischte sich subtil in die Biografien ein. Drei Jahre NVA, nein? Dann kritisieren sie aber bitte auch nicht die Wohnraumvergabe, wenn sie eine Familie gruenden!.. So in etwa lief das. Niemand kam wegen so einer Verweigerung in den Knast - Wenn man aber im Wehrkreiskommando Honneckerwitze machte, war das eine naive Dummheit.


QuoteThür #14

Jeder Ostdeutsche hat seine eigenen Erfahrungen in der DDR gemacht, gute und schlechte. Jeder Westdeutsche hat seine DDR-Erfahrungen nur von Außen betrachtet machen können. Das macht den Unterschied. Deshalb wird es den Westdeutschen nie ganz gelingen die besondere Lebensweise und Erfahrungen nachzuvollziehen, ...


QuoteIgelstachelbart #20

"...wenn man will, dass sich viele Menschen in diesem Land beteiligt und in ihrer Lebensleistung respektiert fühlen, braucht man den Dialog."

Da hilft kein Dialog. Unterschiedliche Lebenserfahrungen lassen sich nicht einfach "wegquatschen". Es müssen auch nicht alle stromlinienförmig ausgerichtet werden.
Respektvoller Umgang reicht und die Akzeptanz des Andersseins. Das ist auch eine Form der kulturellen Vielfalt.


QuoteLapis Revolvendus #24

In der Aufarbeitung gibt es keinen Unterschied zwischen den deutschen Diktaturen.


Quote
Thomas Coltran-Jazzsaxer #27

Eine Erbsünde haben Ost und West gemein: Das Nazi-Regime.
Das direkt nach einer Diktatur die Menschen in der DDR in die Nächste geschickt, das sich Arrangieren Usus war, darf und soll nicht überraschen. Diese perfide "Unschuld" soll mindernd wirken! Kaiserreich, kaum zeitlich wahrnehmbar "Weimar", dann direkt 3. Reich und gleich darauf DDR. Das korrumpiert viele. Insofern muss "Mit "LEID"" den Menschen gedacht sein, die diese Straflager DDR überstanden haben und relativiert Mitläufertum zu traurigem: "Was sollten wir denn machen".
Das ist die grausame Tragik des Lebens in Diktaturen, die Gratwanderung des Gewissens, jeden Tag. Ein unglaublicher Druck, den ich als 1960 ziger Wessi erst beginne zu verstehen. Gerade im Gespräch mit Alten und Jungen!


QuoteComputer sagt NEIN #27.2

... Die DDR darf, trotz aller Defizite, nicht mit dem 3. Reich vergleichen werden. Das ist ein Fehler, wenn man Ostdeutsche erreichen will. Das ist ein Fehler, der das 3. Reich unfreiwillig verharmlost.
2. Fehler in der Kommunikation, der Vorwurf: viele waren korrupt, konnten ja gar nicht anders. Kennen Sie Ostdeutsche, die das von sich behaupten? Das sind doch immer die anderen, stimmts? Wer erzählt denn wirklich alles?
Zwischen Straflager und Mitläufertum gab es schon noch ein paar Graustufen.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Regelmäßig veröffentlicht der Online-Sexfilmdienst Pornhub seine Statistiken – und die verraten viel über die Gesellschaft: dass Menschen scharenweise Sex anschauen, wenn ein Virus ausbricht. Oder: dass in allen ostdeutschen Bundesländern weniger Porno geschaut wird als im Westen.

...


Aus: ",,Porno hilft gegen Angst"" Elsa Koester (Ausgabe 31/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/porno-hilft-gegen-angst

Textaris(txt*bot)

#43
Quote[...] Sozialpolitik wurde in der DDR als Korrektur von Deformationen verstanden, die allein im kapitalistischen Gesellschaftssystem vorkämen. Im Sozialismus hingegen geschähe alles zum Wohle und im wahren Interesse des Volkes. Erst mit Beginn der Ära Honecker 1971 fand der Begriff Sozialpolitik Eingang in die Politik der SED. Vom 15. bis 19. Juni 1971 tagte der VIII. Parteitag der SED. Diese alle 5 Jahre staatfindende Großveranstaltung der SED formulierte die politischen Schwerpunkte der kommenden Jahre. Das sozialpolitische Programm wurde mit der Formel planmäßigen Steigerung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes umschrieben. Das Kernstück dieses Programms lautete: Lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem bis 1990 . Es sollten 3,5 Millionen Wohnungen neu errichtet oder von Grund auf saniert werden. Das Ziel dieses Programms hieß: Jedem eine warme, trockene und sichere Wohnung!

Es herrschte Wohnungsmangel, nicht selten Wohnungsnot in der DDR. Obwohl von 1949 bis 1961 mehr als 3 Millionen Menschen die DDR gen Westen verlassen hatten, blieb Wohnraum eine Mangelware. Junge Eheleute fanden keinen Wohnraum, mussten getrennt in den Haushalten ihrer Eltern leben. Geschiedene mussten sich weiterhin die gemeinsame Wohnung teilen. Sich vergrößernde Familien mussten enger zusammenrücken. Der Wohnungsstandard in vielen Altbauten lag nahe an oder gar unter der Zumutbarkeitsgrenze. Wohnungsneubauten entstanden nur punktuell, nämlich dort, wo industrielle Schwerpunkte errichtet wurden. 1950 wurde der Bau eines Eisenhüttenwerkes an der Oder in Angriff genommen. Das Motto hieß Stahl – Brot – Frieden.

... Dem Bombenkrieg waren viele Wohnungen durch Zerstörung oder Beschädigung zum Opfer gefallen. Der DDR fehlte die wirtschaftliche Kraft für einen wirksamen Wiederaufbau. Die Siegermacht Sowjetunion forderte Reparationen, die bis in die 50er Jahre hinein von der DDR erbracht werden mussten. So flossen demontierte Maschinen und Gleisanlagen, Waren aus der laufenden Produktion und Geldmittel im Wert von geschätzten 16 Milliarden US-Dollar aus der Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR ab. Durch die Teilung Deutschlands war die DDR von schwerindustriellen Zentren abgeschnitten. Zum Aufbau einer eigenen Schwerindustrie wurden langfristig Geld, Baumaterialien und Arbeitskräfte gebunden, für einen flächendeckenden Wohnungsbau blieb wenig übrig.

... Die Politik der SED verfolgte das Ziel, dass niemand sich durch Immobilienbesitz bereichern sollte. So wurde schon 1945 ein Mietstopp verfügt, der auf äußerst niedrigem Niveau lag und bis zum Ende der DDR beibehalten wurde. Die staatlich festgesetzten Mieten galten für jeglichen Wohnraum, unabhängig davon, ob es sich um privates, genossenschaftliches, kommunales oder staatliches Eigentum handelte. Die Mieteinnahmen waren so niedrig, dass notwendige Reparaturen kaum und Modernisierungen überhaupt nicht bezahlbar waren. Die Leidtragenden waren vor allem die privaten Hausbesitzer und deren Mieter. Aber auch der Altbaubestand im kommunalen oder staatlichen Besitz war dem Verfall preisgegeben. Es fehlte an Geld, an Baustoffen und an Arbeitskräften. Der Volksmund fand für diese unwürdigen Zustände die treffende Bemerkung: Wenn du deine Erben ärgern willst, hinterlasse ihnen ein Haus! In der DDR gab es keinen freien Wohnungsmarkt, auf dem sich Anbieter und Nachfrager hätten treffen können. Aller Wohnraum war staatlich erfasst. Jede Gemeinde verfügte über ein Amt für Wohnungswesen, das allein für die Vergabe von Wohnungen zuständig war. Die Größe der Wohnung war nicht in das Ermessen der Mieter gestellt, auch dafür galten staatliche Vorgaben. Eine vierköpfige Familie hatte Anspruch auf rund 60 Quadratmeter Wohnfläche.

Die positive Kehrseite der niedrigen Mieten kam den Mietern zugute. Im Monatsbudget spielten Miete und Kosten für Grundnahrungsmittel eine Nebenrolle. Die Mietpreise lagen je nach Zustand und Ausstattung einer Wohnung zwischen 0,40 und 1.20 Mark der DDR. Unverändert seit 1945 kostete das einfache Brötchen 5 Pfennige und das Pfund Brot 26 Pfennige, staatliche Subventionen machten es möglich. Die Löhne und Gehälter waren wie die Preise staatlich festgeschrieben. Wer sich über zu niedrige Arbeits- oder Renteneinkommen glaubte beschweren zu müssen bekam zur Antwort, er bekomme durch niedrige Mieten und Preise für den Grundbedarf eine zweite Lohntüte ausgehändigt.

... Dass der Wohnungsbau nach dem VIII. Parteitag der SED 1971 zum Schwerpunkt wurde, hatte auch mit dem Wechsel in der Partei- und Staatsführung von Walter Ulbricht zu Erich Honecker zu tun. Der neue Mann wollte und musste sich profilieren. Er rückte die Sozialpolitik in den Mittelpunkt der politischen Arbeit und rechnete wohl damit, dass die Anerkennung millionenfacher individueller Bedürfnisse in der Rückwirkung mehr Zustimmung der Bürger zu seiner Politik bewirken könnte. In offiziellen Verlautbarungen erschien als Begründung für die Neuorientierung immer wieder das Argument, die wirtschaftliche Kraft der DDR sei so gewachsen, dass nun diese große, gesellschaftliche Aufgabe in Angriff genommen und bewältigt werden könne. Das Baugeschehen vollzog sich auf drei Ebenen: Neubauten in Form industrieller Bauweise, nämlich als Plattenbauten, waren zu errichten, Altbauten waren zu rekonstruieren und zu modernisieren und Eigenheime als Einfamilienhäuser für kinderreiche Familien sollten errichtet werden. Plattenbausiedlungen entstanden an den Rändern der Städte, Monotonie und Anonymität solcher Siedlungen wurden in Kauf genommen, ökonomische Erfordernisse rangierten vor sozialen und wohnkulturellen Wünschen. Die Rekonstruktion der Altbauten erfolgte nach dem Takt- und Fließstreckenverfahren. Die Häuser eines Straßenzuges oder eines Quartiers wurden wie am Fließband, Takt für Takt, erneuert. Vom Dach über den Innenausbau und die Fassade erfolgte grundlegende Renovierung und Modernisierung. Eigentumsverhältnisse spielten eine untergeordnete Rolle, private Eigentümer wurden zu den Kosten herangezogen, die Staatsbank stellte günstige Kredite oder zinslose Darlehen zur Verfügung.

Mit dem Ende der DDR begann eine völlige Neuorientierung im Wohnungsbau. Der Eigenheimbau wurde forciert und die Sanierung der Altbausubstanz voran getrieben. Die Plattensiedlungen verloren viele Mieter. Zahlreiche Häuser wurden abgerissen oder zurückgebaut. Die Eintönigkeit wurde durch Fassadengestaltung gemildert, der Innenausbau und Isolierung auf neuesten Wohnkomfort angehoben. Die Ämter für Wohnungswesen verschwanden, der freie Wohnungsmarkt etablierte sich und die Mieten orientieren sich seit-her am Angebot und an der Nachfrage.

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Aus: "Alltag in der DDR - Wohnen" Gerald Syring (2009)
Quelle: https://www.planet-schule.de/wissenspool/alltag-in-der-ddr/inhalt/hintergrund/wohnen.html

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Quote[...] Stefan Kunath: Kaum ein Gebäudestil steht mehr für den Osten als die Platte. In Ostdeutschland wurden die leerstehenden Platten nach der Wende vielerorts rigoros weggerissen. Nur ihrer massenhaften Verbreitung ist es zu verdanken, dass sie aus dem ostdeutschen Stadtbild auch 25 Jahre nach der Wende nicht wegzudenken ist. Doch die Platte und ihre Bewohnerinnen und Bewohner haben einen schlechten Ruf. Zu Unrecht, findet Rüdiger Hahn. Er ist Kulturwissenschaftler und interessiert sich neben den architektonischen Aspekten vor allem für die historischen, sozialen und ästhetischen Gesichtspunkte der Platte. Er behauptet, dass sich anhand der Platte exemplarisch die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten von Ost und West ablesen lassen. Unter anderem führte er Stadtspaziergänge in Berlin Friedrichsfelde für das Bürgerbegegnungszentrum Quatschtrommel durch. Dort befindet sich Deutschlands älteste Siedlung in Plattenbauweise. Die Besonderheit an diesen Spaziergängen war, dass nicht er, sondern vor allem die Bewohnerinnen und Bewohner der Plattenbausiedlungen zu Wort kamen.

Mit Rüdiger Hahn traf ich mich an einem lauen Nachmittag im Mai, natürlich in einer Plattenbauwohnung, die sich in Berlin-Mitte befindet, ganz nah an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Kaum in der Wohnung angekommen, fällt Hahn sofort die Durchreiche zwischen Küche und Wohnzimmer auf. Diese ist typisch für Plattenbauten, sagt er. Eigentlich sollten Kochen und Wohnen zusammengelegt werden. Doch diese Idee ist seinerzeit bei der Bevölkerung nicht auf Gegenliebe gestoßen. Die Durchreiche ist deshalb ein Kompromiss. Weil viele Plattenwände keine tragende Funktion haben, wird die Durchreiche heute teilweise weggerissen, um auf individuelle Wünsche heutiger Mieterinnen und Mieter einzugehen. Vor dem Interview räumt Rüdiger Hahn also gleich mit einem Vorurteil auf: Die Platte ist gar nicht so sehr standardisiert, wie immer angenommen, sondern die Wohnungen haben ein hohes Maß an Flexibilität und Variabilität. Doch unser Interviewort ist trotz Durchreiche nicht mehr ganz authentisch, schließlich fehlt der Originalboden, den Hahn als ,,ekelhaft, weich" in Erinnerung hat.

Welche Assoziationen haben Sie, wenn Sie den Begriff ,,Platte" hören?

Rüdiger Hahn: Na gut, wo ich schon mit der Materie befasst bin, habe ich natürlich schon die Assoziation vom Großtafelbau, also Platte im Sinne einer technologisch gefertigten Platte. Ich habe die Assoziation DDR beziehungsweise Ostdeutschland, denn das ist schon miteinander verbunden. Auf andere Länder aus meiner Sicht übertragen funktioniert der Begriff einfach nicht mehr, auch wenn man Parallelen findet.
Das ist das, was mir sehr häufig begegnet ist: Viele Menschen identifizieren sich sehr stark mit dem, was sie unter Platte verstehen, das heißt mit der Architektur und mit den hauptsächlich existierenden Großwohnsiedlungen. Das ist meines Erachtens etwas, das deckungsgleich in ganz Ostdeutschland ist.

Stefan Kunath: Was hat Sie dazu gebracht, sich mit der Platte auseinanderzusetzen? Was ist so besonders an der Platte?

Rüdiger Hahn: Da gibt es jetzt mehrere Ebenen: Erstmal bin ich selbst ein Kind der DDR und ich bin Teil der Nachwendegeneration, auch wenn ich nicht in der Platte groß geworden bin. Ich habe zwar eine gewisse Distanz zum Thema und zu den Zeiten. Aber ich kann mich irgendwo auch damit identifizieren und das macht das ganze Feld über die Nachwendezeit und DDR-Geschichte für mich interessant. Ich habe zwar eine andere Perspektive als meine Eltern, aber ihre Perspektive kenne ich zu einem gewissen Punkt auch aus eigenen Erfahrungen.
Das zweite Feld ist, dass ich in Frankfurt (Oder) auf die Platte gestoßen bin. Ich komme aus einer ostdeutschen Kleinstadt, da hatte ich mit der Platte nicht so viel zu tun. Das war dort alles mittelalterliches Gemäuer. Ich bin dann tatsächlich in Frankfurt auf die Platte gestoßen. Ich habe da zum ersten Mal selber in einer Platte gewohnt, in der Großen Scharrnstraße im Zentrum von Frankfurt. Ich habe mich dann auch im Verein Studierendenmeile [https://studierendenmeile.weebly.com/] engagiert, der in diesen leerstehenden Plattenbauten und in den Ladenlokalen, die dort im Erdgeschoss sind, eben versucht hat, Kunst- und Kulturleben dort zu etablieren und zugleich die Verbindung zur Uni zu wahren, um eben auch dieses studentische Leben da unter zu bringen. Aus meiner Sicht waren dafür die Plattenbauten in Frankfurt hervorragend geeignet, eben weil sie leer standen. Ich habe dann dort die Erfahrung gemacht, dass die Menschen in Frankfurt und gerade diejenigen in der Großen Scharrnstraße, dass sie da sehr genau und sehr interessiert darauf schauen und fragen, was passiert denn da? Sie kannten das alles noch aus DDR-Zeiten und sie haben sich tierisch geärgert, dass die Straße jetzt so verfällt und leer steht. Da habe ich gemerkt, wie wichtig das Thema für die Menschen ist, die dort leben und dort groß geworden sind und über die Zeiten und Zeitenwenden die Entwicklungen beobachten. Da dachte ich, das ist ein interessantes Gebiet, das offensichtlich noch nicht so im Fokus der Öffentlichkeit und der Wissenschaft steht. Da wollte ich mit meiner kulturwissenschaftlichen Perspektive beitragen.

Stefan Kunath: Sie sagen, die Platte ist Teil der ostdeutschen Identität und dass die Menschen im Osten zumindest mit der Platte vertraut sind. Aber inwiefern ist denn die Platte nicht auch typisch für den Sozialismus? Es gab schließlich Plattenbau nicht nur in der DDR, sondern auch in anderen ehemaligen Ostblock-Staaten oder im ehemaligen Jugoslawien.

Rüdiger Hahn: Sie ist insofern typisch für den Sozialismus, als dass die Verbreitung der Platte in sozialistischen Staaten weiter ist als in nicht-sozialistischen. Das hat hauptsächlich mit den politischen Rahmenbedingungen zu tun: Wenn ich eine zentral gesteuerte Wirtschaft und Politik habe, kann ich leichter größere Siedlungen bauen, was in kapitalistischen Staaten schwieriger ist, wo Grund und Boden in Privatbesitz sind. Man hat dort kleine Zellen, die man erst zu einer großen zusammenfügen muss, was sehr schwierig ist, um größere Siedlungen zu bauen. Da waren die Voraussetzungen in den sozialistischen Staaten anders und das verbindet sie auch. Was die DDR nach meinen Kenntnissen recht einzigartig macht an der Stelle ist der Grad der Typisierung.
In Polen sieht man zum Beispiel eher die Siedlung, mit der man sich identifiziert und weniger die Typen der Platte. Nach meinem Erfahrungsstand ist in Ostdeutschland die Identifikation mit dem jeweiligen Typus der Platte höher.
Mich interessiert aber auch die Westperspektive. In den Großwohnsiedlungen in Berlin in Gropiusstadt oder im Märkischen Viertel waren die grundsätzlichen Ideen am Anfang die gleichen. Das geht auf eine gleiche Entwicklung zurück: Also schneller Wohnraum plus die Paradigmen der Moderne. Ich denke an die Charta von Athen unter anderem von Le Corbusier. Da berufen sich Ost wie West darauf. Also die geistesgeschichtliche Entwicklung ist zumindest bis in die 1970er Jahre identisch und knüpft aneinander an. Also die Ideen von Satellitenstädten und der autogerechten Stadt, das ist hier wie da gewesen. Auch im Westen wurde es anfangs als Verbesserung der Wohnverhältnisse verstanden, natürlich. Wenn man sich die Wohnverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg anschaut, ist es auch so gewesen.

Dann gab es dahingehend im Westen den Bruch, wo nach meinen Kenntnissen die Regierungen durch politische Instrumente die Großwohnsiedlungen nicht mehr weiter gefördert haben, sondern dann der Eigenheimbau gestärkt wurde. Das wurde dann zum vorherrschenden Bild und zum Ziel des Einzelnen, dort zu wohnen. Damit wurde natürlich der Plattenbau oder die Großsiedlung massiv abgewertet. Dieser Schritt wurde im Osten nicht vollzogen. Das gab es nicht, dass man gesagt hat, zieht in Einfamilienhäuser. Es ist ein interessanter Aspekt, den ich aber noch nicht überblicken kann, wie eben heute Menschen in diesen Großsiedlungen im Westen das sehen.

Ich bin mir relativ sicher und ich habe es auch schon gehört, das man auch in Gropiusstadt in Westberlin noch Menschen findet, die schon von Anbeginn der Zeit dort wohnen und vielleicht auch gerne dort wohnen. Aber die Frage ist, wie verbunden sind sie mit ihrem Viertel? Und wie stark ist diese Verbindung? Und wie sieht sie aus vom Charakter her? Das kann ich aber nicht beantworten.

Stefan Kunath: Sie sagen, dass sich anhand der Platte verschiedene Diskurse in Ost und West festmachen lassen. Die Platte stehe stellvertretend für Differenzen und Probleme, aber auch für das Gelingen im Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten.

Rüdiger Hahn: Mir fallen spontan die Stereotype ein, die an der Platte hängen und die ich bezogen auf meine Vortragsreihe auch annahm und die sich dann auch bestätigt haben. Hierzu gehört, dass die Menschen in der Platte zumindest in Berlin, und ich nehme an, auch woanders in Ostdeutschland, unter einem Stigma leiden. Das muss man fast sagen. Ich habe wirklich das Gefühl gehabt, sie leiden ein bisschen darunter. Es ist dieses Stigma, das industriell gefertigten Bauten im Westen anhängt, dass sie nämlich sozial schwache, prekäre Milieus beherbergen und mit Gewalt und Verbrechen in Verbindung gebracht werden. Das ist zwar durchaus eine reale Entwicklung, die aber erst später kam. Aber im Westen ist das bis heute vorherrschend. Also wenn man in Berlin von der Gropiusstadt spricht, kann man dann die Menschen mal fragen, was sie damit verbinden. Das ist hauptsächlich Gewalt und Verbrechen und Armut. Und das wurde nach meinen Annahmen und meinen Erfahrungen in den 90er Jahren übertragen auf diese ostdeutschen Plattenbausiedlungen, wo dieses Bild aber gar nicht bekannt war und auch nicht auf Fakten traf. Die Realität sah gar nicht so aus. Und da haben sich dann die Menschen schon sehr herabgesetzt gefühlt. Und sie haben dann, ich sage mal, so eine Art kollektiven Minderwertigkeitskomplex entwickelt, der nicht nur in Bezug zu Plattenbauten existiert, sondern auch in anderen Themenfeldern vorherrscht.

Deswegen sage ich, dass die Platte für diese Diskurse stellvertretend steht. Das ist ein Feld, wo man die Stereotype anhand der Platte festmachen kann. Ich habe jetzt häufig die Erfahrung gemacht, dass die Menschen ihre Platte noch viel heftiger verteidigen, weil sie eben immer der Kritik ausgesetzt war von außen und sie jetzt immer sehr, sehr stark sagen, nein, das ist schön hier! Wir wohnen gerne hier! Und das überbetonen sie dann, dass es keine Gewalt gibt und dass ihr Wohngebiet ordentlich und sauber ist. Manchmal wird da schon zu viel Achtsamkeit darauf gegeben.

Stefan Kunath: Es gibt schon viele ostdeutsche Großsiedlungen, wo die Menschen diese Siedlungen verlassen haben in den 90ern und 2000ern und insofern frage ich mich, ob es nicht auch Herausforderungen der Transformation gibt, die man anhand der Platte festmachen kann. Ich denke an das Schrumpfen der Städte, den Stadtumbau Ost, wo vor allem die Platten abgerissen werden.

Rüdiger Hahn: Diese Entwicklung sehe ich. Woran das liegt, kann ich dir nicht sagen. Aber es war natürlich so, dass sich das vorherrschende Paradigma in Bezug auf Stadtentwicklung im Westen schon in den 80er, wenn nicht schon in den 70er Jahren verändert hat. Dort ging die Entwicklung zu einer Verdichtung der Innenstädte. Das ist das, was bis heute anhält, dass Menschen wieder eher im Zentrum leben wollen und nicht in Peripheriestädten, die draußen vor den Toren der alten Städte stehen. Das hat sich auf den Osten einfach übertragen. Durch die Abwanderung, die natürlich Fakt war und auch noch ist in einigen Gebieten, war es natürlich so, dass zuerst diese Großsiedlungen leer gezogen wurden. Aber ich denke, das hängt wirklich mit diesem vorherrschenden Paradigma zusammen.

Stefan Kunath: Böse Zungen würden behaupten, so schnell wie die Platte entstanden ist, so schnell verschwindet sie auch wieder.

Rüdiger Hahn:  In einigen Städten ist es so. Das ist richtig. Ich sage mal, etwas, das nicht historisch gewachsen ist, sondern auf diesen Bildern der Moderne, also aus den 20er Jahren zurückführend, entstanden ist, und das nicht 1000 Jahre alt ist, sondern 50, das kann man natürlich auch wieder einfacher beseitigen. Da sind weniger Gefühle mit verbunden. Das ist so diese Assoziation: Ein 500 Jahre altes Gebäude abzureißen ist wesentlich schwieriger als ein Gebäude, das 50 Jahre alt ist. Das ist rational betrachtet absurd, weil eigentlich das viel länger stehen müsste, was neu ist.

Stefan Kunath: Wer lebt denn heute in der Platte? Was gibt es für Typen von Plattenbaubewohnern? Und warum finden diese Leute die Platte attraktiv?

Rüdiger Hahn: Was ich in Berlin sehe, gerade in Ostberlin, hat man auf der einen Seite diese alten Plattenbaubewohner, die wirklich seit Anbeginn der Gebäude dort wohnen. Das sind wirklich Erstbewohner. Das fand ich interessant, dass da mir sehr viele begegnet sind, die Ende der 60er, Anfang der 70er dort eingezogen sind und bis heute da wohnen. Manche haben die Wohnung nochmal gewechselt, weil jetzt saniert wurde und Aufzüge eingebaut wurden oder sie barrierefreie Wohnungen brauchten. Aber die, die ich auf meinen Stadtspaziergängen getroffen habe, sind auch in der Wohnung geblieben beziehungsweise fast im gleichen Haus oder im Viertel zwei Häuser weiter. Das ist ein Typ. Das Gegenläufige:      Man sieht heute, zumindest in Berlin und in Polen ist es mir auch schon begegnet, dass die Platte zu einem Phänomen geworden ist, das hip ist. Dass es also auch wirklich junge Leute gibt, die gar nichts mit der DDR zu tun haben. Die sagen, das sind moderne Gebäude, die minimalistisch sind und dann entsprechend drin leben. Die diesen Betoncharakter mögen, die den Kontrast mögen zum Grünen, das draußen ist. Man wohnt in einem sehr einfachen und zurückhaltenden Raum, hat aber gleichzeitig draußen die Natur. Das ist ein starker Gegensatz und das ist etwas, was viele als hippen Faktor sehen und deswegen in die Platte ziehen.

Natürlich ist es auch eine Preisfrage, in Berlin-Mitte aber nicht mal mehr das. Da sind die Mieten schon fast auf Altbauniveau. Und man hat natürlich auch, das darf man nicht verschweigen, gewisse Gebiete wie zum Beispiel Berlin-Marzahn, wo sozial prekäre Milieus wohnen, wo fast ausschließlich Hartz-IV-Empfänger wohnen und wo auch, was meine persönliche Erfahrung ist, die Wohnungsbaugesellschaften das zum Teil befördern, indem sie andere Blocks sanieren und dadurch Hartz-IV-Empfänger verdrängen in Blocks, die nicht saniert sind. Zum Beispiel wird an einem Block ein Aufzug angebaut und dadurch hat man natürlich höhere Mieten, die das Jobcenter nicht mehr bezahlt. Das ist eine Entwicklung, die ich in Marzahn, Hellersdorf kenne ich nicht so gut, durchaus beobachtet habe.

Stefan Kunath: Vom Außenbild könnte man auch denken, im Grunde genommen geht es um die Idee der Gleichheit, aber offensichtlich ist dieser utopische Anspruch, dieser visionäre Anspruch auch gestorben dadurch, dass ein sozialistischer Gedanke nicht mehr prägend ist in der Wohnungswirtschaft.

Rüdiger Hahn: Ich bin relativ skeptisch, was die Idee der Gleichheit angeht, ob das wirklich so vorherrschend war oder noch ist. Es war natürlich zumindest auf die DDR bezogen der Fall, dass man gesagt hat, Wohnraum ist erstmal ein Grundbedürfnis. Das müssen wir sicherstellen. Und wir wollen allen, ich sage mal, ähnliche Wohnverhältnisse ermöglichen. Dafür steht die Platte. Was dagegen spricht ist, dass man rein theoretisch in diesen Plattenbauten völlig unterschiedliche Wohnkonzepte verwirklichen kann. Das heißt, es gibt von Ein-Raum-Wohnungen bis zu großen Wohnungen mit fünf oder sechs Zimmern alles. Und das widerspricht eigentlich diesem Bild der Gleichheit.

Man darf sich glaube ich nicht täuschen lassen von dem, was man von außen sieht. Von außen hat man schon eine strikte Formsprache, das häufig auf ein Raster oder ein Muster zurückgeht. Aber im Inneren muss das nicht immer alles gleich sein. Es ist nur, dass ich meinen Wohnstatus nicht nach außen kehre, aber im Inneren ist da durchaus sehr viel individueller Spielraum, und auch früher schon gewesen. Es waren natürlich auch die Politik und die wirtschaftlichen Verhältnisse, die dem entgegen gewirkt haben. Ich nenne den Wohnraummangel, den wir heute auch wieder haben. Es war eine scheinbare Gleichheit. Es gibt mit Susanne Hopf und Natalia Meier auch zwei Künstlerinnen, die diese Plattenbauwohnungen immer im gleichen Typ fotografiert haben, vom gleichen Grundriss sogar. Und dann sieht man, wie unterschiedlich die Wohnungen auch sind und wo man auch einen sehr unterschiedlichen Charakter festmachen kann. Da ist von Gleichheit nichts zu sehen.

Stefan Kunath: Sie haben das Thema Platte und Kunst angesprochen. Darauf würde ich gerne noch etwas mehr eingehen. Es gibt zwar die Phänomene von Wegzug und Abriss. Aber es gibt auch die Ideen von Recycling und der Stärkung der Zivilgesellschaft in diesen Großwohnsiedlungen. Daraufhin sind auch viele Kunstprojekte entstanden.

Rüdiger Hahn: Erst kürzlich habe ich über Paul Eis [https://www.paul-eis.com/] gelesen, der Plattenbauten fotografiert und dann einfach koloriert, was erstmal sehr simpel klingt. Aber da ist natürlich dieses Raster, was immer gleich ist: Das zieht Künstler an, um dann da Vielfalt reinzubringen oder damit irgendwas anzustellen. Ich glaube, solche monotonen Formen sind für Künstler sehr interessant, weil man da viel machen kann und es verändern kann.

Das ist ja auch das, was man sieht, wenn man draußen rumgeht. Ich weiß nicht, ob man da von Kunst sprechen kann, aber das, was die Wohnungsbaugesellschaften zum großen Teil machen, aus meiner Sicht manchmal gelungen, manchmal auch nicht, vom Platten einfärben über das Anfügen eines neuen Musters bis hin zu Wein und Laub oder gar große Murals. Gerade in Berlin hat man da sehr viel, was Kunst am Bau ist. Es ist eine große Fläche, die präsent im Stadtbild ist. Warum sollte man die nicht für Kunst nutzen? Es zieht Kunst sehr stark an. Es ist prädestiniert dafür. Das ist Kunst im öffentlichen Raum, die damals wie heute gefördert wird: Das ist auch etwas, was durchaus Anspruch der DDR war, dass ein oder zwei Prozent der Baukosten in Kunstwerke mit zu investieren waren. Soweit ich das weiß, wurde das auch bis zum Ende durchgezogen. An der Kunst wurde nicht gespart. Auch heute ist es ähnlich, dass ein paar Prozente des Budgets im Wohnungsbau in Kunst im öffentlichen Raum investiert werden müssen.

Stefan Kunath: Nun, wo wir schon  über Gegenwart und Vergangenheit der Platte gesprochen haben, frage ich mich, wie sehen denn die Zukunftsaussichten der Platte aus?

Rüdiger Hahn: Das ist eine gute Frage. Was ich im Rahmen der Vortragsreihe mitgenommen habe, aber auch aus einem Gespräch mit einem Architekten, ist das Potential der Platte auf dem Gebiet der Nachhaltigkeit.
Die Meinung vieler Architekten und Materialwissenschaftler ist, dass die industriell angefertigten Platten ein sehr hochwertiges Bauelement sind. Damals wurde sehr viel Energie in die Produktion der Platten verwendet und man kann die Platte im Grunde über mehrere hundert Jahre verwenden. Deshalb ist es im Prinzip nicht nachhaltig, die Platten zu zerstören und zu Schotter zu machen, weil sie energetisch gar nicht so schlecht sind.
Ein Architekt meinte, und das fand ich interessant, der hatte da gar nicht erst den Blick darauf, aber er ist im Verlaufe der 80er Jahre darauf gekommen, dass die Häuser auch von ihrer Struktur her sehr gut angelegt sind, was die Energieeinsparung angeht. Die ganzen wärmeerzeugenden Elemente sind im Hausinneren. Das heißt, die Wärme, die aus Küchen und Bad kommt, strahlt nicht direkt nach außen, sondern heizt die Wohnung. Und das Raster von sechs Metern beziehungsweise zwölf Metern ist ziemlich günstig, weil das Verhältnis von Innenwänden zu Außenwänden ein sehr gutes ist, was man selten hat, und es dadurch zu geringen Wärmeverlusten nach außen kommt. Außerdem sind aus technologischer Sicht die Platten, die nach außen gehen, recht gut gedämmt. Ich glaube schon, dass das für die Zukunft ein Argument ist. Die heutigen Platten sind auf jeden Fall nachhaltiger als diese Wohnungen, wo jeder sich ein eigenes Häuschen baut. Und natürlich stellen sich beim Diskurs über den Wohnraummangel, den wir heute haben, die gleichen Fragen, die sich nach dem Krieg in den 50er und 60er Jahren gestellt haben: Wie können wir relativ schnell für viele Menschen an einem Ort viel Wohnraum schaffen? Da ist industrielles Bauen zumindest wieder ein potentieller Lösungsweg.

Stefan Kunath: Abschließend würde ich gerne wissen, wo denn Ihrer Meinung nach die schönsten Platten stehen.

Rüdiger Hahn: (lacht) Ich denke sehr wenig in solchen Superlativen. Die schönsten Platten? Wir können uns mal aus Deutschland rausbewegen, auch wenn ich grundsätzlich sagen muss, dass die Plattenbauten aus der DDR recht schön sind, weil sie schlicht sind. Ich bin ein Anhänger der sehr einfachen und sehr schlichten Sachen. Den Plattenbauten wird sehr häufig ihre Monotonie vorgeworfen, aber ich mag diese Monotonie, die man dann vielleicht irgendwie durchbricht mit Farbe oder was auch immer, aber man hat ein klares Raster und das finde ich grundsätzlich erstmal schön. Was dem dann ein bisschen entgegensteht sind häufig Plattenbauten in Polen, die dann doch zum Teil sehr verspielt und auch manchmal sehr futuristisch sind. Man hat dann interessante Einfälle gehabt, wie man die Balkonbrüstungen gestaltet. Zum Teil ist das rund, zum Teil ist das nach außen gewölbt. Dann hat man auch ganz andere Raster mit ganz einfachen Veränderungen. Das finde ich schon sehr spannend, weil das diesem Monotonie-Vorwurf entgegenwirkt. Es gibt ein Beispiel in Wrocław, wo es große Plattenbausiedlungen gibt. Einige Wohnungen sehen aus wie Raumschiffe (lacht). Die finde ich sehr, sehr schön und sehr, sehr spannend.

Um den Berliner Gendarmenmarkt herum gibt es auch Plattenbauten, was mir gar nicht so bewusst war. Die finde ich schon sehr schick. Das sind Plattenbauten, so wie das Nikolaiviertel auch. Das ist eine andere Phase des Plattenbaus. Wenn wir jetzt von diesen Großwohnsiedlungen wegschauen, das ist alles in den 1980er Jahren entstanden, wo dann auch in der DDR dieses Paradigma vom Streben in die Innenstädte aufgegriffen wurde. Das ist der postmoderne Plattenbau, wo man eine Stilsammlung versucht hat. Das industrielle Bauen wurde verbunden mit historischen Straßenzügen und historischen Formen, die aber keine Kopie waren. In der Hinsicht ist es schon interessant, wenn auch nicht in jedem Fall schön aus meiner Sicht.

Das hat man nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten, wo dann in den 80er Jahren die Innenstädte wieder mit Plattenbauten errichtet wurden, dann zum Teil nur dreistöckig oder noch kleiner.

...


Aus: "Plattenbau trifft auf Kulturwissenschaften" Einleitung und Fragen von Stefan Kunath (8. November 2017)
Quelle: https://www.ost-journal.de/plattenbau-trifft-auf-kulturwissenschaften/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Als ich auf dem Parkplatz vor der Schule aus dem Auto steige, mustert mich ein älterer Mann.

"Waren Sie schon mal in Meiningen?", fragt er barsch, mit Blick auf das Dortmunder Nummernschild meines Miet-Polo. Und bevor ich "Noch nicht, aber schönes Städtchen haben Sie hier" flöten kann, fährt er fort: "Da haben Sie aber was verpasst."

"Was denn?" – "Na mich", sagt er und prüft meinen Gesichtsausdruck. Aus meiner Zeit als Reporter im Osten weiß ich, wie kompliziert es ist, als Fremder Ostdeutsche zum offenen Sprechen zu bringen. Das hat wenig mit Angela Merkel und angeblichen Sprechverboten zu tun. Es sitzt tiefer. Im Westen, in dieser hochpolitisierten, achtsamen Gesellschaft, erfährt man von jedem und jeder, wie sich eine Rentenerhöhung oder ein Tempolimit, nun: anfühlt. Jede und jeder lernt frühzeitig, seine Bedürfnisse zu äußern.

Im Osten ist das anders. Eigene Bedürfnisse haben bei manchem noch immer hinter denen der Gemeinschaft zurückzustehen. Und bei Themen, die den Raum vor der eigenen Wohnungstür betreffen, haben viele nie ganz aufgehört zu prüfen, welche Folgen ihre Aussage haben kann. In den Neunzigern warnte mich meine Oma mal davor, mich in die Politik einzumischen. Sie sagte: "Irgendwann stellen sie dich an die Wand."

... Solange ich mich erinnern kann, kenne ich Menschen aus dem Osten, die über die Westdeutschen pauschal und abwertend sprechen. Sie werfen ihnen vor, sich nicht für die Ostdeutschen zu interessieren, ihnen ihre Diskurse aufzuzwingen. Ich weiß, dass manche im Osten sich in dieser Vorwurfshaltung eingemauert haben. Dass sie für kritische Fragen – Was tut ihr gegen Rassismus und Rechtsextremismus? Warum trauen sich so wenige Migranten hierher? – nicht zugänglich sind. Und dass aus dieser Konfrontation eine politische Energie entstanden ist, die in Form der AfD droht, Osten und Westen noch weiter zu spalten.

Eine Wiederannäherung wäre nötig, aber sie wird nicht gelingen, wenn die Gräben beschwiegen werden.

... Also reden: Kleinmachnow, die dritte Station auf der Reise, liegt so nahe an Berlin, dass es ohne Weiteres als Stadtteil durchgehen könnte. Man fährt auf der A 115 einige Kilometer im SUV-Trail Richtung Wannsee und Zehlendorf mit. Kleinmachnow, zu DDR-Zeiten abgeschieden gelegen an der Grenze zu West-Berlin – auch Christa Wolf lebte mehr als ein Jahrzehnt hier –, ist einerseits zwischenzeitlich zum Lebensort schillernder Gestalten wie Bushido und Clanchef Arafat Abou-Chaker geworden, andererseits so etwas wie ein vorgelagertes Berlin-Mitte, ein grüner Sehnsuchtsort von Rappern wie Regierungsbeamten.

Da kann leicht untergehen, dass Kleinmachnow einmal einer der bedeutendsten Schauplätze des Misstrauens zwischen Ost und West war. Um Kleinmachnow wurden juristische Schlachten zwischen Ost- und Westdeutschen gekämpft. Ausgerechnet vor den Hochhäusern der neuen Bundeshauptstadt entstand ein clash of cultures, wie es ihn sonst kaum irgendwo so deutlich zu beobachten gab. In taz, ZEIT und Spiegel kann man nachlesen, mit welcher Verachtung sich Alteingesessene und Zugezogene begegneten. Damals gründete sich sogar eine Partei, die die Kleinmachnower Ostdeutschen vertrat. Mit Erfolg.

Kern der Auseinandersetzungen waren das im Einheitsvertrag festgelegte Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" und die Frage, wer schutzbedürftiger sei: westdeutsche Alteigentümer oder ostdeutsche Besitzer. In Kleinmachnow, der Perle zwischen Potsdam und Berlin, wurde schon 1991 eine große Zahl der 3200 Häuser des Ortes von Westlern beansprucht.

Der Rathaussaal ist groß, und er ist schon eine halbe Stunde vor Beginn gut gefüllt. Brückweh, Villinger und Zöller haben zwei Gäste aufs Podium geladen. Keine der alten Opponenten, sondern Andrea Weinrich, die zur Wende 20 Jahre alt war, und den DDR-Architekten Gottreich Albrecht, der nach der Wende im Schweriner Bauausschuss saß und dort mithalf, eine vollkommen heruntergekommene Altstadt zu sanieren – und zwar Hand in Hand mit Alteigentümern. Es war, Brückweh betont das immer wieder, nicht überall so konfrontativ wie in Kleinmachnow.

Das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" hat das Vertrauen vieler Ostdeutscher in die neuen Zeiten erschüttert, aber anders als bisher besprochen. Es sind nämlich nur 22 Prozent der beantragten Rückgaben von den Behörden auch tatsächlich genehmigt worden. Fast die Hälfte der Anträge wurde abgelehnt, viele andere wurden zurückgezogen. Auch in Kleinmachnow endeten viele Verfahren erst nach schier endlosen Jahren quälender Rechtsstreite und immer neuer Gesetzesänderungen. Jahre, in denen die Besitzer nicht davon ausgehen konnten, dass sie das Haus, in dem sie lebten, auch behalten dürften. Brückweh berichtet von Interviews mit Betroffenen, die in jenen Jahren ihren Glauben an den Rechtsstaat verloren.

Mittlerweile ist es nicht mehr das Rückgabegesetz, sondern die Gentrifizierung, die die Ärmeren vertreibt. 80 Prozent der Einwohner, schätzte der Bürgermeister kürzlich, seien mittlerweile nach der Wende Zugezogene. Der Kampf ist entschieden, die öffentlichen Konfrontationen sind vorbei. Man könnte sagen: Befriedung durch Verdrängung.

Wenn man nach dem Osten sucht, dann muss man auch nach denen suchen, die nicht mehr da sind. Seit der Wende verlor der Osten jedes Jahr viele hoffnungsvolle junge Menschen an den Westen. Fast vier Millionen sind gegangen seit 1991. Die Abwanderung hat den wirtschaftlichen Rückstand immer wieder neu zementiert und ein demografisches und politisches Ungleichgewicht geschaffen.

Allerdings ist mittlerweile nicht mehr der Westen das Ziel der ostdeutschen Abwanderung, sondern zunehmend die ostdeutschen Großstädte. Und weil Städte wie Leipzig, Jena, Potsdam, Rostock, Dresden und Frankfurt (Oder) auch für westdeutsche Studenten attraktiver werden, haben sich mitten im Osten neue Wachstumsmagneten entwickelt. In den neuen Zentren gibt es Szenen, deren Lebenswelten sehr weit entfernt sind von vielen der im Osten verbliebenen Wendezeitzeugen.

Leipzig ist die letzte Station der Forscherreise. Etwa 100 Menschen kommen ins Zeitgeschichtliche Forum. Als Gäste sitzen die ehemalige grüne Landtagsabgeordnete Gisela Kallenbach und die junge Vikarin Charlotte Bornemann auf der Bühne.

Beide gehen ohne Zweifel als Vertreterinnen des anderen Ostens durch, etwa wenn Kallenbach die Ostalgie anprangert und bei der Betrachtung der Ostdeutschen auf Differenzierung beharrt. Oder wenn Bornemann provoziert: "Das Gerede von Demokratie in der Schule war im Osten wie im Westen immer schon heiße Luft, und das ist es auch heute noch." So vergeht ein unterhaltsamer Abend, der keine klare Erzählrichtung nimmt, an dem Kerstin Brückweh aber irgendwann der Frage nach einem ostdeutschen Narrativ mit klugen Worten begegnet. "Wir können"", sagt sie, "keine neue Meistererzählung vom Osten liefern. Differenzierung ist die neue Meistererzählung."

Und dann ist die Reise zu Ende.

Es gibt ein Gefühl, das mich während dieser Reise nicht losließ: dass hinter der nun vielleicht endlich beginnenden Aufarbeitung der Wendejahre immer lauter der Abrisslärm der Gegenwart zu hören ist. Dass es den reflektierenden, vielleicht sogar zu sich findenden Osten ebenso gibt wie einen zerstörerischen, wutentbrannten gegenwärtigen, der eine Bilanz der Nachwendezeit so schwierig macht.

Ich beobachte die verzwickten Konflikte zwischen Ost und West, aber auch zwischen Ost und Ost seit Langem. Und obgleich sie sich seit einigen Jahren immer weiter zu verschärfen scheinen, fiel mir nie eine andere Lösung ein als das Reden. Als sich über Perspektiven und Interessen des anderen kundig zu machen, was immer einschloss, vor allem über die rasante Wiedervereinigung und all das, was danach geschah, zu sprechen. Dialog – was sonst?

Aber in diesen Tagen denke ich zum ersten Mal: Kommen wir vielleicht zu spät für den Dialog? In den Tagen, als wir durch den Osten reisten, spitzte sich die Krise in Thüringen zu einer Staatskrise zu. Wenig, was seitdem geschah, kann den Eindruck widerlegen, dass die ostdeutsche Demokratie nicht sehr gefestigt ist. Dass manche Normen des Westens hier einfach nicht gelten und vor allem auch nicht mehr von außen geltend gemacht werden können.

Der Text ist ein gekürzter Beitrag für den Band: Die lange Geschichte der "Wende". Herausgegeben von  Kerstin Brückweh, Clemens Villinger, Kathrin Zöller. Verlag Ch. Links; Berlin 2020, 272 S.


Aus: "Ostdeutschland und die Wiedervereinigung: Wende ohne Ende" Christian Bangel (6. September 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/2020/37/ostdeutschland-wiederveinigung-zeitzeugen-ost-west-konflikt/komplettansicht

QuoteDichtender und Denkender #2

Insgesamt war die Wiedervereinigung ein Erfolg für die Menschen. War gerade an der Ostseeküste. Schön da. Und ich fühle mich da als Deutscher unter Deutschen.
Ist ja jetzt auch schon 30 Jahre her, dass die DDR zerfiel. Vielleicht sollte man die Selbstbespiegelung mal ruhen lassen.


QuoteNibbla #2.1

"Vielleicht sollte man die Selbstbespiegelung mal ruhen lassen."
falls das ihr Ziel ist, erreichen solche Aussagen halt das Gegenteil.


Quotebsdfh #3

Das letzte bisschen Wiedervereinigung wird noch lange auf sich warten lassen, denn dafür müssten die Menschen im Osten ihren Opferbonus aufgeben.


QuoteUxmal #3.1

Schöner Kommentar, der garantiert Ost und West näher zusammenführt. Nicht.


Quote
Am Anfang war Vernunft #6

Danke für den Versuch einer offenen Darstellung!

Mich erinnern diese Vorgänge an die Situationen in anderen europäischen Ländern nach einem Systemwechsel dort, an die Flüchtlingsströme nach dem 2. Weltkrieg und die Verteilungskämpfe sowie an Aufbaugenerationen und all jene Verlierer, die schon immer nicht begreifen wollten, dass wir kein Anrecht auf dauerhafte stabile Verhältnisse haben.

Die Wiedervereinigung war ein stümperhaftes Werk auf politischer Ebene; Lafontaine wurde nicht gehört, wer warnte, war verhasst; der Osten hatte eine eigene Art des Lebens und des Überlebens entwickelt ...... und es braucht halt immer Zeit und zwei oder drei Generationen, bis ein Systemwechsel oder ein Krieg, eine verheerende Katastrophe "verarbeitet" sind.
Das liegt im Wesentlichen an uns Menschen, weil wir eher an das Gute im Bestehenden glauben, als an das Neue, dem wir eine Chance geben sollen oder wollen.

Ich war 20 Jahre in den NBL und sehe heute den "Konflikt" historisch gelassen.


QuoteHofrat Behrens #7

Nach 30 Jahren erkennt man, daß es Alternativen zur Vereinigung gegeben hätte. Eine Möglichkeit wäre die friedliche Koexistenz zweier deutscher Staaten mit unterschiedlichen Systemen und politischen Kulturen gewesen, mit offenen Innen- und gesicherten Außengrenzen und festen europäischen Bindungen. Aber immer noch tun sich Politikerinnen und Politiker schwer, sich dies einzugestehen.


Quote
Quotenozzy #10

Mich nervt diese stehts düstere Grundstimmung bei Artikeln über den Osten. Ich finde, das hat mit der Realität ziemlich wenig zu tun. Brandenburg war nach der letzten Statistik (2018) Spitzenreiter bei der Binnenzuwanderung. In Sachsen und MV ist der Saldo ebenfalls positiv. Brandenburg ist dazu noch Spitzenreiter bei der Geburtenrate, Sachsen ist auf dem dritten Platz. Probieren Sie mal heute ein Haus in MV zu kaufen - der Immobilienmarkt ist wie leergefegt. Der Westen ist heute nicht mehr attraktiv. Die meisten sind ziemlich zufrieden mit ihrer ostdeutschen Heimat.


Quoteeaster33 #11

Die Wiedervereinigung ist dann beendet, wenn derartige Artikel eines Ostdeutschen über eine Reise ins westdeutsche Niemandsland oder westdeutsche Städte mit Bevölkerungschwund, hohem Ausländeranteil usw. in Leitmedien wie der Zeit erscheinen. Und der sich wundert weil er seine asl besser empfundene Lebenswirklichkeit und politische Haltung mit dieser vergleicht und warum ihm die Menschen so und nicht anders begegnen.

Einen zugegebenermaßen wahllosen Fragenkatalog hätte ich da auch vorzuschlagen, bspw:
- Warum brauchtet Ihr 13 Jahre fürs Abi, wo wir das in 12 Jahren schon immer schafften?
- Warum habt Ihr weggeschaut als sich in Ballungsräumen die Clankriminalität entwickelt?
- Warum habt Ihr Einweg und Wegwerfprodukte massenhaft benutzt, wo es doch bei uns auch anders ging?
-Warum tut Ihr so, als ob der Platz an der Sonne im Westen ist und im Osten die Looser leben?

Schon die Tatsache, dass sich diese Vorstellung "ungewohnt" anfühlt, zeigt wo wir stehen. Das Problem ist nach wie vor, die verinnerlichte Haltung - hier auch im Artikel - dass die Sieger der Geschichte diese meinen deuten zu können.


...

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Quote[...] ntv.de: Der Titel Ihres neuen Buches ist "Das gespaltene Land". Meinen Sie damit noch eine Trennung in Ost- und Westdeutschland?

Hans-Joachim Maaz: Ja, auch. Aus meiner Sicht ist das Land weiterhin oder auch erneut in West- und Ostdeutschland gespalten. Es gab ja diese Euphorie mit der Wende und der Hoffnung der DDR-Bürger, dass jetzt alles besser wird - mehr Demokratie, bessere Konsummöglichkeiten, Reisefreiheit. Aber das hat nicht so lange angehalten. Es gab dann doch eine spürbare Ernüchterung. Für viele Menschen sind diese Hoffnungen nicht aufgegangen. Aber für besonders wichtig halte ich, dass selbst Menschen, denen es deutlich besser ging, nicht zufriedener wurden. Sie leiden an den westlichen Lebenszwängen.

ntv.de: Was meinen Sie mit westlichen Lebenszwängen?

Hans-Joachim Maaz: Im Osten war man gut beraten, sich unterzuordnen, sich ins Kollektiv einzupassen, sich zurückzuhalten und nicht zu kritisch zu sein. Im Westen muss man laut sein, sich darstellen und verkaufen können. Das sind zwei sehr unterschiedliche Sozialisationen. Das ist der Grund, warum es diese Spannungen und ein Unverständnis zwischen Ost und West gab. Aber inzwischen erleben wir eine umfassendere gesellschaftliche Problematik, bei der die bisherige Konsum- und Wachstumsgesellschaft des Westens eine kritische Grenze erreicht hat. Das zeigt sich an der Finanz- oder Klimakrise oder an der Migrationsproblematik. In dieser Krise gibt es jetzt neue Gegensätze.

ntv.de: Welche Gegensätze sind das aus Ihrer Sicht?


Hans-Joachim Maaz: Menschen müssen sich an gesellschaftliche Verhältnisse anpassen, auch gegen ihr eigenes Wollen und Vermögen. Das führt oft dazu, dass sie gestresst und unzufrieden sind oder sich entfremdet verhalten müssen. Die bisherigen gesellschaftlichen Erfolge wurden durch solche Anpassungen erreicht. Wenn für eine zunehmende Zahl von Menschen die soziale Sicherheit nicht mehr gegeben ist, der Wohlstand und die Konsummöglichkeiten, dann sind sie geängstigt und verunsichert. Dann werden die persönlichen Ängste wieder aktiviert, die durch Kompensierung befriedet waren. Das ist aus psychotherapeutischer Sicht der Grund für die Spaltung, nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch Alt und Jung, Mann und Frau, Stadt und Land, Migrationsfeinde und -freunde oder Coronamaßnahmenbefürworter und -gegner.

ntv.de: Wie definieren Sie an dieser Stelle Spaltung?

Hans-Joachim Maaz: Spaltung ist eine Reduzierung des kritischen Nachdenkens. Es ist ein primitiver seelischer Abwehrmechanismus, bei dem es nur schwarz oder weiß gibt. Ich beobachte, dass diese Spaltungen immer feindseliger werden. Das ist für mich Ausdruck einer seelischen Abwehr. Man möchte einen Schuldigen finden. Dann wird der eigene Anteil an einem falschen Leben und der Notwendigkeit, sich verändern zu müssen, erträglicher.

ntv.de: Nehmen denn Ost- und Westdeutsche in dieser Gesellschaftskrise verschiedene Positionen ein?

Hans-Joachim Maaz: Wenn wir davon ausgehen, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, haben die Ostdeutschen damit Erfahrung. Sie wissen, wie es ist, wenn man sich anpassen muss und diese Anpassung plötzlich sinnlos wird. Das ist eine bittere und schmerzliche Erfahrung, aber auch eine, die hilft, bestimmte Dinge kritischer zu sehen. Und die haben die Westdeutschen nicht. Die Ostdeutschen sind aber mit dieser Erfahrung einfach sensibler und allergischer gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen oder auch politischer Heuchelei oder falschen medialen Darstellungen. Die Kritik, die aus dem Osten kommt, hat damit viel zu tun – dass man den Medien und Politikern nicht mehr traut. Das kennen Ostdeutsche. Deshalb ist die Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen stärker als im Westen. Dass es Pegida gibt und eine höhere Zustimmung für die AfD, das erkläre ich mir damit. Das ist nicht vordergründig politisch gedacht, sondern als Gesellschaftskritik.

ntv.de: Sie sprechen von unvereinbaren Polen, einem Entweder Oder, die meisten Menschen sind aber eher im Sowohl-Als-Auch unterwegs.

Hans-Joachim Maaz: Ich finde auch, dass ein gutes demokratisches Leben immer "Sowohl Als Auch" ist. Das ist die gesündere Variante, und das gibt es immer noch. Es haben eben immer beide Seiten Recht, es gibt nicht die eindeutige objektive Wahrheit. Es ist ja die Grundlage einer Demokratie, dass man Dinge so oder so sehen kann. Ich beobachte aber, dass das "Sowohl als Auch" zunehmend zu einem "Entweder Oder" wird. Das ist die Spaltung, der psychosozial primitive Abwehrvorgang oder die gestörtere Haltung. Damit nehmen die Feindseligkeiten in der Gesellschaft zu.

ntv.de: Wie kann man das ändern?

Hans-Joachim Maaz: Was wir brauchen, ist, dass wir alle Positionen zu Wort kommen lassen und ein wirklich kritischer Disput möglich wird. Das wird immer weniger. Stattdessen wächst die Tendenz zu sagen, das sind die ganz Bösen, mit denen reden wir nicht. Wenn in einer Gesellschaft auffällige Außenseiter- und Extrempositionen entstehen, dann bringt Abwertung nichts. Das sind Symptomträger einer gesellschaftlichen Entwicklung. Da muss man sich fragen, warum es mehr Kriminelle, Extremisten oder Gewalttäter gibt.

ntv.de: Innerhalb der pluralistischen Meinungsbildung werden ja diese verschiedenen Positionen durchaus diskutiert. Wie kann man das Einander-Zuhören auch im therapeutischen Sinne besser ermöglichen?

Hans-Joachim Maaz: Ich bin da anderer Meinung. Wenn sich heute jemand deutlich gegen Migration ausspricht, dann hat er es wesentlich schwerer, wird mehr kritisiert und abgewertet, als jemand, der für Migration ist. Es wäre wünschenswert, wenn es so wäre, dass alle Positionen diskutiert würden. Deshalb fürchte ich, dass sich die Verhältnisse zuspitzen, dass immer mehr Meinungen, die andere nicht hören wollen, ausgesperrt oder diffamiert werden.

ntv.de: Sie rufen dazu auf, das eigene Leben kritisch zu bewerten, statt vermeintlich Schuldige zu suchen. Was sehen Sie dabei für Defizite?

Hans-Joachim Maaz: Ich glaube, bei der Betrachtung des Nationalsozialismus und der DDR kommt die individuelle Beteiligung zu kurz. Solche Systeme sind nicht nur denkbar durch eine auffällige, pathologische Elite, sondern nur durch ein stützendes Mitläufersystem. Ich verwende dafür den Begriff der Normopathie und meine, dass etwas Gestörtes für normal gehalten wird, wenn eine Mehrheit diese Meinung vertritt. Das hat etwas mit dem menschlichen Grundbedürfnis zu tun, zu einer Gruppe dazuzugehören. So entsteht die Gefahr, dass man auch einer kollektiv falschen Meinung anhängt. Das kennen wir aus dem Nationalsozialismus und aus dem DDR-Sozialismus. Ich erkenne das auch in dieser aus meiner Sicht narzisstischen Gesellschaft. Wichtig ist, auf sich und auf seinen eigenen Anteil zu schauen. Was ist meine Schuld, wo bin ich Opfer, aber auch Täter einer gesellschaftlichen Fehlentwicklung? Das geschieht nicht ausreichend.

ntv.de: Steht 30 Jahre nach der Wiedervereinigung mehr persönliche Weiterentwicklung an, damit sich die Gesellschaft weiterentwickeln kann?

Hans-Joachim Maaz: Das wäre mein Wunsch. Ich sehe Zusammenhänge mit der Entwicklung des Kindes. In den ersten Lebensjahren wird die Persönlichkeit geprägt, die dann für ein Leben weiterwirkt. Deshalb ist es die beste Investition, wenn man für die beste Frühbetreuung von Kindern sorgt. Dann bekommt man emotional sichere, stabilere, friedfertigere Menschen, als wenn man die Kinder schlecht behandelt. Es wäre gut, wenn Politik und Wirtschaft das mehr berücksichtigen würden. Gerade gibt es die Tendenz, sehr rasch eine Fremdbetreuung zu favorisieren. Das sehe ich und viele meiner Kollegen kritisch, Krippe vom ersten bis dritten Lebensjahr eher nein, Kindergarten eher ja. Dazu gehört aber ökonomische und psychologische Unterstützung.

ntv.de: Sie werben sehr für das Zuhören, warum?

Hans-Joachim Maaz: Häufig ist es so, dass man nur darauf wartet, bis man die Stelle findet, an der man sein Argument anbringen kann. Das ist kein gutes Zuhören. Für meine Arbeit ist das aktive Zuhören wichtig. Mir sagt jemand etwas, aber ich höre nur das, was ich hören kann und will. Das ist mitunter sehr verzerrend zu dem, was gesagt wird. Also versuche ich zu formulieren, was ich verstanden habe und frage, ob das richtig ist. Eventuell wird das bestätigt oder präzisiert. So wird auch das Gemeinte mit verstanden. Das könnte schon in der Schule geübt werden. Das wünschte ich mir auch in der Gesellschaft und auch im Bundestag.

ntv.de: Politiker würden vielleicht argumentieren, dass zur politischen Auseinandersetzung eine gewisse Zuspitzung dazugehört. Schließt sich das aus?

Hans-Joachim Maaz: Entscheidend ist die Grundhaltung. Wenn ich immer davon ausgehe, ich muss den Gegner fertigmachen, schwächen und unbedingt meine Position durchsetzen, dann halte ich das für schädlich für das soziale Auskommen. Das ist keine Verständigung. Die Schärfe einer Aussage sollte in den Inhalten bestehen. Dafür muss man sich Mühe geben, die vertretenen Inhalte gut zu begründen. Eine Beschimpfung des Gegners ist das Gegenteil von dem, was gutes Zuhören bedeutet. Auch da gibt es wieder Parallelen zu Eltern-Kind-Beziehungen. Wir empfehlen auch da immer Ich-Botschaften statt Du-Botschaften, also zu sagen: Ich empfinde das so und nicht Du bist so. Die Ich-Botschaft hält die Beziehung lebendig, die Du-Botschaft belastet sie.

ntv.de: Sie selbst schauen auch auf 30 Jahre im wiedervereinigten Deutschland zurück. Wie fällt Ihr persönliches Fazit aus?

Hans-Joachim Maaz:

Ich habe sehr unter den DDR-Verhältnissen gelitten, weil ich mich da nicht einordnen wollte. Ich bin dann bei der Kirche untergeschlüpft und war dort sehr zufrieden, weil ich da frei arbeiten konnte. Ich war begeistert über den Zusammenbruch der DDR und war auch aktiv bei den Demonstrationen. Dann habe ich die neuen Verhältnisse genossen und auch beruflich neue Möglichkeiten gefunden. Das war alles positiv. In den letzten Jahren bin ich enttäuscht über die Entwicklung in ganz Deutschland. Ob das bei der kindlichen Frühbetreuung ist oder bei den demokratischen Defiziten, die ich sehe, das entsetzt mich. In der DDR gab es eine starke politisch-ideologische Abhängigkeit, heute gibt es eine starke und zunehmend auch moralische Abhängigkeit. Aus meiner Sicht steht in beiden Fällen als Resultat ein unsicherer und abhängiger Mensch. Das bleibt mein Thema. Ich unterscheide zwischen äußerer und innerer Demokratie. Es fehlt aus meiner Sicht die innerseelische Verankerung demokratischen Erlebens bei vielen Menschen, und das gefährdet demokratische Verhältnisse.

Mit Hans-Joachim Maaz sprach Solveig Bach


Aus: "Hans-Joachim Maaz im Interview "Ostdeutsche sensibler bei Veränderungen"" (Samstag, 26. September 2020)
Quelle: https://www.n-tv.de/politik/Ostdeutsche-sensibler-bei-Veraenderungen-article22058173.html

Hans-Joachim Maaz (* 17. Februar 1943 in Niedereinsiedel, Böhmen) ist ein deutscher Psychiater, Psychoanalytiker und Autor. ... 2017 war Maaz Unterzeichner der von der Dresdener Buchhändlerin und Pegida-Sympathisantin Susanne Dagen initiierten Unterschriftensammlung Charta 2017, die das Verhalten des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels im Hinblick auf die Proteste gegen die Präsenz von als rechts eingeordneten Verlagen bei der Frankfurter Buchmesse kritisierte. Nach den Ausschreitungen in Chemnitz 2018 warb er um Verständnis für die Demonstranten, wehrte sich gegen deren generelle Einordnung als Rechtsextreme und kritisierte in diesem Zusammenhang pauschalisierende Reaktionen der Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD) und der Bundesregierung. ... ... 2020: Das gespaltene Land. Ein Psychogramm. Beck, München 2020, ISBN 978-3-406-75087-8.
https://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Joachim_Maaz

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Quote[...] 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands halten knapp zwei Drittel der Deutschen das Zusammenwachsen von Ost und West noch nicht für abgeschlossen. In einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur sagten 64 Prozent, dass dafür der Unterschied der Lebensverhältnisse noch zu groß sei. Nur 24 Prozent meinten dagegen, die Einheit sei vollendet. 12 Prozent machen keine Angaben.

In den Gebieten, die früher zur DDR gehörten, halten sogar 83 Prozent die Wiedervereinigung für unvollendet. In Westdeutschland sind es dagegen nur 59 Prozent. An diesem Samstag jährt sich die Vereinigung der westdeutschen Bundesrepublik Deutschland und der ostdeutschen Deutschen Demokratischen Republik zum 30. Mal.

60 Prozent halten die deutsche Einheit für eine Erfolgsgeschichte, fast jeder Dritte (29 Prozent) sieht das nicht so. Zwischen Ost und West gibt es hier kaum einen Unterschied. Im Westen würden 60 Prozent sagen, dass die Wiedervereinigung eher ein Erfolg war, im Osten sind es 61 Prozent.

Unter denjenigen, die zur Wendezeit noch nicht geboren waren, ist die positive Sicht auf die Einheit am weitesten verbreitet. Von den 18- bis 24-Jährigen sehen 65 Prozent die Einheit als Erfolgsgeschichte und nur 15 Prozent nicht.


Aus: "Umfrage : Zwei Drittel der Deutschen halten Wiedervereinigung für unvollendet" (01.10.2020)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/umfrage-zwei-drittel-der-deutschen-halten-wiedervereinigung-fuer-unvollendet-16980394.html

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#47
Kurt Drawert – Sohn eines Kriminalbeamten – wuchs in Borgsdorf und Hohen Neuendorf bei Berlin sowie ab 1967 in Dresden auf. Er absolvierte eine Ausbildung zum Facharbeiter für Elektronik und holte später auf einer Abendschule das Abitur nach. Er übte verschiedene Hilfstätigkeiten aus, u. a. in einer Bäckerei, bei der Post und als Hilfskraft in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Von 1982 bis 1985 studierte Drawert am Literaturinstitut Johannes R. Becher in Leipzig, wo er ab 1984 auch seinen Wohnsitz hatte. Seit 1986 ist er als freier Schriftsteller tätig. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Kurt_Drawert

Quote[...] Sprachskeptischer Blick, auch auf politische Verhältnisse: Kurt Drawert misst mit ,,Dresden. Die zweite Zeit" die historischen Abgründe Dresdens aus.

Große Literatur beginnt immer mit der Aufkündigung aller Gewissheiten: mit dem existenziellen Zweifel des Schreibenden nicht nur an der ,,Prosa der Verhältnisse" (Hegel), sondern auch an sich selbst.

Kaum ein Gegenwartsautor hat die erzählerische Entfaltung dieses Zweifels so weit vorangetrieben wie der 1956 geborene Kurt Drawert, der seit seinem ersten, 1987 veröffentlichten Buch, dem Gedichtband ,,Zweite Inventur", das Unbehagen an einer von Stereotypen ausgehöhlten Sprache formuliert: ,,Die Worte gehörten mir nicht, / kalt lagen sie unter der Zunge als / nichtgemachte Erfahrung ...". [https://www.tagesspiegel.de/kultur/kurt-drawerts-der-koerper-meiner-zeit-das-zersprungene-ich/19466470.html]

In seinem Roman ,,Spiegelland", der ihn als Schriftsteller bekannt machte, hatte Kurt Drawert 1992 die Erfahrung einer Traumatisierung durch Sprachgewalt beschrieben: Es war, in den virtuosen Satzperioden dem Stil Thomas Bernhards folgend, ein Vater-Buch von äußerster Schärfe.

Denn der herrschsüchtige Vater, ein linientreuer Polizeioffizier, wird in ,,Spiegelland" als Exekutor der DDR-Staatsräson porträtiert. Er versucht dem ängstlichen Sohn mit Brachialgewalt die Alphabete des real existierenden Sozialismus einzuprügeln, bis dieser ins zwanghafte Verstummen zurückfällt.

In seinem ,,Dresden"-Roman (Verlag C.H. Beck, München 2020. 294 S., 22 €.) führt Drawert jetzt diese schmerzhafte Erinnerungsarbeit fort. In einer präzise die eigenen Ambivalenzen und Selbstwidersprüche erfassenden Prosa topografiert er die Erschütterungen, die sein Vater und seine Mutter in der Nachwendezeit durchlebten.

Aus dem linientreuen Kriminalpolizisten wurde ein Anhänger der sudetendeutschen Vertriebenenverbände, dem aber eine Stabilisierung der eigenen Identität versagt blieb. Nachdem ,,Spiegelland" erschienen war, reagierte der Vater mit einer Geste erbitterten Protests, indem er eine zweihundertseitige Rechtfertigungsschrift verfasste und den Sohn, der einst den Namen des Vaters abgelegt hatte, mit einem Brief aus der Familie ausstieß. In ,,Dresden. Die zweite Zeit" rückt nun die Mutter ins Zentrum der erzählerischen Suchbewegung.

Zu Beginn des Romans kehrt der Erzähler nach einem halben Jahrhundert in die Stadt seiner Kindheit zurück – diese erweist sich als vermintes Gelände, besiedelt von reizbaren Bürgern.

Kurt Drawert war elf Jahre alt, als seine Familie 1967 aus der brandenburgischen Provinz nach Dresden umzog. 1984 ging er nach Leipzig und studierte hier am Institut für Literatur, das damals noch den Namen des ersten DDR-Kulturministers Johannes R. Becher trug. Im Sommer 2018 kommt es dann zur Wiederbegegnung mit der Heimatstadt. Kurt Drawert wird Stadtschreiber in Dresden.

Eine Wiederbegegnung mit weitreichenden Folgen. Die Stadt tritt ihm nun als Fremdkörper entgegen, ein politisches Kraftfeld, in dem die Pegida-Bewegung den ,,verpassten Vatermord" am SED-Staat in seltsamer psychogener Verschiebung an der Berliner Republik nachholt.

Die Bücher, die der verlorene Sohn der Stadt in seiner Stipendiatenwohnung auspackt, zeigen die Perspektive an, aus der Kurt Drawert seine Heimatstadt wahrnimmt. Es sind die Bücher seiner intellektuellen Gewährsleute Jacques Lacan, Maurice Blanchot und Julia Kristeva, die Portalfiguren einer strukturalen Literatur- und Gesellschaftsanalyse.

Mit Pegida, so lautet denn auch die erzählerische Zwischenbilanz, formiere sich eine ,,mythische Empörungsgemeinschaft", die sich in ,,narzisstischer Eigenliebe" gegen alles ,,Fremde" verkapsele.

Die Tiefbohrungen im kulturellen Gewebe der Stadt und auch in den Abgründen der eigenen Familiengeschichte, die Drawert vornimmt, lassen in ihrer Radikalität der Selbstbefragung alle gängigen kulturkritischen Erklärungsmuster zum Thema Heimat und Heimatverlust hinter sich. Drawert geht viel weiter als alle vergleichbaren Romane zur Wendezeit und zu den Aufwallungen der Gekränktheit im deutschen Osten.

Er versteckt sich nicht hinter wohlfeilen Entlarvungsformeln zur Pegida-Bewegung, inszeniert sich nicht als Opfer repressiver Familienverhältnisse, sondern stellt sich in all seinen Widersprüchen und narzisstischen Empfindlichkeiten selbst auf den Prüfstand, bis hin zur Bezweiflung der eigenen schriftstellerischen Identität.

Bereits in dem ,,Spiegelland"-Roman war die Suchbewegung des Erzählers verbunden mit jenem existenziell gewordenen Sprachzweifel des berühmten Chandos-Briefes von Hugo von Hofmannsthal, dem die Wörter zu ,,Wirbeln" werden, ,,in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt".

Drawert verschärft den sprachskeptischen Blick auf die Verhältnisse, indem er seine Position als Autor an einen Nullpunkt führt, an dem nichts mehr gültig ist, am allerwenigsten eine souveräne Haltung des Erzählers: ,,Diese Stimme, dieser innere Ort, er geht mir verloren. Ich suche ihn in mir auf, spüre ihm nach, warte auf Resonanz – nichts. Nur Leere, Ödnis, schwarzes Licht. Nichts fügt sich aneinander, jeder Zusammenhang bricht, an sich selber, entzwei."

Die quälerische Suchbewegung des Erzählers intensiviert sich immer mehr, seine Kräfte werden nach einem Sturz und einer misslingenden OP von rasenden Schmerzen in der Schulter fast aufgezehrt.

Kurt Drawerts ,,Dresden. Die zweite Zeit" ist ein verstörendes Buch. Es ist das Selbstporträt eines Schriftstellers, der in die Abgründe der eigenen Familiengeschichte und einer politisch erregten Stadtgesellschaft blickt und schließlich ,,im Loch im Gewebe der Existenz" zu verschwinden droht. Am Ende schaut der Erzähler ins Gesicht des sterbenden Vaters – ein ergreifendes Bild der späten Versöhnung.


Aus: "Loch im Gewebe, Pegida in der Elbstadt" Michael Braun (16.09.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/kurt-drawerts-buch-dresden-die-zweite-zeit-loch-im-gewebe-pegida-in-der-elbstadt/26182464.html

Quote[...] Kurt Drawert kehrt in ,,Dresden. Die zweite Zeit" in seine alte Heimat zurück. Konfrontiert mit der Gegenwart der Stadt versucht er zu begreifen, woher Pegida und der rechte Hass kommen. Entstanden ist ein gewaltiger, essayistischer Bericht.

Es gehört nicht unbedingt zum originellsten Genre, wenn Schriftsteller ihren Stipendienaufenthalt zum Gegenstand ihres nächsten Buches machen.

Bei Kurt Drawert ist das anders. 2017 nahm er das Angebot an, Stadtschreiber von Dresden zu werden, obwohl ihm die damit verbundenen Verpflichtungen – Interviews, freundliche Artikel und Elbspaziergänge im Abendlicht für die Lokalpresse – zutiefst zuwider waren und es Beklemmungsgefühle in ihm auslöste, welche Kollegen vor ihm die Stadtschreiberwohnung bewohnt und im selben Bett geschlafen hatten.

Doch weil ihm dieses Amt Gelegenheit bot, nach 50 Jahren in die Stadt zurückzukehren, in die er 1967 – zwölf Jahre alt – mit seiner Familie gezogen war und in der er die 1970er und 1980er Jahre verbracht hatte, nahm er an. Nicht zuletzt auch, weil seine Mutter noch immer dort lebt.

Sein essayistischer, autobiographisch-erzählerischer Bericht ,,Dresden. Die zweite Zeit" handelt von einer Rückkehr in die Fremde. Drawert verknüpft auf eindrucksvolle Weise die eigene Herkunft mit der Geschichte der DDR und der Familiengeschichte, was über die Figur des autoritären Vaters, eines Kriminalpolizisten, gewissermaßen zusammenfällt.

Doch auch die Mutter mit ihrem Putzwahn und der tief verinnerlichten allgemeinen Pflicht, beim Betreten der Wohnung die Schuhe auszuziehen, hat ihren Anteil daran. Auf diesem Boden, wo das Historische sich in den eigenen Leib eingeschrieben hat, konfrontiert Drawert sich mit der Dresdner Gegenwart der Montagsdemonstrationen, Pegida und AfD, und versucht zu begreifen, was 50-jährige Frauen dazu bringt, sich mit der Sachsenfahne zu schmücken und ,,Fotze Merkel!" zu brüllen.

Drawert, der Lacan, Marx, Julia Kristeva, Zygmunt Bauman, Annie Ernaux und vor allem sein 1992 erschienenes Vater-Abrechnungsbuch ,,Spiegelland" im Gepäck hat, ist viel zu schlau, um sich mit einfachen Einsichten zu begnügen. Eine der möglichen Antwort besteht jedoch darin, dass das große Nein zur Gegenwart, das auf den Straßen so voller Hass zelebriert wird, ein verschobenes, nachträgliches Nein des einst versäumten Nein zur DDR sein könnte.

Drawert wundert sich darüber, warum die Kunstaktion des deutsch-syrischen Künstlers Manaf Halbouni, der zum Jahrestag der Zerstörung Dresdens 2017 zwei zerstörte Busse aus Aleppo aufstellte, so viel Empörung hervorrief, weil damit angeblich das Gedenken an die Opfer Dresdens entwürdigt und entweiht werde. Warum gibt es in Dresden einen Monopolanspruch auf Schmerz? Warum wurde Dresden zum Synonym der Zerstörung und nicht Hamburg, Nürnberg oder Darmstadt? Warum kann die Stadt ihre Trauer nicht mit der Welt teilen? Drawert erkennt in den Affekten von rechts außen einen in sich verkapselten Narzissmus, der das kleine Eigene so herrlich findet, dass alles Fremde nur feindlich sein kann.

Das Großartige an Drawerts erzählerischer Reflexion besteht jedoch darin, dass er selbst als Fremd-Zugehöriger nicht bloß von außen spricht, als der Westler, zu dem er geworden sein mag, sondern als einer, dem die Kategorien Ost und West fragwürdig geworden sind.

Das subkutane Weiterwirken der DDR registriert er sehr genau, weil er ihre Gewalt am eigenen Leib erfahren hat – über den Vater und die Familie ebenso wie über die Schule und die Fabrikarbeit, zu der er einst degradiert worden war. Alles war schuldbehaftet, alles zielte auf die Vernichtung der Person, und schon die Ankunft in Dresden glich einer Flucht, nachdem er noch im Brandenburgischen Hohen Neuendorf beim Nazi-und Partisan-Spiel einem Freund mit Pfeil und Bogen ein Auge ausgeschossen hatte.

Es gibt viele blutige, demütigende Geschichten in diesem Buch, das mehr und mehr zu einer Geschichte des Schmerzes wird. Es ist mehr als bloß symptomatisch, dass der Stadtschreiber beim Kuchenkaufen für den Mutterbesuch auf Blitzeis ausrutscht, sich die Schultersehnen reißt und von da an auch körperlich ein Schmerzensmann ist, der kaum noch die Kaffeetasse zum Mund führen kann, aber trotzdem weiter schreibt und denkt.

Es scheint so, als schärfe sich sein Denken am und im Schmerz. ,,Dresden. Die zweite Zeit" ist ein gewaltiges, großes Dokument eines ums Verstehen ringenden Blickes auf die eigene Zerrissenheit und die der Stadt und des geteilten Landes.

Kurt Drawert: Dresden. Die zweite Zeit
C. H. Beck, München 2020, 294 Seiten



Aus: "Kurt Drawert: ,,Dresden. Die zweite Zeit "Monopolanspruch auf Schmerz" Jörg Magenau (28.08.2020)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/kurt-drawert-dresden-die-zweite-zeit-monopolanspruch-auf.1270.de.html?dram:article_id=483056


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30 Jahre Mauerfall
"Euch sollte man vergasen": Was es hieß, in der DDR Punk zu sein

Sie waren Außenseiter, Jugendliche, die gegen das Eingesperrtsein rebellierten. Sie wurden von staatstreuen Bürgern verachtet, von DDR-Behörden drangsaliert, ins Gefängnis gesperrt. Doch Punk sein hieß auch Freiheit.

Punkband auf der Bühne mit Graffittis im Hintergrund (picture-alliance/dpa/Neue Visionen)

Es begann Anfang der 1980er Jahre. In Ostberlin und Leipzig - später in der ganzen DDR - entstanden kleine Punk-Gruppen, die schnell wuchsen. Sie trafen sich in Kellern, Hinterhöfen, Kirchen. In normalen Kneipen oder Clubs waren sie nicht willkommen. Auf der Straße wurden sie angefeindet, beschimpft - manche jugendlichen Punks mussten sich Sätze anhören wie "Euch sollte man vergasen". Vom Staat wurden sie drangsaliert. Stasi-Chef Erich Mielke nannte sie "dekadent" und "Dreck aus dem Westen". Und Eltern wollten ihre eigenen Kinder nicht mehr kennen.

Wer mit Irokesenschnitt und Hundehalsband durch die Straßen lief, wurde schon mal angespuckt oder grundlos von der Polizei angehalten, Zugfahrten endeten in Verhaftungen. Es war nicht sehr gemütlich und schon gar nicht dekadent, in der DDR ein Punk zu sein.

Die "echten" Punks haben schnell festgestellt, wer wirklich Punk war und wer nicht. Die Gruppe entschied, wer dazugehören durfte. Wer es nicht sein sollte, wurde "gebeten", etwa seine Sicherheitsnadeln abzulegen. Andere waren weniger höflich und "ruppten" die Lederjacke des Anwärters, was heißt: Man nahm ihm die Jacke ab.

Punkkleidung war nicht einfach zu besorgen, und wenn, dann zu hohen Preisen. Dann wurde darauf geachtet, dass die Lederjacke an genau der richtigen Stelle kaputt oder beschmiert war. Wer vor die Tür ging, wollte schockieren. Und zwar richtig. Im Outfit steckte viel Mühe und Zeit vor dem Spiegel. Haare wurden mit Tusche gefärbt und mit Rasierschaum oder Seife fixiert, was bei Regen zu Problemen führen konnte, wenn einem alles in die Augen lief.

Das Anderssein war das Lebenselixier, ein Stück Freiheit in einem unfreien Staat. Und die Punkmusik war der Soundtrack dazu. Der einfachste Weg sich Punkplatten aus dem Westen zu beschaffen, war die Oma, denn Rentner durften in den Westen reisen. So sind Omas mit Einkaufszetteln in westliche Plattenläden geschickt worden. "Wenn die Oma da bei der Einreise 'ne B52's-Platte in der Hand hatte, dann konnten die Grenzer auch nicht viel mit anfangen. Die dachten eher, das wird schon in Ordnung sein, wenn die Oma sowas mitbringt", erzählt der frühere Punk Bernd Stracke in der Filmdokumentation "Too much future".

Andere besorgten sich die Platten in Bulgarien und schmuggelten sie in den Schiebetüren der Züge in die DDR.

Konzerte fanden in Wohnungen statt, in Künstlerateliers. Da waren nicht nur Punks anwesend, auch Künstler, Theaterleute, Lyriker. Oft kam die Polizei und beendete die Veranstaltung.

Später verlagerte sich das Ganze in die Kirchen. Es gab evangelische Pfarrer, die den Außenseiter-Jugendlichen ihre Räume zur Verfügung stellten, so dass die sich entfalten konnten. Die Kirchen waren eine sichere Zone - für staatliche Organe quasi unantastbar. "Man wurde zwar von außen beobachtet, aber die Bullen sind nie reingekommen und haben das Ding zugemacht", erzählt der Ost-Berliner Punk Colonel in dem Dokumentarfilm.

Die Bands hießen Planlos, Die Fanatischen Friseure, L'Attentat, Bandsalat, Schleim-Keim, Namenlos oder Wutanfall. Bernd Stracke, genannt "Stracke", war Sänger bei der Leipziger Band Wutanfall: "Schon der Name war ein Auslöser für Ärger", erzählt er. Die Band stand schnell im Fokus der Stasi - Strackes Bandkollege und Freund "Chaos" hat die Schikanen mit aller Härte zu spüren bekommen. Einschüchterung, wiederholte Vorladungen, Führerscheinentzug, Verlust der Wohnung bis hin zur Misshandlung. Manche jugendliche Punks zerbrachen unter dem Druck, nahmen sich sogar das Leben.

Stasi-Chef Mielke blieb bei seinem harten Kurs. Die Staatssicherheit ging nicht nur auf einzelne Protagonisten los; sie setzte eine perfide Taktik ein, um die Szene von innen zu "zersetzen". Um die jugendlichen Punks zu verunsichern, streute sie Gerüchte, dass sie eigene Leute, "Inoffizielle Mitarbeiter", in der Szene habe. Was viele nicht ahnten: Die Gerüchte stimmten. Es waren schon längst IMs in ihren Reihen. Sie gaben sich als Punks aus, waren Musiker in Bands.

Gleich zwei von ihnen waren Bandmitglieder von Wutanfall. Stracke erfuhr erst viel später in seiner Stasi-Akte davon. Auch er selbst war angeworben worden: "Dann kannst du in der Szene bleiben und machen was du willst", haben sie Stracke erzählt, im gleichen Atemzug jedoch: "Wir können aber auch anders. Wir können dir auch das Leben zur Hölle machen." Stracke wählte den unbequemen Weg. Und kam dafür zweimal ins Gefängnis.

"Das erste Mal war es die Eröffnung der Dokumentar- und Kurzfilmwoche in Leipzig. Unser Pfarrer hatte uns noch gesagt, lasst euch bloß nicht mit Kerzen, lila Tüchern und Blumen erwischen. Natürlich kamen wir mit Kerzen, lila Tüchern und Blumen. Wir wurden festgenommen wegen Rowdytum. Mit Rowdytum hatte das nichts zu tun, wir standen da einfach nur rum. Aber es war groß in der Westpresse, es waren ja alle da und haben gesehen, wie wir vor dem Kino zusammengeknüppelt wurden."

Als Stracke aus dem Gefängnis kam, waren viele seiner Freunde schon in den Westen abgeschoben worden. Und er bekam die Stasi-Zersetzungsmaßnahmen am eigenen Leib zu spüren. "Ich hab überall auf Granit gebissen, nichts ging mehr für mich." Aber er wollte da bleiben. Weil er in der DDR etwas verändern wollte. Dann hat er mit seiner nächsten Band L'Attentat beschlossen: "Jetzt nehmen wir kein Blatt mehr vor den Mund. Nix mehr zwischen den Zeilen. Jetzt straight ahead."

Die Folge: wieder Vorladungen, Verhöre, im DDR-Jargon "Klärung eines Sachverhalts" genannt. Schließlich fand man in Strackes Wohnung die Songtexte seiner Band und von ihm verfasste Berichte über den DDR-Untergrund, die in Westzeitungen veröffentlicht worden waren. Erneute Verhaftung wegen "Herabwürdigung der sozialistischen Ordnung" und "Verbreitung von Nachrichten im Ausland, die geeignet sind, den Interessen der DDR zu schaden". Stracke bekam ein Jahr und sieben Monate. Nachdem er wieder rauskam, verließ er die DDR - der Westen hatte ihn freigekauft.

Die Punks ließ man gerne gehen. Manche mussten gar nicht erst den Ausreiseantrag stellen - sie wurden rausgeschmissen und durften nicht mehr zurückkehren. Der Dresdner Journalist Torsten Preuß hat seine Erlebnisse in seinem Buch "Eine Liebe, zwei Welten" geschildert. Wie er versuchte, sich als unangepasster Jugendlicher im "langweiligsten Land der Welt" durchzuschlagen, mit allen Schikanen. Als Punk und "Träger pazifistischen Gedankenguts" hatte die Stasi auch ihn auf dem Kieker.

Für ihn ist es heute noch unbegreiflich, wie dumm die meisten Menschen in der DDR waren: "Du bist geistig völlig verblödet großgeworden. Wenn du nicht wie wir irgendwie versucht hast, dir irgendwas zu besorgen. Du musstest ja um jedes Buch kämpfen, in dem es andere Gedanken gab." Er lehnte sich auf, war ungehorsam und stellte schließlich für sich und seine kleine Familie den Ausreiseantrag. Der Preis: eine jahrelange Trennung von seiner Frau und dem kleinen Sohn - denn ausreisen durfte nur er.

Preuß wurde am Tag nach dem Mauerfall freier Reporter bei der Tageszeitung "taz", wanderte mit seiner Familie nach Australien aus, lebt heute wieder in Dresden und betreibt einen Youtube-Kanal, auf dem er aufklären will und dafür kämpft, dass die DDR nicht idealisiert wird.

"Ostalgie" verspüren die früheren Rebellen genau so wenig, wie sie damals in den 1980ern die Haltung der West-Punks verstanden haben: "No Future sagen und dabei alle Möglichkeiten haben ... bei uns wurde die Zukunft vorgegeben," sagt Stracke. In der DDR wurden sie verfolgt, weil sie frei leben wollten. "Wir standen mit unserem Gesicht und unserem Namen für unsere Sache ein und haben dafür gezahlt."


Aus: "30 Jahre Mauerfall: "Euch sollte man vergasen": Was es hieß, in der DDR Punk zu sein" (07.11.2019)
https://www.dw.com/de/euch-sollte-man-vergasen-was-es-hie%C3%9F-in-der-ddr-punk-zu-sein/a-51141603

"Punk – Rebellion gegen den Stasistaat: Vorwärts, vorwärts, nie zurück" Ulrich Gutmair (4.10.2020)
Punk wurde in der DDR nicht verstanden, aber brutal verfolgt. Die Kompilation ,,too much future" zeigt, wie sich die SED ihr eigenes Grab schaufelte.
https://taz.de/Punk--Rebellion-gegen-den-Stasistaat/!5715658/

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Quote[...] 30 Jahre nach der Wiedervereinigung haben sich westdeutsche Frauen in Sachen Rückkehr in den Beruf nach der Schwangerschaft den Ostdeutschen oft angepasst, auch wenn Traditionen noch immer dominieren. Das ist das Ergebnis einer Studie von Wissenschaftlerinnen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), des University College London, der Queen Mary's University London und der Universität Köln, die am Freitag veröffentlicht wurde.

Der Studie liegt laut IAB eine Vollerhebung des anonymisierten Datenmaterials der Bundesagentur für Arbeit zugrunde. Davon sei ein Stichprobe von 50 Prozent gezogen worden. Damit sei die Hälfte aller deutschen Frauen, von denen Sozialversicherungsdaten existieren, der Jahrgänge 1946 bis 1994 in die Studie eingeflossen. Besonders seien die Mütter betrachet worden, die zwischen 1986 und 2006 in den Mutterschutz gegangen sind.

,,Nach der Wiedervereinigung, die viele Ost- und Westdeutsche plötzlich mit der jeweils anderen Kultur konfrontierte, kam es durch die darauffolgenden Migrations- und Pendlerströme zu einem regen Austausch zwischen beiden Kulturen", heißt es in der Untersuchung. Die Unterschiede seien nach wie vor groß.

Während sich ost- und westdeutsche Frauen im ersten Jahr nach der Geburt des Kindes gleich verhielten, kehrten viele ostdeutsche Mütter nach einem Jahr in den Beruf zurück, wie es der Norm der DDR entsprach. Dort wurde Frauen ein vollbezahltes Babyjahr gewährt. Nach zwei Jahren seien 50 Prozent der ostdeutschen Mütter wieder regulär beschäftigt, hieß es. In Westdeutschland hingegen seien die 50 Prozent erst nach drei Jahren erreicht. Die Folgen seien finanziell gravierend: Sieben Jahre nach der Geburt verdienten ostdeutsche Frauen im Schnitt wieder 70 Prozent des Einkommens, das sie vor der Geburt bekamen. In Westdeutschland liege die Quote zum selben Zeitpunkt nur bei 45 Prozent.

Arbeiten westdeutsche Frauen in Ostdeutschland, passten sie sich den Gegebenheiten vor Ort an und übernähmen die Muster ostdeutscher Frauen, fanden die Wissenschaftlerinnen heraus. Arbeiten hingegen ostdeutsche Frauen in Westdeutschland, bleiben sie mehrheitlich ihrem tradierten Verhalten treu. Eine Ostdeutsche, die in Westdeutschland arbeite, habe eine um 7,9 Prozentpunkte erhöhte Wahrscheinlichkeit, vier Jahren nach der Geburt noch regulär beschäftigt zu sein, die Wahrscheinlichkeit eine Vollzeitstelle zu haben ist noch um 5,1 Punkte erhöht.

,,Unsere Ergebnisse legen nahe, dass die kindliche Prägung für Frauen, die in einer Gesellschaft mit stärker angeglichenen Rollenbildern der Geschlechter aufgewachsen sind, eine größere Bedeutung für ihre Rückkehrentscheidung nach der Geburt hat (66 Prozent) als das aktuelle kulturelle Umfeld (32 Prozent)", schreiben die Wissenschaftlerinnen. Im Vergleich dazu würden Frauen, die in einer traditionelleren Kultur aufgewachsen sind, im Erwachsenenalter stark von einem Umfeld mit weniger traditionellen Rollenverteilungen beeinflusst. Weibliche Beschäftigte hätten selbst dann ihr Rückkehrverhalten nach der Geburt geändert, wenn sie zwar nie selbst in einem der neuen Bundesländer gearbeitet hatten, aber mit Frauen aus Ostdeutschland in einem westdeutschen Betrieb zusammenarbeitet haben.


Aus: "Westdeutsche Frauen passen sich im Job oft Ostdeutschen an"  (02.10.2020)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/buero-co/rueckkehr-in-den-beruf-westdeutsche-frauen-passen-sich-im-oft-ostdeutschen-an-16982898.html

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Quote[...] Mandy Tröger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München

Mein Name ist Mandy. Ich lebe in München. Das scheint auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine außergewöhnliche Kombination. Wenn ich gefragt werde, ob mein ostdeutscher Name ein Problem sei, frage ich mich, wo das Problem eigentlich liegt.

Denn von ,,uns" gibt es viele. Abwanderung von Ost nach West war weiblich geprägt. Gut gebildete Frauen zogen, wie ich, insbesondere nach Süddeutschland, in die großen und mittelgroßen Städte Bayerns und Baden-Württembergs. Fast zwei Drittel der Menschen, die zwischen 1991 und 2007 vom Osten in den Westen gingen, waren Frauen; erst 2007 endete der weibliche Überschuss in der Westwanderung. Während in der Post-Wende-Debatte meist auf die Folgen des dadurch entstandenen Männerüberschusses im Osten geblickt wird, lässt sich die Frage auch umdrehen: Welche Folgen hatte der Ostfrauen-Überschuss eigentlich für das Leben im Westen?

Darüber habe ich mit drei Frauen gesprochen. Sie stammen aus verschiedenen Regionen Ostdeutschlands und leben nun im Norden und Süden der alten Bundesrepublik. Caroline Stachura etwa wohnt in Augsburg, mit Auto, Mann und zwei Kindern, gutbürgerlich. 1980 wurde die Psychologin in Ost-Berlin geboren, ihr Vater ging in den Westen, da war sie sechs. Damit galt er als ,,Republikflüchtiger". Die Mutter wurde verhört, die Staatssicherheit wurde zum Teil des Lebens. Carolines DDR-Erinnerungen sind entsprechend negativ – Repression, Überwachung und staatliche Willkür, das sei ihre DDR.

Nach außen hin verrät nichts, dass sie und ihr Mann ursprünglich aus dem Osten kommen. Beide sind, wie ich, Teil der ,,3. Generation Ost" und haben die DDR nur als Kinder erlebt. Sie sei ,,genauso Ost- wie Wendekind", sagt Caroline Stachura. Die prägende Zeit war also die nach 1990: der Zusammenbruch aller Strukturen und eine Jugend ohne Eltern. Ihre Mutter, eine Psychologin, die in der DDR eigentlich keine hätte werden sollen, es aber dennoch wurde, sicherte den familiären Halt. Ihre Mutter habe ,,immer ihr Ding gemacht" entgegen allen Widerständen, berichtet Stachura mit Stolz. ,,Ostfrauen", das sind vor allem unsere Mütter.

Wie sie den Westen geprägt haben, das zeigen nun Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Nach einer aktuellen Studie hat sich die Erwerbstätigkeit westdeutscher Frauen vor allem dort in Westdeutschland erhöht, wo viele Frauen aus dem Osten zugezogen sind. ,,In der DDR sozialisierte Menschen, die nach Westdeutschland zogen, könnten neben dem Umfang der Erwerbstätigkeit also auch die Einstellungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf in Westdeutschland beeinflusst haben", erklärte Studienautor Felix Weinhard. Haben Westfrauen also von Ostfrauen gelernt?

Eine Dokumentation des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) aus dem Jahr 2019 schreibt den ,,Ostfrauen" als Protagonistinnen schon im Titel die Attribute ,,Selbstbewusst. Unabhängig. Erfolgreich" zu. ,,In der DDR", heißt es da, ,,arbeiten Frauen Vollzeit, müssen niemanden dafür um Erlaubnis bitten", dort gab es ,,andere Wege und andere Formen der Frauenemanzipation – eine von oben verordnete und eine im Alltag gelebte."

Eine Reduzierung der Ostfrau auf die volle Berufstätigkeit sei aber zu verkürzt gedacht, meint Jana Fröbel, Lektorin des Buches Ostfrauen verändern die Republik (Ch. Links 2019). ,,Ostfrau" stehe für den ,,Anspruch, sich im Leben nicht nur über Kinder zu definieren", dieser sei schon sehr ausgeprägt. Neben Kindern und Erwerbsarbeit gebe es jedoch vieles mehr im Leben, das identitätsstiftend sei. Und mehr noch: Ihrer eigentlichen Lohnarbeit konnten viele Frauen aus dem Osten im Westen gar nicht nachgehen.

Sabine Friedrich kommt aus Halle-Neustadt, sie war in der DDR ausgebildete Friseurin. Ihr Sohn Sebastian war vier, als sie im November 1989 ausreisten, sie selbst damals 24. Sie gingen in den Westen, weil alle gingen, erzählt mir Sabine; nicht, weil es ihr in der DDR schlecht ergangen sei. Die Zukunft in der DDR sei unklar und der Traum vom Westen groß gewesen. Letztlich, so weiß sie jetzt, war vieles davon Illusion, aber auch die müsse es ja geben. Arbeitssuche, Jobwechsel und Existenzängste bestimmten ihr Leben in den 1990ern. Es sei eine äußerst schwierige Zeit gewesen. Ihr Sohn Sebastian, inzwischen Journalist und Freitag-Autor, hat ihrer beider Geschichte in einem Radiofeature mit dem Titel Die Ost-West-Migrantin erzählt.

30 Jahre später arbeitet Sabine Friedrich im IT-Bereich, lebt in einem Fachwerkhaus an der französischen Grenze und ist verheiratet, mit einem gebürtigen Ost-Berliner. Noch nie sei sie mit einem Westdeutschen zusammen gewesen, fällt ihr beim Erzählen auf. Und ja, bis heute sei ihre Herkunft Thema, aber eher durch fehlende Regionalität als durch ihre ostdeutschen Wurzeln. Ob Menschen sich denn für ihre Geschichte interessierten, frage ich. Nein, das komme sehr selten vor. Einmal, 1991, habe sie eine Kollegin nach Halle mitgenommen. Die hatte gedacht, in der DDR habe es kein fließend Wasser oder Strom gegeben. Als beide dann durch Halle fuhren, habe die Kollegin gestaunt. ,,Das sieht ja aus wie in Karlsruhe, genau wie Karlsruhe!", wiederholte sie. Als Sabine diese Geschichte erzählt, lacht sie. Sie habe sich mit ihren Friseur-Kolleginnen gut verstanden, auch wenn sie selbst immer anders gewesen sei. Dabei spricht sie stets von ,,Frauen aus dem Osten und Westen". Das Wort ,,Ostfrau" kommt ihr nicht über die Lippen.

Im Streit zwischen Selbstbild und Fremdzuschreibung denkt Bettina Berger bei ,,Ostfrau" vor allem in Bildern: ,,Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertochter am FFK-Strand." Das stehe für eine ,,unbefangene weibliche Frechheit" und die ,,große Schnauze am richtigen Fleck". Genauso erzählt die 1967 bei Berlin geborene Pfarrerstochter von ihrem Leben. Es ist eine Geschichte voller Brüche. Nach der Schulzeit in Magdeburg durfte sie nur Theologie studieren und schmiss das Studium 1988. Dann kam die Wende und eine lange Phase der Orientierungslosigkeit. ,,Da war ich sehr verzweifelt", erzählt sie. Ihr habe die Sprache gefehlt, ihre Bedürfnisse auszudrücken. So kamen Hausbesetzung, Ausbildung und Ausland, und letztlich dann doch ein Studium in Frankfurt (Oder). Seit dem Jahr 2001 arbeitet sie an verschiedenen Universitäten, erst in Hamburg, dann Bremen, aktuell an der Privatuniversität Witten/Herdecke. Dieser Weg war nicht vorgezeichnet.

Für die promovierte Kultur- und Gesundheitswissenschaftlerin steht zweiterlei fest. Erstens: ,,Denken durfte man im Osten nicht", und zweitens: Gleichberechtigung der Frau hieß Familienarbeit plus Beruf. Aber auch im Westen ging vieles nicht. Hier kam mit dem ersten Kind ein Bruch in der Karriere, gleichzeitig durfte über Geld nicht gesprochen werden. Die Finanzierung ihres Studiums war ein jahrelanger Kampf.

Frauen aus Ostdeutschland trafen im Westen auf die Gesellschaft einer alten Bundesrepublik, die beim Thema Gleichberechtigung im Erwerbsleben weit hinterherhinkte. Die geschlechtliche Arbeitsteilung war noch stark vom Alleinernährermodell mit dem in Vollzeit erwerbstätigen Mann geprägt.

Für Sabine Friedrich kam der erste ,,richtige Schock" nach ihrer Ankunft im Westen, als die Vollzeitstelle das Überleben nicht sicherte. Irgendwann verstand sie, es lag nicht an ihr, der Beruf der Friseurin war schlecht bezahlt. ,,Das konnte ich gar nicht glauben", erinnert sie sich, ,,dass ich von meinem erlernten Beruf nicht leben konnte." So verbrachte die alleinerziehende Mutter Nachmittage in der Stadtbibliothek und las Gesetzestexte. Sie informierte sich über ihre Rechte.

Dass Frauen und ,,Frauenberufe" so schlecht bezahlt werden, war neu für Frauen aus dem Osten. Nach der Wende pendelte sich der Gender Pay Gap in Ostdeutschland ziemlich schnell bei verhältnismäßig niedrigen sieben Prozent ein, im Westen hingegen liegt die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern derzeit bei 21 Prozent. Ähnlich desolat stand es um die Kinderbetreuung als Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit von sowohl Müttern als auch Vätern. Noch immer klafft zwischen der Kinderbetreuungsquote eine große Lücke zwischen Ost und West. Während in Bremen oder Baden-Württemberg nicht einmal 30 Prozent der Kinder unter drei Jahren in einer Kita betreut werden, sind es in Brandenburg oder Thüringen mehr als die Hälfte. Erst seit 2013, seit es den Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung gibt, fand im Westen eine beschleunigte nachholende Entwicklung statt. Mit Folgen für die Erwerbsquote von Müttern junger Kinder. Die DIW-Studie zeigt, dass sich auch die Erwerbsquoten der westdeutschen Mütter seit der Wende langsam angenähert haben. Betrug der Unterschied zwischen West und Ost Anfang der neunziger Jahre noch 22 Prozent, liegt er seit ungefähr einem Jahrzehnt bei nur noch vier Prozent. Der unterentwickelte Westen holte etwas auf, kommt in Sachen Gleichberechtigung jedoch noch immer nicht an den Osten ran. 2019 arbeiten nur zwölf Prozent der Mütter kleiner Kinder im Westen Vollzeit, im Osten sind es 29 Prozent.

Sabine Friedrich hat inzwischen drei Berufsausbildungen, ihr Sohn promoviert. Mit Frauen aus Ostdeutschland komme sie dennoch anders ins Gespräch als mit westdeutschen Frauen, das geht auch Caroline Stachura und Bettina Berger so, das sei fast wie ein ,,geschwisterliches Verhältnis".

Und das geht auch mir so. Viele Jahre lebte ich in den USA – auch dort lernte ich einige ,,Ostfrauen" kennen. Man findet sich. Eine Freundin, die 1970 aus der DDR floh und seit 25 Jahren in Arizona lebt, erzählte mir, erst durch die MDR-Doku Ostfrauen habe sie verstanden, warum sie so ist, wie sie ist. Auf die Frage, ob sie Feministin sei, lachte sie. Nein, Feministin, damit könne sie nichts anfangen.

Und tatsächlich funktionieren Begriffe wie Emanzipation oder Feminismus oft in einem Denksystem, das sich am Mann orientiert. Nicht umsonst heißt es in der MDR-Doku, Ostfrauen ,,pfeifen auf Emanzipation, weil sie schon emanzipiert sind". Der ,,Feminismus der Ostfrau" ist also in westliche Sprache gepresstes ostdeutsches weibliches Selbstverständnis. Haben Frauen aus dem Osten Westdeutschland dadurch geprägt? Vielleicht. Zugleich hatten sie aber auch mit Ressentiments und Ablehnung zu kämpfen: Bettina Berger erzählt, viele Westdeutsche seien anfangs ,,erschreckend schnell" darin gewesen, ihr ihren ostdeutschen Hintergrund abzusprechen. ,,Jetzt ist aber genug", hieß es dann, ,,immer diese Geschichten!" Dabei habe sie kaum über ihre Herkunft gesprochen. Dass man im Osten nichts konnte und dumm gewesen sei, diese Vorurteile, erzählt Sabine Friedrich, seien immer da gewesen. Doch diese Konflikte scheinen sich abgeschwächt zu haben. Heute sind sie nicht mehr so ausgeprägt.

Natürlich, meint Sabine Friedrich, könne die junge Generation einiges von Frauen aus dem Osten lernen. Das Wissen, dass frau auch allein durchkommt, Eigensinn und Willensstärke zum Beispiel. ,,Es gibt Dinge im Leben, die mache ich nicht, wenn ich der Überzeugung bin, dass sie falsch sind. Da kann neben mir die Welt zusammenbrechen", betont sie. Das sei ,,mitunter auch echt ein Fluch", aber ändern werde sie sich nicht. Auch die Erfahrung, dass sich von heute auf morgen alles ändern und man selbst dazu beitragen kann, sagt Jana Fröbel, sei besonders.

Damit komme auch das Einsehen, fügt Caroline Stachura hinzu, dass ,,Verhältnisse nicht feststehen" und man sich nicht hinter Strukturen verstecken kann. Wenn man die Frauen so reden hört, wird klar: Ostdeutsche Erfahrung ist auch ein historisches Privileg. Eines, von dem in den letzten 30 Jahren offenbar auch westdeutsche Frauen profitierten.

Wie also umgehen mit dem Namen Mandy? Dazu stehen. Komme, was wolle.


Aus: "Ost-Hilfe zur West-Entwicklung" (Mandy Tröger | Ausgabe 40/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ost-hilfe-zur-west-entwicklung

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Gunnar Jeschke | Community

Die DDR hatte halt bezüglich Gleichberechtigung der Frauen und Respekt vor ihrer Professionalität mindestens 20 Jahre Vorsprung vor der Bundesrepublik.

Und wenn ich mache Fossilien so höre, denke ich, es müssen eher 40 gewesen sein, denn was die sagen, wäre in der DDR schon 1979 öffentlich nicht mehr durchgegangen - und nicht wegen Repression, sondern wegen Lächerlichkeit.


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Stoppel | Community

Komisch. Bei uns sind die regelmäßig rausgeflogen, und wir stellen auch keine mehr ein.


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WuMing | Community

@ Stoppel

Das spricht für die Ostfrauen, die sich offensichtlich nicht so leicht unterwerfen lassen, als die Westmänner!


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Stoppel | Community

@ WuMing

Also wenn man über die Cheffin als "Zecke" schimpft und massive Probleme mit migrantischen Patienten inszeniert, dann ist das schon einen Rausschmiss wert.


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WuMing | Community

@ Stoppel

Das war ihren Kommentar nicht zu entnehmen. Ich bezweifle auch, das ALLE Ostfrauen rassistisch sind. ...


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Stoppel | Community

@ WuMing

Westdeutsche Rassisten und Rassistinnen treten im Alltag nicht so dümmlich aggressiv auf. Ich wohne hier in westdeutscher Provinz, wo man diesen Leuten nicht ohne weiteres ausweichen kann; aber der tägliche Umgang ist insgesamt doch zivilisierter als ich das aus der Ostzone kenne, wo sich diese Leute quasi "an der Macht" wähnen und unbedingt sagen müssen was sie sagen dürfen.


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dbrandt | Community

@ Stoppel

"Ostzone" ist seit Gründung der DDR passé, Sie sprechen doch auch nicht von der "Westzone", sondern von "westdeutscher Provinz".

Westdeutsche Rassisten können im Alltag sehr wohl dümmlich-aggressiv auftreten; das sind zum Beispiel die "netten Nachbarn" mit den Stammtischparolen in angeheiterter Stimmungslage. Natürlich kein Vergleich mit den Wehrsportgruppen, die sich in Westdeutschland in den 70er-Jahren etabliert hatten und gelegentlich auch mordeten.

Aus einem Ihrer Beiträge entnehme ich, dass Sie in einem Pflegedienst arbeiten oder einen solchen leiten. Selbstverständlich ist abwertendes Benehmen gegenüber ausländischen Kunden nicht hinnehmbar und muss mit einer Kündigung beantwortet werden, allein schon als Erziehungsmaßnahme.

Dennoch sollte eine ungehobelte Bemerkung wie "Zecke" gegenüber einer Chefin Anlass zum Nachdenken sein: und zwar über den eigenen Führungsstil und die Arbeitsbedingungen.


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WuMing | Community

@ dbrandt

Ob allein die Bemerkung "Ziecke" eine verhaltensbedingte Kündigung rechtfertig, würde ich gerichtlich klären lassen. Alle Frauen aus den neuen Ländern deshalb des Rassismus zu bezichtigen ist auch eine Form des Rassismus.


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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Harald Hauswald gilt als der Straßenfotograf Ostberlins. Von der Stasi beobachtet, fand er das Leben in der DDR dennoch unbeschwerter

... In den 1990ern folgt er Fußballfans, fotografiert in Rostock-Lichtenhagen Männer, die vor Plattenbauten Hitler grüßen, Nazi-Aufmärsche. Wenn man eine Fieberkurve der Straßenfotografie messen würde, fiele sie vermutlich ab, um bald mit digitaler und Mobiltelefon-Fotografie zu einem breiten, alltäglichen Mahlstrom zu werden.

Hauswald erzählt, dass es in den Neunzigern auch finanziell schwierig wurde, aber vor einer sentimentalen Rückschau hindert ihn die Erinnerung an Enge und Überwachung. Er verdingt sich als Pressefotograf. Gründet mit anderen die heute renommierte Agentur und Fotoschule Ostkreuz. Arbeitet bei Leander Haußmann als Setfotograf. Bekommt Aufträge von der Bundeszentrale für Politische Bildung. Heute sind Opposition, Rebellion, Boheme weniger existenziell, sondern Fragen von Lebensstil. Harald Hauswald, irgendetwas Verwaschenes am Leib, Zigaretten, beobachtet all das mit der Kamera. Reist, geht Wege durch die Stadt. Ohne Druck.


Aus: "Rumlaufen, Motivsuche" (Lennart Laberenz | Ausgabe 36/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/rumlaufen-motivsuche

https://www.co-berlin.org/exhibitions/harald-hauswald

http://www.harald-hauswald.de/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Köln, Düsseldorf (dpo) - Deutschland, einig Vaterland? So einfach ist das offenbar nicht. Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung haben viele Menschen immer noch erschreckende Vorurteile: Einer neuen Umfrage zufolge hat ein Großteil aller Kölner eine schlechte Meinung über Düsseldorfer.
"Es ist sehr ernüchternd, zu sehen, dass sich fast drei Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer die alten Klischees so hartnäckig gehalten haben", erklärt Heinz Geiwasser vom Meinungsforschungsinstitut Opinion Control. "Auch heute noch sind rund 57 Prozent aller Kölner davon überzeugt, dass Menschen aus Düsseldorf arrogante schnöselhafte Angeber sind, die ekelhaftes dunkles Bier trinken und auf der hässlichen Seite des Flusses leben. Man kann schon fast sagen: Der Rhein in den Köpfen treibt immer noch einen Keil zwischen beide Städte, die doch nur 34 Kilometer voneinander entfernt liegen."
Kann also von einem vereinten Deutschland gar keine Rede sein? Demoskop Geiwasser sieht das differenziert: Zwar seien auch in Düsseldorf noch viele der alten Vorurteile gegen Köln als schäbige Stadt mit Minderwertigkeitskomplex und wässrigem Möchtegern-Bier in winzigen Reagenzgläsern präsent. "Doch immerhin muss man feststellen, dass es im Kleinen durchaus Fortschritte gibt", erklärt er.
So sei es mittlerweile durchaus möglich, mit einem Düsseldorfer Kennzeichen in Köln nach dem Weg zu fragen, ohne ständig zur nächsten Mülldeponie gelotst zu werden. Auch Ehen zwischen Kölnern und Düsseldorfern gebe es inzwischen vereinzelt.
"Man würde sich natürlich wünschen, dass der Geist von 1989 hier noch mehr Einzug hält", so Geiwasser. "Jetzt aber genug davon. Als Münchner habe ich es langsam satt, mir dauernd über diese Saupreißn das Maul zu zerreißen. Des is doch alles des gleiche großkopferte Gschwerl!"



dan; Erstveröffentlichung: 3.10.2018 (Jahreszahlen angepasst)


Aus: "30 Jahre Deutsche Einheit: Viele Kölner haben immer noch Vorurteile gegen Düsseldorfer" (Samstag, 3. Oktober 2020)
Quelle: https://www.der-postillon.com/2018/10/koeln-duesseldorf.html

...

1. Stimmt das, was im Postillon steht?
Nein, alles, was im Postillon steht, ist Satire und somit dreist zusammengelogen. Alle auftauchenden Charaktere sind fiktional, Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig. Das sollte eigentlich offensichtlich sein, ...
https://www.der-postillon.com/p/faq.html


Textaris(txt*bot)

Quote[...] bei der DDR-Geschichte fällt es auf, wie sehr die Sicht auf dieses Land nach wie vor durch eine West-Brille betrachtet wird und lauter Forschungsergebnisse vereinzelt nebeneinanderstehen und nichts zusammenpasst. Gunnar Deckers Buch ist tatsächlich das erste Buch, das eine realistische DDR-Erzählung sichtbar macht.

Der Philosoph, Kritiker und Sachbuchautor Gunnar Decker hat schon in der jüngeren Vergangenheit mit Büchern zum Osten und seiner Vergangenheit auf sich aufmerksam gemacht – im Jahr 2000 mit dem Reportagenband ,,Gefühlsausbrüche oder Ewig pubertiert der Ostdeutsche", den er gemeinsam mit seiner Frau Kerstin Decker schrieb, und 2015 mit ,,1965 – der kurze Sommer der DDR".

1965 ist den meisten Ostdeutschen kein Begriff, eigentlich wie die komplette DDR-Geschichte. Denn was sie im Geschichtsunterricht lernten, hatte mit dem, was wirklich geschah, wenig zu tun. Es war die Propaganda-Variante dessen, was die SED gern als Geschichte auswendig gelernt haben wollte. Ein langweiliges, tristes Konglomerat, in dem alles, was ostdeutsche Geschichte tatsächlich aufregend und spannend gemacht hätte, wegretuschiert worden war. Ganz in stalinistischer Manier: Wer in Ungnade gefallen war, verschwand erst nach Bautzen und dann aus den Fotos und Büchern.

Und dass die DDR-Funktionäre genau so handelten, wurde spätestens 1988 auch dem Letzten klar, als der Vertrieb des sowjetischen Monatsmagazins ,,Sputnik" in der DDR verboten wurde, weil darin ungeschönt über Stalin und seine Verbrechen berichtet wurde.

Diesen Vorgang erwähnt Decker freilich nicht. Er hat seinem Buch sogar eine kleine Liste angehängt mit Vorgängen, die er nicht noch extra erwähnt hat. Denn sonst wäre sein Buch am Ende ein fetter 1.000-Seiter geworden. Schon all das, was er in diesem Buch über die späten Jahre der DDR erzählt, gehört eben nicht zur heute wahrgenommenen DDR-Geschichte. Als wären wir irgendwo im Jahr 1990 steckengeblieben und nie über Stichworte wie Mauer, Stasi, Mauertote, Bautzen, Trabi, Sandmännchen und Diktatur hinausgekommen.

Die Sicht auf DDR-Geschichte wird von westdeutschen Kommentatoren dominiert und schwankt zwischen finsterer Unterdrückung und Ostalgie-Kitsch. Man hält an seinen alten Feindbildern und der alten Verachtung fest, ganz so, als könnte man allein mit dieser Verachtung dafür sorgen, dass dieses lästige Land einfach verschwindet – so, wie es auch einige Parteikämpfer 1990 so gern formulierten: auf den Müllhaufen der Geschichte.

Nur: Die Geschichte kennt keine Müllhaufen. Sie verwertet alles wieder und wieder. Sie prägt Menschen. Und sie lässt keine weißen Flecken zu. Und sie erzeugt ein Gefühl des Unbehagens, wenn das einfach immer wieder ignoriert wird und die betroffenen Menschen nie gefragt werden. Es wird immer nur über sie gesprochen. Und was gesprochen wird, ist falsch, löcherig, schief. Die alte falsche Geschichtsschreibung wurde durch eine neue falsche Geschichtsschreibung ersetzt.

Das wurde schon mit Gunnar Deckers ,,1965"-Buch deutlich. Das Jahr war eine der vielen Zäsuren in der Geschichte der 1949 gegründeten DDR. Einer der vielen Scheidewege, an denen eine der vielen möglichen anderen Entwicklungen der DDR mit Gewalt abgeschnitten wurde. Andere solcher Scheidepunkte waren der Volksaufstand 1953, die Entmachtung der Schirdewan-Gruppe 1958, der Sturz Ulbrichts 1971 und die folgende desaströse Wirtschaftspolitik, Helsinki 1975 und natürlich 1976 – die Ausbürgerung von Wolf Biermann.

Womit wir am Ausgangspunkt dieses Buches sind. Denn mit Biermanns Ausbürgerung begann nicht nur die Spätphase der DDR. Mit der Ausbürgerung verlor die SED-Führung ihren Rückhalt in der Intelligenz des Landes. Die hat Erich Honecker schon immer verachtet. Das war schon 1965 sichtbar, als er das 11. Plenum des ZK der SED zum Kahlschlag-Plenum machte und die besten Autoren und Regisseure des Landes öffentlich anprangerte und ihre Werke verbieten ließ. Womit auch die gerade begonnene künstlerische Öffnung des Landes und die beginnende Diskussion über die eigene Gesellschaft radikal abgewürgt wurden.

Umso verblüffender, dass Honeckers Machtübernahme 1971 dann sogar als eine Art frischer Wind empfunden wurde. Gerade unter Künstlern. Eigentlich war es gar nicht erst die Biermann-Ausbürgerung, die zeigte, dass die Honecker-Truppe überhaupt nicht abweichen wollte vom alten stalinistischen Kurs. Schon 1975 wurde zum Beispiel die Klaus-Renft-Combo verboten. Renft-Texter Gerulf Pannach unterzeichnete dann 1976 wie etliche andere beliebte und renommierte Künstler der DDR den Protest gegen die Biermann-Ausbürgerung.

Den Protest wollte die SED-Spitze so bereinigen, wie sie schon frühere Protestaktionen ostdeutscher Künstler bereinigt hatte – mit Druck, Nötigung, Kesseltreiben, das einige der Unterzeichner seelisch tatsächlich zermürbte und krank machte. Viele kündigten jetzt aber endgültig ihre Beziehung zu diesem Staat – die DDR erlebte den größten Verlust ihres künstlerischen Potenzials, weil die Gemaßregelten ihre Koffer packten und lieber in den Westen gingen – wohin viele eigentlich nie gewollt hatten. Das arbeitet auch Gunnar Decker sehr quellenreich und genau heraus.

Viele DDR-Künstler sahen im Experiment DDR tatsächlich die einmalige Chance, ein anderes, menschlicheres Deutschland zu schaffen. Und das, obwohl in den Zeitungen und im Fernsehen des Landes nicht diskutiert werden durfte. Wo aber dann? Das ist das eigentlich Verblüffende an Deckers Buch, der in den 1980er Jahren Philosophie studierte an der Humboldt-Universität in Berlin: Es wurde tatsächlich diskutiert.

Jenseits der offiziellen Zeitungen hatte sich eine informelle Welt herausgebildet, in der alles, was im Land passierte, jeder winzige Kurswechsel, jeder Lichtblick, jeder Husarenstreich tatsächlich diskutiert wurde. Und das Westfernsehen spielte dabei nur eine geringe Rolle. Auch das verblüfft. Aber allein die Bücherliste, die Gunnar Decker aufmacht, zeigt, dass dieses informelle Diskutieren das ganze Land erfasst hatte. Was die SED-Zensoren versuchten zu unterdrücken, machte trotzdem die Runde.

Und was in den Zeitungen nicht diskutiert werden sollte, verlagerte sich in Buchtitel, die ein enormes Echo im Land auslösten und allein schon durch die verkaufte Auflage zeigten, dass sie einen Nerv getroffen hatte. Selbst wenn sie jahrelang in der Genehmigungsschleife der ,,nicht existenten" Zensur steckenblieben, fanden sie bei Erscheinen sofort ihre Leser. Und Decker hat sie – wie es aussieht – alle noch einmal gelesen.

Und so kann er schon fast nur anhand von Buchtiteln die komplette Geistesgeschichte der späten DDR nachzeichnen. Angefangen von Strittmatters ,,Wundertäter III" über Maxie Wanders ,,Guten Morgen, du Schöne", Christa Wolfs ,,Kassandra" und ,,Störfall" bis zu Christoph Heins ,,Tangospieler" und ,,Die Ritter der Tafelrunde" oder Volker Brauns ,,Hinze-Kunze-Roman" oder ,,Die Übergangsgesellschaft".

Er vergisst auch die heiß diskutierten Theaterinszenierungen nicht, nicht den bunten Vogel Dean Reed, nicht den Weggang Manfred Krugs und auch nicht Christoph Heins Rede gegen die Zensur auf dem Schriftstellerkongress 1987. Und natürlich auch nicht die Wirkung von Gorbatschows Glasnost und Perestroika, die bei den Intellektuellen in der DDR auch deshalb auf fruchtbaren Boden fiel, weil sich engagierte Herausgeber auch bemüht hatten, die wichtigsten Autoren der sowjetischen Tauwetter- und Perestroika-Literatur in der DDR zu veröffentlichen.

Auch das lauter Bücher, die von Hand zu Hand gingen und all die Diskussionen auslösten, die offiziell unerwünscht waren – über Hochrüstung (Aitmatows ,,Der Tag zieht den Jahrhundertweg"), Umweltzerstörung (Rasputins ,,Abschied von Matjora"), das Teuflische am Stalinismus (Bulgakows ,,Der Meister und Margarita"), unterdrückte Forschung (Granins ,,Sie nannten ihn Ur"). Im Spiegel des ,,Großen Bruders" wurden die Fehlentwicklungen im Land sichtbar, derselbe gnadenlose Geist und der gleiche Verlust jeglicher Utopie.

Den genau schafften die Hardliner in der SED-Führung ja mit all ihren immer wiederkehrenden Tribunalen, Kahlschlägen, Verboten und Ausbürgerungen: Sie nahmen dem Land jede Alternative, all das, was Menschen eigentlich noch emotional mit einem Staat verbindet. Aber ein Staat, der Veränderung nicht mehr zu denken wagt, schafft ganz folgerichtig eine Stimmung der Enttäuschung, der Hoffnungslosigkeit, der Ausweglosigkeit. Und bei jenen Autor/-innen, die nach 1990 überhaupt wagten, darüber zu schreiben, wird diese Zermürbung sichtbar. Immer wieder taucht Christa Wolf derart auf im Text, auch weil sie schon vor 1989 darüber schrieb.

Die 1980er Jahre sind im Grunde ein Hallraum, in dem die namhaften Künstler dieser Enttäuschung in Film, Bild und Buch Ausdruck verliehen. Und wer Deckers Analysen dazu liest, spürt wieder die Wucht all dieser Kunstwerke, die die obersten Zensoren irgendwann einfach nicht mehr verbieten konnten. Oder auch wollten.

Obwohl Deckers Analyse wohl stimmt: Mitte der 1980er Jahre war ihre Macht verschlissen. Sie hatten ihren Rückhalt verspielt. Sie waren lächerlich geworden und hatten sich auch lächerlich gemacht, denn gerade die besten Autor/-innen pfiffen jetzt auf die Genehmigungspraxis, veröffentlichen ihre Bücher oft gleich im Westen und schufen damit genau den Widerspruch, aus dem die Zensoren in Ostberlin nicht mehr herauskamen.

Und beim erneuten Lesen der Bücher ist Decker noch heute verblüfft, wie genau sie den Nerv der Zeit trafen und eigentlich den Abgesang an der DDR vorwegnahmen, Jahre, bevor das berühmte Volk auf die Straßen ging. Wobei auch das nicht stimmt. Das Volk kam erst, als die Dinge längst ins Rutschen gekommen waren. Auch in der Friedlichen Revolution verweigerte die angebetete Arbeiterklasse die ,,führende Rolle". Und als sie dann in Scharen kam, ging es – wie die 20 Jahre zuvor – nur noch um materielle Dinge.

Gunnar Decker zeigt auch sehr anschaulich, wie die Entwicklungen in der Sowjetunion die Entwicklung in der DDR beeinflussten. Und wie die Selbstermächtigung schon viel früher begann, nicht erst 1989. Die Friedens- und Umweltbewegung in der DDR streift Decker nur am Rande. Beide gehören ja längst schon zum besser erforschten Teil der DDR-Geschichte, besser erforscht als die Geschichte der Künstler und Autoren, die natürlich 1976 vor einer fast unlösbaren Frage standen: Resignieren? Weggehen? Oder Weitermachen und – so wie Christa Wolf – nach der eigenen Wahrhaftigkeit suchen?

Ergebnis offen. Auch Christa Wolf wusste nicht, wohin sie diese Selbstbefragung führen würde. So wenig, wie der Maler Werner Tübke wusste, wohin ihn die zwölfjährige Arbeit am Bauernkriegs-Panorama bei Frankenhausen führen würde. Oder Heiner Müller, der selbst verblüfft war, wohin ihn die Teile III bis V der ,,Wolokolamsker Chaussee" führten.

Wer diese letzten zehn bis 14 Jahre der DDR immer nur mit dem (Propaganda-)Material der DDR-Fernseharchive bestückt, der malt ein falsches Bild von diesem Land. Genauso falsch wie das Bild vom Hitlerreich, das durch die Propaganda-Filme der Nazi-Zeit bebildert wird und heute ganz unübersehbar einigen jungen Leuten ein verlogenes heroisches Bild vom ,,Vogelschiss" suggeriert, während sie die zerstörerische, menschenfeindliche Wahrheit dieser Zeit nicht wahrnehmen.

Und bei Gunnar Decker kommt hinzu, dass er sich auch emsig mit zugänglichen Biografien, Briefwechseln, Erinnerungen beschäftigt hat, in denen die persönlichen Beziehungsgeflechte der von ihm beleuchteten Autorinnen, Maler, Regisseure sichtbar werden. Und damit auch die ganz persönlichen Reaktionen auf alles, was in der DDR geschah. Manche rieben sich auf bis zur körperlichen Zerstörung – so wie Franz Fühmann oder Konrad Wolf, der mit ,,Solo Sunny" einen der eindrucksvollsten Filme über die DDR-Endzeit drehte.

Sein eigentliches Vermächtnis aber schaffte er nicht mehr, in einen Film zu verwandeln. Aus diesem Material machte dann sein Bruder Markus Wolf das Buch ,,Die Troika", das noch kurz vor Ende der DDR für Furore sorgte. Denn Markus Wolf war ja nicht irgendwer: Bis 1986 war er Chef des DDR-Auslandsgeheimdienstes gewesen. Sein Rücktritt und sein Bruch mit der Honecker-Linie waren eigentlich ein kleines Erdbeben. Gab es also in der Nomenklatura doch noch Leute, die den Mut hatten, eine Perestroika in der DDR zu wagen?

Sie kamen, wie wir wissen, nie zum Zug. Und auch Gorbatschow erntete ja in der Sowjetunion nicht die Früchte, die er gern ernten wollte. Auch die Analysen zum Zustand der Sowjetunion in Deckers Buch sind lesenswert. Denn natürlich stand auch all das nicht in DDR-Geschichtsbüchern. Und in neueren steht es auch nicht. Und Deckers Buch macht sichtbar, warum das so ist, warum der übliche Rückgriff auf offizielle Zeitungen und Fernsehbeiträge ein falsches Bild ergeben muss. Es ist wie mit der kompletten Geschichte der Dissidenz in der DDR: Da sie nie offiziell war, ist sie nur aus persönlichen Quellen, Akten und Archiven rekonstruierbar.

Decker erwähnt ja auch Rudolf Bahro, dem er im Westen eine größere Rolle einräumt als im Osten, was auch daran lag, dass seine ,,Alternative" nur im Westen erscheinen durfte, obwohl sie kenntnisreich wie kein anderes Buch den Zustand der Wirtschaft im Ostblock analysierte. Aber das sollten ja die von jubelnden Parteitagen und immer neuen Planübererfüllungen berauschten Bürger der DDR nicht erfahren, denn dann hätten sie 1977 schon gewusst, dass die Art des Wirtschaftens, die da praktiziert wurde, nur in einem ökonomischen Debakel enden konnte. Und musste. Es war nur eine Frage der Zeit.

Vielleicht wurde Bahro tatsächlich nur wenig rezipiert in der DDR. Aber was in seiner ,,Alternative" stand, war zumindest bekannt. Und die DDR-Bewohner hatten sehr wohl mitbekommen, was die Krisen der 1970er Jahre (Kaffeekrise, Erdölkrise) für ökonomische Folgen hatten. Nur findet man die Diskussionen darüber in keinem Zentralorgan, in keiner Parteitagsrede, in keinem ZK-Beschluss. 99 Prozent dessen, was in der DDR geschah, was das Land veränderte und immer weiter in die Sackgasse führte, wurde nirgendwo offiziell dokumentiert. Manchmal blieb es einfach Verschlusssache, manchmal wurde dessen Erwähnung schon zum Beginn schlimmster Sanktionen gehen die Betroffenen.

So gesehen waren Bücher, Filme und Theaterstücke nicht einmal nur ein Ventil für das Nichtsagbare, sondern die Autor/-innen in ihrer Not machten es auf künstlerische Weise sagbar, erfahrbar und lesbar. Oft in verkleideter Form. Aber für viele Enttäuschte, Frustrierte und nach Leben Hungernde waren diese Bücher, Filme, Theaterinszenierungen, Gedichte und Lieder (Bettina Wegners ,,Sind so kleine Hände" zum Beispiel) wie eine Überlebensration. Das nötige Stück Zuversicht, den Zustand des Landes als veränderbar zu denken und sich nicht völlig entmutigen zu lassen, es auch zu verändern. All das, was 1989 geschah, ist ohne diesen geistigen Hintergrund und Vorlauf nicht denkbar.

Gunnar Decker einmal selbst zitiert: ,,Die Bedeutung, die diese Veröffentlichungen damals für uns hatten, lässt sich kaum überschätzen, sie waren buchstäblich geistige Nahrung, etwas, das man heute, im Zustande geborener Sattheit nicht mehr versteht."

Da bezieht er sich auch auf die oft mit jahrelanger Hartnäckigkeit ermöglichten Veröffentlichungen etwa von Bloch und Hilbig im Reclam-Verlag.

Und 1990 war das auf einmal – Makulatur. In dem Jahr mussten ja bekanntlich die DDR-Verlage einen großen Teil ihrer Jahresproduktion schreddern lassen, weil die Buchhandlungen endlich mit dem ersehnten Bücherangebot aus dem Westen geflutet wurden. Dabei gerieten auch Dutzende seit Jahren erwartete Titel in den Schredder, die in der ,,alten" DDR für Furore und Diskussionen gesorgt hätten – im neuen, geeinten Deutschland aber keine Rolle mehr spielten. Auch weil nicht nur Westverlage den ostdeutschen Markt fluteten, sondern weil auch die großen westdeutschen Medienkonzerne die Deutungsmacht über den Osten übernahmen, die sie bis heute nicht aufgegeben haben.

Deswegen riss die eigentliche ostdeutsche Diskussion, die bis 1989 nicht hatte öffentlich sein dürfen, abrupt ab. Mit Folgen, die auch ins Psychische gehen. Decker zitiert dazu Helga Königsdorf mit den Worten: ,,Ich empfand den einseitigen Politiktransfer von West nach Ost als demütigend. Demütigungen sind immer gefährlich, weil die meisten Menschen dann jemanden brauchen, an den sie diese Demütigungen weitergeben können." Geschrieben vor 30 Jahren. Und erstaunlich hellsichtig.

Und Gunnar Decker benennt auch etwas, was die Bewerter zurückliegender Geschichte fast immer vergessen, weil sie schlicht übersehen, dass sie die Folgen von Geschichte schon kennen. Die aber, die im entscheidenden Moment handelten (oder auch nicht handelten), kannten die Folgen nicht. Konnten sie nicht kennen. Decker: ,,Solche Weichenstellungen in der Geschichte muss man immer erinnern, will man mehr als bloßes Treibgut im Hier und Jetzt sein. Wie kamen bestimmte Entscheidungen zustande, welche Umstände und Hintergründe spielten mit hinein in das, was sich dem Einzelnen dann als schicksalhaftes Geschehen darbot?"

Erst wenn man diesen Blick öffnet, sieht man auch die ganze Geschichte der DDR mit ihren Scheidepunkten, Sackgassen und Akteuren, die eben nicht immer nur Ulbricht und Honecker hießen. Und man sieht, dass das Gebilde, dessen Führungszirkel so massiv versagt hatte, mehr war als nur ein Provisorium, das 1990 einfach per Federstrich rückgebaut werden konnte.

Als hätte all das nie eine eigene Identität gehabt, eigene Lebenserfahrungen und Anteil an dem, was ab 1976 in Bewegung kam. Im Osten wohlgemerkt. Nicht im Westen. Der hat auch nach 1990 so getan, als müsse er sich nicht verändern und könne seine Sicht auf alles, was geschah, einfach drüberstülpen. Und das ganze verachtete Ländchen einfach ausradieren aus der (gemeinsamen) deutschen Geschichte.

Es braucht wieder den unbefangeneren Blick des Historikers, der nicht mit Scheuklappen auf diesen als ätschibätschi betrachteten Teil der deutschen Geschichte schaut, sondern auch sehen will, was da liegt – bis hin in diese letzten 14 Jahre, in denen es zuallererst die Intellektuellen waren, die wieder um den aufrechten Gang und das Stückchen menschliche Souveränität zu ringen begannen, ohne das weder ein Staat zu machen ist noch eine Revolution. Die Friedliche Revolution ist ohne diesen Vorlauf nicht denkbar.


Gunnar Decker Zwischen den Zeiten, Aufbau Verlag, Berlin 2020


Aus: "Zwischen den Zeiten: Gunnar Deckers großartige Analyse der späten Jahre der DDR" Ralf Julke (3. Oktober 2020)
Quelle: https://www.l-iz.de/bildung/buecher/2020/10/Zwischen-den-Zeiten-Gunnar-Deckers-grossartige-Analyse-der-spaeten-Jahre-der-DDR-352121

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Quote[...]  Der Streit um Wolf fing mit der Veröffentlichung der Erzählung Was Bleibt, die im Jahre 1979 geschrieben aber erst im November 1989 veröffentlicht wurde, an. Wir wissen nicht genau, was im Jahre 1979 geschrieben wurde und was in November 1989 überarbeitet wurde. Am Ende der Erzählung steht: "Juni-Juli 1979/November 1989." Was Bleibt beschreibt die tägliche Stasi Überwachung einer Schriftstellerin. Die Ich-Erzählerin, die, wie wir wissen, Wolf ist, sucht nach einer neuen Sprache, einem Weg aus ihrer kontrollierten Gesellschaft. Die Erzählung ist eine Selbsterforschung der Schrifstellerin und Erzählerin.

    "Was sie daran hinderte, in ihrer literarischen und politischen Opposition, ihrer 'leisen Dissidenz' gegenüber dem SED-Regime noch weiter zu gehen, weniger Kompromisse zu schließen und die Grenzen des für diesen Machtapparat noch Zumutbaren zu überschreiten, hat sie selbst genau gesehen, beschrieben, analysiert und kritisiert."

...  Warum veröffentlichte Wolf Was Bleibt im Jahre 1989? Wußte sie, daß ein Streit folgen würde? Vielleicht müssen wir fragen, was der Titel bedeutet. Was bleibt für die DDR nach dem Fall des Kommunismus? Vielleicht ist ihre Erzählung eine Antwort auf die Debatte um die Vereinigung. Wolfs Ziel der Veröffentlichung Was Bleibt war es, einen Aufruf zur Selbstbefragung zu geben. In Kindheitsmuster schreibt Wolf, "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen." Deutschland soll die DDR nicht total vergessen, weil das Vergangene und die Mauer noch in unserem Kopf ist. Es gab viel von der DDR zu lernen.

Die Bedeutung der ganzen Debatte war viel größer, als nur der Streit um Christa Wolf und Was Bleibt. Der 'Christa Wolf' Streit folgte kurz nach den Debatten über die nationale Vereinigung, und die Themen des Streites beinflußten diese literarische und intellektuelle Debatte. Was bedeutet die Vereinigung? Verlor die DDR oder gewann die BRD? Wurden die ganzen Ideologien des Ostens verloren? Gab es nur Fehler im Osten und nur positive Aspekte des Westens zu benutzen, um ein vereintes Deutschland zu bauen? Haben die westlichen Schrifsteller eine höhere Moralität? Als ein Gegner der Vereinigung und wegen ihrer Loyalität zum Sozialismus war Christa Wolf ein Symbol dieses Streits.

...


Aus: "Die Debatte um Christa Wolf und "Was Bleibt"" (Datum ?)
Quelle: http://facultysites.vassar.edu/vonderem/g301/project/Wolf/article.html

http://facultysites.vassar.edu/vonderem/g301/project/Wolf/

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Quote[...] Zeitenwende : ,,Hauptsache, die Gesinnung stimmt" - Wie die Schriftstellerin Christa Wolf nach dem Ende der DDR aus der gesamtdeutschen Literatur ausgeschlossen werden sollte.

... Im Juni 1990, da existierte die DDR noch, wenn auch nur noch auf Abruf, erscheint eine 76 Seiten schmale Erzählung, eher ein Bericht, von Christa Wolf mit dem Titel ,,Was bleibt". Ohne Fragezeichen ist dies eine simple Feststellung. Das westdeutsche Feuilleton von Ulrich Greiner bis Frank Schirrmacher stürzt sich mit Häme, in der böse Vernichtungslust funkelt, auf ,,Was bleibt". Für sie soll selbstverständlich nichts von der verhassten DDR bleiben, am wenigsten ihre wichtigsten intellektuellen Repräsentanten von Stephan Hermlin und Stefan Heym bis Heiner Müller und Christa Wolf, die man bis eben als kritische Reformstimmen eines demokratischen Sozialismus aus der DDR zumindest achtungsvoll behandelt hatte. Man hielt es jetzt mit den lupenreinen Dissidenten, oft ohne Werk, aber wenn sie in der DDR immer ihren Feind erblickt hatten, vielleicht sogar im Gefängnis gewesen waren (und sei es nur für einige Tage) und immer so schnell wie möglich rauswollten aus der DDR, in ,,die Freiheit", wie es so hinreißend naiv hieß, dann bekamen sie nun die große Bühne. Es war wieder wie bei den dogmatischen SED-Funktionären, die meinten, ob jemand was kann oder nicht, ist zweitrangig, Hauptsache, die Gesinnung stimmt. Die Hoffnungsträger auf eine andere DDR wurden ab Anfang 1990 schlicht kaltgestellt, sollten ihrer moralischen Integrität beraubt werden.

... 1989 wurde Christa Wolf sogar als Nobelpreiskandidatin ins Gespräch gebracht – 1990 hatten sich die Koordinaten der Welt schlagartig verändert. Das Schicksal der DDR war besiegelt, der Osten Anschlussgebiet – und kritische Intellektuelle galten nur noch als ,,Staatsdichter", die zudem fast alle irgendwie – jedenfalls zeitweise – einmal Kontakte mit dem Ministerium für Staatssicherheit hatten.

... Natürlich ist Christa Wolfs ,,Was bleibt" gar keine Wendeliteratur, sondern wurde bereits 1979 geschrieben und erschien – da es in der DDR keinesfalls zu veröffentlichen war – nach geringfügiger stilistischer Überarbeitung 1990 im Aufbau-Verlag. Ein Dokument der existenziellen Verunsicherung. Ein Protokoll der aufsteigenden Angst, im Spannungsverhältnis zur Parteispitze könnten die eigenen schöpferischen Fähigkeiten verloren gehen. Genauer: zerstört werden.

... Im Jahr 1979 scheint es für Christa Wolf noch zu früh, alle Brücken hinter sich abzubrechen, die Worte auszusprechen, die einen nicht mehr rückgängig zu machenden Bruch vollziehen. Nicht mit dem Außen, das fremd, gar feindlich geworden ist, sondern mit sich selbst. Die Unruhe, die sie beherrscht, zeigt es: Wenn man drinsteckt im Chaos der eigenen nicht getroffenen Entscheidungen, dann weiß man bald nicht mehr, wann es noch zu früh und wann schon zu spät dafür ist. Das ist auch die Frage, die sich durchs Buch zieht: nicht, wann er wirklich da ist, der richtige Zeitpunkt, an dem man über all das Ungeklärte, das man in sich trägt, reden kann, sondern, ,,würde ich spüren, wann es an der Zeit ist?".

In dem Buch wird der Alltag einer Schriftstellerin geschildert, ihr eigener. Das vertraute Umgehen mit ihrem Mann, der mit Sorge bemerkt, sie könnte sich selbst verloren gehen. Eine der seltenen Lesungen, die sie zu dieser Zeit in einem Kulturhaus hat – mit viel bestelltem Publikum und jenen Türstehern am Eingang, in denen sie ihre ständigen Begleiter von vor der Haustür zu erkennen glaubt. Beginnt so die Paranoia?

Christa Wolf hält das für ein Geschehen an der Grenze zwischen Realität und Traum. Es vermengt sich zur dunklen Alptraumszenerie. ,,Ich hatte weder Angst noch überhaupt ein Gefühl, auch mit mir selbst stand ich nicht mehr in Kontakt, was waren mir Mann, Kinder, Brüder und Schwestern, Größen gleicher Ordnung in einem System, das sich selbst genug war. Das blanke Grauen, ich hatte nicht gewusst, dass es sich durch Fühllosigkeit zeigt."

Mit ,,Was bleibt" hat Christa Wolf einen kafkaesken Text über die Facetten der Abtötung geschrieben. Sie macht dabei im depressiven Zustand unerhörte Entdeckungen an sich selbst – aber wird sie diese schreibend in einen gültigen Ausdruck verwandeln können? Um nicht mehr, aber auch nicht weniger als diese für sie existenzielle Frage geht es hier.

...


Aus: "Zeitenwende: ,,Hauptsache, die Gesinnung stimmt"" Gunnar Decker (27.9.2020)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/zwende/hauptsache-die-gesinnung-stimmt-li.103899

Gunnar Decker (geboren 1965 in Kühlungsborn)
https://de.wikipedia.org/wiki/Gunnar_Decker

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Quote[...] Die kleine Tochter kam im Herbst 1984 aus der Schule und wollte den Pionier-Gruß zeigen, den sie am Vormittag gelernt hatte. Sie lehnte die Fingerspitzen der rechten Hand an den Kopf und sprach mit heiligem Ernst: ,,Für Frieden und Sismaliskus – seid bereit!"

Das Wort für die größte politische Errungenschaft war für sie eine ungenaue phonetische Erinnerung. Was auch sonst, Siebenjährige können nicht wissen, was Sozialismus bedeutet und wie sie sich dafür bereithalten sollten. Sogar: ,,Immer bereit!" Das war die rituelle Antwort auf den Gruß – so angelernt wie andere Symbole: Ein Freund wartete mit seinem Sohn in Schöneweide auf die S-Bahn, als eine Reparaturlok vorbeifuhr. An ihrem Ende wehte eine rote Signalflagge als Warnung. Der Junge winkte und rief: ,,Eine Arbeiterfahne! Eine Arbeiterfahne!" Er freute sich über sein Kindergartenwissen.

Die offizielle Sprache der DDR setzte früh an und ließ später nicht mehr locker. Sie verschrieb Wörter zur Benutzung wie Rezepte. Sie erließ Regeln, hinter denen sich alte Wörter verstecken mussten. Sie ignorierte Widersprüche.

Seit dem 7. Oktober 1949 hieß mein Land ,,Deutsche Demokratische Republik". Den vorläufigen Charakter des Staates beschrieb ein Begriff des Marxismus-Leninismus: ,,Diktatur der Arbeiterklasse". Beides zusammen geht eigentlich nicht. Die Diktatur sollte mit dem Erreichen der klassenlosen Gesellschaft wegfallen, aber der Begriff wurde benutzt und klang bedrohlich: 1975 nannte Erich Mielke sein Ministerium für Staatsicherheit ein ,,spezielles Organ der Diktatur des Proletariats".

Warum war Sprache unserer Politiker so langweilig: ,,Unsere marxistisch-leninistische Ideologie ist eine Ideologie des kämpferischen Humanismus, ihr Optimismus, ihre Zukunftsgewissheit ist wissenschaftlich begründet in der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung." So trat Kurt Hager, Politbüro-Mitglied, am 26. September 1985 im Vorstand des Schriftstellerverbandes auf – vor Leuten, die beruflich mit Sprache umgehen.

Die Führung des Landes lebte in einer vorgegaukelten DDR und war trotzdem misstrauisch. Sie verbot Filme, Ausstellungen, Dramen und Kabarettprogramme, sie untersagte Druckgenehmigungen, nannte ihre kritischen Bürger ,,feindlich-negative Kräfte". Juni 1952 wurden als politisch unzuverlässig eingeschätzte Personen aus dem Sperrgebiet entlang der innerdeutschen Grenze entfernt: ,,Aktion Ungeziefer".

Den Umgang mit Geschichte kennzeichnete Willkür. Bis zu ihrem Ende verschwieg die DDR-Führung die Monstrosität der stalinistischen Verbrechen. In der Schule und im Studium habe ich außer dem kurz abgehandelten ,,Personenkult" nichts darüber erfahren. Stalins ,,Säuberungen" trafen bis zu 20 Millionen Menschen. Ein Opfer war der Journalist und Spanienkämpfer Michail Kolzow, 1940 in Moskau vom NKWD gefoltert und erschossen.

In einem Klub in Halle wurde 1987 eines seiner Bücher vorgestellt. Besucher bedauerten, dass Kolzow den Fortschritt in der Welt nicht mehr erleben konnte. Ja, das hätte man ihm auch gerne gewünscht, schrieb Dr. Harald Wessel im ,,Neuen Deutschland" vom 31.10./1.11.1987, aber: ,,Es sollte nicht sein." Die Geschichte unseres Jahrhunderts gebe Zuversicht: ,,Man muss sie nur vernünftig befragen: wahrhaftig und klassenbewusst, sachkundig und mit Sinn für das Wesentliche."

Einige Wörter standen im Verbund. ,,Unverbrüchlich" war als ,,unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion" üblich. Bei denen ganz oben kam es zum ,,Bruderkuss", erst auf die Wangen, später auf den Mund. Die Begrüßung internationaler Delegationen begannen mit der sowjetischen, auch beim Verband der Film- und Fernsehschaffenden. Aber 1988 – seit Gorbatschow litt die Freundschaft – wurde die ,,Union der sozialistischen Sowjetrepubliken" dem Alphabet folgend an vorletzter Stelle begrüßt, vor Vietnam.

Anfang April veröffentlichten alle SED-Zeitungen die Losungen für den 1. Mai. 1989 waren es 48, wie diese: ,,Mein Arbeitsplatz – Mein Kampfplatz für den Frieden!" Oder, etwas länger: ,,Durch die Verwirklichung der ökonomischen Strategie zu hoher Arbeitsproduktivität, Effektivität und Qualität – Dynamisches Wirtschaftswachstum durch breite Anwendung und effektive Nutzung der Schlüsseltechnologien!"

Haben die Auftraggeber wirklich geglaubt, dass jemand das lesen und sich zu Herzen nehmen würde? Wem ist ,,Antifaschistischer Schutzwall" als Begriff für die Mauer eingefallen? Die DDR hätte am 13. August 1961 die Grenze gegen Faschisten aus dem Westen gebaut? Aber die Mauerstürmer, die ,,Grenzverletzer", kamen doch aus dem Osten.

Auf der Trabrennbahn Karlshorst starteten zwei Pferde vom Gestüt der Nationalen Volksarmee, sie hießen ,,Fahnenmast" und ,,Staatsgrenze".  Mit der Trennung von Kirche und Staat sollten christliche Symbole verschwinden. Kleine Kartons wurden mit ,,Jahresendflügelfigur" abgestempelt. Drinnen lagen geschnitzte Engel aus dem Erzgebirge. In meinem DDR-Lexikon von 1977 kam ,,Weihnachten" auf zweieinhalb Zeilen vor, am Schluss stand: ,,... heute vorwiegend rein weltl. gefeiert".

Es ging immer um Agitation und Propaganda, um die Linie, die Lage, die Weltlage. Aber es funktionierte nicht.

Wäre es wahrscheinlich gewesen, dass DDR-Bürger die gedruckten Reden der SED-Parteitage ganz durchgelesen, das Wort Engel vergessen oder vom antifaschistischen Schutzwall gesprochen hätten?

Die Leute erzählten sich lieber Witze. Der Lehrer fragt Fritzchen: ,,Was ist das? Es ist rothaarig, klein und hat einen langen Schwanz?" Fritzchen antwortet: ,,Wenn mich das mein Vater gefragt hätte, würde ich sagen: ein Eichhörnchen. Aber bei Ihnen wird das bestimmt wieder Lenin sein."

Nach der Wende wurde ich oft gefragt, wie wir die Diktatur aushalten konnten. Glaubt mir, sagte ich, es war nicht wie in Nordkorea: Es gab privates Leben, Freundeskreise, Medien mit Facetten wie ,,Sonntag" oder ,,Wochenpost", legendäre Theaterabende, Maler, Autoren und Regisseure, deren Arbeiten dem Publikum halfen, anspruchsvoll und wach zu bleiben. Manche Kollegen bauten in ihre Artikel eine auffällig kesse Formulierung ein, auf die sie dann einsichtig verzichteten, um den übrigen Text durchzubringen.

Die Ostdeutschen suchten nach Maßstäben – Gabriel Garcia Marquéz unterm Ladentisch, Giorgio Strehler beim Gastspiel, ein Gefühl von Welt bei der Dokumentarfilmwoche. Bei der Leipziger Buchmesse haben wir geklaut wie die Raben. Wir sahen Westfernsehen, gaben eingeschmuggelte ,,Spiegel"-Hefte weiter und waren lange nicht so doof, wie viele Westler bis heute glauben.

Unser Empfang war nüchtern: ,,Die Entwertung unserer besten und schwächsten intellektuellen Traditionen ist für mich einer der bösesten Aspekte an dem Erbe, das die DDR in die erweiterte Bundesrepublik einbringt." Das schrieb der westdeutsche Philosoph Jürgen Habermas im Mai 1991 in der ,,Zeit". Der ostdeutsche Theologe Richard Schröder antwortete, auch in der ,,Zeit": ,,Peinlich für uns, denn wir naiven Ossis haben gedacht: Die freuen sich, wenn wir kommen."

Otto Schily hielt im März 1990 eine Banane in die Kamera, sein Kommentar zum Wahlverhalten der Ostler. Wir wurden zu Witzfiguren, beobachteten unsererseits die Westler und dichteten: ,,Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm. Beim Wessi ist es andersrum."

Nach dem Mauerfall – zuletzt war ich Autorin beim Defa-Studio für Spielfilme, arbeitete aber auch als Journalistin – begann meine anstrengendste Zeit. Zum Beispiel als Berliner Büroleiterin vom ,,Stern": Von mir angebotene Themen liefen unter ,,Ostscheiß". Ich verlor das Gefühl von Kompetenz und flog nach fünf Monaten raus, immerhin mit Abfindung.

Ich wohne schon immer in Berlin-Mitte. Inzwischen muss ich überlegen, wie meine Umgebung früher aussah, sie ist überlagert durch unaufhörliche Veränderungen. Wenn neue Besitzer Häuser abreißen ließen, hieß der Vorgang ,,Rückbau". Großprojekte feierten ihre Bauetappen mit Spiegelzelt, Gauklern, Wachtelgelatine und Hostessen – das ging in den Baugruben los und war ,,Architainment".

Die öffentliche Sprache der westdeutschen Politiker und Politikerinnen hat selten Charme, Schönheit, Witz, oft klingt sie so leblos wie die im Osten: ,,Prozessoptimierung", ,,effektivere Priorisierung". Vorhaben sind ,,zielführend" oder auch ,,nicht zielführend". Sie sagen ,,von daher", was einen Ortsbezug hat, statt ,,deshalb", was sich auf Gedanken bezieht. Sie sprechen ,,schlussendlich" für ihresgleichen und nicht für ,,die Menschen im Land". Es sieht nach Vergatterung aus, wenn Redner im Bundestag nur von ihrer Partei Applaus bekommen. Beim nächsten Redner klatscht ein anderer Block.

Neue Wörter wurden vorübergehend Mode wie ,,Wendehals" oder ,,Joint Venture". Ich lernte, was ,,Freiwillige Pflichtversicherung", ,,Zinsvorabschlag" oder ,,Nullwachstum" bedeuten. Englisches wird wie ein Gewürz in Texte eingestreut – ohne Übersetzung. ,,Cancel-Culture" ist gerade aktuell. Inforadio meldete, Berlin sei ,,zum Hotspot für Obdachlose" geworden.

Ein guter Mensch verschrumpelte zu ,,Gutmensch", zu einem Schmähwort in der politischen Rhetorik. Der Dichter Durs Grünbein schrieb im Januar 2019 in der ,,Zeit": ,,Das Wort torpediert nun alles, was auch nur einen Millimeter vom durchschnittlichen Egoismus der Mehrheitsgesellschaft abweicht." Immerhin erhielt ,,Gutmensch" 2011 den zweiten und 2015 den ersten Platz als ,,Unwort des Jahres".

Mit viel Gewinn habe ich mit Journalisten aus dem Westen zusammengearbeitet. Aber bei einigen blieb mir etwas fremd: die Freude am Polarisieren durch entschiedene Haltung.

Entschiedene, auch verletzende Meinungen gelten als Qualität. Trotzdem möchte ich wissen, ob sie auch stimmen oder sich nur mit der Meinungsfreiheit rausreden. Da habe er mal einen Nerv getroffen – ein Kollege aus dem Westen war stolz, als nach einem Leitartikel starke Kritik kam. Die Möglichkeit, einen dummen Text geschrieben zu haben, zog er nicht in Betracht.

Ein Typ Journalisten lässt Überlegenheit durchblicken, lästert über Äußerliches oder Zweitrangiges – über weiße Socken, ,,Kassengestellbrillen", ,,Reihenhaushälften", ,,Kaff". Der ,,Spiegel" schreibt im Juli in einem eigentlich sehr guten Text über Wirecard: ,,Die Story beginnt in Aschheim bei München, einem gesichtslosen Kaff." Warum kränken Journalisten die Leute, die da wohnen?

Welche Leute stehen ihnen vor Augen, wenn sie schreiben? Texte ziehen zu oft eine Insider-Tonlage durch, als wären sie für andere Journalisten geschrieben, für eine gesellschaftliche Oberschicht oder für Preise.

Ich habe die Ostsprache noch drin, als ich mich von Freunden verabschiede, weil ich noch zur ,,Kaufhalle" muss. Großes Gelächter. Aber vielleicht ist das passiert, weil mein Unterbewusstsein immer noch nicht kapiert hat, was am ,,Supermarkt" super ist.

...


Aus: "Von der Möglichkeit, einen dummen Text geschrieben zu haben" Regine Sylvester (6.10.2020)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/zwende/wir-waren-lange-nicht-so-doof-wie-viele-westler-bis-heute-glauben-li.108744


Textaris(txt*bot)

Quote[..] Thomas Gehringer: Sie wurden als Sohn eines syrischen Vaters in der DDR angefeindet.

Kai Schumann: Es gab extremen Rassismus in der DDR. Als Kind wurde ich regelmäßig von einem Nachbarsjungen wahlweise mit Ausländersau, Jude oder dem N-Wort beschimpft. Ich wurde verprügelt, einmal wurde auch mit einem Luftgewehr auf mich geschossen. Meine Mutter schickte mich zum Judo, weil ich lernen musste, mich zu wehren. Heute finde ich Gewalt in jeder Hinsicht uninteressant.

...


Aus: "Interview mit ,,Heldt"-Darsteller Kai Schumann ,,Ich war ziemlich radikal"" (13.10.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/interview-mit-heldt-darsteller-kai-schumann-ich-war-ziemlich-radikal/26271462.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Medial gesehen sind die meisten Ostdeutschen Kinder des Westens. Den Ostkanälen glaubte man fast nichts, den Westsendern fast alles. Es muss sich also um einen akuten Fall enttäuschter Liebe handeln. Und um gebrochenes Vertrauen. Sehr schwerwiegend. Aber wie konnte das geschehen?

Wenn die Ostdeutschen heute Berichte über sich im Fernsehen sehen oder im Radio hören, komme es ihnen meist vor wie Auslandsberichterstattung. Das hört man oft. Nachrichten von einem fremden Stern. Und sympathisch sind die Außerirdischen eigentlich nie.

Die reine Oberflächenbetrachtung ergäbe vielleicht Folgendes: Nicht nur, dass der Osten dem Westen gehört. Eliten sind grundsätzlich westdeutsche Eliten, gerade im Osten, daran hat sich selbst dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung nicht viel geändert. Das liegt nicht an der allgemeinen Insuffizienz der ethnischen Minderheit Ost, sondern am Reproduktionsverhalten der Eliten. Sie zeugen ihre Nachkommen vornehmlich aus sich selbst. ,,Wiedervereinigung" sagen ohnehin nicht mehr viele im Osten, sie sagen mehr ,,Übernahme" oder gar ,,Kolonisierung". Es ist präziser. Denn Vereinigungen setzen Gleiche voraus, oder zumindest doch solche, die sich als Gleiche anerkennen.

1990 ist in der Tat das entscheidende Datum. Nicht nur, dass die Ostler ab sofort unter der Deutungshoheit des Westens standen, sie haben ein grundverschiedenes Schlüsselzeitbewusstsein, und das grundiert alles, unthematisch, aber darum umso mehr, auch jede Berichterstattung.

Der Westen denkt rechtsförmig. Er glaubt, alles, was die Ostler heute sind, wurden sie durch die DDR-Diktatur. Also Diktatur-Folgeschäden. Rechte militante Töpfchensitzer mit kleinen Springerstiefeln und so weiter. Im Osten weiß man: Die ostdeutsche Gesellschaft von heute gründet in der Nachwendezeit. Ein so radikaler Umbruch aller Lebensverhältnisse in so kurzer Zeit ist geschichtlich einmalig. Entwurzelung im Zeitraffer.

Kinder sollten nach Goethe von ihren Eltern vor allem zwei Dinge bekommen: Wurzeln und Flügel. Die Jugendlichen Ost der Neunziger bekamen oft beide nicht. Und verachteten ihre arbeitslosen Eltern: Wie konnten sie das alles einfach mit sich machen lassen? Es gibt eine Szene in Christian Schwochows großartigem ARD-Film ,,Die Täter – Heute ist nicht alle Tage" über das Mörder-Trio Mundlos, Böhnhardt und Tschäpe. Da steht der Uwe Mundlos des Films schon in der Tür und sagt zu seinem Vater, bis eben Professor an der Universität Jena: ,,Wir werden nie so wehrlos sein wie Ihr!"

Ohnmacht war ein beherrschendes Gefühl Ost der Neunziger. Die Jungen zogen oft ihre eigenen, fatalen, irrwitzigen Lehren. Die Älteren verstummten. Ende des gerade selbst erkämpften Aufbruchs in die offene Gesellschaft. Und der Westen sagte ihnen fortan, wer sie sind. Die Ostler lebten früher in Distanz zu ihrem Staat, zu dem, was er sagte, und genau das machen sie heute wieder. Sie haben ihre alte Daseinsform einfach wieder aufgenommen. Aber darf man fürs Weghören, Wegsehen erhöhte Gebühren verlangen, fragt sich mancher. Und die AfD fragt am lautesten.

Wer 2004 in Dresden nach den ,,Webern" noch zu den Foyergesprächen ging, wusste, es wird ernst. Spätestens jetzt hätte man reden müssen. Aber was geschah? Sabine Christiansen beauftragte ihren Anwalt, die Stelle per einstweiliger Verfügung streichen zu lassen. Zehn Jahre später, 2014, zog der Protest hinaus auf die Straße. Das war Pegida, eine misstönende Mundöffnung, aber eine Mundöffnung.

Nicht zufällig nach den Ereignissen in Russland und der Ukraine und den offiziellen Reaktionen von ARD und ZDF darauf. Wie über vieles denkt der Osten auch über Russland anders. Das wird auch so bleiben, und es ist nicht sofort Putin-Rechtfertigung. Aber für solche Nuancen – Nuancen um alles! – hat man im Westen nur selten Gehör.

Leider geben nun die Leute, die völlig ohne Nuancen auskommen, im Osten viel zu oft den Ton an. Natürlich auch meist Westler. Beifall kommt von denen, die zu lange geschwiegen haben und nun nur noch brüllen können, selbst wenn sie leise reden. Ja, dieses Land – vor allem der Osten – braucht die Öffentlich-Rechtlichen, jetzt erst recht. Aber vielleicht etwas andere? Die simple Unterscheidung von Diktatur und Demokratie erklärt so vieles nicht. Schon gar nicht, warum sich die Demokratie nach 1990 im Osten so diktatorisch anfühlte. ,,Zu Friedenszeiten", sagten gar manche, wenn sie von der DDR sprachen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät, den fremden Stern zurückzugewinnen.


Aus: "Westfernsehen und Ostfernsehen: Ein akuter Fall enttäuschter Liebe" Kerstin Decker (30.12.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/westfernsehen-und-ostfernsehen-ein-akuter-fall-enttaeuschter-liebe/26759460.html

QuoteThomas-aus-Berlin 12:08 Uhr

Einige Sachen sind ja richtig, aber das Fazit ist seltsam, so seltsam wie einige Menschen in den entsprechenden Bundesländern. Die ganze Sache kann man auch aus der anderen Richtung sehen und da kommt mir der MDR wie eine Ausgründung des DFFs und des DDR-Rundfunks vor, alles nur alte Gestalten von damals, die man schon so oft gesehen hat. Das sage ich als gelernter 52-Jähriger Ossi.


Quotepinke 30.12.2020, 21:06 Uhr

fremder Stern... - ein dichter Text bis zum Schluß, Danke!!! (da ist das tolle Buch über Lou Andreé schon mit bei!)

    Eigentlich ein unglaublicher Vorgang. Denn ARD und ZDF waren vor der Wende für die meisten Ostler Heimat gewesen. Wahrheit ist möglich!  Manche haben – die Autorin gehört dazu – zu Hause niemals ,,Aktuelle Kamera" gesehen.

Doch zwischendrin macht die Autorin den kleinen Fehler, selbst zu pauschalisieren, immer wieder mal. Tja, die Nuancen halt. Es gab in der DDR nicht nur die, die ak gesehen haben, und die die den Schni... nicht gesehen haben, sondern eben alles Mögliche dazwischen. Gundermann ist in dieser Zerissenheit sicher ein - nur ein- Beispiel. Erst die Pauschalisierung nach der ... Übernahme trennte in dieser oben genannten Form.


...

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Kontext: ...

"Finanzen von ARD und ZDF : Wofür acht Milliarden?" Michael Hanfeld (08.12.2020)
Die Erhöhung des Rundfunkbeitrags ist erst einmal gestoppt. Ob es dabei bleibt, ist offen. Eine andere Frage ist, was ARD, ZDF und Deutschlandradio mit den Milliarden, die sie jetzt schon haben, eigentlich machen. Ein Blick in die Bücher. ...
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/rundfunkbeitrag-wofuer-ard-zdf-und-deutschlandradio-geld-ausgeben-17091678.html

Quote[...] Die oppositionelle AfD wertete den Rückzieher des Gesetzentwurfs als ihren Erfolg. Es habe sich wiederholt gezeigt, "dass die AfD auch aus der Opposition heraus Wirkung entwickeln kann", sagte die Chefin der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel der Deutschen Presse-Agentur. Ohne die AfD wäre die Erhöhung des Beitrags "reibungslos und ohne Widerspruch durchgegangen".

Die Christdemokraten hatten trotz zahlreicher Krisentreffen mit den Bündnispartnern ununterbrochen betont, auf keinen Fall einer Erhöhung des Rundfunkbeitrags um 86 Cent auf 18,36 Euro zum 1. Januar 2021 zuzustimmen. SPD und Grüne wollten das Vorhaben aller Länder hingegen mittragen. Die CDU hätte ihr Veto auch gegen den Willen der Koalitionspartner mit den Stimmen der oppositionellen AfD durchsetzen können. Diese lehnt die Erhöhung und das System des Rundfunkbeitrags an sich ab. Eine gemeinsame Abstimmung seiner CDU mit der AfD wollte Haseloff aber auf jeden Fall vermeiden. ...


Aus: "Sachsen-Anhalt blockiert Rundfunkbeitrag" (08.12.2020)
Quelle: https://www.saechsische.de/deutschland/sachsen-anhalt-stoppt-hoeheren-rundfunkbeitrag-haseloff-5334247.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Begeistert blättert sich FAZ-Kritikerin Rose-Maria Gropp durch den Prachtband "Zwischen Schein und Sein. Ostdeutsche Modegrafik 1960-1990", denn der hier gestattete "Blick auf die Vielfalt einer verschütteten Tradition der Modeillustration in der DDR ist so erhellend wie unterhaltsam. Es beginnt in den sechziger Jahren, und gar nichts ist da fremd. ... Noch sehr französisch angehaucht ist dieser Chic, elegante Köstümchen, Ensembles, spitze Pumps, Topfhüte, Kurzmäntel und Trenchcoats. Die Siebziger sind purer Pop, im sehr grafischen Umriss-Stil der Entwürfe wie entsprechend in den Modellen von Schlaghosen, darüber ärmellosen langen Westen, vielleicht etwas weniger Hot Pants und Miniröcke, dafür sind die Swinging Sixties nun in der DDR angekommen, ein Hauch von Hippie Fashion." ...


https://www.perlentaucher.de/efeu/2021-01-13.html

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Quote
Zwischen Schein und Sein / Between Vision and Reality
Ostdeutsche Modegrafik 1960-1990 / East German Fashion Drawings 1960-1990

    Lehmstedt Verlag 2020
    Gebunden 240 Seiten ISBN 9783957971135

Herausgeber: Ute Lindner / Mathias Bertram / Vogt Ulrike
Übersetzung: Yolanda Leask

Im ostdeutschen Modedesign gab es eine ästhetische Avantgarde, über die bisher nur wenig bekannt ist. Die von Ute Lindner aus privaten und öffentlichen Archiven zusammengetragenen Skizzen, Zeichnungen und Grafiken offenbaren eine beeindruckende Fülle an Handschriften und Ideen, die unter den Bedingungen der Planwirtschaft fast ausschließlich in Musterkollektionen und ab den 1970er Jahren durch das Modeunternehmen »Exquisit« auch für den Handel umgesetzt werden konnten. Der einleitende Essay von Mathias Bertram beschreibt die Entwicklung eines Modekonzeptes, das versuchte, den gehetzten Modebetrieb der Moderne »vom Kopf auf die Füße« zu stellen, und sich heute im Zeichen der Bemühungen um Nachhaltigkeit von erstaunlicher Aktualität erweist.


Quelle: https://eichendorff21.de/buch/9783957971135/

Textaris(txt*bot)

#59
Punk in Ost und West (6. Oktober 20209
Ostpunk Henryk Gericke und der Popkultur-Historiker Bodo Mrozek sprechen im Podcast der Heinrich-Böll-Stiftung über Punk im Osten und dessen Bündnisse mit dem West-Punk
https://thgroh.blogspot.com/2020/10/punk-in-ost-und-west.html

https://pophistory.hypotheses.org/3431

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Lieblingsplattenfragebogen -My Favourite Punk Records aus der DDR mit Henryk Gericke (Christian Ihle 16.11.2020 )
Eine Sonderfolge: Henryk Gericke, Koryphäe des DDR-Punks, über die besten von L'Attentat bis Planlos.
https://blogs.taz.de/popblog/2020/11/16/my-favourite-punk-records-aus-der-ddr-mit-henryk-gericke/

https://de.wikipedia.org/wiki/Henryk_Gericke

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Leipziger Meuten
1950s and 1960s youth gangs
https://ddrjugend.wordpress.com/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Marco Wanderwitz (CDU), Ostbeauftragter der Bundesregierung, hat mit seinen Äußerungen zur ostdeutschen Wählerschaft der AfD eine Debatte ausgelöst, die exakt so verläuft, wie alle Debatte seit mehr als 20 Jahren zum Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Er sagt nichts Neues. Seine Einlassungen geben den Stand der sozialwissenschaftlichen Debatte der frühen 1990er Jahre wieder. Die Anamnese, die im Osten erhöhte Zustimmungsbereitschaft für rechte Parteien und deren Politikangebot habe seine Ursache in der DDR-Sozialisation, ist schnell zur Hand, nicht ganz falsch und greift dennoch zu kurz.

Zutreffend ist, dass die politische Kultur der DDR autoritär-nationalistische Subströmungen mit sich trug, die sich nach dem Umbruch in Ostdeutschland in einer rechtsextremen Jugendbewegung auf der Straße artikulierte. Die ostdeutsche Transformationsgesellschaft verstärkte diese Effekte: extreme Gewaltbereitschaft rechter Akteure, Rassismus, die Handlungsunsicherheit von Eltern und Lehrern, Arbeitslosigkeit. Alle genannten Faktoren spielen eine Rolle, und sind zugleich dennoch nicht DIE Ursache.

Welche Fährnisse den Ostdeutschen in den vergangenen 30 Jahren auch widerfahren sein mögen; am Ende sind sie es, die sich zu 20 Prozent bewusst für die Wahl einer Partei entscheiden, die seit 2014 eine beispiellose Drift nach rechts vollzogen hat. Heute ist die AfD, zumal in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, eine völkisch-nationalistische Partei, deren politische Agenda eng an die extreme Rechte angelehnt ist.

Seit drei Jahrzehnten verschafft die Wechselwirkung zwischen aus dem Westen zugezogenen rechten Ideologieproduzenten und ihrer ostdeutschen Anhängerschaft der extremen Rechten im Osten Resonanz. Ob Holger Apfel, ehedem NPD Sachsen, oder Götz Kubitschek, neurechter Verleger und AfD-Strategieflüsterer: Sie trafen und treffen im Osten auf eine Reichweite, die ihnen in Hamburg und Frankfurt/Main verwehrt bleibt.

Dass es in der westdeutschen Provinz in Bezug auf rechte Alltagskultur manchmal nicht viel anders zugeht als in Teilen Ostdeutschlands, ist ein von vielen Medien gern ausgeblendeter Fakt. Teil der im Westen betriebenen Exotisierung des Ostens sind die zum Klischee geronnenen Fakten

Ebenfalls seit drei Jahrzehnten wehrt sich eine diverse, aus zeitgeschichtlichen Gründen anders verfasste Landschaft von Initiativen, Netzwerken und Personen gegen die Hegemonie-Bestrebungen der extremen Rechten im Osten. Dies geschieht unter schwierigeren Bedingungen als in westdeutschen Universitätsstädten oder in Leipzig. Wer im ländlichen und kleinstädtisch geprägten Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen ,,Gesicht zeigt" für Demokratie, wie es aus der Politik zu Recht gefordert wird, macht sich angreifbar. Nicht abstrakt, sondern sehr persönlich und direkt. ,,Wir wissen, wo du wohnst" ist noch die harmlose Variante. Engagierte Sozialarbeiter, Kommunalpolitiker und Pfarrer können ein Lied davon singen, was es bedeutet demokratisch kenntlich zu sein. Zu oft sind sie es, die allein gelassen sind, wenn in einer Region eine rechte Mobilisierung greift.

Eine Mitverantwortung für die Entwicklung des Rechtsextremismus in Ostdeutschland tragen jene politischen Akteure in den ostdeutschen Bundesländern, die das Ausmaß der sich seit 30 Jahren in Wellen vollziehenden rechten Mobilisierung stetig leugneten und kleinredeten. Legendär etwa die Aussage des ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf (CDU), der die Sachsen für immun gegen Rechtsextremismus erklärte. Die Auswirkungen dieser Diagnose sind bis heute überall spürbar. Rechtsextremismus nicht beim Namen zu nennen, seine Anhänger als ,,besorgte Bürger" zu hofieren, die berechtigte Ängste artikulierten, all das hat ihn seit Jahren gestärkt.

Der Versuch, den explizit rechts motivierten Teil der Wählerschaft der AfD und zuvor jene der NPD und DVU im Osten an andere Parteien zurückzubinden, ist seit langem gescheitert. Dennoch suchen Politiker immer wieder den Dialog ausgerechnet mit dem Milieu aggressiver rechter Schreihälse, die gut darin geübt sind, sich und ihre Propaganda in sozialen Netzwerken wirkungsvoll in Szene zu setzen. Diese Vorgehensweise stärkt sie und schwächt die kritische Zivilgesellschaft.

Die Debatte um die Äußerungen von Marco Wanderwitz verläuft wie ein Abend im Ohnesorg-Theater in Hamburg: Handlung, Figuren und Verlauf sind sehr vorhersehbar. Es ist ermüdend, in Bezug auf die Stärke der extremen Rechten im Osten die immer gleichen Phrasen zu hören. Der gesellschaftliche Resonanzraum der extremen Rechten im Osten ist gut erforscht und empirisch belegt. Zahlreiche Wissenschaftler und Praktiker von vor Ort können differenziert Auskunft zu Stand und Perspektiven der Demokratie in Ostdeutschland geben. Es kommt darauf an, ihnen zuzuhören.

David Begrich ist Mitarbeiter der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei Miteinander e.V.



Aus: "Über den Osten nichts Neues" David Begrich (31.05.2021)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ueber-den-osten-nichts-neues

Quote
Magda | Community

Ich denke auch, dass diese ganze Entwicklung eine Mixtur ist aus ererbten Haltungen, die aber gleichzeitig in eine merkwürdig illusorische und wirre "Freiheitsidee" mündeten, die schnell von rechts genutzt werden konnte.

Eine repräsentative Demokratie mit ihren langen Wegen und Fallen und Debatten konnte dies nicht befriedigen. Das ist ja bis heute so. Da muss immer irgendjemand "weg" oder "an den Galgen" oder sowas, um dem Ausdruck zu verleihen.

++ Mitverantwortung für die Entwicklung des Rechtsextremismus in Ostdeutschland tragen jene politischen Akteure in den ostdeutschen Bundesländern, die das Ausmaß der sich seit 30 Jahren in Wellen vollziehenden rechten Mobilisierung stetig leugneten und kleinredeten.++

Das war wirklich ein Grundübel. Dieses Leugnen und eigentlich auch heimliche Bekämpfen z. B. durch Mittelkürzungen für Initiativen gegen Rechts. Das Wegsehen als Regierungsdoktrin.


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Textaris(txt*bot)

Quote[...]  Berlin. Bei der Haltung der Deutschen zu den USA einerseits und Russland andererseits gibt es über 30 Jahre nach der Deutschen Einheit weiterhin gravierende Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen. Das ergibt sich aus einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND).

Beim Blick auf das deutsch-amerikanische Verhältnis finden 36 Prozent der Bürger, Deutschland solle sich von den USA unabhängiger machen. In Ostdeutschland sind 60 Prozent der Befragten dieser Meinung, in Westdeutschland lediglich 32 Prozent. Besonders verbreitet ist die Ansicht bei Anhängern der Linken (69 Prozent) und der AfD (62).

Umgekehrt ist das Verhältnis bei der Bewertung der deutsch-russischen Beziehungen. Für ein engeres Verhältnis sprechen sich 50 Prozent der Ostdeutschen aus, aber nur 25 Prozent der Westdeutschen. Die im Zuge des Ukraine-Konflikts verhängten Wirtschaftssanktionen gegen Russland halten entsprechend 34 Prozent der Ostdeutschen für richtig, aber 68 Prozent der Westdeutschen. In ganz Deutschland liegt der Anteil bei 63 Prozent.

Die Zustimmung zum Bau der Ostseepipeline Nord Stream 2 klafft ebenfalls auseinander. In Ostdeutschland beträgt sie 74 Prozent, in Westdeutschland 48 Prozent. Quer durchs Land unterstützen 52 Prozent der Bürger das Projekt. Am stärksten ist die Ablehnung unter Grünen-Anhängern.

Auffällig ist, dass sich Ost- und Westdeutsche bei der Bewertung des russischen Staatspräsidenten Wladimir Putin weitgehend einig sind. Während 14 Prozent aller Bundesbürger meinen, man könne ihn im weitesten Sinne noch als Demokraten bezeichnen, halten 70 Prozent der Deutschen Putin für einen Diktator; darunter sind 60 Prozent der Ostdeutschen und 72 Prozent der Westdeutschen.

Das heißt, viele Ostdeutsche sprechen sich für engere deutsch-russische Beziehungen aus, obwohl sie Putin nicht als Demokraten einschätzen.

Es waren in der Vergangenheit auch in erster Linie ostdeutsche Ministerpräsidenten, die sich für engere deutsch-russische Beziehungen stark machten. Wirtschaftlich sind diese indes weniger bedeutend, als gemeinhin vermutet wird.

Tatsächlich werden bloß noch rund 2 Prozent der ostdeutschen Güter nach Russland exportiert. Naheliegender erscheint deshalb, dass sich die Nähe aus der Transformation nach 1989 ergibt, in der sich viele Ostdeutsche auf sich selbst zurückgeworfen fühlten und in der Folge auf Vergangenes zurückgriffen.

Der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), sagte dem RND: ,,Man kann die Unterschiede historisch erklären. Die alte Bundesrepublik hat die Westbindung gelebt, angefangen vom Marshallplan. Die ehemalige DDR war Teil der östlichen Hemisphäre. Wenn Menschen in den jungen Ländern deshalb der Meinung sind, dass es schön wäre, wenn wir ein besseres Verhältnis zu Russland hätten, dann teile ich das. Wir sind relativ näher dran."

Er betonte zugleich, dass es im deutschen Interesse liege, Nord Stream 2 fertigzustellen.

Wanderwitz verwies aber auch auf den von Russland unterstützten Krieg in der Ostukraine und das von Moskau unterstützte diktatorische Regime in Belarus und sagte: ,,Weder Herr Trump noch Herr Putin haben ihre Länder zuletzt in einem guten Licht erscheinen lassen. Bei den USA hoffe ich, dass sich das jetzt ändert. In Russland ist kurzfristige Änderung nicht in Sicht. Und Sanktionen sind das einzige Mittel, das wir haben. Putin hat es selbst in der Hand, wie sich das Verhältnis entwickelt."


Aus: "Forsa-Umfrage: Ostdeutsche fühlen sich Russland deutlich näher, Westdeutsche den USA" Markus Decker (16.07.2021)
Quelle: https://www.rnd.de/politik/forsa-umfrage-ostdeutsche-fuehlen-sich-russland-deutlich-naeher-westdeutsche-den-usa-HMUGK6VO6BADTCBKZM6ZY4GANU.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Hoyerswerda war DDR-Arbeiteridyll und wurde zur braunen Zone. Im Buch ,,Kinder von Hoy" lässt Grit Lemke die Boheme der Stadt zu Wort kommen.

Grit Lemke: ,,Kinder von Hoy". ­Suhrkamp, Berlin 2021. 256 Seiten


Womöglich ist er der berühmteste Sohn der Stadt: der Liedermacher mit den dünnen Haaren und der Mitropa-Aschenbecher-Brille. Die Rede ist von Gundermann, der in Grit Lemkes dokumentarischem Roman ,,Kinder von Hoy" zwar eine Nebenrolle, aber doch eine wichtige spielt.

Lemke erzählt von einem Hoyers­werda, das man so gar nicht kennt: als Stadt der sozialistischen Zukunft, die in den 50ern aus dem Lausitzer Boden gestampft wird, in der es an Stelle von Kohleöfen und Außentoiletten Wasserklosetts, Zentralheizungen und geräumige Familienwohnungen gibt. Einer Stadt auch, die ganz im Rhythmus der wechselnden Schichten des nahegelegenen Kraftwerks Schwarze Pumpe funktioniert.

Für die Kinder ist diese Stadt ein Ort der Freiheit trotz allgegenwärtiger kontrollierender Blicke. Die eigenen Eltern mögen gerade auf Arbeit sein, aber irgendein Erwachsener wird nach der Schicht schon aus dem Fenster schauen und die Kinder, sollten sie doch einmal etwas aushecken, zurechtweisen: ,,Es war ein sehr viel weitläufigeres Behütet-Sein, mit vielen unterschiedlichen Menschen. Kinderkrippenerzieherinnen und Kindergärtnerinnen. Der Spielplatz. Die Nachbarn. Der Block, der Wohnkomplex, der Schulweg. Keine Sorge der Eltern, dass man über die Straße gehen muss. Sehr viel Vertrauen aller Erwachsenen in die Dinge, die da kommen – und in die Kinder. Ich bin schon zum Kindergarten alleine gegangen."

Das sagt Schudi, eine der zahlreichen Stimmen, die Lemke zu Wort kommen lässt. Darunter auch der mosambikanische Vertragsarbeiter David. Sie werden, gemeinsam mit der Erzählstimme, im Modus einer filmischen Reportage collagiert. Hier merkt man, dass Grit Lemke bereits als ausgezeichnete Dokumentarfilmerin von sich reden machte. Nämlich in ihrem Film ,,Gundermann Revier", der nicht nur den baggerfahrenden Liedermacher beleuchtet, sondern auch eine Braunkohleregion im Umbruch.

Gewiss könnte ,,Kinder von Hoy" auch als Vorlage eines Dokumentarfilms dienen. Die Bezeichnung ,,Roman" aber deutet an, dass es einen Willen zur Form, auch zur Verdichtung des Stoffs gibt. Vielleicht auch die Freiheit auszumalen. Ausmalen ist das Stichwort! Vielleicht zum ersten Mal haben wir es da mit einer Erzählung von Hoyerswerda zu tun, die bunt ist. Die nicht nur von tristem Vorwendegrau und schauerlichem Nachwendebraun erzählen will.

In den Originaltönen, die man ja nur lesen, nicht hören kann, klingt der so typische Hoy-Sound an: Weder so richtig Sächsisch noch Brandenburgisch, mit verschliffenem Binnen-G, ganz weich und buttrig, wie Käsekuchen, und dem Ö, das wie ein langes E klingt. Mal mehr, mal weniger stark dringt das Dia­lek­tale aus dem Text: Es ist eine Mischung aus Dia- und Soziolekt. Denn immer auch geht es um die gemeinsame, die geteilte Sprache, in der Hoyerswerda zu Hoy (für andere Sachsen auch Hoywoy) wird, und Schwarze Pumpe einfach nur Pumpe ist.

Der dialektale Einschlag wird immer dann stärker – so jedenfalls hat man den Eindruck – wenn es ums Emotionale geht. Wie den Wegfall der Arbeit, der Orbeet: ,,Auf einmal wird etwas zur Währung, was bis jetzt nichts anderes war als Frühling, Sommer, Herbst und Winter, wie Ausziehn Waschen Bette: Orbeet. Sie war etwas, was unweigerlich eintrat – ob man wollte oder nicht. Nun lernen wir, dass die Welt sich teilt in solche, die Arbeit nehmen, und andere, die sie geben."

Davor, in den 70er und 80er Jahren, ist Hoyerswerda auch demografisch eine ganz besondere Stadt. In den eilig hochgezogenen Plattenbauvierteln lebt eine überdurchschnittlich junge Stadtbevölkerung: Arbeiter und ihre Kinder. Die Schulen sind übervoll, und auf jeder der zahlreichen Etagen der Wohnkomplexe gibt es Spielkameraden für die Kinder.

Für die einen mag es eine Utopie sein, für die anderen ein Schreckensbild: Aber die Kinder sind von Anfang an Teil eines Kollektivs; die Arbeiterkinder werden weniger von einer intensiven Beziehung zur Mutter geprägt als zu jener zu den Omas, Erzieherinnen oder Lehrerinnen.

Auch für die Mütter hat Hoyerswerda seine Vorzüge. Einmal wöchentlich wird die schmutzige Bettwäsche vom VEB Schwanenweiß eingesammelt und gereinigt – die werktätigen Frauen sollen sich damit nicht auch noch abmühen müssen. Gott bewahre, dass der Mann sich der mühseligen Aufgabe des Wäschewaschens ohne Waschvollautomat widmen muss!

Lemkes Stimmen sind Arbeiterkinder, die sich vor und nach der Wende in einem avantgardistischem Künstlermilieu bewegen. Noch versuchen die Protagonisten, dem Rechtsruck und den enormen Umbrüchen nach 1989 Kreativität und gemeinschaftliche Aktionen entgegenzusetzen. Umso unbegreiflicher wirken dann die Ereignisse, die am 17. September 1991 ihren Anfang nehmen. Lemkes Protagonisten sind nah dran an den Rechten, die auf einem Markt vietnamesische Händler angreifen und später vor die Wohnblocks der als ,,Asylanten" verschrienen vietnamesischen und mosambikanischen Vertragsarbeiter ziehen.

Als ,,Kinder aus Hoy" auf die pogromartigen Ausschreitungen zu sprechen kommt, merkt man den Stimmen ein bis heute anhaltendes Entsetzen und Unverständnis an. Nein, der Rechtsruck habe nicht mit der Wende begonnen; schon vorher habe sich eine rechte Szene entwickelt. Im Moment des Mauerfalls mit dem Wegbrechen einer staatlichen Ordnungsmacht und der raschen Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen gerät etwas ins Rutschen. Es ist wie im Bergbau. Die Welle ist nicht mehr aufzuhalten.

Viel ist in den 30 Jahren ,,seit Hoyerswerda" (die Pogrome sind auf eine Minimalformel geschrumpft) gerätselt wurden, was den ,,Rechtsruck" in den Neuen Bundesländern, für den Hoyerswerda zum Menetekel und Symbol wurde, bewirkt haben mag. Vom ,,Töpfchenzwang" über den nicht aufgearbeiteten Nationalsozialismus und einer vorzeitigen Exkulpierung der Bürger auf dem Staatsgebiet als Antifaschisten mussten viele Gründe herhalten.

Lemke enthält sich klugerweise jeder Deutung, sie lässt die O-Töne unkommentiert. Sie will darstellen; der Leser soll sich schon selbst eine Meinung bilden. So erscheint die Entwicklung von der beinahe idyllisch anmutenden, wenn auch kohlestaubgesättigten Stadt zur braunen Zone umso rätselhafter.

Als es nach den Ausschreitungen erste zaghafte Versuche zivilgesellschaftlicher Proteste gibt, rücken westdeutsche Demonstranten an und formieren einen schwarzen Block. Als die westdeutschen Protestler beginnen, das frische Straßenpflaster zur Bewaffnung aufzureißen, regt sich ostdeutscher Widerstand.

,,Einer der Umstehenden wagt sich zu den Vermummten und redet auf sie ein. Seine Brigade hätte die Steine grade erscht diese Woche verlegt. Wofür man sie rausreißen müsse? Höhnisches Gelächter. Faschistenschweine! Sie werden es so oft sagen, bis alle Hoyerswerdschen, die demonstrieren wollten, sich entfernt haben."

Lemke erzählt entlang einer doppelten Differenz: Das da­dais­tisch angehauchte Avantgardemilieu ihrer Protagonisten bricht mit dem elterlichen Arbeitermilieu, ist aber anders als jenes im Westen. Aber auch die ostdeutschen Arbeiter sind ­andere; anders jedenfalls als ihre Pendants im Westen: ,,Bei uns aber war man nicht Bergmann in dritter Generation. Man fuhr nicht mit dem Aufzug unter Tage, sondern mit dem Mannschaftswagen in den Tagebau oder mit dem Schichtbus nach Pumpe", heißt es mit Blick auf die Kohlekumpel im Ruhrgebiet.

Tatsächlich schreibt Lemke über eine Gesellschaft der Diskontinuitäten, in der man sich des Vergangenen entledigt und zunächst zuversichtlich in die Zukunft blickt. Dass die Wende als ,,Bruch" diese disruptionserfahrenen Menschen so erschüttert haben soll, glaubt man danach nicht mehr so recht. So entpuppt sich das gängige Ost-Nachwende-Narrativ einmal mehr als unvollständig, vereinfacht.

Etwas aber spürt man: den Verlust von Stolz auf eine Stadt, die buchstäblich dafür lebt, Energie fürs ganze Land, fürs System zu produzieren. Auch dann noch, als anderswo längst das Ende des Systems herbeiprotestiert wird. Womöglich versteht man auch gegenwärtige Kämpfe um das Ende der Kohleförderung in der Lausitz besser, nachdem man Lemkes Buch gelesen hat.


Aus: "Geschichte vom verlorenen Stolz" Marlen Hobrack (17.9.2021)
Quelle: https://taz.de/30-Jahre-Pogrome-in-Hoyerswerda/!5799570/

QuoteLeningrad

Ich - zonensozialisiert und mit Ausreiseantrag von 1984 - kann beim besten Willen nicht sagen, was besser ist. Irgendwie ist alles nach Abwägung der Vor- und Nachteile gleich. Die DDR IST ein anderes Land als die BRD. Das hat mit der Mentalität und der Geschichte zu tun. Ich habe Freunde in Ungarn, England, Frankreich, aber keinen aus der BRD (obwohl ich da studiert habe). Ich habe auch überhaupt keine Lust auf diese Westdeutschen, die mir - ohne jegliche dialektische Vorbidlung - irgendwas erklären wollen. Die Wiedervereinigung ging zu schnell. Letzen Endes ist es auch egal.


QuoteJ_CGN
18. Sep, 15:57

"Der Verlust von Stolz ..."

Abgesehen von der Ökonomie war die DDR eine kulturell andere Gesellschaft.

Nicht nur die Betriebe wurde abgewickelt.  ...


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Der Begriff der blühenden Landschaften hat für viele Menschen im Osten einen faden Beigeschmack. Auch der Untertitel des Buches ,,Nullerjahre" ist eher sarkastisch zu verstehen: ,,Jugend in blühenden Landschaften". Geschrieben hat es Hendrik Bolz – besser bekannt als Testo vom Deutschrap-Duo Zugezogen Maskulin. Der 33-jährige wuchs im äußersten Nordosten der Republik zwischen Stralsunder Plattenbauten auf. Das Buch habe er vor allem für sich geschrieben, sagt er im Interview. Seine Erinnerungen hätten ihn belastet. Von Belastungen zeugen im Osten etwa Pegida oder AfD-Wahlergebnisse. Das Buch könnte deshalb mehr sein als Selbsttherapie.

Im ersten Teil der Erzählung lernen die Leser Bolz 1999 als Grundschüler kurz vor seinem Wechsel auf das Gymnasium kennen. Von Kassette hört er die bei Rechten beliebten Böhsen Onkelz und fristet sein Dasein in einem Ferienlager, das – damals nicht unüblich – von Neonazis organisiert wird. Selbstbewusst, mit Bomberjacke und Glatzen – ,,so kenn ich's von zu Hause, so sehen coole Jugendliche aus", ist zu lesen. Was auch zum Coolsein dazugehört: stark sein, Schwächere drangsalieren, vor Gewalt nicht zurückschrecken. ,,Als Kind denkt man, alles, was um mich herum ist, ist normal", sagt Bolz. Man denke, ,,es ist normal, dass das hier neue Bundesländer heißt", dass Arbeitslosigkeit ständig ein Thema ist und dass die großen Brüder und Cousins Bomberjacke tragen und kurze Haare haben. Dass Bolz in einen historischen Umbruch hineingeboren wurde, realisiert er erst später.

,,Das hat erst so ab 2015 angefangen", erinnert sich der Autor, und habe auch mit dem Aufkommen etwa von Pegida zu tun. In seinem Umfeld – 2008 zog er nach Berlin – oder auf Social Media habe er festgestellt, wie schnell der Osten abgeurteilt wurde von ,,Leuten, die das Glück hatten, schon immer in ihrem Leben auf der richtigen Seite zu stehen". Die Ambivalenz, um die Probleme zu wissen, aber auch nicht abgeurteilt werden zu wollen, sei im Osten verbreitet.

Dass Bolz nicht das Glück hatte, immer auf der richtigen Seite zu stehen, wird in dem Buch mehr als deutlich. Er schlägt, terrorisiert, gibt sich Drogen und Alkohol hin. Die Sprache in seinem Umfeld ist rassistisch, homophob, frauenfeindlich, antisemitisch. Ein entsprechender Warnhinweis ist dem Buch vorangestellt. ,,Kunst soll und darf wehtun», sagt Bolz – offenbar auch dem Autor. Es sei ihm wichtig gewesen, sich so nackt zu machen. ,,Sonst hätte ich es auch gleich lassen können." Er stellt aber auch klar: ,,Der Hendrik, den ich dort beschreibe, das ist nicht der Hendrik von heute."

Es geht in dem Buch weder um eine Aussteiger- oder gar Heldengeschichte, noch um Larmoyanz oder eine Amnestie für den Osten. Es geht darum, hinzuschauen, wo nicht genug hingeschaut wurde. Denn einfach blühende Landschaften oder Immunität gegen Rechtsextremismus zu beschwören wie Ex-Kanzler Helmut Kohl beziehungsweise Sachsens ehemaliger Ministerpräsident Kurt Biedenkopf (beide CDU), schafft kein Verständnis. Geschichten wie die von Bolz könnten dazu beitragen.

Über die 1990er Jahre werde zum Glück mittlerweile mehr gesprochen, sagt Bolz. Die Nullerjahre seien hingegen noch ein ,,leeres Blatt". Doch auch am Ende von Kanzler Gerhard Schröders (SPD) erster Amtszeit 2002 galt laut Buch: ,,Das Einzige, was in den Ruinen der nachhaltig zerschlagenen Industrie erblühte, waren Minijobs, Transferleistungen und demütigende ABM-Maßnahmen." Selbst wenn Springerstiefel Turnschuhen wichen und Deutschrap cooler wurde als Rechtsrock – Bolz' Umfeld wurde schon vorher geprägt. Etwa von Kindergartenerzieherinnen, die versuchen, ihre Schützlinge in DDR-Manie wie ,,kleine brave Fresssoldaten" zur Planerfüllung zu schreien, oder von der Jugendarbeit von Neonazis, von der Resignation und Verunsicherung der Erwachsenen.

,,Ich will hier über was reden, was mir passiert ist, von dem ich weiß, dass vielen anderen das ähnliche passiert ist und was einfach unbesprochen ist", sagt Bolz. Wenn man nicht hinschaue, würden sich Dinge weiter verpflanzen. Wendefrust, Politikverdrossenheit, Gewaltneigung, Diktaturprägung, Erziehung zur Härte und ,,Lust am Arschlochsein" – diese Dinge gebe es, und rechte Gruppen hätten sie schon für sich genutzt.

,,Nullerjahre" ist keine leichte Kost, nicht nur was den Inhalt angeht. Es wird in Großbuchstaben geflucht, gerülpst, geprügelt. Der Soundtrack reicht von den Böhsen Onkelz über Britney Spears bis Bushido. Immer wieder werden Lied-Zitate eingestreut. Der Schreibstil erinnert zeitweise an Bolz' Rap-Hintergrund etwa in einem Kapitel, das sich seinem Kampf mit zunehmenden Angstanfällen widmet: ,,Aufstehen, ATTACKE, Frühstück, ATTACKE, Schule, ATTACKE, Sport, ATTACKE, Fernsehen, ATTACKE, Schlafen, ATTACKE."

Hätte sich Bolz eine andere Jugend gewünscht? Er frage sich schon, wie sich sein Umfeld entwickelt hätte, wenn man es zur damaligen Zeit in den Westen verpflanzt hätte. Er wolle die Erfahrungen aber nicht missen, sie würden dabei helfen, nicht so schnell zu urteilen, wie Menschen, die immer auf der richtigen Seite standen. (DPA)

...

,,Nullerjahre – Jugend in blühenden Landschaften" Kiepenheuer & Witsch (336 Seiten)


Aus: ",,Nullerjahre" von Hendrik Bolz: Eine ostdeutsche Jugend auf der falschen Seite" (11.02.2022)
Quelle: https://mopop.de/storys/nullerjahre-von-hendrik-bolz-eine-ostdeutsche-jugend-auf-der-falschen-seite-14703/

Testo (* 1988 in Leipzig; bürgerlich: Hendrik Bolz)
https://de.wikipedia.org/wiki/Testo_(Rapper)


Textaris(txt*bot)

#64
Quote... Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine gehen bislang gefestigte Gewissheiten verloren. Auch bei unserem Kolumnisten. (berliner-zeitung.de) ... [André Mielke [(*1963) ist Baufacharbeiter, Militärfilmvorführer und Diplomjournalist. Er war Redakteur bei Berliner Zeitung, Eulenspiegel, Berliner Morgenpost und Die Welt. Seit 2002 freischaffende Schreibkraft, u. a. mit Glossen und Kolumnen für die Berliner Zeitung.)] 8.3.2022 - 17:58 Uhr]: Wie viele seiner Landsleute hielt ich ihm [Putin] zugute, dass er Russland aus dem Chaos der 1990er und der Wodkafahne von Boris Jelzin geführt hatte. Als er am Anfang jenes Jahrzehnts zurück in die Heimat gekommen war, hatte der vormalige KGB-Offizier sich als Taxifahrer verdingen müssen. ... Neulich wurde ein Medienbericht von 1993 ausgegraben, über ein Treffen mit Emissären deutscher Unternehmen: Putin, inzwischen Vizebürgermeister von St. Petersburg, plädierte dafür, Russland durch eine Militärdiktatur zu stabilisieren, Modell Pinochet. Seine Gäste, steht da, hätten freundlich applaudiert. Das sagt etwas über die damalige Anarchie, über Wirtschaftsprioritäten und Putins unzweideutiges Verhältnis zur Gewalt. Nein, so sehr hat er sich nicht verändert. Trotzdem streifte mich eben noch ein Hauch von Putinverständnis – für sein wohl galliges Grinsen, als Russlands ,,unprovozierte und ungerechtfertigte Invasion" von George W. Bush verurteilt wurde. George W. Bush!  Das gibt's in keinem Russenfilm. Doch es stimmt: Der ehemalige und gleichsam ewige Sowjetbürger Wladimir Putin führt einen imperialistischen, revisionistischen und chauvinistischen Eroberungskrieg. Ich ging, wie Platzeck, in der DDR zur Schule und muss diese Tatsache sacken lassen. Andere kostet sie das Leben, mir zieht sie Gewissheit aus den Knochen. ...

https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/sympathisch-war-putin-auch-mir-nie-aber-es-gab-respekt-li.215770

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Quote[...] ,,Ich liebe ihn heute noch!", sagt meine Friseurin – und ich liebe sie für diese Liebeserklärung an Wladimir Putin am zehnten Kriegstag nicht. Ich liebe sie noch weniger für die Ansage, dass sie den Medien ohnehin nie traue und jetzt erst recht nicht.

Meine Friseurin liebe ich sonst sehr, sie stammt noch aus dem Laden, der früher in der SED-Bezirksleitung, später sächsischer Landtag, die Bonzen beschnitt. Normalerweise reden wir zwei entspannt über meinen Beruf.

Sie ist nicht die einzige Putinversteherin in Dresden und im Osten des mir plötzlich seltsam näher gerückten Deutschlands. Überhaupt nicht entspannt geht es seit dem Überfall auf die Ukraine in Mailverteilern, Whatsapp-Gruppen oder bei persönlichen Begegnungen zu. Der Tenor: Ist ja schlimm, was der unberechenbare Putin da macht.

Aber hat nicht der Westen, voran die US-Amerikaner, das arme, kuschelbedürftige und gen Westen lächelnde Russland seit 30 Jahren so in die Enge getrieben, dass sein Zar jetzt gar nicht anders konnte? Die Notwehrthese der früheren ARD-Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz nach der Krim-Annexion 2014 steht Pate.

... Haben wir besonders im Osten nicht genug mit einer zerklüfteten Landschaft zu kämpfen nach Pegida, Flüchtlingshassern, querdenkenden Totalverweigerern und Impfkriegern? Wieder dringt ein neuer Spaltpilz in Geburtstagsfeiern oder Skatrunden vor, auch in akademische.

Woher rührt ausgerechnet in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone die hartnäckige Parteinahme für die Erben der Sowjetunion, eine latente Sympathie, die sich auch durch die Gräuel eines totalen Krieges nicht beirren lässt? Wir müssten die Sowjets doch am besten kennen! Bei Erklärungsversuchen fühle ich mich von Empirie, Sozial- oder Politikwissenschaften weitgehend allein gelassen und auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen verwiesen.

Zuerst kommt mir eine Variante des Stockholm-Syndroms in den Sinn. Also paradoxe Sympathie gegenüber denen, die einem Gewalt antun. Das klappt für meine Generation nur noch bedingt, die Schulkinder der 1960er und 70er Jahre in der DDR, die bloß noch Ausläufer des harten Stalinismus und des 17. Juni 1953 erfuhren. Mit dem Atavismus der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 freilich.

Aber sonst spürten wir die Knute der einheimischen Kremlstatthalter, weniger die der Führer des Sowjetreiches. Wobei das immer in Zusammenhang mit der historischen Schuld des deutschen Überfalls 1941 gefühlt und relativiert wurde.

Und: Wer kannte schon einen Russen persönlich? Berufliche Reisen in die Sowjetunion gab es, Ausgewählte durften dort studieren, aber touristisch war nicht viel los. Die Soldaten, die armen Schweine, wurden abgeschirmt. ,,Es ist ein Russ entsprungen", sangen wir unverzeihlich zynisch auf dem Zeltplatz, wenn wieder eine bewaffnete Postenkette nach einem verzweifelten Deserteur suchte – bis wir die Schüsse im Wald krachen hörten.

Der koloniale Status wurde in der DDR mit Ironie sublimiert. Sowjetische Freunde oder Brüder? Freunde nicht, denn die kann man sich aussuchen. Aus einem sowjetischen Arbeiterlied wurde ,,Machorka her", aus ,,Tom Dooley" die Grigorij-Parodie, aus den Ghost Ridern die ,,30 Russen am Fuße des Ural". Das war nicht mehr feindselig, und auch ich trug 1989 eine Gorbatschow-Plakette.

Zweite, nicht wissenschaftlich belegbare These: Der Osttrotz ist im Spiel! Bei der jungen Nachwendegeneration trifft man nämlich keine Putinversteher mehr, nur noch Kriegsgegner. Naiv stolperten die Ossis in die Einheit, im Glauben an den schnellen Wohlstand und an eine individuell narzisstische, nicht verantwortlich empfundene Freiheit. Dieser Glaube musste enttäuscht werden. Reaktion gegenüber den Wessi­okkupanten: Ätsch, dafür halten wir weiter zu den Russen!

Das nüchterne Argument fortgesetzter Wirtschaftsbeziehungen zieht kaum. Nur drei Prozent der sächsischen Wirtschaft sollen davon profitieren. Maßgeblich erscheint mir vielmehr die massenhaft gestützte Beobachtung, dass die ,,Ossis" 89 zwar demonstrierten, aber von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie nichts begriffen hatten.

Bei den Rechten, die am lautesten nach Basisdemokratie schreien, wie bei einer erschreckend hohen Zahl ehemaliger DDR-Bürger ist die Sehnsucht nach autoritärer Führung, mithin nach Entlastung von der eigenen Mitverantwortung latent.

Bei Pegida und deren Derivaten, bei der AfD wird Putin geradezu als Messias verklärt. Als MDR-Reporter hätte man sich dort mit einem Mikrofon von Russia Today tarnen müssen. In der Oberlausitz fordern Inschriften und Banderolen ,,Schluss mit der Hetze gegen Russland!".

Es ist dieselbe Region, in der die gegen alles irgendwie Staatliche demonstrierenden Gutbürger sonntags an der B96 schwarzweißrote Fahnen schwenken und die Sozialpolitik des Kaisers loben. Im Kollektiv-Unterbewussten wirkt die autoritäre Prägung der DDR fort, bis hinein in äußerlich demokratische Regierungskreise von Meck-Pomm oder Sachsen.

In Dresden sind die frühere Hofierung des Zaren und die Besuchseinladung an Putin bis heute nicht zurückgenommen worden. Wir befinden uns im adoleszenten Stadium Ostdeutschlands auf dem Weg zu demokratischer Emanzipation, die freilich auch im Westen keineswegs gefestigt erscheint. Ich werde Geduld und Nerven in teils unsäglichen Debatten bewahren, beim Krieg an der Heimatfront nicht mitmachen und meiner Friseurin weiterhin dankbar sein für die Übermittlung von Volkes Stimme.



Aus: "Putin-Fans in Ostdeutschland: Paradoxe Sympathien" Michael Bartsch (10.3.2022)
Quelle: https://taz.de/Putin-Fans-in-Ostdeutschland/!5836638/

QuoteTom Farmer

An eine unlogisch Sache mit Logik ranzugehen ist schwerlich möglich, daher vielleicht so:
Der Menschen Gefühlslage ist grenzenlos, Wissen aber oft sehr begrenzt.


QuoteWard Ed

Man darf natürlich nicht vergessen, dass der Osten mit der Wieder Wiedervereinigung die Kälte des Kapitalismus gespürt hat, wenngleich es ihm heute gegenüber früher und insbesondere im Vergleich zu den anderen Ostblockstaaten viiiiiiiel besser geht.


QuoteJim Hawkins

Steile These: Im Osten sind sie historisch bedingt, autoritätsfixierter.
Da passt ein Politiker, der ziemlich totalitär regiert und das macho-mäßig ziemlich gut in Szene setzt, ins Bild.
Dazu hört man aus seinem großen Reich nichts von dem ganzen "Schwuchtelkram".
Es wird nicht gegendert, Männer sind Männer, Frauen sind Frauen.
Für schlichtere Gemüter, die auf klare Kante stehen, ist das vielleicht verlockend.


Quotenutzer

@Jim Hawkins eben, für schlichte Gemüter. und die gibt es im Osten, wie im Westen, wie überall auf der Welt.
Aber niemand ist aufgrund seiner Herkunft ein schlichtes Gemüt.


QuoteJim Hawkins

@nutzer Na gut, woher kommt dann die Putin-Philie ...


QuoteKaboom

Könnte es sein, dass dabei ganz schlicht die Sehnsucht nach einem "Führer" eine Rolle spielt? Jemand dem man "folgen" kann, ganz ohne die Notwendigkeit der Benutzung des eigenen Kopfes? Der sagt, was richtig und falsch ist, und "immer das Richtige tut"?


Quotewirklich?

Naja, ich stimme fast allem zu in diesem Artikel, aber was hat der Westen denn von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie verstanden. Das ist jedenfalls nicht die Beschreibung die ich diesem Staat geben würde, auch wenn ich positive Ansätze in diese Richtung zu erkennen bereit bin.


QuoteGünter Picart

Zitat:

"Maßgeblich erscheint mir vielmehr die massenhaft gestützte Beobachtung, dass die 'Ossis' 89 zwar demonstrierten, aber von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie nichts begriffen hatten."

Anregende Erkenntnis.

Die deutsche Wiedervereinigung war fragwürdig, ganz ähnlich wie die Nato-Osterweiterung. Der gesamte Osten hätte sich zunächst intern mit seiner Sowjetvergangenheit aussöhnen müssen, bevor er sich dem Westen "anschließt" und uns damit in seine unaufgearbeiteten inneren Konflikte hineinzieht. Das gilt für die DDR genau wie für die Ukraine, meine ich. ...


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Kaum haben die Beatles von Hamburg aus die westliche Welt erobert, schießen auch in der DDR Beatgruppen aus dem Boden. Mit dem Jugendkommuniqué von 1963 hatte die SED den Eindruck vermittelt, dass Aufbruch und Veränderung im Rahmen des Sozialismus möglich sind. Trotz der Skepsis Konservativer geht das Jugendradio "DT64" auf Sendung.

"Das war unsere Jugend, mit allem Für und Wider", sagt Reinhard Möller im NDR Info Podcast "Deine Geschichte - unsere Geschichte". Als Jugendlicher in Rostock in den 60er-Jahren hat er die Beat- und Rockmusik für sich entdeckt - und er unterschreibt seine E-Mails noch heute mit dem Gruß "Keep on Rocking". Er kennt die Repressionen, mit denen die DDR-Führung ihre politische Linie durchsetzte, aber er hat auch die Erinnerungen an ein angenehmes Leben, das er als Musiker in der DDR führen konnte.

Nach Mauerbau und Kubakrise hatte sich die politische Lage in Deutschland etwas entspannt. Die Großmächte führten Abrüstungsgespräche. Ost und West begannen, sich im Kalten Krieg einzurichten. Um endlich auch eine wirtschaftliche Stabilisierung zu erreichen, verkündet der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht beim 6. Parteitag der SED im Januar 1963 neue wirtschaftliche Leitlinien mit flacheren Hierarchien, mehr Mitbestimmung und Investitionen in die Wissenschaft. Parallel dazu eröffnen sich in den nächsten beiden Jahren auch größere Spielräume für Kultur- und Gesellschaftspolitik. Ein Jugendkommuniqué der Partei aus dem Herbst 1963 wird unter die Überschrift "Der Jugend mehr Vertrauen und Verantwortung" gestellt.

Die Jugend nutzt die Spielräume. Sie tanzt Twist und gründet Beatgruppen. Den Lipsi-Tanz, der 1959 als sozialistisches "Gegengift" zu den neuen, rockigen Rhythmen aus dem Westen entwickelt wurde, lässt sie links liegen. Wie im Westen spielen die Beatles eine wichtige Rolle bei der Emanzipation der Jugend und ihres Musikgeschmacks, erinnert sich Reinhard Möller: "Das war schon Musik, die uns sehr nah kam."

Dass die neue Musik aus dem Westen "rüberschwappt", wie Möller es rückblickend ausdrückt, lässt sich nicht verhindern: Die Jugendlichen hören westliche Radiosender, wenn sie im DDR-Rundfunk nichts nach ihrem Geschmack finden. Auch deshalb richtet die SED zum Deutschlandtreffen der Jugend an Pfingsten 1964 ein "Sonderstudio DT64" ein, das Musik spielt, die die Jugend mag - und erlaubt, dass daraus das erste deutsche Jugendradio wird. "DT64" etabliert sich und kann den West-Sendern mit guter Musik, Live-Moderationen und guten Reportagen Paroli bieten. Aber natürlich wird auch darauf geachtet, dass alles auf Parteilinie bleibt, wie sich "DT64"-Redakteur Lutz Deckwerth nach der Wende erinnert: "Es waren nur ausgesuchte Leute, die moderieren durften. Beiträge wurden von drei, vier Leuten abgezeichnet."

Für Reinhard Möller und seine Bands ist der Sender damals eine große Chance. "Wir haben dann ab und zu einen Publikumspreis gekriegt und wurden eingeladen zu Produktionen in diese Studios, die völlig ausländischen Standards entsprachen." Dabei dürfen sie ebenso wie bei ihren Live-Auftritten auch Titel aus dem Westen spielen - allerdings streng quotiert: "Du durftest 40/60 spielen. 40 Prozent West-Titel, 60 Prozent DDR-Titel." Die Gründe dahinter sind ideologischer Natur - aber auch finanzieller: Für die West-Titel musste die DDR Lizenz-Gebühren zahlen, und das Geld war nur in beschränktem Umfang vorhanden. Reinhard Möller erzählt, dass er viele DDR-Titel allerdings auch gerne gespielt habe.

Doch bevor die DDR-Führung versteht, dass sie die DDR-Jugend nicht völlig von den Entwicklungen im Westen abschotten kann, gibt es Mitte der 60er-Jahre einen Rückschlag. In Moskau rückt Leonid Breschnew im Oktober 1964 an die Spitze der KPdSU - und der hält im Unterschied zu seinem Vorgänger Chruschtschow wenig von gesellschaftlichen Experimenten. Und was viele Herren in der SED-Führung von den Entwicklungen in der Jugendkultur halten, fasst Walter Ulbricht in dem viel zitierten Satz zusammen: "Ich denke, Genossen, mit der Monotonie des 'Yeah, Yeah, Yeah', und wie das alles heißt, sollte man doch Schluss machen."

Die Randale bei Konzerten der Rolling Stones während deren Tournee in Westdeutschland 1965 lässt bei der SED-Führung die Befürchtung wachsen, dass womöglich auch in der DDR etwas aus dem Ruder laufen könnte. Im Oktober 1965 wird daher ein Beschluss der gefasst, der Beatmusik in Radio und Fernsehen verbietet, englische Namen für Bands untersagt und Beatgruppen die Lizenz entzieht.

In Leipzig trifft der Beschluss nicht nur Profis, sondern der Rat der Stadt verbietet auch rund 50 Amateur-Bands. Zwei Jugendliche rufen daraufhin mit Flugblättern für den 31. Oktober zu einer Protest-Demonstration auf. Hunderte Beat-Fans versammeln sich in der Leipziger Innenstadt - und noch mehr FDJ-Funktionäre, Stasi-Leute und Schaulustige. Es ist die größte nicht genehmigte Demonstration in der DDR seit dem 17. Juni 1953. Ein vergleichbarer Widerstand organisiert sich erst wieder in der Vorwende-Zeit. Doch der Leipziger Beat-Aufstand wird von der Bereitschaftspolizei mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Hunden aufgelöst. Viele der jugendlichen Demonstranten werden festgenommen, viele werden zu mehreren Wochen Arbeit im Braunkohletagebau verurteilt.

Reinhard Möller erlebt in der Folgezeit immer wieder den Wechsel von Phasen größerer Freiheit mit Phasen größerer Repression. Sein Geiger etwa landet im Gefängnis, weil er im Westen Informationen zur Umweltverschmutzung in der DDR veröffentlicht, die das Regime geheim halten wollte. Möllers Band darf im Unterschied zu anderen keine Tournee im Westen machen, weil er selbst als IT-Fachkraft gearbeitet hatte. Auf der anderen Seite sagt er, hätten sie als Musiker oft auch relative Narrenfreiheit gehabt: "Wie ein Hofnarr, der durfte vieles sagen. Wir waren die Hofnarren."

Möller wurde nie Mitglied der SED, aber er arrangierte sich mit den Verhältnissen. Er hat die Politik weitgehend rausgelassen aus seinen Songs. Jeder, sagt er, musste für sich selbst ausloten, wie weit er gehen konnte. Auch die im Westen bekannten Bands wie die Puhdys, City oder Karat. Und, dass oft auch politische Anspielungen in Zeilen steckten, die klangen wie reine Poesie - zum Beispiel in dem Song "Nach Süden, nach Süden" seiner Lieblingsband Lift. Die DDR-Bürger, sagt Möller, wussten das zu lesen. Und: "Vielleicht muss man auch DDR-Bürger gewesen sein, um das zu verstehen."


Aus: "Erst gefördert, dann bekämpft: Die Beatbewegung in der DDR" Ulrike Bosse (16.03.2022)
Quelle: https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Beatbewegung-in-der-DDR-Erst-gefoerdert-dann-bekaempft,beatmusik100.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Vielleicht hat das alles mit einer Drehbuch- oder Regie-Entscheidung begonnen, die, handwerklich durchaus nachvollziehbar, die politische Moral der DDR-Erinnerung nachhaltig veränderte. Bei der Verfilmung von Thomas Brussigs autofiktionalem Roman Am kürzeren Ende der Sonnenallee, einer lockeren Aneinanderreihung von Episoden einer mehr oder weniger rebellischen Jugend in der späten DDR, sollte ursprüngich am Ende eine Szene vom Tod an der deutsch-deutschen Grenze stehen.
Das hätte freilich den leichten Ton zwischen Groteske und ironischer Romantik schockhaft zerstört, der den Film Sonnenallee 1999 zu einem großen Publikumserfolg im einigermaßen wiedervereinigten Deutschland machte – und zum Modell für eine trotzig-unlarmoyante Spielart der gescholtenen "Ostalgie". Kein Tod am Ende von Sonnenallee, sondern das Bekenntnis, dass auch die DDR ein Paradies sein konnte, wenn man jung, verliebt und schuldlos war.

Mit Sonnenallee war eine cineastische Methode und zugleich eine Mythologie zur Post-DDR-Erzählung geboren, die, wie es so ist, ihre Vorteile und ihre Nachteile hat. Beinahe könnte man von einem eigenen Genre der Ostalgie für Ossis und Wessis sprechen, denn die Filme des Schöpfers dieser Mythologie, Leander Haußmann, führen nicht in die DDR, wie sie war, sondern in ein Traumland, in dem das Graue, das Heruntergerockte und das Verengte zur perfekt malerischen Kulisse für eine Peter-Pan-Fantasie werden konnte: Wo, wenn nicht in dieser DDR, die alle Facetten von Korruption, Gewalt und Groteske der Erwachsenenwelt so militant ausstellte, konnte man so sehr den Wunsch hegen, nie erwachsen zu werden? Nach NVA, der etwas zu klamottig geratenen Militärsatire, und Seitenstücken wie Hotel Lux (mit Auftritten von Walter Ulbricht und Clara Zetkin) könnte jetzt mit Stasikomödie das Haußmann-Genre seinen Höhepunkt (schon von den Produktionswerten her), vielleicht aber auch seinen Abschluss finden. Als Dekonstruktion dieser ironisch-romantischen Erinnerungsrevuen zwischen Mythos und Verdrängung.

Das zumindest legt erst einmal der Plot nahe: Ein ergrauter Herr holt sich in einer Papiertüte seine Stasi-Akten ab, doch daheim nimmt nicht nur die turbulente Familie, sondern auch ein hinzugeladener Journalist die dokumentierte Lebensgeschichte auf. Die könnte enthüllen, dass der vermeintliche Boheme-Rebell vom Prenzlauer Berg in Wahrheit von der Staatssicherheit ins Milieu geschleust wurde und sich danach, nur selten Herr der Lage, zwischen Liebesgeschichten, Stechapfel-Cocktails und Dichterlesungen (gar eine, halb real, mit Allen Ginsberg) in den Labyrinthen der absurden Parallelwelt ebenso wie in den noch absurderen Welten der politischen Macht verheddert. Zum Happy End im Übrigen hat seine Familie glücklicherweise Wichtigeres zu tun, als sich mit seiner Stasi-Vergangenheit zu beschäftigen.

Der Plot ist freilich nur roter Faden für eine Reihe von mehr oder weniger autonomen Szenen, mal auf der einen, mal auf der anderen Seite des Spitzelsystems. Das eben ist die Methode Haußmann: Es geht nicht um die Widerspiegelung von Geschichte in einer Story oder deren Charakteren, sondern um szenische Reigen, in denen sich Assoziationen und Rekonstruktionen, Traumkulisse und Detailrealismus umkreisen. Jede einzelne Nummer dieser Reigen hat einen eigenen Ton, eine eigene Gefühlslage, eine eigene Position. Sehr oft ist man bis hin zur Raum- und Lichtgestaltung dem Theater näher als dem Film. Dazu gehört es, dass auf intensive Szenen andere folgen, die eher an der Oberfläche funktionieren, groteske Überbietungen – wie Erich Mielke als lebendes Reiterdenkmal in einem bizarren Maskenball – folgen auf hübsche Reduktionen. Etwa die Eingangssequenz mit der Ampel vor menschen- und autoleerer Allee, die der Held nicht zu ignorieren wagt, die Wartezeit stattdessen mit subversiver Lektüre verbringt, bis eine Katze und ein Straßenreinigungsfahrzeug doch eine Entscheidung erzwingen. Doch wer hat diese Szene inszeniert als Probe für unseren Helden? Man hat die Stasi ja gern als ungeheure "Erzählmaschine" charakterisiert, und das wird hier fast schon wörtlich genommen, da man zwischen einem Bespitzelungsbericht und einem Romanentwurf nicht mehr unterscheiden kann. Oder eben zwischen einer Ampelmanipulation und einem Filmdreh.

Eine Reihe von Motiven verbinden Sonnenallee und Stasikomödie: die wiederkehrende Metapher der Ampel, die Off-Narration durch einen ironisch-unzuverlässigen Erzähler, die heillose Verquickung von Liebe und Politik, das spezifische DDR-Rauschgetränk, die Charakterisierung des Helden in der Ambivalenz von Beobachten und Mitmachen, das Wandeln am Rand des Kontrollverlustes, der "Obermeister" von der Volkspolizei, der nie so recht weiß, ob er zum System oder doch zu den Leuten gehört (gespielt von Detlev Buck, der vor und hinter der Kamera zu Haußmann-Filmen beiträgt), die ungebrochen männliche Perspektive und nicht zuletzt das Zurückschrecken vor dem Punkt, an dem das Komische sich nicht mehr vollständig dem Wohlfühl-Ansinnen unterwirft. Es ist am Ende aber vielleicht doch kein durch und durch gutes Gefühl, wenn man zum Komplizen einer viel zu einfachen Versöhnung gemacht werden soll. Die DDR ist in der Leander-Haußmann-Mythologie vom surrealen Neverland unter der Oberfläche von Macht und Alltag auf die angenehmste Art aufgehoben. Auf die wahrhaftigste Art eher nicht.


Aus: ""Stasikomödie": Bloß nicht erwachsen werden" Eine Rezension von Georg Seeßlen (19. Mai 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/2022/21/stasikomoedie-leander-haussmanns-film-ddr

QuoteB42Fisch #2

Ich habe regelmäßig mit Patienten zu tun, die aus politischen Gründen in der DDR Psychiatrie ,,verschwunden" sind. Deren Sicht auf die Alltagsrealität der DDR war und ist eine ganz Andere. Firma Horch und Kuck sass bei jedem ,,Arztgespräch" mit am Tisch. Und tut es gefühlt heute noch, drum brauchen die Patienten heute eine echte Psychiatrische Behandlung.

Wer zu klar und gesund denken konnte, um sich dem Wahnsinn des Alltags hinzugeben, musste in der DDR in die Psychiatrie.


QuoteSerafez #2.1

Öhm, und alle anderen? Ich glaube nicht, dass man Ihre Aussage in dieser Allgemeinheit stehen lassen kann.


QuoteCastlepool #2.2

Eine sehr einseitige, zugespitzte und seltsame Betrachtung des Alltags im Osten. Nach meiner Erfahrung.


QuoteBurgundy #2.4

,,Wer zu klar und gesund denken konnte, um sich dem Wahnsinn des Alltags hinzugeben, musste in der DDR in die Psychiatrie."

Im Umkehrschluss würde diese absurde These bedeuten, dass 99,5 Prozent der DDR-Bürger*innen nicht klar (und gesund? wie denkt man gesund?) denken konnten.

Das ist westdeutsche Arroganz und Naivität in absoluter Reinform.


Quotehalt.mal.kurz #2.6

Das kann ich nur bestätigen..., als "Betroffener", Anfang der 70er in Ostdeutschland geboren, empfand ich den Humor in "Hotel Lux" (Walter Ulbricht übt schon mal mit Würfelzucker den Mauerbau) als irgendwie befreiend, schließlich geschah das alles deutlich vor meiner Geburt und der Abstand zu den Ereignissen war da. Bei "Sonnenallee" und "NVA" dagegen ist mir das Lachen doch häufig im Hals stecken geblieben. Vermutlich verarbeitet Leander Haußmann seine Erlebnisse als Jugendlicher in der DDR auf diese Weise (dass er es kann, darum beneide ich ihn), mir kamen zum Teil ganz andere Erinnerungen und Gefühle wieder hoch, die waren weniger lustig.
Trotzdem werde ich mir sicher auch die "Stasikomödie" ansehen.



Zitat:"Im Umkehrschluss würde diese absurde These bedeuten, dass 99,5 Prozent der DDR-Bürger*innen nicht klar (und gesund? wie denkt man gesund?) denken konnten.
Das ist westdeutsche Arroganz und Naivität in absoluter Reinform."

Das muss keine westliche Arroganz sein... Es gab in der DDR ganz unterschiedliche Biographien (die Mehrheit hatte sich irgendwie mit dem Regime arrangiert und mit Trabi, Schrebergarten und Rotkäppchen Sekt einfach ihr Leben gelebt. Manche sind deutlich darüber hinaus gegangen, haben Freunde im Auftrag der Stasi bespitzelt (gelegentlich übrigens erst nach psychischer "Überredung" durch Letztere), Kinder haben Eltern verraten und umgekehrt. Wer etwas erreichen wollte, ist dann eben Mitglied der SED geworden, aus Überzeugung oder Opportunismus (das hätten sicher viele Westdeutsche, die anschließend den Stab über solche Zeitgenossen gebrochen haben, nicht anders gemacht).
Und dann gab es noch die, die aufbegehrt haben gegen ein System, welches sie als ungerecht, gewalttätig, verlogen und einengend empfunden haben. Natürlich waren auf den ersten Montagsdemos vorrangig jüngere Menschen, die, die noch keine Familie hatten, für deren Sicherheit sie verantwortlich gewesen wären...



QuoteSerafez #3

Ich finde ja, gerade darin liegt die Genialität der Filme, dass sie zeigen, wie sehr die Repression dazugehörte, aber der Alltag eben vor allem Leben war und da, in dem was man hatte, auch durchaus intensiv und auskostend.
Mir kommt es manchmal so vor, als müsste zur DDR immer am lautesten und zuerst und überhaupt am besten nur gesagt werden, dass es ein Unrechtsstaat war, alles andere mag vielleicht auch gewesen sein, aber ist Verklärung. Mir ist das zu wenig differenziert. Vielleicht muss man auch an dieser Stelle mit einer größeren Ambiguität leben.


QuoteFrüherwarsauchmist #4

Ich freue mich auf die ,,Dritte Reich"-Wohlfühlfilme. Denn auch dort war ja nicht alles schlecht.
/s


QuoteFlorian Schwanitz #4.1

Wo stand dann ihrer Meinung nach das Vernichtungslager mit Gaskammern in der DDR? Und wieviele Millionen Tote gab es denn nach dem Weltkrieg, den die DDR angefangen hat?

Vielleicht sollten sie "Drittes Reich" und die "DDR" nicht implizit gleichsetzen?


Quote*-* #4.3

Im Privaten sicher nicht. Auch während dieser Zeit gab es junge verliebte Menschen, über die man sehr romantische Liebesfilme drehen könnte :) Und diese Filme wurden sicher auch gedreht.


Quotehalt.mal.kurz #4.6

Ich stimme insofern mit Ihnen überein, dass das alternative Ende mit dem Maueropfer ein realistischeres gewesen wäre. (sicher, es war nicht alles schlecht, aber eben doch vieles sehr schlimm)
Mit dem Nazi-Deutschland zur Zeit des 3. Reichs kann man die ehemalige DDR allerdings tatsächlich nicht vergleichen. Die DDR war sicher alles Andere als ein Rechtsstaat, aber doch weit entfernt vom faschistischen Hitlerdeutschland.


QuoteSuperfrau #5

Ostalgie-Film für Freitag-Leser.


QuoteBurgundy #5.1

Was unterscheidet Freitag-Leser*innen denn von ZEIT-Leser*innen?


Quoteelfotografo #6

Leander Haußman wird mit diesem Film nicht mehr gelungen sein als oberflächlicher Brachial-Klamauk.

Ihm fehlt jegliches Gespür fürs Feinsinnige, die Fähigkeit vielschichtige Charaktere zu zeichnen und vor allen Dingen die Begabung, das Grauen hinter den oft lächerlichen Typen der Stasi mitklingen zu lassen.

Und wenn dann auch noch Detlev Buck darin herumfuhrwerkt ... Oh je ...


Quotepourquoi pas #6.1

Man muß eben ein feines ästhetisches Gespür haben, um das Groteske im vermeintlich Tragischen zu erkennen.


Quoteelfotografo #6.2

"....um das Groteske im vermeintlich Tragischen zu erkennen."

Überragend gut gelungen in einem meiner Lieblingsfilme überhaupt:

"Sein oder Nichtsein" von Ernst Lubitsch.


Quotepourquoi pas #7

Klingt großartig. "Sonnenallee" war die bisher gelungenste künstlerische Verarbeitung der DDR-Ära, und diese Fortsetzung rundet Haußmanns differenzierenden Blick auf die deutsche Geschichte ab. Niemand, der nicht damals dort gelebt hat, kann beurteilen, wie vielfältig ein Leben in Licht und Schatten sein kann.


QuoteBurgundy #7.1

,,Sonnenallee" war die bisher gelungenste künstlerische Verarbeitung der DDR-Ära"

Nein, m.E. war das ganz klar ,,Gundermann".

Aber ich werde mir den neuen Haußmann-Film auch ansehen und bin auch der Meinung, dass ,,Sonnenallee" ein sehr guter Film war, der eine neue Ära der Betrachtung der DDR eingeleitet hat.


Quotereader59 #8

Viel zu kompliziert. Hausmann hat es auf den Punkt gerbracht in der DDR durfte man die Stasi nicht humorvoll betrachten eins war klar, die Jungs waren absolut humorlos. Und jetzt darf man wieder nicht mit Humor an die Geschichte rangehen? Wann dann? Die Lächerlichkeit Ihres Tuns darzustellen ist jedenfalls besser als nur bedeutungsschwanger über sie zu reden und Sie damit wichtiger zu machen als sie waren. Hat auch nichts mit Wohlfühlnostalgie zu tun. Jetzt endlich darf man über sie lachen, das ist der echte Sieg. Man ist endlich angstfrei. Putin hat es geschaft die Angst vor seinen Kumpanen zu konservieren. Er ist auch deshalb so begierig zu siegen (was offensichtlich in weiter Ferne liegt) weil die Ukraine das System Angst überwunden hat
und stellen Sie sich mal vor das passiert in Russland.


...

Textaris(txt*bot)

#67
Daniel Siemens (* 1975 in Bielefeld) ist ein deutscher Historiker und Professor für Europäische Geschichte an der School of History, Classics and Archaeology der Newcastle University in England.
https://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Siemens

Hinter der "Weltbühne": Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert. Aufbau-Verlag, Berlin 2022, ISBN 978-3-351-03812-0.

Do. 07.04.22, 15:00 Uhr
Kaum ein Linksintellektueller überlebte mehr Regimewechsel und war auf so unterschiedliche Weise wirksam wie Hermann Budzislawski: ob in der Nachfolge von Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky als Leiter der "Weltbühne" nach 1933, als Mitarbeiter von Dorothy Thompson in den USA oder als prägende Figur der sozialistischen Journalistik in der DDR. Mit seiner neuen Biographie "Hinter der Weltbühne. Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert" (Aufbau Verlag) zeichnet der Historiker Daniel Siemens ein komplexes Panorama des 20. ...
https://www.hr2.de/programm/sendezeiten/am-nachmittag,epg-am-nachmittag-1202.html

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Quote[...]  Stefan Brams: Herr Siemens, die ,,Weltbühne", die wohl bedeutendste Politik- und Kulturzeitschrift der Weimarer Republik, ist manchen Menschen heute noch ein Begriff, aber Hermann Budzislawski, der sie im Exil herausgegeben hat und in der DDR vier Jahre als Chefredakteur verantwortete, eher nicht. Warum haben Sie sich in ihrem neuesten Buch ausgerechnet mit ihm auseinandergesetzt?

Daniel Siemens: Das stimmt, Budzislawski war als Journalist nie die Galionsfigur der ,,Weltbühne". Das waren eher der Gründer Siegfried Jacobson und später Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky, die maßgeblichen Autoren der 20er und frühen 30er Jahre. Hermann Budzislawski stieß erst 1932 zur ,,Weltbühne", wenige Monate, bevor die Zeitschrift von den Nazis verboten wurde.

Stefan Brams: Was macht ihn dennoch interessant für uns?

Daniel Siemens: Als die Zeitschrift nach der Machtergreifung nur noch aus dem österreichischen, später tschechoslowakischem und noch später französischem Exil heraus erscheinen konnte, wurde er Chefredakteur und bald auch Miteigentümer des renommierten Blattes. Das macht ihn interessant. Spannend ist aber auch seine Lebensgeschichte nach 1945, als er aus dem New Yorker Exil in die DDR zurückkehrte und Professor für Journalismus in Leipzig wurde. Er versucht auch, wieder an die Spitze der 1946 in Ostberlin neu gegründeten ,,Weltbühne" zurückzukehren. Das scheitert zunächst, weil er Ulbricht zum Gegner hat. Erst 1967 wurde Budzislawski nochmals als Chefredakteur berufen. Nach seinem Tod 1978 ist er dann aber rasch in Vergessenheit geraten.

Stefan Brams: Warum hat sich niemand mehr mit ihm beschäftigt?

Daniel Siemens: Als die DDR nach dem Mauerfall abgewickelt wurde, hat sich zunächst niemand mehr für Linke, die sich mit der SED eingelassen hatten, interessiert. Erst jetzt, drei Jahrzehnte später, gibt es ein neues Interesse an den nach dem Zweiten Weltkrieg bewusst aus dem Exil in die DDR gegangenen Linksintellektuellen. Budzislawskis Lebensweg, dem ich nachspüre, steht beispielhaft für diese Gruppe.

Stefan Brams: Sie beschreiben Budzislawski als eine sehr vielschichtige, widersprüchliche Persönlichkeit. Was machte ihn denn aus?

Daniel Siemens: Er war einerseits linientreu, testete in der DDR aber auch die Spielräume aus und versuchte den Raum des Sagbaren vorsichtig und innerhalb des Systems zu vergrößern. Mit Folgen, denn in den Augen der SED-Orthodoxie galt er damit als unzuverlässiger ,,Liberaler" – was in für Ulbricht und andere Genossen ein Schimpfwort war. Für den Westen war er schlicht ein Claqueur des Systems. Ich zeige in meiner Biografie, wie dieser vorsichtige, sehr wendige, gewiefte Intellektuelle im Laufe seines Lebens alles tat, um nicht unterzugehen in diesem 20. Jahrhundert, das so viele zermalmt hat. Es war der Spätstalinismus, der vielen dieser Linksintellektuellen in der DDR das Rückgrat gebrochen hat.

Stefan Brams: Budzislawski war Journalist und begründete als Journalistik-Professor in Leipzig den ,,sozialistischen Journalismus". Wofür stand er als Journalist?

Daniel Siemens: Er stand klar für einen SED-nahen, parteiischen Journalismus. Aber er hatte auch die Idee, nach dem Vorbild der ,,Zeit" im Westen zusammen mit Bertolt Brecht eine vergleichbare Wochenzeitung auch in der DDR zu gründen. Sie sollte ,,Die Republik" heißen, er wäre Chefredakteur geworden. Sein Widersacher hieß erneut Ulbricht, der ihm als bürgerlichen Linksintellektuellen nicht traute und auch dieses Projekt verhinderte, wie er nach dem Krieg eben auch dafür sorgte, dass Budzislawski zunächst nicht wieder Chefredakteur der ,,Weltbühne" werden konnte. Stattdessen wurde er als Professor in Leipzig geparkt und als linksintellektuelles Feigenblatt für die SED genutzt.

Stefan Brams: Das alles ließ er mit sich machen. Sie beschreiben Budzislawski als sehr wendig, wendig bis zum Verrat?

Daniel Siemens: Nein, das nicht, aber er nutzte alle Tricks und spielte seine Gegner, wo es ging, aus, um selbst oben zu bleiben. Auch wollte er später, in der DDR, seinen bürgerlich-gehobenen Lebensstandard nicht aufgeben. Zugleich hat er aber seine antifaschistischen Überzeugungen immer konsequent gelebt und dafür im Exil auch Opfer gebracht. Widersprüche wie diese machen für mich den Reiz dieser Person aus.

Stefan Brams: Über sein Privatleben hat er wenig preisgegeben.

Daniel Siemens: Die Erfahrungen im Exil, seine Kontakte zu Parteien in der Illegalität, die Geheimnisse um die Finanzen der ,,Weltbühne", all das hat ihn für sein ganzes Leben sehr vorsichtig werden lassen. Als er Mitte der 30er Jahre einen Konkurrenten um die Chefredaktion der ,,Weltbühne" ausgebootet hatte, sagte er zu diesem: ,,Dein Fehler war, ich wusste über dich alles, aber du nichts über mich". Das sagt viel über seinen Charakter aus.

Stefan Brams: Nicht gerade ein sympathischer Zug?

Daniel Siemens: Er konnte durchaus charmant sein, schnell Freunde gewinnen, aber er band sich eben nicht wirklich an sie und enttäuschte manche, die schließlich spürten, dass er sie eher benutzte als wirkliche Freundschaften einzugehen. Er war ein Schlawiner, Geschäftsmann und eben auch überzeugter Sozialist, der zwar immer in der zweiten Reihe stand, aber in dessen Biografie sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit wie in einem Brennglas spiegelt. Nach meinen Recherchen habe ich den Eindruck gewonnen, dass wir uns gerade die Menschen aus der zweiten Reihe genauer ansehen sollten, denn anhand ihrer Biografien lässt sich manches besser verstehen und erkennen als an den Frauen und Männern aus der ersten Reihe. Letztendlich erzähle ich anhand des Lebens von Hermann Budzislawski eine beispielhafte Geschichte vom Auf- und Abstieg der deutsch-jüdischen Linksintellektuellen im 20. Jahrhundert.

Stefan Brams: Wie bedeutend war die ,,Weltbühne" in der DDR noch?

Daniel Siemens: Im Gegensatz zur ,,Weltbühne" der Weimarer Republik und im Exil hatte sie vor allem an Frechheit und Brillanz eingebüßt. Ihr größtes Problem war: Sie hatte ihre Maxime verloren, die früher hieß, mit keiner Macht zu kuscheln. Das hat auch Budzislawski als Chefredakteur und Herausgeber in den Jahren von 1967 bis 1971 nicht ändern können, auch wenn er in dieser Funktion durchaus bemüht war, Grenzen auszuloten. Drei Jahre nach der Wiedervereinigung wurde die ,,Weltbühne" schließlich endgültig eingestellt.

Stefan Brams: Spannend ist ihre Recherche zu Budzislawskis Leben auch, weil Sie in ihrem Buch etwas zu Gregor Gysis mutmaßlicher Tätigkeit für die Staatssicherheit der DDR schreiben.

Daniel Siemens: Gysi hat in den 80er Jahren von der Familie Budzislawski ein Haus in Buckow östlich von Berlin gekauft, und über diesen Kauf finden sich Angaben in einem Diensttagebuch der Stasi. Schon in den 1990er Jahren haben Journalisten mit Hilfe solcher Quellen nachzuweisen versucht, dass Gysi ein IM – ein Informeller Mitarbeiter der Stasi – gewesen sein soll. Gysi bestreitet das und hat entsprechende Gerichtsprozesse bislang auch gewonnen. In meinem Buch ist das nur ein Randthema. Budzislawski und die ,,Weltbühne" sind auch ohne Gysi spannend genug.

...

Über: Daniel Siemens: ,,Hinter der Weltbühne. Hermann Budzislawski und das 20. Jahrhundert"; 413 S., Aufbau


Aus: "Schlawiner, Geschäftsmann, Sozialist" (15.03.2022)
Quelle: https://www.nw.de/nachrichten/kultur/kultur/23218548_Schlawiner-Geschaeftsmann-Sozialist.html

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"Wie es sich zu DDR-Zeiten in Prenzlauer Berg und Mitte wirklich wohnte" Susanne Lenz (12.09.2022)
Das Filmfestival Prenzlauerberginale zeigt umwerfende Dokumentaraufnahmen aus den Siebzigern und Achtzigern, die keiner Propaganda dienten.  Der Benzinmangel erweist sich heute, 40, 50 Jahre und einen Systemzusammenbruch später, für Berlin als Glücksfall. Nur 70 Liter im Monat hatten die Filmemacher der SFD monatlich zur Verfügung. Sie drehten also vor allem in der Hauptstadt der DDR. SFD nie gehört? Es ist die Abkürzung für die Staatliche Filmdokumentation der DDR, in deren Auftrag zwischen 1971 und 1986 rund 300 Berichte über den Alltag in diesem Land entstanden. Das Material war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern wurde für zukünftige Generationen archiviert, um später einen unverstellten Blick auf eine sozialistische Gesellschaft im Aufbau zu ermöglichen, wie es auf der Webseite der Prenzlauerberginale heißt, die Stephan Müller nun zum sechsten Mal organisiert. Das kleine Filmfestival zeigt am 13. September im Filmtheater Friedrichshain verschiedene Ausschnitte aus SFD-Berichten von 1979 bis 1985 zum Thema Wohnen, die alle in Mitte und Prenzlauer Berg entstanden sind. ...
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/kino-streaming/dokumentarfilme-zeigen-wie-es-sich-in-der-ddr-im-prenzlauer-berg-und-in-mitte-wirklich-wohnte-li.265534


"RBB-Doku "Der heimliche Blick": In den No-Go-Areas der DDR" Von Kurt Sagatz (16.03.2015)
Ein RBB-Film zeigt unveröffentlichte Ausschnitte aus Aufnahmen der Staatlichen Filmdokumentation. Sie zeigen die DDR, wie sie war, nicht wie sie die Staatsführung sehen wollte.
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/in-den-no-go-areas-der-ddr-8124658.html

Die Staatliche Filmdokumentation (SFD)
https://de.wikipedia.org/wiki/Staatliche_Filmdokumentation

Staatliches Filmarchiv der DDR
http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/DR-140-64968/index.htm?kid=815f4cc2-56f9-4cf4-99d3-dd570b8c014c

Offene Geheimnisse. Die Staatliche Filmdokumentation des DDR-Filmarchivs (1970-1986) [2013]
https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-123784

"Die ungeschminkte DDR gefilmt" Heiko Weckbrodt (24. Februar 2015)
https://oiger.de/2015/02/24/die-ungeschminkte-ddr-gefilmt/56584

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Quote[...] Seine bisherigen Bücher waren anders angelegt. Dirk Oschmann schrieb über die Romane Franz Kafkas, über Literatur des 18. Jahrhunderts oder auch eine Einführung in das Werk Friedrich Schillers. Er ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Er ist außerdem, wenn er sich beschreiben soll, passionierter Radfahrer und Fußballfan, war nie Mitglied einer Partei und, das schreibt er so, ,,werde es niemals sein". Na ja, und Ostdeutscher ist er.

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Aus: "Dirk Oschmann über westdeutsche Arroganz – und die Scham der Ostdeutschen" Cornelia Geißler (23.02.2023)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/neues-buch-der-osten-eine-westdeutsche-erfindung-literaturprofessor-dirk-oschmann-ueber-die-arroganz-der-wessis-und-die-scham-der-ossis-li.319955

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Quote[...] [Dirk Oschmann (04.02.2022)]: ... Zur kontinuierlich ge­führten West-Ost-De­batte zählt die Behauptung, es gebe eine spezifische ,,Ost-Identität", die mitverantwortlich sei für die der­zeit rasant wachsende gesellschaftliche Spaltung. So jedenfalls kann man den im öffentlichen Raum vorherrschenden Eindruck resümieren. Allerdings ist dieser öf­fentliche Raum als ökonomischer, medialer und diskursiver Raum nicht nur komplett in westdeutscher Hand, sondern auch vollständig von westdeutschen Perspek­tiven dominiert; genau aus diesem Grund hat man sich in Sachsen-Anhalt im vergangenen Jahr geweigert, einer Erhöhung der Rundfunk- und Fernsehgebühren zu­zustimmen. Da alle die Chimäre dieser ,,Ost-Identität" kennen, soll sie hier nicht erneut verhandelt werden, vielmehr wird im Folgenden skizziert, was es bedeutet, von der Politik und großen überregio­nalen Medien, also von den öffentlichen deutschen Eliten, die natürlich nur westdeutsche Eliten sind, eine solche auferlegt zu bekommen. Nicht der ,,Osten" ist zu er­klären, sondern der ,,Westen", der sich an­maßt, den Osten identitätspolitisch zu interpretieren und dabei faktisch zu isolieren.

Durchgängig spreche ich von Osten und Westen, von Ostdeutschen und Westdeutschen, und verzichte bewusst auf jede Art von Relativierung. Die Kompromisslosigkeit dieser Entgegensetzung spiegelt nur die Gnadenlosigkeit der Un­terscheidung, wie sie seit mindestens 30 Jahren, eigentlich aber seit 1945 den deutsch-deutschen Diskurs bestimmt; Christoph Hein nennt dies in einem neueren Buch den ,,letzten deutsch-deutschen Krieg". Um den Kontrast anschaulich zu machen, sei der Jurist und Pu­blizist Arnulf Baring zitiert, der 1991 die Ostdeutschen so beschrieb: ,,Ob sich dort heute einer Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal. Sein Wissen ist auf weiten Strecken völlig unbrauchbar. [. . .] viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktgesellschaft einbringen könnten." Offenbar für Aussagen wie diese hat Ba­ring den Europäischen Kulturpreis für Politik und das Große Bundesverdienstkreuz erhalten.

Armin Laschet wiederum verstieg sich noch 2016 in einer ARD-Sendung zu der Aussage, die DDR habe ,,die Köpfe der Menschen zerstört. [. . .] Ganze Landstriche haben nicht gelernt, Respekt vor anderen Menschen zu haben." Und dass die Wo­chenzeitung ,,Die Zeit" seit mehr als zehn Jahren die Rubrik ,,Zeit im Osten" enthält – und zwar nur im Osten – , unterstreicht das entschiedene Bestreben einer Sonder­zonenberichterstattung, mit der die Spaltung zementiert wird. Öffentlich und all­gemein bewusstseinsgeschichtlich hat sich an der Spaltung folglich nichts geändert. Dabei begreift sich der Westen stets als Norm und sieht den Osten nur als Abweichung, gar als krankhafte Fehlbildung. Da­rum stört es den westdeutschen Wohlfühl- und Diskurskonsens in der Regel, wenn jemand aus dem ,,Osten" spricht.

Die hier zu leistende Zustandsbeschreibung ist nicht mit ,,Jammern" zu verwechseln. Darin besteht nämlich der beliebteste rhetorische Trick, kritische Wortmeldungen von ostdeutscher Seite mit dem Vorwurf erledigen zu wollen, hier rede wieder bloß ein sogenannter Jammer-Ossi. In der privilegierten Position eines Professors habe ich gar keinen Grund zu ,,jammern", wohl aber Anlass, eine dezidiert andere Sicht zu entwickeln. Denn in der allgemeinen Wahrnehmung erscheint Kritik des Ostens am Westen nicht opportun, so als würden wir bereits in der besten aller Welten leben. Das tun wir natürlich nicht, da die beste aller Welten bekanntlich die 1989 untergegangene alte BRD war, wie man noch der im Jahr 2020 publizierten ,,Kurzen Geschichte der Deutschen" des Berliner Historikers Heinrich August Winkler entnehmen kann. Abgesehen von etlichen hochrangigen alten Nazis in gesellschaftlichen und politischen Spitzenpositionen war da alles schön und wurde alles richtig gemacht.

Eine der zentralen Schwierigkeiten in der deutsch-deutschen Gemengelage liegt folglich darin, dass es für jemanden aus dem Osten im Grunde keine adäquate Position öffentlichen Sprechens gibt. Es existieren bisher nur zwei zugelassene, das heißt halbwegs akzeptierte Va­ri­anten, sich zum Stigma der ostdeutschen Herkunft ins Verhältnis zu setzen: Erstens die explizite Kritik an und Distanzierung von dieser Herkunft, weil man laut offizieller Sprachregelung ja aus einem ,,Unrechtsstaat" kommt, und zweitens die Selbstdemütigung durch vorauseilende Ironisierung, wie sie etwa der Kabarettist Olaf Schubert praktiziert.

Aber nicht nur die aporetische Sprecherposition selbst ist ein Problem, sondern genauso sind es die Anlässe des Sprechens. Westdeutsche sprechen im­mer und überall – und über alles – im Vollgefühl ihrer Repräsentativität und Le­gitimität, und natürlich dürfen sich Westdeutsche immer als ,,Deutsche" be­greifen. Das erfährt man im Osten ganz anders, weil man innerhalb Deutschlands selbst nie das Bewusstsein verliert, aus dem Osten zu kommen und jederzeit zum Ostdeutschen gemacht und damit disqualifiziert werden zu können. Ob es einem gefällt oder nicht, man bleibt als Ostdeutscher in Deutschland ein Ostdeutscher, nicht jedoch weil man es sein möchte, sondern weil man im öffentlichen Raum permanent auf die mit dieser Herkunft verknüpften Vorurteile und Konnotationen festgelegt und reduziert wird.

Zum ,,Deutschen" wird man als Ostdeutscher erst im Ausland. Ich habe mehrere Jahre an fünf verschiedenen Orten in den USA gelebt. Niemand ist dort auf die Idee gekommen, ich könnte etwas an­deres sein als ,,a German" beziehungsweise ,,from Germany", selbst dann nicht, wenn die Rede darauf kam, dass ich in der DDR aufgewachsen bin. Hier in Deutschland dagegen scheint das nicht denkbar. Während Westdeutsche offenbar Naturdeutsche sind, sind Ostdeutsche lediglich Kunst­deutsche. Natürlich weiß ich, dass sich jeder gebildete und ökonomisch gut gestellte Westdeutsche nicht als ,,Deutscher" begreift, sondern sich, wie es zu ei­nem zeitgemäßen postnationalen und vor allem saturierten Selbstverständnis ge­hört, für einen moralisch korrekten ,,Eu­ropäer" oder gar ,,Weltbürger" hält.

Ein solches Selbstverständnis wird Ostdeutschen nur äußerst selten zugestanden, vielleicht Angela Merkel, Durs Grünbein und Toni Kroos, sonst fällt mir niemand ein. Dagegen wird allen anderen Ostdeutschen bis heute permanent abverlangt, sich dafür zu schämen und zu rechtfertigen, Ostdeutsche zu sein. Der bestehende West-Ost-Konflikt ist folglich nicht nur einfach ein weiterer Teil der gesamtgesellschaftlich geführten Ungleichheitsdebatte. Befördert durch die klaren geographischen und vermeintlich ebenso klaren historischen Konturen ist hier eine soziale, ökonomische und diskursive Ungleichheit entstanden, die zu allen anderen ohnehin bestehenden Ungleichheiten als potenzierender Faktor hinzukommt. Eine Herkunft aus dem Osten mindert die Lebenschancen er­heblich.

Mit aller Schärfe zeigt sich das beispielsweise im akademischen Rahmen. An den geisteswissenschaftlichen Fakultäten deutscher Universitäten haben nur ganz wenige Personen mit ostdeutscher Herkunft eine Professur inne. Oft schämen sie sich ihrer Herkunft und verschweigen die stigmatisierte Vergangenheit. Professuren werden auch im Osten fast immer mit Personen aus dem Westen besetzt. Das ist am Germanistischen Institut der Uni Leipzig, wo ich selber lehre, nicht anders als im ausnahmslos westdeutsch besetzten Rektorat dieser Universität. Die Gründe dafür liegen hauptsächlich im Elitenwechsel nach 1990. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, haben die damals aus dem Westen neu berufenen Wissenschaftler ihre Doktoranden und Postdoktoranden aus dem Westen mitgebracht. Hierdurch aber sind fast alle universitären Zukunftsaussichten für den ja ebenfalls vorhandenen un­belasteten wissenschaftlichen Nachwuchs aus dem Osten beendet gewesen.

Die Tore, die sich 1989 politisch ge­öffnet haben, sind in den Neunzigerjahren institutionell geschlossen worden: durch neue Strukturen einerseits, konkret handelnde Akteure andererseits. Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall hat sich an dieser Situation nichts geändert, da Eliten bekanntlich in Form eines strukturellen Nepotismus ihren Nachwuchs aus den eigenen Netzwerken rekrutieren. So bleiben die Philosophischen Fakultäten im Osten trotz der zweiten Berufungswelle seit etwa 2010 weiterhin nahezu ausschließlich Veranstaltungen von Personen aus dem Westen für Personen aus dem Westen – von der Berufungspolitik an den Universitäten im Westen selbst einmal ganz zu schweigen.

Neuere soziologische Studien zeigen, dass eine seit 1990 gesamtgesellschaft­lich stark benachteiligte Gruppe die der ostdeutschen Männer der Jahrgänge 1945 bis 1975 ist, das heißt die erste und zweite männliche Nachkriegsgeneration in der DDR. Also präzise diejenigen, die von den überregionalen Medien besonders gern als Wutbürger, AfD-Wähler, Nazis, Rassisten oder einfach als unzurechnungsfähige stam­melnde Primaten hergerichtet und zu­gerichtet werden. Das sind vielfach jene Leute, die sich 1989 in die Mündigkeit und Freiheit gekämpft haben – um dann auf andere Weise sofort wieder entmündigt zu werden, weil sie keine Macht, kein Geld, keine Beziehungen und oft keine Arbeit mehr hatten. Entmündigt, wohlgemerkt, von und in der Demokratie.

Sucht man also nach Gründen für die gegenwärtige ostdeutsche Bockigkeit, lässt sich jenseits des gänzlich irrepa­rablen ökonomischen Ungleichgewichts schnell die gravierende Unterrepräsentanz Ostdeutscher in gesellschaftlichen Spitzenpositionen identifizieren. Ihr Anteil in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz, Medien, Politik und Wirtschaft beläuft sich derzeit auf lediglich 1,7 Prozent. In der zynischen strukturellen, institutionellen und vor allem personellen Benachteiligung des Ostens liegt eines der größten Konfliktfelder der latenten und manifesten Ost-West-Spaltung. Der Osten kann sich nur verhöhnt vorkommen, wenn in Sonntagsreden und zu an­deren Anlässen von Diversität, Diversi­fizierung, Integration, Inklusion ­ – und wie die schönen Leerformeln zur Be­schwörung der kulturellen Vielfalt und des gesellschaftlichen Zusammenhalts sonst noch lauten mögen – gesprochen wird, weil er niemals mitgemeint ist.

Man muss freilich zum Ursprung der gesamten Misere gehen. Während der Westen nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallplan für die Wirtschaft und ,,po­litical reeducation" zur Orientierung in der Demokratie bekommen hat, musste der Osten riesige Reparationen an die Sowjetunion leisten und vierzig Jahre unter realer Gewalt hinter dem Eisernen Vorhang zubringen. In den Worten Heinrich August Winklers: ,,Die Ostdeutschen waren von Vornherein die eigentlichen Kriegsverlierer gewesen." Das ist allerdings bis heute so geblieben. Es ist aber gar nicht einzusehen, dass auf Dauer nur der Osten die Folgen des von allen Deutschen verantworteten Nationalsozialismus ausbaden soll.

Die Wahrnehmung und Konstruktion des ,,Ostens" in der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart zehrt obendrein von älteren Deutungsmustern, die mit dem aufkommenden Nationalismus im 19. Jahrhundert verbunden sind. Be­sonders gut sehen kann man das an ei­nem der erfolgreichsten Bücher des bürgerlichen Realismus, nämlich dem 1855 veröffentlichten Roman ,,Soll und Ha­ben" von Gustav Freytag. Dieser wirkmächtige Text wurde bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in großen Auflagen ge­druckt und verzeichnete die höchsten Verkaufszahlen bezeichnenderweise di­rekt nach den beiden Weltkriegen. Das scheint kein Zufall zu sein, werden in dem Buch doch die sogenannten deutschen Werte inszeniert und prämiert wie beispielsweise Arbeit, Sauberkeit, Fleiß, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit oder ,,Anständigkeit".

Diesem vermeintlich Deutschen sind im Roman zwei Kultur- und Lebensformen dia­metral entgegengesetzt: zum einen das jüdische Leben, zum anderen das Leben der Polen oder allgemein der Slawen. Die Darstellung der Juden ist von einem ex­tremen Antisemitismus geprägt. Nicht we­niger negativ werden die Slawen gezeichnet, die angeblich faul, dumm, ,,liederlich", unehrenhaft und prinzipiell keiner wirk­lichen Kultur fähig seien. Da ist von ,,Polackenwirtschaft" die Rede und von ,,slawischer Sahara". Die Slawen im Osten werden als Barbaren gezeichnet, die erst kolonisiert, zivilisiert und kultiviert werden müssen.

Insofern als der Text dezidiert antislawisch ist, hat er maßgeblich das Bild vom ,,Osten" als einer minderwertigen, unzivi­lisierten und unkultivierten Region ge­prägt, eine Vorstellung, die sich tief ins deutsche Bewusstsein eingegraben hat bis hin zur rassistischen Konstruktion des ,,russischen Untermenschen" durch die Na­zis. Die negativen Zuschreibungen und As­soziationen setzen sich nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen fort, in den Be­zeichnungen ,,Ostzone", ,,Ostblock" und ,,Osteuropa" ebenso wie in Adenauers ab­fälligen Bemerkungen, hinter Kassel be­ginne die ,,Walachei" und bei Magdeburg ,,Asien", in sogenannten Polenwitzen genauso wie schließlich im Neologismus ,,Ossi". Dass unter solchen Voraussetzungen jemand, der von der Bundesregierung ausdrücklich als ,,Ostbeauftragter" installiert wurde, keine Chance hat, ernst ge­nommen zu werden, versteht sich von selbst. Und dass es auch unter der neuen Bundesregierung wieder einen Ostbeauftragten gibt, ist das skandalöse Symbol eines ungeheuerlichen Paternalismus.

Regelmäßig wird dem Osten sein ,,mangelndes Demokratieverständnis" vorgehalten, ja sogar die ,,Demokratiefähigkeit" ab­gesprochen. Erstens muss man Leuten, die eine Diktatur in die Knie gezwungen ha­ben, nicht erklären, was Demokratie ist. Dennoch versucht der Westen unablässig, die politische Erfahrung des Ostens zu delegitimieren, weil es eine Diktaturerfahrung ist. Doch der Osten hat ja nicht nur diese Diktaturerfahrung und dadurch et­was weniger politische Erfahrung, sondern er hat ein Vielfaches an politischer Erfahrung, nämlich Diktaturerfahrung, Revolutions- und Umsturzerfahrung, dann Erfahrungen in unmittelbarer Basisdemokratie und schließlich Erfahrungen mit der ge­genwärtigen Spielart der Demokratie. Aufgrund dessen hat er die Möglichkeit zum Vergleich, der ihm gestattet, Dinge an­ders und manches schärfer zu sehen. Das will der Westen aber nicht wahrhaben.

Zweitens macht der Osten seit 1990 die Erfahrung, von der wirklichen Gestaltung und Mitgestaltung dieser Demokratie im Grunde ausgeschlossen zu sein, weil es zwar formale, reell aber nur wenige Chancen auf Teilhabe, Partizipation, Repräsentativität, Einstieg oder gar Aufstieg in ge­sellschaftlich relevante Teilsysteme gibt, von Macht, Geld und Einfluss ganz zu schweigen. Das zeigt sich selbst in der AfD. Nicht nur war die AfD eine Westgründung, sondern sie hat auch stets eine fast komplett westdeutsch besetzte Führungsspitze. Dass die AfD im Osten so stark werden konnte, hängt klar mit dem aus Unkenntnis und kapitalem Desinteresse resultierenden politischen Versagen der anderen Parteien zusammen. Wenn der Osten dann einmal alle vier oder fünf Jahre bei den Wahlen die wirkliche Chance auf demokratische Mitbestimmung erhält, dann herrscht Panik in den Medien und den gesellschaftlichen Eliten. Sonst interessiert sie der Osten wie die Rückseite des Mondes, bei Wahlen aber beginnt jedes Mal das große Zittern. Da wird vorher von ARD und ZDF über ,,Zeit", ,,Spiegel", ,,Tagesspiegel", ,,Süddeutsche Zeitung" und wie die selbst ernannten Qua­litätsmedien alle heißen mögen, eine unendliche Angst geschürt und hinterher ebendort der Schrecken wortreich verhandelt, als würden mongolische Heerscharen vor den Toren Europas stehen.

Genau zu beobachten war in diesen Zusammenhängen schließlich auch der von den gesellschaftlichen Eliten betriebene innerdeutsche Auslagerungsmechanismus, der etwa dafür sorgt, dass es nur im Osten Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit geben soll. Da findet sich all das Böse, das man selbst hinter sich gelassen zu haben glaubt. Natürlich gibt es das im Osten: schlimm genug. Allerdings auch im Westen, und nicht zu knapp. Doch gilt dann oft ein ganz anderer Maßstab der Einordnung und Beurteilung – das seien ,,bedauerliche Einzelfälle".

Besonders gern wirft der Westen dem Osten seine Fremdenfeindlichkeit vor. Die ist freilich auch ein direkter Reflex auf die Fremdenfeindlichkeit, die er selbst vom Westen seit über 30 Jahren tag­täglich erfährt. Und mitnichten ist Fremdenfeindlichkeit ein auf den Osten be­schränktes Phänomen, sondern genauso gesamtdeutsch wie der Rechtsextremismus. Man sehe sich nur an, welche Erfahrungen mit Fremdenhass Saša Stanišić im Intellektuellenidyll namens Heidelberg machen musste, anschaulich be­schrieben in dem 2019 veröffentlichten Buch Herkunft. Darüber hinaus hat sich Deutschland von 2010 bis 2019 mit Günther Oettinger einen EU-Kommissar ge­leistet, der in einer Rede unter viel Beifall, wie man auf Youtube noch sehen und hören kann, sowohl homophobe Äußerungen vorgetragen als auch die Chine-sen öffentlich als ,,Schlitzaugen" bezeichnet hat, die sich ,,mit schwarzer Schuhcreme die Haare von links nach rechts kämmen" – ohne jegliche Folgen, von ei­nem Rücktritt ganz zu schweigen.

Nennen muss man auch die rassistischen Aussagen des ehemaligen Präsidenten des Fußballclubs Schalke 04, Clemens Tönnies, aus dem Jahr 2019. Hätte jemand aus dem Osten solches verlautbart, wäre das sein sozialer und politischer Tod gewesen. Im Westen soll der Fremdenhass eine Art Folklore sein, im Osten hingegen angeborener Teil der Mentalität. Das ist ein Paradebeispiel für Heuchelei, Doppelmoral und doppelten Standard, weil der Westen in einer speziellen Form des Othering den Osten selbst zum Fremden macht. Der Westen wirft dem Osten Fremdenfeindlichkeit vor, ohne doch selbst mit dem Fremden, das der ,,Osten" anscheinend darstellt, auch nur ansatzweise zurechtzukommen. Zwar zählt es zum liberalen, weltoffenen Selbstverständnis der meisten Westdeutschen, das Fremde und Andere zu feiern, in die ganze Welt zu reisen und ferne Kulturen zu be­wundern, Divergenz, Differenz und Alterität als besonders wertvoll zu markieren. Doch es muss das richtige Andere sein, nicht das falsche Andere, das der Osten verkörpert, vor dem man sich fürchtet, das man ausgrenzt, belächelt, verhöhnt und kleinmacht. Diesem falschen Anderen gegenüber herrscht Null-Toleranz. Auf diese Weise macht der Westen den Osten zum Fremden im eigenen Land. Das ist der wirkliche Skandal.

Im seit 1989 herrschenden Diskurs heißt ,,Osten" vor allem Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, heißt also Scheitern auf ganzer Linie – um nur die wichtigsten der vom Westen erfolgreich eingeführten Zuschreibungen zu nennen, die er auf diese Weise zugleich elegant aus der Selbstwahrnehmung ausgegliedert hat. ,,Westen" dagegen heißt (alte) Bundes­republik, heißt Deutschland im eigentlichen Sinne, heißt Schönheit, Klugheit, Fleiß, heißt Weltoffenheit, Liberalität, De­mokratie und Reichtum, heißt also Erfolg auf ganzer Linie. ,,Osten" ist immer das, was man nicht haben will, das Fremde und falsche Andere einer wesentlich niedrigeren Zivilisationsstufe. Im antiken Griechenland nannte man solche Leute schlicht Barbaren. Eine wiederkehrende Forderung an den Osten lautet deshalb, er solle sich ,,normalisieren" – was immer das heißen mag –, und gleichzeitig wird er ökonomisch, machtpolitisch und diskursiv gezielt daran gehindert, es zu tun. Der Osten hat keine Zukunft, solange er nur als Herkunft begriffen wird.

Dirk Oschmann lehrt Neuere Deutsche Literatur in Leipzig. Es handelt sich um die überarbeitete und gekürzte Fassung eines Vortrags in der Reihe ,,Perspektiven


Aus: "Wie sich der Westen den Osten erfindet" Dirk Oschmann (04.02.2022)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/deutschland-wie-sich-der-westen-den-osten-erfindet-17776987.html

QuoteTiefe Gräben

Den Artikel von Professor Dirk Oschmann habe ich mit großem Interesse und wachsender Betroffenheit gelesen. Dass es nach der Wende einige Zeit dauern würde, bis wir Deutschen zu einer richtigen tiefen Einheit zusammenwachsen, war mir schon klar. Aber nach über 30 Jahren hatte ich nicht gedacht, dass die Gräben noch so tief sind. In meiner Nachbarschaft kommen die Menschen aus Ost und West, aus Europa und anderen Kontinenten zusammen, und die Herkunft ist inzwischen kein Thema mehr. Der Einblick in die Erfahrungswelt von Professor Oschmann zeigt, dass ich mein Mikroumfeld nicht verallgemeinern darf.
Ursula von Halasz, Liederbach


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Quote[...] Dirk Oschmann wurde 1967 im thüringischen Gotha geboren, heute ist er Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. Sein Buch ,,Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" ist gerade bei Ullstein erschienen.

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Maria Fiedler / Thomas Trappe: Ihr Buch heißt ,,Der Osten – eine westdeutsche Erfindung". Gibt es den Osten also gar nicht?

Dirk Oschmann: Natürlich gibt es ihn als Himmelsrichtung, so wie es den Norden, Süden und Westen gibt. Aber es gibt ihn nicht in der Form, wie sich der Westen denkt, dass der Osten sei und wie er in den Medien dargestellt wird. In der medialen Zurichtung erscheint er als statischer Block, über den man glaubt, schon alles zu wissen. Dabei ist der Osten viel heterogener und unterschiedlicher.


Maria Fiedler / Thomas Trappe: Sie schreiben, seit 1989 heiße ,,Osten" im herrschenden Diskurs vor allem ,,Hässlichkeit, Dummheit, Faulheit, heißt Rassismus, Chauvinismus, Rechtsextremismus und Armut, also Scheitern auf ganzer Linie".

Dirk Oschmann: Ja, diese Zuschreibungen werden dem Osten angehängt. Manche davon hat es im 19. Jahrhundert schon gegeben. Die Vorstellung, dass der Osten, die Slawen beispielsweise, eine zurückgebliebene, barbarische Form der Zivilisation seien. Das können Sie schon bei Gustaf Freytag Mitte des 19. Jahrhunderts lesen. Diese Denkmuster konnten Sie sogar im Osten selbst beobachten: In der DDR fühlte man sich den Polen überlegen, in Westpolen den Ostpolen etcetera. Das zeigt, wie mächtig diese Denkfigur vom minderwertigen Osten ist. Der Westen glaubt deshalb bis heute, egal in welchem Zusammenhang, sich als das überlegene Modell begreifen zu dürfen.


Maria Fiedler / Thomas Trappe: Die zentrale These Ihres Buches ist: ,,Wenn in Deutschland über Westen und Osten nicht grundlegend anders geredet wird, hat dieses Land keine Aussicht auf längerfristige gesellschaftliche Stabilität." Erklären Sie uns das.

Dirk Oschmann: Nehmen Sie ein aktuelles Beispiel. Der Verfassungsschutz warnt vor Radikalisierungstendenzen in Sachsen. Dass es diese Entwicklungen gibt, ist kein Zufall. Ich glaube, das hängt zusammen mit der maximalen Ausgrenzung, die Sachsen erfährt. Das Bundesland wird im innerdeutschen Diskurs als das besonders Östliche, das besonders Abwegige, das besonders Abnormale verhandelt. Das trägt als scharfe Ausgrenzung zweifellos zu einer Radikalisierung bei. Und diesen Mechanismus kann man auf den gesamten Osten übertragen. Das halte ich wirklich für eine Gefahr für die Demokratie.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Sie meinen auch, dass die Fremdenfeindlichkeit im Osten ein direkter Reflex auf die Fremdenfeindlichkeit sei, die der Osten vom Westen seit 30 Jahren tagtäglich erfahre. Das kann ja wohl nicht der Hauptgrund für das Problem sein.

Dirk Oschmann: Nein, aber ein wesentlicher Faktor. Wenn man unablässig und permanent zum Fremden gemacht wird, wenn fast jeder fünfte Westdeutsche noch nie hier war – und das unter anderem damit begründet wird, dass es einen nicht interessiert oder dass der Osten als etwas Bedrohliches oder Komisches wahrgenommen wird –, dann führt das auf der Gegenseite zu einem Gefühl des Ausgeschlossenseins. Das rechtfertigt in keiner Weise die nicht zu leugnenden rechtsextremistischen Auswüchse – aber es bringt auch nichts, sie völlig isoliert zu betrachten. Aber wir reden jetzt schon wieder über den Osten.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Ist das nicht Ihr Thema?

Dirk Oschmann: Nein, es gibt schon genug Bücher über den Osten und seine Merkwürdigkeiten. Mein Thema ist vielmehr der Westen, welches Bild er vom Osten erzeugt – und welche Auswirkungen das hat. Und deshalb sage ich: Der Westen ist mitverantwortlich für den Rechtsextremismus im Osten.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Reden wir über den Westen. Sie sagen, der Westen begreife sich als Norm und sehe den Osten nur als Abweichung oder ,,krankhafte Fehlbildung". Liegt das vor allem an der Art, wie die Wiedervereinigung vollzogen wurde?

Dirk Oschmann: Sicher. Wolfgang Schäuble hat den Ostpolitikern damals mitgeteilt, dass der Westen weiß, wo es lang geht und dementsprechend die Regeln macht. Man hat sich dem gefügt. Es war ein riesiges Problem, dass man sich nicht auf eine gemeinsame Verfassung geeinigt hat und nicht auf eine gemeinsame neue Hymne.
Es sind Weichen gestellt worden, die klar zu erkennen gaben, dass sich der Westen als absolute Norm setzt. Dabei hieß das für den Osten auch Rückschritte. Die Frauen im Osten hatten es plötzlich wieder mit Paragraf 218 – der Strafbarkeit von Abtreibungen – zu tun. West-CDU-Politiker meinten zudem, die Frauen im Osten sollten weniger arbeiten. Die Fortschritte und Erfahrungen der DDR wurden maximal entwertet.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Und das wirkt bis heute fort?

Dirk Oschmann: Bis heute macht der Westen die Ostdeutschen zu Fremden im eigenen Land. Und natürlich hat das Folgen. Es sind ,,frustrierte Zufriedene" entstanden. Ökonomisch geht es den Leuten ja in der Regel besser als damals. Aber es erzeugt eine große Frustration, in dieser Gesellschaft zwar zu leben, auch gut zu leben, aber sie eben nicht mitgestalten zu können. Die Vorstellung zum Beispiel, dass in diesem Land mal jemand aus dem Osten Finanzminister wird oder Wirtschaftsminister, scheint ja noch immer völlig abwegig.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Man kann den Eindruck gewinnen, dass Sie den Osten zum Opfer erklären.

Dirk Oschmann: Diese Kritik höre ich öfter, weise ich aber scharf von mir. Ich zeige nur Mechanismen auf. Aber ich gebe zu, ich gehe dabei auf Konfrontation. Mein Buch ist der Versuch, der unglaublichen Medien- und Diskursmacht einfach mal eine volle Breitseite entgegenzusetzen, mit allen rhetorischen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Ich will nicht der Erkläronkel sein, der differenzierte Vorschläge macht. Ich habe ganz bewusst keine Wohlfühlprosa geschrieben.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Sie verleihen damit vielleicht einer breiten Gefühlslage im Osten Ausdruck. Aber es besteht die Gefahr, dass sie im Westen, den Sie adressieren, eine Abwehrhaltung hervorrufen.

Dirk Oschmann: Ich nehme das in Kauf. Auf einen Artikel in der FAZ, den ich geschrieben habe, habe ich viele Leserbriefe bekommen. Die schärfsten Kritiker waren vor allem westdeutsche Männer jenseits der 70. Sie waren davon hochgradig verstört und gekränkt. Sie haben das erfahren, was der Osten im großen Stil erlebt hat: Die Infragestellung der eigenen Lebensleistung. Was ich schreibe, sehen sie als undankbar. Viele aus dem Osten, auch Jüngere, waren hingegen dankbar, dass das mal thematisiert wird, weil es im Westen kein wirkliches Bewusstsein für die Dramatik der Lage gibt.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Was hat Sie persönlich eigentlich so wütend gemacht? Für Sie ist es doch ganz gut gelaufen. Sie haben studiert, in den USA gelebt und sind Professor geworden.

Dirk Oschmann: Lange habe ich mich überhaupt nicht mit diesem Problem befasst. Ich bin glatt angekommen in dem System. Aber nachdem ich Professor geworden bin in Leipzig, habe ich festgestellt, dass ich einer von ganz wenigen Professoren bin, die aus dem Osten kommen. Und da hat sich auch in den letzten Jahren an unserer Fakultät wenig geändert.
So richtig irritiert war ich zum ersten Mal, als ich 2021 mit einer Kölner Soziologin zu tun hatte, die die Karrieren von Arbeiterkindern erforscht. Gleich zu Beginn unseres Gesprächs sagte sie mir, dass sie jetzt nach 30 Jahren das erste Mal mit einem ostdeutschen Wissenschaftler spreche. Und im zweiten Satz, erklärte sie, dass es doch im Grunde nichts tauge, wenn man bloß an einer ostdeutschen Universität Professor geworden ist. Und mit dieser Meinung ist sie nicht allein!

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Es gibt sehr wenige Ostdeutsche in Führungspositionen, die ihre eigene Herkunft thematisieren. Was hat Sie dazu bewogen, genau das nun zu tun?

Dirk Oschmann: Es begann damit, dass ich immer wieder als Zeitzeuge angefragt wurde, etwa, wenn es um die Umbrüche in der Germanistik nach der Wende ging. Erst beim Sprechen darüber wurde mir klar, wie sehr mich das aufwühlt. Vor zwei Jahren war ich zu einem Vortrag eingeladen, in dem ich erläutern sollte, warum der Osten die Gesellschaft spaltet. Das war wirklich die These, welche die Veranstalter vorgaben. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen!
Damals reifte in mir der Gedanke, dass es Zeit ist, den Westen in den Blick zu nehmen. Das Fass zum Überlaufen brachte schließlich der Entschluss der neuen Bundesregierung, wieder einen ,,Ostbeauftragten" zu ernennen und damit den Osten weiterhin als Sonderzone zu markieren. Das ist doch paternalistisch. Ich bin dafür, dass dieses Amt abgeschafft wird.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Was hätte man anders machen müssen vor 30 Jahren, damit mehr Ostdeutsche in Spitzenpositionen in Wissenschaft, Wirtschaft oder Politik landen? Momentan sind es 1,7 Prozent.

Dirk Oschmann: Ich kann vor allem über meine Erfahrungen in der Wissenschaft sprechen. Ich verstehe, dass es in diesem Bereich nach der Wende einen Elitenaustausch geben musste. Ich wollte als Student ja auch nicht von Leuten unterrichtet werden, die womöglich als Mitarbeiter der Staatssicherheit tätig waren. Das Problem entstand, als die eingewechselte westdeutsche Elite ihre eigenen Zöglinge nachzog und schließlich alles besetzt hat – bis heute.
In den 90ern existierte im akademischen Betrieb das Wort ,,ossifrei". Gemeint war damit die ,,Erfolgsmeldung", einen akademischen Betrieb komplett frei von Ostdeutschen bekommen zu haben. Der Wissenschaftsbetrieb ist durchaus repräsentativ für alle relevanten Gesellschaftsbereiche, in denen mitunter erstklassig qualifizierte Ostdeutsche durch bisweilen zweit- oder drittklassige Konkurrenz aus dem Westen ersetzt wurde. Das waren bewusste Entscheidungen, die nicht hätten getroffen werden dürfen. Das war nicht nur Zufall, sondern gelegentlich eben auch Programm.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Einer der wenigen Räume, in denen Ostdeutsche sich Gehör verschaffen können, schreiben Sie, sei die Straße. Das Problem: Wann immer in Ostdeutschland eine Protestbewegung entsteht, sind die Rechtsextremen nicht weit und kontaminieren den Protest. Wie kann man dieses Dilemma auflösen?

Dirk Oschmann: Die Straße ist der Ort, an dem der Osten sich in seiner demokratischen Wirkmächtigkeit begreifen kann: Weil die anderen Formen der Teilhabe und Repräsentanz offenbar nicht funktionieren. Man geht auf die Straße, weil man sonst nicht gehört wird. Natürlich wird das von allen möglichen Gruppen, vor allem rechtsextremen, ausgenutzt. Aber es gibt offenbar noch keine Alternative zur Straße, will der Osten sich mit sich selbst auseinandersetzen.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Wie meinen Sie das, mit sich selbst auseinandersetzen?

Dirk Oschmann: Ich meine das, was Westdeutschland mit den 68ern durchlebte: Einen gesellschaftlichen Prozess, bei dem sich eine ganze Generation definierte und damit auch das Selbstverständnis der Bundesrepublik. So etwas gab es im Osten nicht, nicht vor der Wende, nicht danach. Diesen Raum der demokratischen Auseinandersetzung und der öffentlichen Selbstreflexion müsste man erst noch schaffen.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Man könnte meinen, dass die Proteste, die zum Fall der Mauer führten, ein solches identitätsstiftendes Ereignis waren. Schließlich mussten im Unterschied zu den Bürgern der Bundesrepublik jene der DDR dafür kämpfen, in einem demokratischen Staat zu leben. Wurde diese einzigartige historische Leistung der Ostdeutschen im Nachhinein vom Westen genommen?

Dirk Oschmann: Der Schriftsteller Ingo Schulze hat gesagt, dass der Westen den Sieg dieser Bewegung zum Sieg des eigenen Systems umgedeutet hat. Eine sehr zutreffende Beobachtung. Bis heute hört man von westdeutschen Historikern, dass es im Grunde nur ein paar wenige waren, die damals in der DDR auf die Straße gingen.
Dabei steckte hinter den Protesten eine unglaubliche gesellschaftliche Energie. Die Historiker pflegen ihre Vogelperspektive, und die widerspricht den Erfahrungen der lebendigen Akteure, die beteiligt waren. Die Demokratieerfahrung des Ostens wurde auf diese Weise zur Seite gewischt.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Im Buch heißt es, für viele Ostdeutsche sei die Demokratie in der Bundesrepublik eine Simulation, weil sie sich nicht von der Politik repräsentiert fühlen. Eine sehr steile These.

Dirk Oschmann: Mag sein, aber es ist ein reales Gefühl von Menschen, die erleben, wie ihre Erfahrungen entwertet werden. Das ist besonders frappierend, da es in der Bundesrepublik eine sehr lebhafte Debattenkultur gibt, in der zum Glück alle möglichen Gruppen ihre Stimme erheben dürfen und erheben sollen. Nur der Osten nicht. Da kommt dann schnell der Vorwurf des Jammerns.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Hat der Osten also kein Demokratiedefizit, wie es oft – mitunter auch von ostdeutschen Politikern – behauptet wird?

Dirk Oschmann: Nein, er nimmt die Demokratie beim Wort und sieht, dass es nicht zu rechtfertigende Widersprüche gibt. Man kann dabei die soziale Frage nicht ausblenden. Es gibt nicht nur 20 Prozent Unterschied zwischen Ost und West bei der Wahrnehmung einer funktionierenden Demokratie, sondern auch über 20 Prozent Unterschied bei den Löhnen. Das eklatante Wohlstandsgefälle wird im Westen offenbar als Naturzustand angenommen. Das ist der eigentliche Skandal.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Sie üben im Buch scharfe Kritik am Mediensystem. Als Beispiel nennen Sie die ,,Zeit im Osten", die eine Art Sonderpublikation für einen abgeschlossenen Teil Deutschlands darstellt. Was wünschen Sie sich stattdessen für eine Berichterstattung?

Dirk Oschmann: Ein erster Schritt wäre es, nicht ständig die Unterscheidung von Ost und West zu betreiben.

Maria Fiedler / Thomas Trappe: Eine Unterscheidung, die Sie aber auch selbst die ganze Zeit betreiben.

Dirk Oschmann: Richtig, um es am Ende aber als strategisches und rhetorisches Moment auszustellen. Warum aber schafft man es so selten in überregionalen Medien oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, einfach nur über Thüringen oder Sachsen zu berichten, ohne dann doch wieder das Ost-Etikett dranzuhängen?
Würde die Zweiteilung in Ost und West wegfallen, ergäbe sich ein sehr viel differenzierteres Bild über ein Deutschland und seine Regionen, mit seinen verschiedenen Mentalitäten und Lebenszusammenhängen. Natürlich macht das mehr Arbeit als einfach in den bequemen Rastern zu berichten. Aber dann würde eine ganz andere Form des Diskurses möglich werden. Diese Öffentlichkeitswende braucht es.



Aus: "Fremde im eigenen Land?: ,,Der Westen ist mitverantwortlich für den Rechtsextremismus im Osten"" Maria Fiedler, Thomas Trappe (28.02.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/fremde-im-eigenen-land-der-westen-ist-mitverantwortlich-fur-den-rechtsextremismus-im-osten-9412037.html