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[1968 (Afterglow) // Notizen... ]

Started by Textaris(txt*bot), June 23, 2016, 01:46:37 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote[...] Sieben nackte Frauen und Männer, die der Kamera den Hintern zeigen – das Foto hat das Image der ,,Kommune 1" geprägt. Dokument einer bewegten Generation, ein Fanal der Veränderung in einer Bundesrepublik, die noch zwischen verdrängter Nazi-Geschichte und dröger Adenauer-Spießigkeit hing. Vor 50 Jahren, am 12. Januar 1967, wurde die Kommune gegründet – in einer Dachwohnung in der Niedstraße in Friedenau richteten die Kommunarden Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans, Ulrich Enzensberger, Fritz Teufel sowie Dagmar Seehuber und Dorothea Ridder ihr Matratzenlager ein.

Ein erster Tabubruch: Die Wohnung gehört dem ahnungslosen Schriftsteller Uwe Johnson, der in den USA ist. Die Wohngemeinschaft verordnete sich erst einmal ein Psychomarathon, um mit schonungslosen Beichten auf dem Weg zum revolutionären Subjekt voranzukommen.

Weniger als drei Jahre existierte die Kommune 1, doch ihre gesellschaftliche Wirkung war ungeheuer. Die ,,Kommune 1" war der Turbogenerator für eine Politisierung einer Generation. Anarchistisches Politiktheater und Provokation, Gewaltverherrlichung und sexuelle Befreiung – in einer Zeit, als Studenten noch mehrheitlich mit Krawatte und Anzug zur Vorlesung gingen, Papa am Sonntag an der Straßenpumpe den eisern ersparten ,,Käfer" wienerte und die ,,Frontstadt" West-Berlin in ständiger Sorge vor den ,,Sowjets" lebte.

Die ,,Kommune 1", in der das Privateigentum abgeschafft war und die Klotüren ausgehängt, damit sich keine kleinbürgerliche Zurückgezogenheit entwickeln konnte, war ständige Provokation in einer total prüden Gesellschaft. Schon das Zusammenleben Unverheirateter galt damals als Kuppelei und brachte der Kommune deswegen eine Anklage ein.

Den Staat und seine Autoritäten lächerlich machen, das war die Waffe der ,,Kommune 1". Sie lebte aus der Reibung mit dem ,,Staatsapparat". Und der charismatische Rainer Langhans, der mit Ringellocken und Nickelbrille die Popstar-Rolle kultivierte, der manipulatorisch begabte Dieter Kunzelmann und der hingebungsvolle Clown Fritz Teufel waren Meister darin, die Behörden zu provozieren. Keine Idee schräg genug, sie nicht umzusetzen – und jedes Foto ihrer Aktionen mehrte ihren Ruhm als Ikonen der antiautoritären Bewegung. Dieter Kunzelmann, der während einer Gedenkveranstaltung aus einem Sarg heraus Flugblätter in die Menge wirft.

... Zur Kehrseite gehört auch der Antisemitismus Kunzelmanns, der sich im Sechs-Tage-Krieg die Vernichtung Israels wünschte und damit eine Mitbewohnerin aus jüdischer Familie erst zum Weinen und dann zum Auszug brachte. Es passt dazu, dass Kunzelmann später als Mitglied der Terrorgruppe ,,Tupamaros" an einem Anschlagsversuch auf das jüdische Gemeindehaus beteiligt gewesen sein soll, wie 2005 ein Buch enthüllte.

... ,,Das Private ist politisch" war die stete Kampfparole der Kommune. ,,Blah, Blah, das galt nur für die Männer", erinnert sich von Doetinchem, die später als Lehrerin Berufsverbot erhielt, dann Hebamme wurde und in Berlin die ambulante Geburt im Krankenhaus etablierte. Das Leben in der Kommune war chaotisch, die zwei kleinen Kinder blieben weitgehend sich selbst überlassen und schliefen im sogenannten ,,Müllzimmer". Nur die Frauen kümmerten sich um die Küche und wuschen Wäsche. ,,Frauen wurden nicht ernst genommen", sagt Dagmar von Doetinchem über eine Zeit, als die Frauenbewegung noch nicht den Kampf gegen die ,,Eminenzen" ausgerufen hatte.

... Die Zeit der Leichtigkeit der antiautoritären Bewegung war vorbei, als am 2. Juni 1967 bei den Protesten gegen den Schah-Besuch der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Ein Wendepunkt, an dem sich viele Protestler radikalisierten, während die ,,Kommune 1" weiterhin ihr dadaistisches Spaßkonzept verfolgte und ihre Bewohner sich als linke Popstars sahen. In der zweiten Phase der ,,Kommune 1", als in einer Fabriketage im Wedding das völlig unpolitische Modell Uschi Obermaier als Geliebte von Langhans einzog, ging es hauptsächlich um Sex und Drogen.

Prominenz wie der Musiker Jimi Hendrix schauen vorbei und Illustrierte zahlen enorme Honorare für Nacktfotos von Obermaier. Der sich als ,,Patriarch" aufspielende Kunzelmann versackt dagegen im Heroin und wird rausgeschmissen. Das Ende kommt, als im November 1969 Rocker die Wohnung in der Stephanstraße überfallen. Die Zeit und die Bewegung sind über die ,,K1" hinweggegangen.

... Die Räume übernimmt das ,,Sozialistische Zentrum". Ex-Kommunarden ziehen für kommunistische Splittergruppen in den Betriebskampf oder in den Untergrund – der 2010 gestorbene Teufel wird Mitglied der Terrorgruppe ,,2. Juni", Kunzelmann Kopf der ,,Tupamaros". Und Langhans tingelt bis heute durch die Medien bis ins ,,Dschungelcamp".


Aus: "Gründung der "Kommune 1" vor 50 Jahren Die nackte Provokation" Gerd Nowakowski (12.01.2017)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/gruendung-der-kommune-1-vor-50-jahren-die-nackte-provokation/19240982.html

Quotecarnet 12.01.2017, 16:46 Uhr
"Kommune 1"... es war mit der Anfang vom Ende der Bevormundung durch Eltern, Schule und Lehrlingsausbildern. Nicht das wir das der Kommune 1 zu verdanken hätten, aber die Studentenunruhen haben ein Neues Deutschland geprägt. Davon hatten gerade die jugendlichen einen ungeheuerlichen Rückhalt. Frauen wie Männer wurden jetzt wahrgenommen. Die Emanzipation nahm seinen Lauf. "Neger" Musik , wie  die Kriegsgeneration es nannte, wurde nun populär. Die Nachkriegsgeneration und die Grünen von heute fühlten sich endlich von Zwängen befreit.


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Quote[...] Auf einmal stellte jemand die Frage: Kann man das noch so machen, einfach nur ein schönes Lied singen? Müsste es nicht politischer sein? "1968 fand eine Überpolitisierung statt", sagt der Liedermacher Hannes Wader. ... 1968 aber war auch hier das Wendejahr. In der Schlagerparade sang Heintje seiner "Mama" hinterher. In Vietnam war immer noch Krieg. Martin Luther King: erschossen. Rudi Dutschke: bei einem Anschlag schwer verletzt. Man wähnte sich im Kampf. Wolf Biermann schrieb über das Dutschke-Attentat ein Lied und hatte es, weil er aus Ost-Berlin natürlich nicht auf die Burg Wadeck kommen konnte, Walter Mossmann am Telefon beigebracht. "3 Kugeln auf Rudi Dutschke". ...

... Das erste Mal spielte Zappa in Deutschland. Kaum einer begriff seinen beißenden Witz. Und er verstand nicht, was das ganze Gequatsche sollte. Und fasste in einem Interview damals unbewusst zusammen, was das zerrissene Popmusikjahr 1968 in Deutschland ausmachte: "Die Leute scheinen lieber über Musik zu reden, als ihr zuzuhören."

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Aus: "1968: Auch in der Musik ein Jahr der Umbrüche" Ocke Bandixen (21.03.2018)
Quelle: https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/1968-Auch-in-der-Musik-ein-Jahr-der-Umbrueche,achtundsechzig110.html

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Quote[...] Die verschiedenen weltweiten Strömungen, welche seit Mitte der 60er Jahre gegen die überkommenen politischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse und Normen protestierten, werden heute allgemein unter dem Begriff der "68er-Bewegung" zusammengefasst ... Drei grundlegende Kritiken waren es, die den Kanon an neugewonnenen Überzeugungen bestimmten: der Antikapitalismus, der Antifaschismus und der Antiimperialismus. Die erste Kritik richtete sich gegen eine auf Ausbeutung und sozialer Ungerechtigkeit basierende Wirtschaftsordnung, die zweite gegen die Nichtauseinander-setzung mit der NS-Vergangenheit und die dritte gegen die Unterjochung der Länder der Dritten Welt durch die der Ersten und Zweiten. ...

Aus: "Deutsche Geschichten" (Stand 06/2016)
http://www.deutschegeschichten.de/zeitraum/themaindex.asp?KategorieID=1005&InhaltID=1646
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Quote[...] The protests of 1968 comprised a worldwide escalation of social conflicts, predominantly characterized by popular rebellions against military and bureaucratic elites, who responded with an escalation of political repression.
In capitalist countries, these protests marked a turning point for the civil rights movement in the United States, which produced revolutionary movements ... The German student movements were largely a reaction against the perceived authoritarianism and hypocrisy of the German government and other Western governments, particularly in relation to the poor living conditions of students. Students in 108 German universities protested for recognition of East Germany, the removal of government officials with Nazi pasts and for the rights of students. In February, protests by professors at the German University of Bonn demanded the resignation of the university's president because of his involvement in the building of concentration camps during the war. ...

https://en.wikipedia.org/wiki/Protests_of_1968 (28 May 2016)
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Quote[...] Keimzellen der Studentenbewegung in Westdeutschland waren an zahlreichen Universitäten bemerkbar, auffällig war die 1962 gegründete Gruppe Subversive Aktion oder die Kommune I. Ab 1966/1967 entstand, verursacht durch die Restauration der Nachkriegs-Fünfziger Jahre und die Große Koalition (ohne eine einflussreiche Opposition innerhalb des Bundestages), unter der Führung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) die außerparlamentarische Opposition (APO).

Ein entscheidender, große Teile der Studentenschaft mobilisierender Faktor für die außerparlamentarische Opposition war die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien (Mohammad Reza Pahlavi), der sich auf Staatsbesuch in Berlin befand. Die Boulevardpresse, vor allem die Bild-Zeitung, verschärfte die Gegensätze durch eine polarisierende Berichterstattung.

Am 11. April 1968 wurde der Studentenführer Rudi Dutschke bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt. Daraufhin fanden in zahlreichen westdeutschen Städten Protestdemonstrationen statt, die sich teilweise zu bürgerkriegsähnlichen Straßenschlachten mit der Polizei entwickelten. Bei diesen Osterunruhen wurden zwei Menschen in München getötet und bundesweit etwa 400 Menschen verletzt. Das Attentat auf Dutschke und die Ereignisse des Pariser Mai verstärkten die beginnende Radikalisierung der Bewegung, die sich gleichzeitig immer mehr aufsplitterte.

Als eine Folge der 68er-Bewegung gründete sich um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof die terroristische Rote Armee Fraktion (RAF). Große Teile der Bewegung wandten sich dagegen der SPD unter Willy Brandt zu. Auch Die Grünen und weitere Bürgerrechtsbewegungen wie die Schwulenbewegung können als späte Folge der 68er-Bewegung gedeutet werden (vgl. auch Neue soziale Bewegungen). Dabei verfügen jedoch der Umweltschutz, der Tierschutz, die Frauenbewegung und andere gesellschaftliche Tendenzen über Traditionen, die teilweise weit in das Kaiserreich hineinreichen und somit keine originären Beiträge der Sechziger Jahre sind....

Weltweit wurde nun gegen das sogenannte ,,Establishment" protestiert, gegen Konformismus, gegen die Generation der Eltern und ihre Fortschrittsgläubigkeit, gegen das, was man als Scheinheiligkeit empfand, unter anderem etwa die Politik des damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson und ab 1969 Richard Nixon in den USA, so wie in Westdeutschland die der großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU).

Der Protest wurde auch selbst zum kulturellen Phänomen, wenn Stars wie Joan Baez bei Demonstrationen des Free Speech Movement sangen, oder Regisseure wie Michelangelo Antonioni der Studentenrevolte filmisch ein Denkmal setzten (Zabriskie Point)....

Während lange als Konsens anerkannt war, dass die internationale Bewegung von 1968 sowohl politisch (etwa Hochschulreformen, Die Grünen, Bürgerinitiativen, Ökologie) als auch im Bereich der Alltagskultur (Rock, Pop, lockerere Bekleidungs-Konventionen und Liberalisierung der Sexualität) positive Neuerungen gebracht hat, war immer schon eine kritische Sicht zu vernehmen, die vor allem von Konservativen vertreten wird.

Demnach haben ,,Die 68er" mit ihren Utopien und Experimenten eine ,,heile" Gesellschaft (z. B. Familie) der 1950er zerstört, Sekundärtugenden seien dadurch in Vergessenheit geraten, weshalb Helmut Kohl bei seinem Amtsantritt auch eine geistig-moralische Wende hin zu konservativen Werten und Moralvorstellungen ausrief.

Gegenkritik von Seiten der 68er ist, dass die scheinbar heile Gesellschaft in Wirklichkeit die Unwahrheiten der Tätergeneration (der Zeit des Nationalsozialismus) durch ein von den großen Kirchen unterstütztes Prinzip des Need-To-Know verheimlicht habe. Die ,,moralische Wende" habe keine Wirkung gezeigt, weil sie letztendlich durch das Verhalten der Verantwortlichen selbst ad absurdum geführt worden sei. Eine weitere These ist, dass die sogenannten Volksparteien die damaligen Vorgänge bis heute nicht begriffen, geschweige denn aufgearbeitet hätten. ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Westdeutsche_Studentenbewegung_der_1960er_Jahre (1. Februar 2016)

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Quote[...] Der 1930 geborene Verleger Klaus Wagenbach beschreibt die Ursachen der 68er-Bewegung aus seiner eigenen Erfahrung: ,,1954, als sie in Bern Fußballweltmeister wurden, habe ich in Frankfurt gehört, wie nach der Deutschlandhymne wie früher das Horst-Wessel-Lied gebrüllt wurde. Das Gebrüll des Dritten Reichs konnte man in den Wochenschauen hören, und im Rundfunk wurde wie früher gebellt. Wenn einer laut Gitarre spielte, kam sofort der Polizeiknüppel. Das waren die Schwabinger Krawalle. Sie machten sich strafbar, wenn Sie Geschlechtsverkehr hatten, ohne verheiratet zu sein. Wenn Hildegard Knef eine halbe Brust heraushängen ließ, wurde die Aktion Saubere Leinwand aktiv."

Das Ende der 1940er Jahre einsetzende Wirtschaftswunder und die antikommunistisch geprägte Westorientierung der Politik Konrad Adenauers bewirkte schnelle gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen. Die 1949 erfolgte Gründung des sozialistischen Staates der DDR verstärkte diesen Wandel. In dieser Zeit entwickelten sich zwischen der Generation, die den Krieg erlebt hat, und den Nachgeborenen Spannungen. Hinzu kam die gesellschaftliche Aufgabe der Eingliederung von acht Millionen Vertriebenen, sowie von eineinhalb Millionen Zuwanderern aus der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR.

1945 gab es in der sowjetischen Besatzungszone und ab 1949 in der DDR Widerstand gegen die SED. Am stärksten lehnten sich die ostdeutschen Sozialdemokraten auf. Sie sprachen sich zu Tausenden gegen die Vereinigung ihrer Partei mit der KPD aus. Die sowjetische Militäradministration inhaftierte 6000 ihrer Mitglieder. 1949 wurde der Student Wolfgang Natonek wegen seines Engagements für die Meinungsfreiheit zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er verbüßte sieben Jahre. 1950 verurteilten die Gerichte der DDR 78.000 Angeklagte wegen politischer Delikte. Unter diesen Bedingungen war politischer Widerstand nur verdeckt möglich. Nach Stalins Tod im März 1953 stand die reformorientierte Kritik am Sozialismus der DDR im Mittelpunkt der politischen Opposition. Allerdings war klar, dass sich in der SED kein neuer Kurs durchsetzen würde. Am 17. Juni 1953 eskalierte die Situation in einem Volksaufstand, den sowjetische Truppen blutig niederschlugen.[16] Die anschließend einsetzende Abwanderung von DDR-Bürgern, vor allem in die Bundesrepublik, führte in der DDR zu ökonomischen Problemen. Zwischen 1949 und dem Bau der Mauer 1961 waren knapp 2,7 Millionen Menschen nach Westdeutschland geflohen.

... 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut und 1962 in der DDR die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Zunächst gab es keine Regelung, die eine Verweigerung des Wehrdienstes erlaubt hätte.[50] Als Kompromiss führte die DDR den Bausoldatendienst in der Nationalen Volksarmee ein. Wer diese Form der Ableistung seiner Wehrpflicht antrat, musste noch nach der Dienstzeit mit persönlichen Nachteilen rechnen. Die Bausoldatenbewegung war ein wichtiger Ausgangspunkt der Oppositionsgeschichte der DDR.

Besonders im Kontext zum Prager Frühling und zunehmender Proteste von Heranwachsenden wurde die Protestjugend ein wichtiges politisches Thema. Die Jugendlichen gewannen Einfluss auf die Demokratiebewegung.[53] Laut Bernd Gehrke entstanden ,,1967/68 neue oppositionelle Milieus, deren Kontinuität trotz mancherlei Veränderungen bis 1989 reichte" und zum ,,Träger immer wieder neuer und sich verändernder politischer Aktivitäten oder Gruppenbildungen" führten. Diese Opposition ging aus der ,,Vernetzung und partiellen Überlappung von Milieus der kritisch-marxistischen und christlichen Intelligenz sowie der subkulturellen Jugendbewegung hervor".[53] In der DDR hofften viele Menschen auf ein Gelingen des Prager Frühlings. Nach seinem Scheitern kam es zu Protesten und Verhaftungen. Der Glaube an die Reformierbarkeit des realen Sozialismus schwand.

... Die 68er-Bewegung war ein internationales Phänomen. Als erstes wichtiges Ereignis gilt der Sieg der kubanischen Revolution am 1. Januar 1959.[84]

In der Bundesrepublik unterschieden sich die einzelnen Bewegungen deutlich voneinander. Häufige Themen waren der Protest gegen den laufenden Vietnamkrieg (Ostermarsch- und Friedensbewegung), der Kampf gegen Autorität (insbesondere in Bildung: ,,Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren"), die Ablehnung der Großen Koalition von Dezember 1966 bis Oktober 1969 im Kabinett Kiesinger (der die sozialliberale Koalition im Kabinett Brandt folgte) und Erziehung (Jugendbewegung) und für die Gleichstellung von Minderheiten sowie der Einsatz für mehr sexuelle Freiheiten (Frauenbewegung, Sexuelle Revolution: ,,Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment", Schwulenbewegung, Flowerpower- und Hippie-Bewegung). Außer den Studenten waren Schüler ab etwa 15 Jahren beteiligt, was mit den Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen in Bremen und Niedersachsen sowie der Neuorganisation der Schülermitverwaltungen zusammenhing, die ebenfalls in diese Zeit fielen.[85] So kam es beispielsweise zu den Bremer Straßenbahnunruhen 1968.

Das zentrale Thema der DDR war das Scheitern des Prager Frühlings. Es wurde eine Demokratisierung des Sozialismus angestrebt. Es wird die Meinung vertreten, dass ohne diese Generation, die die Niederschlagung des Prager Frühlings erlebt hatte, die friedliche Revolution von 1989 nicht denkbar ist. ... Die meisten DDR-Bürger waren über die westdeutsche 68er-Bewegung gut informiert. Die Tumulte an westdeutschen Universitäten lösten Befremden aus. Angela Merkel sagte über diese Zeit: ,,Mir erschienen die Bundesrepublik, die D-Mark, die Soziale Marktwirtschaft, die Westbindung und die sozialen Sicherungssysteme als ein gut funktionierendes, plurales Gebilde, ein demokratisches, freiheitliches Land. Man musste dieses Land und seine Systeme nicht bekämpfen, schon gar nicht mit Gewalt". In dieser Zeit begann sich die Blueserszene in der DDR zu entwickeln, die Ende der 1970er Jahre auf ihrem Höhepunkt war.

Quote[...] Die Blueserszene [blu:zəʳˈstse:nə] oder Kundenszene, auch Post-Hippies war eine DDR-spezifische Jugendkultur bzw. eine Gegenströmung zur ,,offiziellen" Jugendkultur in der DDR. Zum Ende der 1970er Jahre erreichte sie ihren Höhepunkt und bildete als signifikante Bewegung eine Gegenkultur zum vorgezeichneten DDR-Alltag. Ihre Anhänger bezeichneten sich selbst als Blueser, Kunden oder Tramper. Innerhalb der Szene wurde nicht ausschließlich Blues gehört und gespielt.

Ihr Leitsatz waren die Ideale aus der westlichen Hippie-Bewegung wie Freiheit, Authentizität und Nonkonformismus. Sie zeichnete sich durch gemeinsame Verhaltensmuster und musikalische Vorlieben sowie ,,ihr" spezielles Outfit aus, das ein Wir-Gefühl erzeugte. Die überwiegende Mehrzahl der Blueser nahm eine betont antimilitaristische Geisteshaltung ein, viele engagierten sich in der Friedensbewegung in der DDR. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Blueserszene (30. Mai 2016)

... Der Journalist und Chefkommentator der Tageszeitung Die Welt,[87] Torsten Krauel, bewertete 2001 die 68er-Bewegung so: Das Auftreten ,,dezidierte[r] Jugendrevolutionäre, die das Establishment verjagen wollten", das Bedienen ,,antibürgerlicher, antireligiöser, antifamiliärer Reflexe" und der ,,antikulturelle Zertrümmerungsfeldzug" hätten viele Parallelen zu den Ereignissen gegen Ende der Weimarer Republik und zu den Strategien der damaligen rechts- und linksextremen Bewegungen aufgewiesen. Auch die ,,Aufpeitschung von Leidenschaften und die Hingabe an sie" sei bereits ,,konstitutiv für das NS-Regime gewesen". Dies habe gerade in Deutschland zu einer besonders heftigen Konfrontation zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration geführt, wobei beide auf ihre Weise geglaubt hätten, ,,im antifaschistischen Recht zu sein".[88] Besonders drastisch wurden diese angeblichen Parallelen im Gedankengut und in der politischen Aktionsform vom Politologen Götz Aly in seinem Werk Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück dargestellt.

... Heftige Konflikte entstanden zwischen den Veteranen der Studentenbewegung und konservativen Politikern und Publizisten. Die einen meinten, dass die Ereignisse jener Zeit das obrigkeitsstaatlich geprägte Land geistig im Westen verankert hätten und erst eine Vergangenheitsbewältigung ermöglichten. Die anderen wiesen auf die Sympathie der Studentenführer für kommunistische Diktatoren hin. Zu ihren Idolen zählten Ho Chi Minh und Mao Tse-Tung. Außerdem sprachen sie von einem Abgleiten eines Teils der Bewegung in Gewalt und Terrorismus. Die Konservativen behaupteten, die gesellschaftliche Erneuerung habe seit Mitte der 1960er Jahre ohnehin stattgefunden, ebenso eine intensivere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Dies hätten die Auschwitz-Prozesse gezeigt.

In Deutschland wurde in den 1990er Jahren diskutiert, ob der beginnende Vandalismus im öffentlichen Raum, Graffitisprayer, Gewalt in den Schulen und ähnliche Tendenzen auf die Ideen der 68er-Bewegung zurückzuführen waren. Weltweit hatten Jugendliche für Selbstbestimmung und Freiheitsrechte demonstriert. Dabei nahmen sie sich Mao Tsetung, Ho Chi Minh und Che Guevara zum Vorbild, obwohl sie als Stalinisten galten. Diese Paradoxie gehöre zu den ,,dunkelsten Aspekten von 1968".

... Die 68er-Bewegung führte zu sozialen Veränderungen und bewirkte eine neue politische Kultur. Dazu gehörten die zunehmende Teilhabe von Minderheiten am öffentlichen Leben, sich verändernde Geschlechterrollen, sowie öffentliche Bekenntnisse zur Homosexualität. In Frankreich, Italien, der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten bildete sich eine außerparlamentarische Opposition. Diese politischen Gegenbewegungen mit ihren eigenen Flugblättern, alternativen Radiostationen und neuen Publikationsformen schufen neue Zugänge zu Informationen. Möglicherweise war dies ein Wegbereiter für die Internetkultur der Gegenwart. Für die internationalen Verbreitung der 68er-Bewegung waren Pressebilder und das Fernsehen wichtig, also die für die damalige Zeit neuen Medien. Weltweit gab es eine fortschreitende Demokratisierung und die Gründung von Nichtregierungsorganisationen. Diese Politisierung der Privatsphäre wird den Protesten der 1968er Jahre zugeschrieben.


https://de.wikipedia.org/wiki/68er-Bewegung (Stand: 19. Juni 2016)


Textaris(txt*bot)

#1
Quote[...] POTSDAM - ,,Die Schwarzer hatte doch sowieso nur Sex im Kopf, um wirkliche Befreiung ging es der doch nie", empört sich Katharina Rutschky, Pädagogin, freie Autorin und ,,Alt-68erin" auf die Frage hin, welche Widersprüche sie in der Frauenbewegung gesehen habe. Rutschky zählte neben der Historikerin Kristina Schulz, der Bestseller-Autorin und Journalistin Katja Kullmann und der Sängerin und freien Journalistin Christiane Rösinger zu den vier geladenen Expertinnen, die unter der Leitung der taz-Redakteurin Ines Kappert am Freitagabend im Berliner Amerika-Haus über den Erfolg der Frauenbewegung seit 1968 diskutieren sollten.

Einigkeit herrschte unter den Expertinnen selten. Während Kristina Schulz nüchtern und sachlich Kapperts Fragen nach deutsch-französischen Vergleichen beantwortete und sich als ruhender Pol in der bisweilen angeregten und emotionalen Diskussion gab, gewährte Christiane Rösinger Einblicke in die ,,rückständigste aller Szenen" – die Rockmusik. Ihre Erfahrungen in dieser Männerdomäne hätten sie eine Feministin werden lassen, und im Übrigen, so Rösinger, müsse heute doch eigentlich ,,jede intelligente Frau Feministin sein". Rutschky dagegen sah nicht ein, warum sich Frauen solidarisieren sollten, um eine Gleichstellung – die sowieso keine Befreiung bringe – zu erreichen. Jede Frau habe doch ,,ihren eigenen Kopf und ihre eigenen Probleme". Kullmann hingegen plädierte für eine stärkere Vernetzung der Frauen, gerade im Berufsleben, wo sich die Benachteiligungen und Probleme auftäten. Für sie sind der durch die 68er-Bewegung losgetretene neue Individualisierungsschub und das fehlende klare Feindbild das eigentliche Dilemma der Frauen von heute.

Erst spät am Abend endete die Diskussion in Zwietracht. Man kam nicht auf einen Nenner. War die Bewegung erfolgreich? Was muss noch getan werden? Beendet ist für die meisten das Thema noch lange nicht.


Aus: "Eine Debatte über 1968 und Feminismus" Von Anica Jahning (03.03.2008)
Quelle: http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/11148353/492531/Eine_Debatte_ueber_und_Feminismus_Frauenbewegung.html

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QuoteAus: "Politisches Engagement: "Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren"" (22. Juni 2016)
http://www.zeit.de/campus/2016-06/politisches-engagement-junge-linke-studenten-parteizugehoerigkeit

[Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.]

... Wolfgang Merkel: In der Tat hat sich die Form des politischen Engagements junger linker Menschen deutlich verändert. Die Großorganisationen, zu denen man sich gewissermaßen ein Leben lang zugehörig fühlt, haben rasant an Bedeutung verloren. Parteien sind unter jungen Intellektuellen wirklich out, ein langfristiges Engagement wünschen sich ohnehin nur die Wenigsten. Die Tendenz geht dagegen zur kurzfristigen und aktiven Beteiligung in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International, Attac oder in Umweltinitiativen. Auch im Netz gibt es durchaus Formen einer digitalen Zivilgesellschaft, in der sich junge Linke bisweilen engagieren.

Robert Pausch: Und inhaltlich?

Merkel: Auch da lässt sich eine ganz spannende Entwicklung beobachten – und die geht weg von der Verteilungspolitik. Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lässt, war ja seit jeher der Wesenskern linker Politik. Und der ist unter jungen Linken heute fast gänzlich in den Hintergrund getreten. Stattdessen dominieren kulturelle und identitätspolitische Themen, über die sich junges Linkssein heute definiert. Das zentrale progressive Anliegen ist mittlerweile die unbedingte Gleichstellung von Minderheiten. Das können ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten sein.

Gerade im Fall der Religion hat dies jedoch hochproblematische Konsequenzen: Denn die junge Linke neigt dazu – entgegen einer aufklärerischen oder marxistischen Tradition der Religionskritik – Religion unter Immunitätsschutz zu stellen und Kritik am Islam unmittelbar als "rechts" oder als "Phobie" zu brandmarken. Linke Religionskritik gerät dann in Vergessenheit, kritische Diskurse werden schlicht nicht mehr geführt – und das ist ein großes Problem.

...


Quelle: http://www.zeit.de/campus/2016-06/politisches-engagement-junge-linke-studenten-parteizugehoerigkeit?sort=desc#comments (Stand 23.06.2016)

QuoteXepio #8

Wenn es droht kompliziert zu werden,werfe ich Torten oder erkläre mich zum Kosmopoliten und wende mich ab von den Niederungen.

QuoteRaymond Luxury Yacht #5

"Stattdessen geht es um globale Zusammenhänge, der Nationalstaat wird dagegen als überholt und gestrig betrachtet."

Links zu sein bedeutete für mich in Jungendtagen immer für eine solidarischere Gesellschat einzutreten und Krieg sowie Gewalt als Mittel zur Interessendurchsetzung abzulehnen. Das waren die Kernthesen.

In meiner Wahrnehmung ist die heutige Generation, die man offensichtlich unbedingt unter dem Begriff Generation Y zusammenfassen möchte, nahezu unpolitisch. Ein bisschen vegan sein, ein bisschen auf Ökosiegel achten und auf jeden Fall irgendwas mit Flüchtlingen machen... aber nur, solange es den prekären Freelancerjob nicht einschränkt.

Deutschland wird aktuell massiv militarisiert, Privatsphäre wird praktisch abgeschafft, ich gebe meine Daten und Haltung unkritisch an "soziale" Netzwerke.

Musik als eigentlich immer wichtigen Ausdrucksform von Protest ist unglaublich beliebig. Einen theoretischen Unterbau oder irgendetwas Aufsehenerregendes sehe ich nicht.

Eine Revolution ist wohl nicht zu befürchten...

Quote
Kelhim #5.1

Keiner der "jungen Linken" ist doch gegen eine solidarischere Gesellschaft oder für den "Krieg sowie Gewalt als Mittel zur Interessendurchsetzung". Vegane Lebensweise, die Orientierung des Kaufverhaltens an ökologischen und sozialen Werten oder das Engagement für Schutzsuchende ist auch nicht unbedingt etwas, was es verdient hätte, verächtlich gemacht zu werden.

Sicherlich fand eine Schwerpunktverschiebung statt. Diese Analyse teile ich vollkommen. Ich kann das in meiner Familie auch ganz klar und geradezu handbuchartig an den Generationen ablesen. Trotzdem sehe ich diese Entwicklung nicht nur negativ. Vielleicht sind "junge, intellektuelle Linke" heute zu unkritisch gegenüber neuen Medien und Geschäftsmodellen. Meiner Meinung nach pflegen sie auch ein zu simples, unemptahisches, weil distanziertes Politikverständnis. Mir sind sie auch zu unbeständig und ungebunden. Andererseits muss der alte Uniform-Pazifismus der "Soldaten sind Mörder, es sei denn, sie tragen russische Abzeichen"-Schule wirklich nicht fortbestehen, verfolgungswürdige Interessen können auch die Rechte Unterdrückter in anderen Ländern sein, und die Globalisierung stoppt nicht an deutschen Grenzen. Eine Revolution muss hierzulande zum Glück niemand anstreben. Die Generation Y hat Potential.


QuoteRuelan #5.2

"Deutschland wird aktuell massiv militarisiert"

Diesen Unsinn glauben Linke wirklich. Sollte man wissen.

QuoteRaymond Luxury Yacht #5.7

"Diesen Unsinn glauben Linke wirklich. Sollte man wissen."

Oh, bitte! Sie nennen es "größere Verantwortung tragen" und das schlichte Gemüt ist begeistert...

Und größere Verantwortung trägt die Bundeswehr aktuell im Kosovo, im Libanon, in Syrien, im Irak, in Afghanistan, in der Westsahara, in Mali, im Sudan, im Südsudan, in Dschibuti, in Somalia, am Horn von Afrika und übernimt die Führung für den NATO-Verband in Litauen. Alles super, diese linken Spinner!






QuoteGarfield1 #1 

Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass sich die junge Linke heute ganz eindeutig kosmopolitisch orientiert. Das heißt, Gerechtigkeitsfragen werden nicht mehr im nationalen Kontext, etwa anhand von sozial- oder lohnpolitischen Auseinandersetzungen, verhandelt. Stattdessen geht es um globale Zusammenhänge

Au verflixt. Und dabei dachte ich immer, das uralte Lied der Linken hieße "Die INTERnationale". Und die Losung "Proletarier ALLER LÄNDER, vereinigt Euch!" ...


QuoteRaymond Aron #3

Merkel hat es doch schön auf den Punkt gebracht: Linke, und zwar nicht nur die "junge", nimmt man heute doch eher als Instanz von Denk- und Sprechverboten wahr, die alles und jedes in die triefende Tunke der reinen Gesinnungsethik steckt.


Quote

Aikansa Kutakin #1.1

... Jugend, Jugendkultur in der modernen Welt war schon immer links, intellektuell, infantil und naiv. Daran hat sich über die Jahrzehnte nichts geändert. Die alten 68iger mit ihren HoChiMinh-Rufen und MaoBibeln waren mindest so peinlich wie die heutige open-borders-Fraktion.

Was sich geändert hat: der konservative Gegenentwurf ist weggefallen. Die 68iger konnten ihren Schwachsinn (wobei ja nicht alles Unsinn war) in die Welt hinausposaunen, ohne Gefahr zu laufen, die Zeche dafür zu zahlen, weil da ein konservatives Moment in der Gesellschaft war, was das Ganze reaktiv abgefedert hat. So entstand durch diese Antihesen eine allmählicher Wadel in der Gesellscahft.

Heute sitzen aber die 68iger selber an den Schaltzentralen der Macht, ein Herr Barroso war früher Maoist, Kretschmann auch, viele in den vergangenen EU- Kommissionen waren früher eingefleischte Kommunisten. Das reaktive Moment und Gegengewicht ist weggefallen. ...


QuoteUnermüdlich #1.2

++ der konservative Gegenentwurf ist weggefallen. Die 68iger konnten ihren Schwachsinn (wobei ja nicht alles Unsinn war) in die Welt hinausposaunen, ohne Gefahr zu laufen, die Zeche dafür zu zahlen, weil da ein konservatives Moment in der Gesellschaft war, ... Heute sitzen aber die 68iger selber an den Schaltzentralen der Macht, ein Herr Barroso war früher Maoist, ... . ++

1. Verherrlichen Sie hier den Konservativismus der Vor-68er-Ära.

Wir erinnern uns:
Frau am Herd, wenns essen nicht schmeckte gab ganz legal eine Tracht Prügel, Vergewaltigung in der Ehe war nicht strafbar, eigenes Konto ohne Erlaubnis des Ehemanns gabs auch nicht, schon die Ermöglichung außerehelichen Sex war strafbar. Im Parlament saßen überwiegend alte Männer, ein Großteil Mitläufer in Hitlers Diktatur.
Die Ex-Nazis waren in allen Gesellschaftsebenen vorhanden, innerhalb des Rechtsstaates behinderten sie die Ahndung der eigenen Verbrechen in der Nazidiktatur, während sie Homosexuelle mit großem Eifer in die Gefägnisse oder gleich den Suizid trieben, Kriegsgeger wurden polizeilich zusammengeschlagen, während die US Armee in Vietnam alles massakrierte, was nicht schnell genug in Deckung gehen konnte.
Ich weiss echt nicht, was man daran - und das waren die Hauptgründe für die 68er-Revolte - lobens- oder erhaltenswert finden kann.

2. Barroso, Kretschmann und viele andere 68er die Karriere gemacht haben, sind heute stockkonservative, reaktionäre Bonzen, linker Ziele oder Visionen komplett unverdächtig.


Quote
Aikansa Kutakin #1.4

Sie verstehen den Ansatz nicht. Es geht nicht um richtig oder falsch, gut oder böse, sondern um faktische Gegebenheiten und gesellschaftliche Dynamiken und Prozesse.
Exakt das, was sie da grade machen, ist ja grade der Fehler der Linken, nur in diesen "moralischen" Bahnen zu denken und von der Moral her Dinge zu bewerten.
Selbstverständlich war es Ende der 60iger an der Zeit, die Gesellschaft zu ändern und längst überfälliges über Bord zu werfen, Verkrustungen aufzubrechen, mit Altem zu brechen und eine neue freie Gesellschaft zu formen. Das wurde teilweise von den 68igern auch hervorragend gemacht (insbesondere grade von denen, die damals belächelt wurden und gar nicht mal sooo politisch waren).

Ich persönlich war sogar ein Fan von Dutschke - trotz seiner Intelligenz und Kraft war er aber - streng politisch gesehen - ein kleingeistiger Vollpfosten. Wer gegen die Nachkriegsgesellschaft Deutschlands mobil macht , dabei aber die Mao-Bibel hochhält, d.h. von einem Mann, der fast genausoviel Tote auf dem Gewissen hat, als der ganze 2te Weltkrieg zusammen gebracht hat , ist nunmal in der Irre. http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/mao-tse-tung-45-millionen-tote-14038.html

Die 68iger sind aber auch nicht das Thema. Thema ist die heutige Linke und das Wegbrechen der Dialektik einer Gesellschaft. Ohne diese Balance können sie keine gesunde Gesellschaft haben. Diese Balance ist aufgehoben.


QuoteUnermüdlich #1.5

++ Die 68iger sind aber auch nicht das Thema. Thema ist die heutige Linke und das Wegbrechen der Dialektik einer Gesellschaft. Ohne diese Balance können sie keine gesunde Gesellschaft haben. Diese Balance ist aufgehoben. ++

Die "Balance" war und ist immer dann aufgehoben, wenn die Rechten die Deutungshoheit verloren...
Das zeigt sich exemplarisch an den Debatten, sobald Widerspruch zu teils dümmlichsten NPD-Parolen kommen, geht das Geheule von wegen fehlender Meinungsfreiheit, Gesinnungsdiktatur und ähnlichem Quatsch los.
Und es ist gut so, dass die Rechten die Deutungshoheit verlieren!

Kritik an (v.a.) linken Spießern und Selbstreflexion ist natürlich wichtig, nur brauche ich die nicht von Leuten rechts der Mitte die noch reaktionärer und selbtsgefälliger als die Kritisierten sind.

...


...

Textaris(txt*bot)

#2
Quote[...] Wie sehen Sie die Zeiten heute und das, was von der Emanzipation übrig ist? Haben Sie das Gefühl, nachhaltig etwas verändern zu können?

Jutta Winkelmann: Da hat sich enorm viel verändert. Auf der ganzen Welt ist es menschlicher geworden seit den 68ern. Natürlich gibt es auch Rückschläge, durch Bush zum Beispiel. Der hat viel kaputt gemacht. Aber ich denke, dass es auch im Untergrund sicher weiter geht.

Gisela Getty: Vieles ist ja heute selbstverständlich, wofür wir damals gekämpft haben. 1972 durften Frauen noch kein eigenes Konto eröffnen und ihre Männer durften für sie den Job kündigen. Homosexualität war kriminell. Es ist wunderbar, dass diese Dinge heute selbstverständlich sind.

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Aus: ""Wir wollten einfach intensiv leben"" (28.04.2010)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/interview-wir-wollten-einfach-intensiv-leben/1810342.html

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Quote[...] Etwas hat sich verändert. Es ist der Ton. Die Bücher zum 40. Geburtstag der 68er sind zu großen Teilen kritisch, selbstkritisch gehalten. Ihre Autoren, die meist auch Akteure der wilden Jahre in der Bundesrepublik waren, begeben sich meist nicht nur auf eine Suche nach den Wurzeln des Aufbegehrens, sie suchen, neben ihren inzwischen landauf und landab gewürdigten positiven Folgen, auch die Ursprünge ihrer problematischen Seiten zu ergründen.

Im Kern findet – und das ist nicht nur bei den hier vorgestellten Büchern von Wolfgang Kraushaar, Reinhard Mohr und Peter Schneider der Fall – eine neue Rezeption der in den wilden Jahren häufig vehement zurückgewiesenen Kritiken an der Studentenbewegung und ihrer Autoren statt. Richard Löwenthal etwa hatte den Studenten in verschiedenen Referaten und Aufsätzen (,,Romantischer Rückfall") bereits am Ende der 60er Jahre zugerufen, es sei ein großer Unterschied, von wo aus man die Demokratie kritisiere und Veränderungen einfordere. Wolle man die demokratischen Rechte verteidigen und erweitern sowie die Institutionen der Demokratie verbessern, dann sei das zu begrüßen. Attackiere man jedoch die Demokratie lediglich als eine leere Form, die mehr und mehr mit dem Inhalt eines sich faschisierenden Polizeistaats ausgefüllt werde und zerstört werden müsse, dann sähe er große Gefahren heraufziehen.

Jürgen Habermas hatte mit seinem gegenüber Dutschke erhobenen Vorwurf des ,,Linksfaschismus" in eine ähnliche Richtung gezielt. In seinen bereits am Ende der 60er publizierten Aufsätzen mit Titeln wie ,,Die Scheinrevolution und ihre Kinder" unterschied er, ganz ähnlich wie Löwenthal, zwischen einer Strategie des zivilen Ungehorsams, die sich auf Aufklärung und die Verbesserung der Demokratie auf der Grundlage ihrer eigenen Werte richte, und einer illusionären und gefährlichen gewaltförmigen Strategie der Revolution, die nicht auf die Verbesserung sondern auf die Zerstörung der Demokratie gerichtet sei.

Unter den 68er-Gedenkautoren ist besonders Wolfgang Kraushaar hervorzuheben. Ihm gelingt es in einem großen Bogen die internationalen – insbesondere amerikanischen – Wurzeln der 68er-Revolte zu charakterisieren und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem deutschen Fall plastisch vor Augen zu führen. Die von Richard Löwenthal und anderen häufig nur am deutschen Fall wahrgenommenen romantischen Züge der Studentenbewegung macht er dabei als Teil ihrer Gemeinsamkeiten in allen westeuropäischen Ländern aus.

Ihren Ausgangspunkt deutet er einleuchtend als die schillernde ,,Woodstock Nation", die Vorstellung einer vollkommen befreiten neuen Welt und insbesondere eines sich selbst genießenden Individuums, hier und jetzt und sofort, die insbesondere bei den amerikanischen 68ern eine große Rolle spielte, jedoch weit über den Atlantik hinaus ihre große Fangemeinde fand. Kraushaar skizziert die fließenden Übergänge zwischen nur allzu verständlicher Rebellion gegen überkommene Strukturen und Lebensweisen, utopisch-fantastischen Spielereien und antidemokratischen bis totalitären Experimenten.

Peter Schneider glänzt nicht mit einem großen theoretischen Wurf, ihm ist jedoch das ehrlichste Buch zu 68 gelungen. Schneider hat sein altes Tagebuch aus der Schublade gezogen und diskutiert am eigenen Fall die fließenden Übergänge zwischen moralischer Rebellion, spielerisch-ästhetischen Experimenten und dem Größenwahn antidemokratischer politischer Projekte. Er fasst sein mit vielen bislang nicht erzählten Details aus der Führungsriege des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) gespicktes Buch so zusammen: ,,Meinen Kindern sage ich: Es ist nötig ..., gegen selbst ernannte Herren der Welt und eine feige oder übergeschnappte Obrigkeit zu rebellieren. Aber noch mehr Mut gehört dazu, gegen die Führer in der eigenen Gruppe aufzustehen und zu sagen: Ihr spinnt! Ihr seid verrückt geworden! – wenn ebendies der Fall ist."

Reinhard Mohr, im Unterschied zu Kraushaar und Schneider kein Zeitzeuge der 68er, legt die Bilanz eines Nachgeborenen vor. Wie viele andere geriet er fasziniert und überfordert zugleich in die Nachwehen der großen Revolte und musste seinen Weg finden, mit ihren Ansprüchen umzugehen. Seine Bilanz lautet trotzdem ganz ähnlich wie die von Schneider und Kraushaar. Über ein Jahrzehnt lang hätten die 68er verzweifelt versucht, das historisch gültige revolutionäre Subjekt zu finden. Sie hätten dabei in rascher Abfolge auf die Arbeiterklasse, die Dritte Welt, Randgruppen und am Ende auch auf die Natur gesetzt. ,,In Wirklichkeit", so schließt Mohr sein Buch, ,,war es ganz einfach. Sie hätten nur sich selbst genauer betrachten sollen. Das revolutionäre Subjekt war – das Subjekt. Vielleicht aber haben sie ja geahnt, dass mit der Freiheit des Einzelnen die Probleme erst richtig anfangen."

So kritisch und selbstkritisch die hier vorgestellten Bücher sind, ein wesentliches Thema behandeln sie meist stiefmütterlich. Das besondere Charakteristikum der deutschen 68er, die Rebellion der NS-Täterkinder, berühren die Autoren eher am Rande. Das verschlungene Ineinander und Durcheinander von Abnabelung und Kontinuität gegenüber der Eltern- und Großelterngeneration wird im Detail nicht abgehandelt. Wolfgang Kraushaar hat sich hier mit seinen schon älteren Beiträgen zu den nationalen und antizionistischen Ambitionen der 68er, die er in seine Bilanz eingeflochten hat, bislang am weitesten vorgewagt. Im Kern kann man sagen, dass die Geburtstagsreden zu 68 eher auf die Kritiken der 68er zurückgreifen, die ihre pro- und antidemokratischen Motive diskutierten. Die Kritiken der deutschen 68er von Dan Diner, Andrei Markovits oder Martin Kloke, die zusätzlich den Antiamerikanismus, sekundären Antisemitismus und verwandte Phänomene unterstreichen, sind in den diesjährigen Geburtstagsreden noch nicht recht angekommen.

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz. Propyläen Verlag, Berlin 2008. 333 Seiten

Reinhard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern. Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2008. 238 Seiten

Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68. Eine autobiographische Erzählung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 365 Seiten


Aus: "Literatur: Im Rausch der Rebellion" Martin Jander (07.07.2008)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/im-rausch-der-rebellion/1273644.html

Textaris(txt*bot)

#3
Quote[...] Vielleicht war das ja die Aufgabe dieser, wie Jutta sie später nannte, "zerbröselnden Altengruppe", uns allen noch einmal vor Augen zu führen, wie lange vorbei diese Hippiewelt ist, und wie sie doch möglich ist, diese poetische, ja kindliche Weigerung, ein Leben als eindimensionaler Mensch zu führen.

Dabei geht es doch genau darum: die Pubertät wachzuhalten, immer im Bewusstsein, dass es noch eine andere Wirklichkeit gibt, eine Gegenwelt. Ein anderes Leben: als neugierige Selbstund Welterfinder, auch noch mit 65, und wenn die Reise zu einer Bude lustiger Scharlatane nach Indien führt. ...

Und nun also sind sie 65, die Hippies, und die Pubertät geht für manche weiter, Jutta betet viel, sagt sie am Telefon, sie knüpft derzeit an die Kindheit an, in der sie ständig mit Gisela gebetet habe. "Wir waren viel frömmer als unsere Eltern", sagt Jutta lachend am Telefon. "Wir haben nächtelang gebetet, für praktisch jeden auf der Welt." Irgendwann, in frühen Jahren, dämmerte Jutta die Erkenntnis, dass das Kiffen "nicht ihr Weg war". Immerhin hatte es den Rang einer Lebensoption, und es ist wahrscheinlich nicht die schlechteste. ...

QuoteHarry Anslinger (2015)

Und das vom Matussek, in der Welt... wer hätte das gedacht. ...



Aus: "Haschisch, ein Qualm für Götter" Matthias Matussek (Artikel vom 04.01.2015)
Quelle: http://www.welt.de/print/wams/kultur/article135978094/Haschisch-ein-Qualm-fuer-Goetter.html

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Jutta Winkelmann, die ihre Krebserkrankung öffentlich gemacht hat, nimmt gegen ihre Schmerzen Haschisch-Öl. Und sie sagt, die sollten sich mal zur Legalisierung durchringen .....
Quelle: https://klausbaum.wordpress.com/2016/06/22/cannabis-als-medizinprodukt-schmerzpatient-baut-an/



Textaris(txt*bot)

Quote[...] Eribon: ... Zum Erbe von 1968 gehört, dass sich heute in jeder Sphäre Menschen in verschiedenen Konstellationen zusammenschließen können, um für ihre Rechte zu kämpfen. Die Idee des allgemeinen Volksinteresses denunziert diese Freiheit als neoliberal. Das ist verrückt. Was 1968 definiert hat, war gerade, dass sich dort so viele politische Subjektivitäten entwickelt und geäußert haben. Foucault hat das immer wieder betont. Das ist nicht neoliberal, das ist politisch. Man kann den Homosexuellen, den Frauen, den Ökos und so weiter nicht sagen, dass sie jetzt die Klappe halten sollen, weil ihre Subjektivität eine Erfindung des Kapitalismus ist.

... ZEIT ONLINE: Was aber könnte das Gemeinsame dann sein, nach dem sich offenbar so viele sehnen?

Eribon: Ich kann mich jedenfalls nicht mit Leuten zusammenschließen, mit denen ich rein gar nichts gemeinsam habe: mit Leuten, die für den Front National stimmen, die fremdenfeindlich sind, die homophob sind. Ich bin auf ihrer Seite, wenn es gegen die Verwüstungen geht, die die neoliberale Politik unserer Regierungen in unserem Staatswesen anrichtet, aber ich muss sie bekämpfen, wenn sie für den FN stimmen, was sie tun werden. 25 Prozent der Franzosen werden nächstes Jahr im ersten Wahlgang für Marine Le Pen stimmen. Meine Mutter, meine Brüder, viele ihrer Bekannten werden voraussichtlich für den FN stimmen. Wenn man sie fragt, warum, sagen sie, dass es schlimmer nicht werden kann und dass sie nichts zu verlieren haben.

ZEIT ONLINE: Was, wie gesagt, nicht stimmt.

Eribon: Aber sie sind so verzweifelt, dass es ihnen so vorkommt. Sie sehen, wie die EU das Leben der Menschen in Griechenland zerstört hat und sie fürchten, sie könnten die nächsten sein.

ZEIT ONLINE: Dem Kampf der LGBT-Community oder der Schwarzen in den USA wird von Linken oft vorgeworfen, sie seien zu sehr ästhetisiert und zu sehr mit der kommerziellen Entertainmentgesellschaft kompatibel. An den wirtschaftlichen Realitäten würden sie deshalb nichts ändern.

Eribon: Die Bewegung Black Lives Matter in den USA ist vielleicht auch eine wirtschaftliche Initiative, aber nicht nur. Es ist eine ethnische Bewegung, eine soziale Bewegung, eine Minderheitenbewegung. Man kann den Schwarzen in den USA nicht erzählen, dass ihr Widerstand gegen die Polizeigewalt weniger gilt, nur weil er auch kommerziell funktioniert. Es geht in vielen Fällen ganz konkret um ihr Leben. Auch Abtreibungen sind mit dem Neoliberalismus kompatibel. Sollen die Frauen deshalb aufhören, für das Recht zu kämpfen, über ihre Körper und ihr Leben selbst entscheiden zu dürfen? Was wäre denn eigentlich nicht irgendwie kompatibel mit dem Neoliberalismus? Es ist ein idiotisches Argument. Und es ist erschreckend, wie populär es in der europäischen Linken gerade ist. Dieser Rechtsruck der Linken ist nicht mitanzusehen.

...


Aus: "Didier Eribon: "Ihr könnt nicht glauben, ihr wärt das Volk"" Interview: Felix Stephan, Paris (4. Juli 2016)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/2016-07/didier-eribon-linke-angela-merkel-brexit-frankreich-front-national-afd-interview


Textaris(txt*bot)

Quote[...] Er trank Weißwein und erzählte mir zwei Tage lang seine Geschichte. Dabei sprach er mit einem Akzent, wie man ihn nur auf den Straßen Berlins lernt. Und er hatte einen wunderbaren Humor, der human und zynisch zugleich war. Sein Fazit war allerdings traurig: ,,Es gibt kein Happy End in Deutschland."

Sein Vater war Nazi gewesen, angeblich hatte er dem Berliner Gauleiter Joseph Goebbels die erste schwarze Lederjacke gekauft. Seine Mutter war eher unpolitisch, eine Berliner Kleinbürgerin; Michael Baumann wurde am 25. August 1947 in Berlin-Lichtenberg im sowjetischen Sektor Berlins geboren. Als er zwölf war, wechselte die Familie in den britischen Sektor über.

Bommi, wie er seit Schulzeiten hieß, gehörte zu den ersten ,,Gammlern", die auf den Stufen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in der Westberliner City die Lambrusco-Flaschen kreisen ließen und Captagon oder Romilar nahmen, bald folgten die ersten Joints. Er hatte Betonbauer gelernt, doch er liebte Rock ' n ' Roll und wollte ,,kein nützliches Mitglied dieser Gesellschaft werden".

... Wie für die meisten Achtundsechziger war der 2. Juni 1967, der Tag an dem der Kriminalpolizist Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, ein Wendepunkt. Aus anti­autoritären Happenings war blutiger Ernst geworden.

Als an Ostern 1968, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, aufgewühlte Demonstranten das Hochhaus des Springer-Verlags in Berlin belagerten, warf Bommi Steine. Und er war nicht der Einzige. Bommi war oft in der Kommune I und gehörte zu den Gründern einer Gruppe, die sich – als ironischer Kommentar zu den Namen studentischer Gruppen – ,,Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen" nannte.

... ,,Wie alles anfing" war das Buch einer Generation. Authentisch, wie es kein theoretischer Text jemals vermocht hätte, beschrieb Baumann darin seinen Weg zum bewaffneten Kampf und seinen Ausstieg aus dem Terrorismus. Er sei – so Baumanns Message – aus ,,Furcht vor der Liebe" in die ,,absolute Gewalt" geflüchtet.

,,Wie alles anfing" zeigte, dass die Revolte von 1968 kein rein studentisches Abenteuer war, sondern eine klassenübergreifende Jugendbewegung. Von dem schmalen Band wurden an die 100.000 Exemplare verkauft. Es wurde in sieben Sprachen übersetzt und in New York als Theaterstück inszeniert.

Zunächst war allerdings ein Polizeikommando beim Münchner Trikont-Verlag eingefallen und hatte alle vorgefundenen Exemplare beschlagnahmt. Heinrich Böll und andere Linksliberale gaben es nach einem Verbot neu heraus. Dieses Buch zu unterdrücken, schrieb Böll, ,,ist der falscheste Weg, den man einschlagen kann".

Der Sprachartist Peter Hand­ke, der sich auch gegen das Verbot engagierte, war gleichzeitig angewidert von der ,,angeberischen, leeren Milieu und Szenesprache, die eigentlich nur noch aus paar Geräuschen besteht". Gudrun Ensslin, Kopf der ersten RAF-Generation, schrieb unter einem Pseudonym eine Rezension, in der sie das Buch als ,,faschistisches Pamphlet" geißelte.

Im Januar 1998 veröffentlichte der Spiegel Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, nach denen Baumann im Jahr 1973 einen 125-seitigen Bericht über insgesamt 94 Personen des bewaffneten Kampfs in Westdeutschland verfasst hatte: Darin hieß es über Enss­lin: ,,Lenkender Geist der RAF, sehr kalt, aber mutig, fanatisch, unfraulich und lustfeindlich."

Die Stasi hatte Baumann beim Transit verhaftet. Er rechtfertigte seine präzisen Aussagen damit, dass die Stasioffiziere gedroht hatten, ihn in den Westen abzuschieben, wenn er nicht auspacke. Die meisten Genossen der ,,Bewegung 2. Juni", die Baumann immer schon als ,,Großmaul" kritisiert hatten, wandten sich nach dem Bekanntwerden der Stasi-Aussagen von ihm ab. Der einstige ,,2. Juni"-Kader und spätere taz-Redakteur und Stasi-IM Till Meyer allerdings und einige alte Freunde von den ,,Haschrebellen" hielten zu ihm.

Weniger als ein Jahr nach dem Treffen in Rom verhaftete Scotland Yard Baumann im Februar 1981 in einem besetzten Haus in Ostlondon in Hackney. Ein halbes Jahr später verurteilte das Landgericht Berlin ihn wegen zwei Banküberfällen und einem Bombenanschlag auf das Berliner Landeskriminalamt zu fünf Jahren und zwei Monaten Haft.

Bommi Baumann hat insgesamt sechs Jahre im Gefängnis gesessen und dort vor allem gelesen. Nun saß er in seiner Wohnung in der Landsberger Allee und las; in Büchern, in Zeitungen und im Internet. Die Geschichte des britischen Empire kannte er bis in kleinste Details. Geheimdienste faszinierten ihn.

Bis auf Zigaretten nahm er lange keine Drogen mehr, doch als seine Frau mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Krankenhaus lag, griff er wieder zu Opiaten. Als der Richter Baumann im Prozess gegen Verena Becker wegen des Mordes an Generalbundesanwalt Siegfried Buback als Zeugen fragte, warum er nach fünfzehn Jahren wieder mit Opiaten angefangen habe, antwortete Bommi: ,,Na irgend­ein Hobby hat doch jeder."

Opiate sind mehr als ein Hobby, sie höhlen Menschen aus. Sie verwandeln sie in auf sich und die Droge bezogene Narzissten. Im Jahr 2009 veröffentlichte er sein drittes und letztes, teils autobiografisches Buch ,,Rausch und Terror. Ein politischer Erlebnisbericht". Darin beschrieb er nicht nur mit seltener Präzision die Mechanismen der Opiatsucht, sondern gab entscheidende Hinweise zur Kulturgeschichte der Drogen in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren.

,,Meine Kumpels könnten einen Friedhof füllen", sagte er in einem Interview: Von den ,,Haschrebellen" der sechziger Jahre waren viele schon tot. Bommi Baumanns Freunde sagten, es gleiche einem Wunder, dass er mit seinem Lifestyle noch am Leben sei.

Er wurde 68 Jahre alt und starb am frühen Dienstagmorgen friedlich in seiner Wohnung in Berlin-Friedrichshain.


Aus: "Nachruf auf Bommi Baumann: Wie alles endete" Michael Sontheimer (20. 7. 2016)
Quelle: https://www.taz.de/Nachruf-auf-Bommi-Baumann/!5320956/

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Quote[...] Am Anfang hing der 1947 geborene ,,Bommi" an der Gedächtniskirche herum und war Mitglied der ,,umherschweifenden Haschrebellen". Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 prägte ihn entscheidend. Die anfangs friedfertige Szene radikalisierte sich im Verlauf der Studentenbewegung zunehmend. Bommi Baumann, Georg von Rauch und Thomas Weisbecker, die in der sogenannten ,,Wielandkommune" zusammenlebten, taten sich zusammen, um als "Stadtguerilla" aktiv zu sein.

Ihr Vorbild waren die Tupamaros in Uruguay. Nach Brandanschlägen der ,,Tupamaros West-Berlin" gegen eine britische Fluggesellschaft saß Baumann 1970 einige Monate im Gefängnis. Sein Weg zu einer zentralen Figur der gewaltbereiten Szene in West-Berlin beschleunigte sich, als Ende 1971 sein Freund Georg von Rauch von der Polizei erschossen wurde. Zusammen hatten sie ein Auto stehlen wollen.

Für den gelernten Betonbauer Baumann begann damit der Weg in den terroristischen Untergrund. Wenige Monate später war er Mitbegründer der terroristischen ,,Bewegung 2. Juni", die auch im eigenen Verständnis durchaus mit der RAF konkurrierte. Er sah sich als ,,Proletarier", der anders als die studentisch und intellektuell geprägten Mitglieder der RAF praktische Berufserfahrung hatte.

Im Februar 1972 starb bei einem Bombenanschlag auf den britischen Yachtclub in Berlin ein Bootsbauer – der zufällig die Bombe fand, die eigentlich nur Sachschaden anrichten sollte. Baumann, der an der Bombe mitgebaut hatte, löste sich daraufhin von der ,,Bewegung 2. Juni" und tauchte ab. An der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz war Baumann, der über viele Jahre schwer drogenabhängig war, war nicht mehr beteiligt. Vielmehr appellierte er schon 1974 in einem Interview unter dem Titel ,,Freunde, schmeißt die Knarre weg" an seine ,,Genossen", den bewaffneten Kampf zu beenden.

Nach sechsjähriger Flucht durch verschiedene Länder wurde er 1981 in London gefasst und saß wegen Bankraubes und der Sprengstoffanschläge fünf Jahre in Haft. Noch auf der Flucht schrieb er das Buch ,,Wie alles anfing" und rechnete dabei mit der ,,Bewegung 2. Juni" und ihrem Irrweg ab. Zehn Jahre nach dem Ende der DDR wurde bekannt, dass Baumann für die Staatssicherheit ein Dossier über die Mitglieder von RAF und ,,Bewegung 2. Juni" gefertigt hatte, nachdem er auf der Flucht in der DDR verhaftet worden war. Baumann lebte zuletzt in Berlin und betätigte sich als Publizist und Vortragender, vor allem zu den Themen Terrorismus und Drogen.


Aus: "Zum Tod von Michael "Bommi" Baumann: Der Terrorist, der Reue zeigte" (20.07.2016)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/berlin/zum-tod-von-michael-bommi-baumann-der-terrorist-der-reue-zeigte/13905546.html

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Quote[....] Baumann vertrat später bestimmte Thesen zu den Ursprüngen des deutschen Terrorismus der 1970er und 1980er Jahre. Dabei ging er vor allem von der bis heute ungeklärten Rolle des Verfassungsschutz-V-Manns Peter Urbach aus, der Ende der 1960er Jahre erwiesenermaßen als Agent provocateur zahlreiche Bomben und Waffen an die Studenten- und Anarchoszene in West-Berlin lieferte, darunter an Baumann selbst sowie an Gründungsmitglieder der Rote Armee Fraktion wie Horst Mahler und Andreas Baader. Baumann war der Ansicht, dass er und andere linke Untergrundkämpfer von der Bewegung 2. Juni und der RAF, obwohl damals vermeintlich selbständig und unabhängig agierend, unwissentlich ,,Marionetten ganz anderer Interessen" in einer ,,übergeordneten Strategie" gewesen seien. Diese habe vor allem darin bestanden, die aufkommende 68er-Bewegung durch Förderung ihrer gewaltbereiten Elemente und der folgenden Kriminalisierung als gesellschaftlich verändernde, relevante Kraft zu diskreditieren – mit ,,Irren, die wahllos Bomben schmeißen", hätte sich dann niemand mehr solidarisieren wollen. Gleichzeitig hätte der so geförderte Terrorismus den Anlass für den massiven Ausbau des Sicherheitsapparats der 1970er Jahre geboten, was den Einstieg in den Überwachungsstaat ermöglicht habe. Nach Baumanns Aussage gibt es mehrere deutsche Ex-Terroristen, die zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie er gekommen seien. Da ähnliche Vorgänge für den gleichen Zeitraum in Italien ausführlich dokumentiert seien, könne man solche Überlegungen nicht einfach als ,,Verschwörungstheorie" abtun:

    ,,Wir haben gedacht, wir handeln autonom. Der Gedanke ist unheimlich, dass man irgendwo auf dem Schachbrett hin- und hergeschoben worden ist, oder zwar über das Schachbrett rennen durfte, aber immer noch eine Figur war."

... Baumann war ab dem Jahr 2010 Zeuge im Strafverfahren gegen Verena Becker wegen der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback 1977. Dabei kam er während des Prozesses auch mit dem Nebenkläger Michael Buback in Kontakt, der durch sein Buch Der zweite Tod meines Vaters das Verfahren mit seinen veröffentlichten Nachforschungen erst angestoßen hatte. Buback verdächtigt deutsche Geheimdienste, an der Ermordung seines Vaters, des damaligen Generalbundesanwalts Siegfried Buback im Jahr 1977 beteiligt gewesen oder darüber zumindest vorher informiert gewesen zu sein – und dass die Bundesanwaltschaft in Verbindung mit deutschen Geheimdiensten den wahren Mörder gedeckt haben könnte, wobei laut Buback sehr vieles auf Becker hindeute. Baumann sagte in dem Prozess mehrfach aus, im Umfeld kam es im Rahmen eines Fernsehinterviews auch zu längeren Gesprächen mit Buback, mit dem er in mehreren Aspekten bezüglich der Einschätzung des Falles übereinstimmt und mit dem er ein Interesse an der Aufklärung der damaligen Ereignisse teilt – laut Baumann seien ,,diese Geheimniskrämereien demokratiezersetzend" ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Bommi_Baumann (Stand 21.07.2016)


Textaris(txt*bot)

#6
Quote[...] Allein zu seinen Auftritten im Audimax der FU Berlin kamen Tausende. Selbst wenn zu den jungen Zuhörern meist nur Schlagwörter wie ,,totale Manipulation des Individuums" oder ,,Gesellschaft ohne Opposition" durchdrangen, lauschten sie gebannt. Marcuse war dichter an den aktionistischen Bedürfnissen der Studentenbewegung als Adorno.

...  Erst in den Schlussbetrachtungen seines Buches taucht das zentrale Schlagwort der ,,Großen Verweigerung" auf. Bei seinem Appell zu einer ,,Negation in der politisch ohnmächtigen Form der ,absoluten Weigerung'" stützt Marcuse sich explizit auf den französischen Autor und Literaturtheoretiker Maurice Blanchot. Er bemüht ihn aber nicht im postrukturalistischen Kontext, sondern als Mitglied der Résistance und Initiator eines Manifestes, das französische Soldaten zur Gehorsamsverweigerung im Algerienkrieg aufrief. Marcuse zitiert aus Blanchots Aufsatz ,,Le refus", der 1958 erschien: ,,Was wir ablehnen, ist nicht ohne Wert oder Bedeutung. Eben deshalb bedarf es der Weigerung. Es gibt eine Vernunft, die wir nicht mehr akzeptieren; es gibt eine Erscheinung von Weisheit, die uns in Schrecken versetzt; es gibt die Aufforderung zuzustimmen und sich zu versöhnen. Ein Bruch ist eingetreten. Wir sind zu einer Freimütigkeit angehalten, die das Mittun nicht mehr duldet."

Zum 50. Geburtstag des ,,eindimensionalen Menschen" hat Peter-Erwin Jansen bei zu Klampen eine Neuausgabe des Buches ediert. Im Nachwort berücksichtigt er auch die Erkenntnisse eines Seminars der Universität Heidelberg. In der Analyse der modernen digitalen Welt geht es den Studenten nicht nur um die ,,Entlarvung" der Eindimensionalität von Facebook-Funktionen und Smartphone-Apps, sondern generell um die Freisetzung einer neuen Suchbewegung: ,,Wie kann Technik heute die Fesseln lösen, den Menschen aus eindimensionaler Arbeit und Freizeit zu entlassen? Wie können in freier Zeit seine wahren Bedürfnisse gefördert werden? Gibt es Opposition außerhalb der Eindimensionalität?"

...


Aus: "Vor 50 Jahren erschien Herbert Marcuses "Der eindimensionale Mensch"" Willi Jasper (16.12.2014)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/subversives-jubilaeum-vor-50-jahren-erschien-herbert-marcuses-der-eindimensionale-mensch/11128588.html

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QuoteDoppelemm, 19.12.2014

... Es ging darum, dass der »Kampf gegen die Befreiung« mit materieller Bedürfnisbefriedigung erstickt wird;
dass die Medien die Menschen für »langjährig präparierte Empfänger« von Losungen und Parolen halten, die gar nicht mehr objektiv zwischen »dem Gegebenen und dem Möglichen« unterscheiden könnten, weil medial eine »Einebnung des Gegensatzes (oder Konflikts)« stattfinde.
Alternativlosigkeit nennt man das heute.

Das wiederum führe zur klassenlosen Gesellschaft, die natürlich nicht wirklich die Aufhebung der Klassen bedeute, sondern lediglich darauf hindeute, dass »die unterworfene Bevölkerung [nur soweit] an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, [dass sie zur] Erhaltung des Bestehenden« dient. ...

Es gab noch so viel mehr einschlägige Passagen, die das ganze Dilemma unserer postdemokratischen Identität (oder besser: unserer demokratischen Identitätslosigkeit) auf den Punkt brachten und vorwegnahmen.

Folgendes könnte zum Beispiel direkt nach der Betrachtung der amtierenden Ukraine-Berichterstattung der »Tagesthemen« niedergeschrieben worden sein:

»Das eindimensionale Denken wird von den Technikern der Politik und ihren Lieferanten von Masseninformationen systematisch gefördert.

Ihr sprachliches Universum ist voller Hypothesen, die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder Diktaten werden.«

Geschrieben wurde es aber 1964. Drei Jahre später wurde es ins Deutsche übersetzt. ..."


...

Quote[...] Wolfgang Kraushaar, geboren 1948, hat sich als Chronist der 68er-Bewegung längst einen Namen gemacht. Selbst Aktivist in der Frankfurter Sponti-Szene Anfang der Siebzigerjahre, hat ihn der gesellschaftliche Umbruchcharakter jener Studentenrebellion immer beschäftigt – nicht zuletzt aus Gründen autobiografischer Aufarbeitung.
Zwar ist sein Image als einer der intensivsten Kenner der Zeit um 1968 unbestritten, doch er hat zuletzt durchaus auch Kritik auf sich gezogen. Seine Thesenschriften über den Antisemitismus der Linken und über die RAF-Terroristin Verena Becker, der er eine bereits frühe Tätigkeit für den Verfassungsschutz nachzuweisen versuchte, bewegten sich nah am Rande von Verschwörungstheorien.

Der Journalist Willi Winkler diagnostizierte eine fast paradigmatische persönliche Entwicklung bei dem einst radikalen Wortführer Kraushaar – angesichts dessen, dass dieser zuletzt sehr prononciert antisemitische Grundzüge bei den 68ern freizulegen versuchte:

,,Was für seine Generation zuvor der Imperialismus war, der altböse Feind, wird neuerdings durch den Antisemitismus-Vorwurf ersetzt, der mit einem vollkommenen Ablass für etwaige eigene Sünden verbunden ist."

Da ist es interessant, dass sich Kraushaar jetzt, im runden 68er-Jubiläumsjahr 2018, wieder auf seine Kernkompetenzen besonnen hat. Man muss die Gattungsbezeichnung ,,illustrierte Chronik" sehr ernst nehmen: Kraushaar listet chronologisch geordnet oft auch entlegene Ereignisse auf, die im Vor- und Umfeld der 68er-Bewegung stattgefunden haben, mit dem konkreten Datum und detaillierten Vorgangsbeschreibungen – ohne allzu subjektive Schwerpunktbildung.

Die vier umfangreichen Bände, die auch durch ihr das Zeitgefühl suggestiv transportierende Bildmaterial bestechen, sind auf auffällige Weise gegliedert. Der erste Band gilt der Vorgeschichte von 1960 bis 1966, der zweite und der dritte Band widmen sich der Kernzeit, den Jahren 1967 und 1968, und der vierte Band schließlich dem Jahr 1969, mit nur sehr kleinen Exkursionen am Schluss über 1970, 1979 und 1980 (die Pointe dabei ist der parallele Tod Rudi Dutschkes mit dem Selbstmord des Axel-Springer-Sohns Sven Simon).

Kraushaar legt also großen Wert auf die Vorgeschichte und greift dabei auch weit über die US-amerikanische Hippiebewegung hinaus, der er vor zehn Jahren in einem ersten ,,Bilanz"-Buch über 1968 immerhin bereits eine wesentliche Bedeutung zugemessen hatte.

Die soziokulturelle Dimension von 1968 wird so zum ersten Mal von ihm angemessen berücksichtigt. Außerdem verstärkt er die internationale Perspektive: ,,1968" war beileibe nicht nur ein deutsches Phänomen.

Die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner in den USA, der Widerstand in Südafrika gegen die Apartheid, vor allem natürlich auch die radikale Linke in Frankreich seit dem Protest gegen den Algerienkrieg – das tritt in diesem Panorama neben die bundesdeutsche ,,Subversive Aktion" oder die Gruppe ,,Spur", und es ist kein Zufall, dass das erste Konzert der ,,Beatles" in Liverpool (im ,,Cavern Club") gleichberechtigt neben den ersten Aktionen des SDS in Westberlin steht (Verhaftungen wegen Flugblattverteilung).
Die umfassende Kenntnis des vorhandenen Archivmaterials ist Kraushaars eigentliches Potenzial, und durch den nüchternen Nachrichtenstil dieser Chronik hat er auch die richtige Form gefunden, es auszuschöpfen.

Wolfgang Kraushaar: Die 68er-Bewegung. Eine illustrierte Chronik 1960-1969
Klett-Cotta, Stuttgart 2018
Vier Bände mit ingesamt 1960 Seiten ...





Aus: "Wolfgang Kraushaar: ,,Die 68er-Bewegung" - Chronik einer Revolution" Helmut Böttiger (15.11.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/wolfgang-kraushaar-die-68er-bewegung-chronik-einer-100.html


Textaris(txt*bot)

#7
Quote[....] Was ich an den Ur-68ern und ihren Siebziger-Jahre-Lehrlingen aber wirklich hasste, waren ihr totalitärer, undemokratischer Idealismus, ihre 110-Dezibel-Besserwisserei, ihre offenbar fast schon genetisch bedingte Unfähigkeit, ein Argument zu analysieren und dann selbst ein Gegenargument zu entwickeln, um so der Lösung eines real existierenden Problems ganz pragmatisch ein wenig näher zu kommen.

... Als mir dann aber eines Nachts, es war bestimmt schon nach drei Uhr, im Münchner Park-Café einer von meinen gut angezogenen Achtziger-Jahre-Freunden nach seinem dritten Tequila erzählte, wie genial der Kriegsfetischist und Menschenverächter Ernst Jünger sei, den müsse ich auch unbedingt lesen, als er dabei auch noch diesen prophylaktisch beleidigten Das-wird-man-doch-wohl-denken-dürfen-Gesichtsausdruck aufsetzte, weil er meine Reaktion schon ahnte, da wurde mir zum zweiten Mal im Leben klar, wie wenig die ahnungslose, naive, bisher von jeder Katastrophe verschonte und darum nach echten Katastrophen und nach ewiger Jugend gierende Westjugend und ich miteinander gemeinsam hatten.

...


Aus: "Moral und Politik: Die "neue" Linke" Maxim Biller (27. Juli 2016)
Quelle: http://www.zeit.de/2016/30/moral-politik-bernie-sanders-sahra-wagenknecht-maxim-biller/komplettansicht

QuoteBest Friend Tabitha #3.5

Wie es der Autor bloß bei dieser Medien - und Volkskontrolle bloß geschafft hat, den Artikel unter ihren (alt68er) stalinistisch verklärten Augen und multikultibefleckten Griffeln vorbei mitten ins Herz des Linksgrünversifften Medienungetüms zu schmuggeln? ...


Quoterudolf s #4.3

Ja, ist wohl so. Unser täglich 68er-Bashing gib uns heute. Ich habe in dieser Zeit nicht gelebt, bin 31 Jahre alt und sicherlich gibt es auch einiges an der Naivität der 68-Generation zu kritisieren, aber dieses damals jungen Leute haben in Deutschland ganz massiv zu einem Demokratisierungsprozess innerhalb der Post-Nationalsozialistischen Gesellschaft beigetragen und dafür bin ich ihnen dankbar, trotz aller maoistischen Verirrungen und Verwirrungen.
Zum Glück gab es einen Adorno und ähnliche Intellektuelle die sich dazu bereit erklärt haben, Deutschland in diesem Prozess zu helfen.

Die nächste Generation hat also über Warhol diskutiert und flog nach New York? Ja, ist doch wunderbar das die nächste Generation auf die eroberten gesellschaftlichen Freiheiten der 68er aufbauen konnte. Für den Autor gab es anscheinend nur 68 und davor nichts, also kein 1944, kein 1945, keine 50er Jahre die davon geprägt waren....
Ziemlich arm und A-Historisch das ganze....


QuoteGourmet #6

Maxim Biller, haha. Wir 68er haben uns schon genug blamiert? Jüngelchen, wir 68er haben die Nachkriegszeit beendet, ohne uns hättest Du Deine Comics immer noch unter der Bettdecke lesen müssen.
Die Geschichtsfälschung ist in vollem Gang.


QuoteTeilzeitsarkast #6.1

Was ist das? Opa erzählt vom Krieg?
Es ist richtig, dass die 68er-Bewegung dieses Land erst bewohnbar gemacht hat. Allerdings ist dies vor allem den liberalen Anteilen dieser Bewegung zuzurechnen.
Die dogmatischen Anteile waren schon immer eine Zumutung.


QuoteW_DFQ #6.3

"die Nachkriegszeit beendet" - genau das ist der fatale Denkfehler dieser Generation. Sie glaubt, mit ihrem Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Geplärre und ihrer blinden, religiös-fanatischen Vergötzung eines Massenmörders (Mao Zedong) die Welt vollkommen verändert zu haben. Sie mag ein paar Stellschrauben verdreht haben. Das System verändert hat sie nicht. Wie auch, wenn man aus heimeligen Wärme eines gediegenen Wirtschaftswachstums agiert. Keiner musste gegen brutale Diktatoren vorgehen oder unter autoritären Regimes leiden. Die 68er waren zu abgehoben, als das sie die entscheidenden Massen, die Arbeiter, hätten mitnehmen können. Und genau mit der Argumentation "wenn wir nicht gewesen wären..." macht sie sich heute lächerlich und offenbart nur eins: Sie sind heute diejenigen, die sie vor 40, 50 Jahren "bekämpft" haben.


QuoteKapaster #10

Mir ist beim Lesen etwas die Übersicht verloren gegangen, deshalb die Nachfrage:
Wurde irgendein Ressentiment ausgelassen, blieb irgendein Klischee unerwähnt?


QuoteWosel3 #16 (Redaktionsempfehlung)

Danke Herr Biller. Wenn das ein Kommentar hier gewesen wäre, wäre er vermutlich mindestens als "unsachlich" gelöscht worden. Die hervorstechendste Eigenschaft der westeuropäischen Linken und insbesondere der deutschen war von jeher, dass sie aus dem Schlaraffenland heraus anderen die Welt erklären zu müssen meinte. Aus einem Wohlstand heraus, der gerade von ihren erklärten Feindbildern gebaut, erhalten und gepflegt wurde und wird. Darum eben auch die (wäre zum Lachen, wenn's nicht zum Heulen wäre) überrascht-gekränkte Erkenntnis manches 70er-80er-Linksintellektuellen, dass die wirklichen, echten Arbeiter ihnen eher mal auf's Maul hauten als ihnen ihren Gargel abzukaufen. Diese wirklichen, echten Arbeiter (nicht diese abstrakte, marx-engelssche Rechengröße) waren und blieben den Linken immer seltsam, unverständlich, fremd. Auch heute noch, weil's aus dem Lehrer-Sozpäd-Elfenbeinturm gar nicht so einfach ist, anderen etwas über "Arbeit" zu predigen. Und weil es immer unglaubwürdig ist, gegen ein System zu sein, das einen ständig hinten und vorne pampert und alimentiert. Das zeigt sich ganz besonders in diesen 'autonomen Zentren', wo der teils unverschämte Hedonismus einiger durch jede Menge Steuergeld der Städte (die sich ihren Privatzoo leisten mögen, weil man dann hach! so bunt und tolerant ist) und damit jedem anderen Bürger zwangsweise abgenommenem Geld finanziert werden muss.

QuoteSineFine #16.1

"Die hervorstechendste Eigenschaft der westeuropäischen Linken und insbesondere der deutschen war von jeher, dass sie aus dem Schlaraffenland heraus anderen die Welt erklären zu müssen meinte."

Die Linken? "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen", war von linken?



Quotearcanist #20

Ist es nicht ironisch, einerseits von unverstandenen und ungelesenen Suhrkamp-Bänden zu sprechen und dann angeblichen Mangel an analytischem Vermögen und herkömmlichem Intellekt bei "den Linken" anzuprangern?
Darüber hinaus: Dass der Autor Žižek einerseits im Kollektivurteil unterstellt, er wolle halte sich für einen Liberalen und dann noch nachlegt, er wolle einen leninistischen Staat aufbauen, beweist damit, dass die Bücher wirklich ungelesen blieben und der Autor selbst auch nicht viel mehr weiß, als die Geschichte mit dem Model.
Sich mit dieser sophistischen Vorgehensweise als den letzten Nüchternen zu inszenieren ist, kommt mir schon verwirrt vor.


Quote
Illairen #26

Was mir in diesem "Linken-Bashing" Text fehlt, ist eine fundierte Kritik der linken Analyse und der linken Lösungsvorschläge [Die Linken von heute kritisieren vor allem die Auswirkungen eines in großen Teilen ungezügelten Kapitalismus.]. Man kann die Linken durchaus in einigen Punkten kritisieren, aber letzteres fast gänzlich auszulassen und die eigene Abneigung mit Anekdoten und dem Vorwurf des "irrationalen Jugendwahns" zu begründen, ist zu wenig. Da argumentiert selbst ein Jan Fleischhauer stringenter. ...


Quotedifflook #38

Ich hab ja eher ein Problem, mit den ganzen Rest- und Neu-33ern.


Quote

Jordanes #50

... Irgendwer nannte die 68 diejenigen die nie Erwachsen werden wollten und die heutigen Aktivisten sind Kinder von Kindern. ...


Quotearam62 #57

Eine gut geschriebene Polemik von einem, der sich immer noch an seinem 68er-Jugendtrauma abarbeitet.


QuoteLinksundFrei #60

Als Altlinker musste ich doch von Seite zu Seite oft zustimmend den Kopf senken. Teilweise amüsiert, teilweise trauernd. Der Artikel sprach mir aus dem Herzen. Die neuen jungen Linken haben mit unseren alten Wertvorstellungen nichts mehr am Hut. Sie fröhnen lieber einem neuen Paganismus und lesen eher Eckhard Tolles "Neue Erde", oder die ganz Entrückten die Lehren von Jiddu Krishnamurti, anstatt den guten alten Marx. Disktutieren darüber ist schwierig. Ich kann diesem Artikel schon in vielem zustimmen. Leider.


QuoteRaymond Luxury Yacht #65

Finde ich gut! Warum sollte sich Maxim Biller nicht einfach mal ordentlich auskotzen.
Nur, worin sich der Autor mit seinem abstruse Habitus des Erwachsenen unter den links-liberalen Kindern, sich wesentlich von den Kritisierten unterscheidet, vermag ich nicht zu erkennen.
Der Text ist unterhaltsam. Mehr leider nicht...


QuoteDer Ruthene #79

Biller hat wie immer für jeden einen mehr oder weniger passenden Pejorativ parat.
Das macht populär, so kann jeder Leser etwas für sich finden. ...


Quotemusulo #85 (Redaktionsempfehlung)

OK, vergessen wir die Gewerkschaften, den Sozialstaat, die Krankenkassen, die Arbeiterbewegungen gegen Ausbeutung, die Abschaffung der Kinderarbeit, und den Mutterschutz, vergessen wir den passiven Widerstand gegen das Kapital und die Befreiungsbewegungen in Südamerika, Asien, Afrika selbst in Teilen von Europa. Vergessen wir den Kampf der bösen Sozialisten für Bildung und den Widerstand gegen die Faschisten. Lieber etwas Frust ohne zu erwähnen wie bitter heute noch das Kapital um seine Vorteil kämpft.

Jetzt wo wir alle Freiheiten in einem Sozialstaat genießen incl. der Freiheit zu sagen was man denkt, wer ist da schon Bernie Sanders der 40 Jahre alleine versucht gegen ein Staat von Milliardären anzugehen?

Der Artikel ist ähnlich trotzig wie die langhaarigen 68er, Hauptsache Contra. Aber ist vollkommen OK wir sind ja für die Meinungsvielfalt. Und kontroverse Themen verkaufen sich auch viel besser.


QuoteHoratio Caine #88

Dem - ansonsten recht inhaltslosen Kommentar - kann ich insoweit zustimmen, dass so mancher Alt86er, der in seiner Jugend mal meinte links zu sein (und es dabei bis zur Stilblütenerzeugung übertrieb), genau dann seine Ideale verriet, als es - nachdem man es persönlich geschafft hatte - darauf ankam. Ein Bezug zu real existierenden Personen sieht, ist selbstverständlich rein zufällig und nicht beabsichtigt..


QuoteThür #89

Die meisten urspringlich linken 68er sind doch inzwischen angekommen in ihrem bürgerlichem Eigenheim, mit einen deutschen Mittelklasseauto, Kreuzfahrtreisen und Aktienkursen. Getreu dem linken Motto: das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die meisten, aber zum Glück nicht alle.


QuoteVollzitat #90

wo Biller recht hat hat er recht. Wer kenn sie nicht, die Leute die einem sagen was man zu tun oder zu lassen hat und dann aber ihren eigenen Rat nie befolgen. ...


QuoteJaLoWe #106

Viel Holzschnitt. Viele Beleidigungen. Keine Perspektive. Maxim "Esra" Biller scheint in einer Schaffenskrise zu stecken. Möge ihm sein therapeutisches Geschreibsel Hilfe sein. Inhaltlich ist seine Wutschrift Stammtischgepoltere aus dem Grill Royal, wobei die spannendste Frage die ist, nach wievielen Drinks der Damm brach.


Quotetitanicus #108

Oje, der Chef-Polemiker Maxim Biller hat mit Vogleschrot geschossen, um möglichst viel zu treffen. Jedoch: Wer alles treffen will, trifft gar nichts. Nur ein Beispiel. Auch Biller erhöht die 68er-Protestbewegung zu einem legendenumwobenen Phänomen. Diese grandiose Überschätzung stilisiert "die Bewegung" geradezu zu einer entscheidenden Antriebskraft. An dieser Überhöhung ist nichts richtig. Einen Zäsurcharakter hatte das Jahr 1968 nie.

Eine neuartige kritische Öffentlichkeit war bereits nach 1958 vorgedrungen und stellt kein Produkt der "68er" dar. Schon vor diesem Jahr setzten die Fischer-Kontroverse, Hochhuths "Stellvertreter" oder die "Spiegel-Affäre" die Öffentlichkeit so in Bewegung, wie das der Eichmann- und der Auschwitz-Prozess taten. Auch der auffällige Schub an Reformgesetzen war längst vor 1968 in Gang gesetzt worden. Eine "Zweite Stunde null" bedeutete das Jahr 1968 bestimmt nicht.

Mag sein, dass die "68er-Bewegung" dazu beitrug, Restbestände einer obrigkeitsstaatlichen Mentalität weiter abzubauen, vielleicht stieß sie auch den zivilgesellschaftlichen Willen zur Partizipation an. Übersehen wird zudem ein Widerspruch: Man muss den "68er"" einen antikapitalistischen Impetus attestieren, zugleich wurden sie durch ihren Individualismus zur unfreiwilligen Avantgarde der kapitalistisch organisierten Konsumgesellschaft.

Das alles berücksichtigt Biller in seinem Furor nicht. (Im Fach Polemik ist der Autor allerdings ein Großer.)


QuoteKapaster #113

Das Besondere an narzisstischen Kränkungen ist, dass man dem Betroffenen eigentlich immer gerne auf die Schulter klopfen möchte, ihm eine freundliche Geste der Beruhigung spenden.
Erkennt man doch den Bruder in ihm, denn: Wer hätte diese Kränkung nicht schon selbst bitter erfahren und durchlebt.
Also, lieber Maxim, das wird schon wieder!


QuoteHingeguckt #117

Womit haben sich denn die 68er plamiert?

QuoteBli-Bla-Blubb #117.1

Mit mieser Rechtschreibung.



QuoteDolian #121

Herr Biller,da haben Sie uns aber eine Suppe serviert. Und den Teller auch noch bis zum Rand vollgehauen.


...

Textaris(txt*bot)

#8
Quote[...]    "Tom Wolfe über "The Electric Kool-Aid Acid Test" "Ich trat immer mit Anzug und Krawatte auf""
Acid-Tests und Verfolgungsjagden: 1964 reiste Schriftsteller Tom Wolfe mit der Hippie-Keimzelle Merry Pranksters durch die USA. ...


einestages: ... Wie reagierte Kesey auf Ihren Besuch?

Wolfe: Er war erstaunlich gelassen. Wirklich privat war unser Gespräch nicht, es gab zentimeterdicke Scheiben, man musste in ein Mikrophon sprechen. Aber draußen vor dem Gebäude saßen seine Anhänger, junge Leute in Overalls, geschneidert aus der US-Flagge. Sie wollten nicht fortgehen, so lange Kesey eingesperrt war. Das waren die Merry Pranksters.

einestages: Ihre erste Begegnung mit Hippies?

Wolfe: Die Presse nannte sie damals noch "Acid Heads", eine ziemlich furchterregende Bezeichnung. "Newsweek" führte den Begriff Hippie ein - das fröhliche Gegenstück zum Hipster, der ja eher markenbewusst auftrat. Es gab auch den Hippie-Dippy mit Rauschebart und langen Haaren, der mystische Erfahrungen suchte. In diese Richtung entwickelten sich auch die Merry Pranksters ...

einestages: Wenn die Merry Pranksters mit ihrem Vehikel, einem bunt angemalten Schulbus, auftauchten, waren die Menschen geschockt. Wäre es heute noch möglich, Bürger so in Aufruhr zu versetzen?

Wolfe: Es hat sich viel geändert seit den Sechzigerjahren, vor allem, was Sex und Drogen angeht. Marihuana kann man heute in vielen Staaten legal erwerben, damals wurde man dafür verhaftet. Es gibt Prostituierte, die sich halbnackt hinter Fenstern räkeln. Auch wenn Sie hören, wie manche Frauen sich heute ausdrücken - damals völlig undenkbar. Das letzte Tabu in unserer Gesellschaft ist die Gewalt.

einestages: Der Pranksters-Trip durch die USA, den Sie im Buch schildern, spielte sich im Schatten der Präsidentschaftswahl 1964 ab. 2016 wirkt Präsidentschaftskandidat Donald Trump selbst so, als wäre er einem üblen Horrortrip entstiegen. Leben wir in surrealen Zeiten?

Wolfe: Political Correctness fängt in den USA schon im Kleinen an. Wenn Sie zu einer Gruppe von Frauen und Männern sagen: "Hey Jungs" ("Hey guys"), dann ist das genaugenommen eine Mikroaggression, denn Sie übergehen das Geschlecht der Frauen. Trump schert sich nicht um solche Kleinigkeiten. All diese politischen Unkorrektheiten, die er ausspricht, fallen auf fruchtbaren Boden. Was er zu Beginn der Kampagne über Mexikaner und Muslime gesagt hat - viele Menschen denken wirklich so. Trump erfindet diese Stimmungen nicht, er bildet sie nur sehr sorgfältig ab. Schauen Sie, wie weit es ihn gebracht hat.

einestages: Die Merry Pranksters waren auf der Suche nach einem "Kool Place", einem coolen Ort, wie es im Untertitel ihres Buchs heißt. Haben sie ihn je gefunden?

Wolfe: Die Pranksters waren eine quasi-religiöse, fast sektenartige Gruppe, ihre Suche war mystischer Natur. Sie hatten diese seltsame Idee von einem Ort ohne Regeln und Gesetze, wo Gedanken frei fließen konnten. Viele haben diesen Ort für sich selbst gefunden. So haben sich die Merry Pranksters in ihren eigenen Leben aufgelöst. ...


Aus: ""Ich trat immer mit Anzug und Krawatte auf"" Ein Interview von Airen (12.10.2016)
Quelle: http://www.spiegel.de/einestages/tom-wolfe-ueber-the-electric-kool-aid-acid-test-und-merry-pranksters-a-1116043.html

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Quote[...] Aber am LSD-Konsum und an all diesen ungezügelten sexuellen Aktivitäten, da müssen Sie konsequenterweise ja auch teilgenommen haben.

Ich erinnere mich noch an den Moment, als Kesey zu mir kam und sagte: «Tom, warum legst du deinen Notizblock nicht mal zur Seite und bist einfach hier.» Ich habe schon verstanden, was er damit meinte: Sich der Gruppe anschliessen, die Drogen nimmt, «do whatever» – und erst nachher darüber schreiben. Ich dachte über den Vorschlag nach – für ungefähr 15 Sekunden. Und am nächsten Tag war ich wieder da, Notizblock in der Hand und Kugelschreiber gezückt. Das war meine Antwort. Ein Journalist aus Los Angeles hat es anders gemacht. Und es endete nicht gut mit ihm.

Sie haben also tatsächlich kein einziges Mal LSD genommen?

O nein. Alles, was ich darüber geschrieben habe, ist das, was mir die Leute davon erzählten. LSD selber zu nehmen, hat mich keinen Moment lang gereizt. Es war wirklich gefährlich. Nichts war damals getestet, niemand wusste, was er nahm, das meiste wurde in irgendwelchen privaten Kellerlabors produziert. Aber was mir die Leute über ihre LSD-Erlebnisse erzählten, fand ich schon sehr erstaunlich, und es überstieg alles, was ich mir hätte vorstellen können. ... Nun, ich versuchte die Stimmung der Pranksters möglichst authentisch wiederzugeben. Daher ist auch der Ton ein anderer als in meinen späteren Büchern. Und die Pranksters waren natürlich vollkommen davon überzeugt, dass sie am Anfang einer besseren Welt stünden. Jeder, der irgendwas mit der Kultur der psychedelischen Drogen zu tun hatte, war gut. Sie sagten dann: «He is good people», aus irgendeinem unerfindlichen Grund immer im Plural. Aber ich glaubte niemals an LSD. Insbesondere das mit dem «Türenaufstossen» ist doch kompletter Blödsinn. Diese Drogen öffnen nicht das Bewusstsein, sie verschliessen es. Die Halluzinationen sind ja das Ergebnis davon, dass das blockierte Gehirn versucht, sich zusammenzureimen, was dort draussen wirklich passiert. Die Leute glaubten, sich durch LSD in irgendwas Wunderbares verwandelt zu haben, aber sie verwandelten sich in überhaupt nichts. Das wurde immer auch dann klar, wenn sie ausserhalb ihrer Gruppe waren. Dann mutierten sie sofort wieder zu ganz normalen Leuten. Zeugnisse davon, dass LSD-Erlebnisse über die Trips hinaus zu einer tieferen Einsicht in die Welt oder gar zu mehr Weisheit führen würden, sind mir auf jeden Fall nicht bekannt. ...  das Motiv des Statuskampfes ist im «Acid Test» weniger präsent als in dem, was ich später geschrieben habe. Aber rückblickend würde ich sagen, dass es den Leuten schon damals natürlich auch um den Status ging und darum, was die anderen Leute über sie dachten. Die Statussymbole waren andere und kosteten vielleicht weniger Geld. Statusdenken war aber nicht weniger verbreitet. Die Pranksters hatten diese Haltung: «Du bist entweder im Bus, oder du bist draussen.» Auf jeden, der nicht Teil ihrer Gruppe war, schauten sie insgeheim herab, weil diese Leute nicht sehen konnten, was sie sahen.

... Aber jetzt wollen wir doch mal ein Urteil. Die Langzeitfolgen der gesellschaftlichen Revolution der sechziger Jahre – sind sie gut oder schlecht?

Die sechziger Jahre haben viele soziale Schranken beseitigt, aber auch das gute Benehmen und die Höflichkeit. Höflichkeit ohne Absicht ist ein soziales Konzept, das man heute überhaupt nicht mehr kennt. Auch Pflichtbewusstsein ist weitgehend verschwunden. Ich erinnere mich an meine Anfangszeiten als Zeitungsreporter hier in New York. Ich war jung, ich musste oft eine der unbeliebtesten Aufgaben übernehmen, die Strassenumfrage. Die Leute gaben nicht gerne Auskunft. Aber dann kam ich auf einen Trick. Ich fragte nicht einfach: «Was halten Sie von dem und dem?» Ich machte ihnen zuerst einmal lang und breit die Wichtigkeit ihrer Auskunft klar, redete von der offiziellen Tagesumfrage der grossen, wichtigen «Herald Tribune» usw. Das gab den Leuten das Gefühl von Aufgabe und Pflicht. Ich glaube nicht, dass dieser Trick heute noch funktionieren würde. Heute würden die Leute vermutlich Geld für ihre Auskunft wollen. Und der Zusammenbruch aller Förmlichkeit im sozialen Umgang ist natürlich auch eine Folge der Sechziger. Ein Professor, der sich noch fünf Jahre vorher als James Miller vorgestellt hat, sagt bei der Begrüssung plötzlich nur noch: «Just call me Jim.» Und dann die ganze Veränderung der Sexualmoral und erst recht der Kleidervorschriften. Vor den Sechzigern sahen die Türsteher eines Apartmenthauses an der Park Avenue so aus wie Offiziere eines österreichischen Garderegiments aus dem 19. Jahrhundert. Heute trifft man selbst an Adressen, an denen die Wohnungen Dutzende von Millionen kosten, Türsteher mit zerschlissenen Jeans und T-Shirt. Nun, ich tendiere dazu zu sagen: Die Folgen der sechziger Jahre sind eher nicht so gut.

Wie hat dieser gesellschaftliche Wandel den Kampf um Status verändert?

Kleider funktionieren kaum mehr als Statussymbol. Jemanden aufgrund seines modischen Auftretens einer gesellschaftlichen Schicht zuzuordnen, ist sehr schwierig geworden. Jeder kann heute aussehen wie ein Multimillionär, und viele Multimillionäre ziehen es vor, wie Obdachlose auszusehen. Die Pioniere des bewussten «Dressing-down» waren übrigens die Rolling Stones. Heute sind materielle Statussymbole generell rar. Umso wichtiger wurde das, was ich geistige Statussymbole nennen würde.

Meinen Sie das im Sinne von «radical chic», dem Begriff, den Sie in den siebziger Jahren prägten und der damals das modische Engagement der Kulturelite für die Sache der Schwarzen benannte?

Ja, das begann in den progressiven Kreisen schon damals. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Ideen getragen werden wie Modeartikel. Ich glaube, auch die ganze Debatte um die sogenannte Political Correctness hat sehr viel mehr mit Statuskampf zu tun als gemeinhin angenommen.

... Haben Sie eine Theorie, warum die Political Correctness so mächtig werden konnte?

Ich denke, es ist das christliche Schuldbewusstsein. In der Bibel steht: «Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.» Seit der römische Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erhob, sind die Schuldgefühle wegen weltlichen Reichtums und das schlechte Gewissen gegenüber den Armen Teil des Bewusstseins der christlichen Welt. Wir können die Schuld verdrängen, aber sie geht nicht weg. Auch der Marxismus stand in dieser Tradition. Und seit der Marxismus aus der Mode ist, wurde er durch die Political Correctness ersetzt. PC ist der neue «radical chic», das Bekenntnis für die Armen, Randständigen und Mitglieder von Minoritäten. Mit Moral hat das sehr oft weniger zu tun als mit Geltungsbedürfnis. Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan hat es so gesagt: «Moralische Empörung ist die Standardstrategie der Idioten, um sich Würde zu verleihen.»

... Tom Wolfe, 85, ist einer der bekanntesten Journalisten und Schriftsteller der USA. Zusammen mit Truman Capote und Norman Mailer gilt er als Begründer des «New Journalism», einer Bewegung, die in den sechziger Jahren den Stil des fiktiven Erzählens mit der Reportage verband.



Aus: "Interview mit Tom Wolfe: «Die Folgen der Sechziger sind eher nicht so gut»" Christoph Zürcher (3.10.2016)
Quelle: http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/interview-mit-tom-wolfe-die-folgen-der-sechziger-sind-eher-nicht-so-gut-ld.119976

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Kenneth Elton ,,Ken" Kesey (* 17. September 1935 in La Junta, Colorado; † 10. November 2001 in Eugene, Oregon) war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Aktionskünstler. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Ken_Kesey

https://de.wikipedia.org/wiki/The_Merry_Pranksters

https://de.wikipedia.org/wiki/Psychedelic_Rock

https://en.wikipedia.org/wiki/Psychedelic_era

Textaris(txt*bot)

#9
Jochen Bittner (* 1973 in Frankenberg (Eder))
https://de.wikipedia.org/wiki/Jochen_Bittner

Quote[...] [Jochen Bittner] Bei allem Übel, das man Amerika und der Nato anlasten kann und muss – der Westen und Russland unterscheiden sich kategorial in der Beachtung sowohl des ius ad bellum (dem Recht zum Krieg) wie des ius in bello (dem Recht im Krieg). Es ist diese wesentliche Differenz, die offenbar vielen Deutschen immer noch nicht klar ist. Warum sonst hat es noch keine Großdemo vor der russischen Botschaft in Berlin gegeben?
Vielleicht auch deshalb, weil es noch immer zu viele matschbirnige Putin-Apologeten gibt, die aus antiwestlichen Selbsthass-Reflexen heraus die russische Propaganda-These weiterstreuen, wer mit Putin sei, stehe endlich auf der richtigen Seite der Geschichte. ...


Aus: "Ja, wir Journalisten haben Russland unfair behandelt" Eine Kolumne von Jochen Bittner (13. Oktober 2016)
Quelle: http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-10/wladimir-putin-russland-journalisten-kriegsverbrechen-5vor8

Quotefabricius3591 #3

Die Ungleichbehandlung Russlands und der USA zu Lasten der USA ist mE immer noch eine Folge der 68er Generation, die 40 Jahre lang insbesondere die Schaltstellen in unseren Medien beherrscht hat. Und da gehört zu jedem halbwegs redlichen Intellektuellen eine gehörige Portion Antiamerikanismus einfach zum Selbstverständnis dazu.


QuoteEin ahnungsloser Konsument #3.2

Wollen Sie damit sagen, unsere Medien seien durchweg antiamerikanistisch geprägt? Was für ein guter Witz Fabricius, dankeschön, jeden Morgen finde ich irgendeinen Post von Ihnen der mich zum Lachen bringt.


QuoteDenk Panzer #3.8

Ja, die Redaktion in den Springer Medien ist bestimmt voll mit Alt 68ern.


QuoteGegenGewalt #3.6

" ... immer noch eine Folge der 68er Generation"

Sie stellen eine interessante Vermutung auf, die sich nicht belegen läßt. Selbst dann nicht wenn sich zehn Leute vorne hinstellen und sagen: Ja, ich gehöre zur 68er Generation.

Wie denn auch? Jedes gemeinsame Identitätsmerkmal wurde mehrfach gedreht und gewendet bis auch der allerletzte 68er nur noch ein Restbild dessen besitzt wie es war ein 68er zu sein. ...



...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich in Westeuropa ein Modell herausgebildet, das man frei nach Rousseau als ,,Gesellschaftsvertrag" bezeichnen könnte. In einem überschaubaren ökonomischen Umfeld wurden ökonomische Verteilungskämpfe, aber auch religiöse, kulturelle oder lebensanschauliche Konflikte durch einigermaßen funktionierende Aushandlungsmechanismen sozusagen zivilisiert. Man lebte zwar keineswegs im Paradies, aber eben doch in einem einigermaßen verlässlichen, berechenbaren Umfeld. Und die Eruption des Protests von 1968 fügte nicht nur eine ordentliche Portion Liberalität und Toleranz hinzu. Sie besiegelte – jedenfalls in der Bundesrepublik – auch das historisch begründete Tabu, das Hass und Gewalt gegen Minderheiten zumindest im offiziellen und öffentlichen Diskurs verbot. ...


Aus: "Kapitalismus: Der geformte Mensch" Stephan Hebel (21. Oktober 2016)
Quelle: http://www.fr-online.de/fr-serie--auf-die-fresse-/kapitalismus-der-geformte-mensch,34810614,34874314.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Das Londoner Victoria and Albert Museum lädt zur Anbetung der 1960er-Jahre ein. ... "Wie haben die vollendeten und unvollendeten Revolutionen der späten 1960er-Jahre unser heutiges Leben und unser Nachdenken über die Zukunft beeinflusst?" Die selbstgestellte Frage beantworten die Ausstellungsmacher ganz uneingeschränkt positiv. Eigentlich war doch alles toll an jener Zeit, lautet die Botschaft, ganz explizit: Die Ausstellung will "den Idealismus der späten 1960er-Jahre" widerspiegeln und zu "einfallsreichem Optimismus" aufrufen.

"Nostalgie ohne Erinnerung" nennt der Beatles-Biograf Philip Norman das Phänomen der nachgeborenen Anbeter. Der 73-Jährige schwelgt in einem langen Observer-Essay selbst in den glamourösen Aspekten jener Zeit, weist aber nachdrücklich auch auf die dunklen Seiten hin. Großbritannien etwa fiel von einer Finanzkrise in die andere, Amerika wurde erschüttert von den politischen Morden an Martin Luther King und Robert Kennedy, durch Prag rollten die Panzer des Warschauer Paktes. Die Entkolonialisierung ging vielerorts mit blutigen Bürgerkriegen einher. Und über der Welt hing die nukleare Dauerbedrohung im Ost-West-Konflikt. Kurzum: eine blutige und unruhige Zeit. "Flower power" reimt sich natürlich herrlich, aber auch damals herrschten eher Bomben als Blumen. ...


Aus: ""You Say You Want a Revolution?": Das Psychodrama der Babyboomer" Sebastian Borger aus London (2. November 2016)
Quelle: http://derstandard.at/2000046850578/You-Say-You-Want-a-Revolution-Das-Psychodrama-der-Babyboomer


Textaris(txt*bot)

#12
Quote[...] Der Soziologe Ralf Dahrendorf findet, Dutschke sei ,,konfus" gewesen. Tatsächlich war er einer von denen, die das Neue der Revolte zu benennen wussten. Wir haben es gehört: Er sprach von der Notwendigkeit einer Kulturrevolution, deren Beteiligte sich mit dem eigenen Selbst befassen sollten. Dutschke betonte dabei die Fixierung des Selbst auf überkommene Autoritäten und suchte nach einer revolutionären Praxis, in der es sich davon befreien konnte. Andere sprachen mehr von der Befreiung des Selbst, wie es war – des weiblichen Selbst vor allem, aber auch des männlich-homosexuellen –, und das war kein Widerspruch. Das Selbst litt ja nicht nur unter der Herrschaft äußerer Autoritäten, sondern hatte diese auch zum eigenen Über-Ich verinnerlicht. ...


Aus: "1966: Das Neue der Revolte" Michael Jäger (Ausgabe 5016 | 28.12.2016)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/1966-das-neue-der-revolte

QuoteJoachim Petrick 28.12.2016 | 18:55

Rudi Dutschke hat bei all seinen politischen Abhandlungen, Handlungen, Einlassungen stets das sportativ Bewegliche gegen das verkrustet Starre in der bipolaren Welt des Kalten Krieges gelebt und im Blick gehabt.
Wenn Rudolf Augstein in seinem Nachruf auf Rudi Dutschke zum Jahreswechsel 1979/1980 schreibt
"....eine Geistesgröße war er nicht"
wird deutlich, wie wenig bis heute selbst bei Alpha-Journalisten die Wirkung Rudi Dutschles verstanden wird, unterbelichtet bleibt, nämlich das sportliche Element in die politische Debatte, Diskurse "Learning by Doing" einzuführen. ...


QuoteCosta Esmeralda 28.12.2016 | 19:43

Ich will hier nur kurz etwas anmerken, da ich mich auch der 68er Generation zugehörig fühle, allerdings für mich persönlich die APO erst am 2. Juni 1967, Erschiessung von Benno Ohnesorg, begann, parallel mit dem "Marsch durch die Institutionen" (eben auch durch den Bundestag und die in ihm vertretenen Parteien).

Was Rudi Dutschke, die 68er insgesamt, meine Wenigkeit eingeschlossen, wollten, war eine grundlegende Revolution der Gesellschaft in Richtung auf Herrschaftsabbau, Selbstverwirklichung und Solidarität unter Menschen mit gleichen Rechten, weltweit. Zählbares Ergebnis bis heute ist die Emanzipationsbewegung der Frauen, für mich tatsächlich Revolution weltweit, wenn auch längst nicht abgeschlossen. Diese Revolution fand innerhalb und ausserhalb von Parlamenten statt, angetrieben aber immer von ausserhalb. Sonst hätten Parlamente und politische wie wirtschaftliche kapitalistische Eliten keinen Deut Emanzipation zugelassen.

Für das Jahr 2017, wenn auch nicht unbedingt der 2. Juni, d. h. 50 Jahre nach 1967, wünsche ich mir, dass jetzt ein "Zeitalter der Emanzipation des Bürgers" beginnt und APO-mässig wie auch parlamentarisch so erfolgreich geführt wird, wie das Frauen weltweit vorgemacht haben. Ein solcher Emanzipations-Kampf bzw. Revolution des "Bürgers" (als Souverän) gegen das herrschende kapitalistische System kann nur, wie sich wohl auch R. Dutschke das stets vorgestellt hat, als ein "trial and error"-Prozess (Versuch und Irrtum) verlaufen, der allen daran Beteiligten Phantasie, Kreativität und vor allem Solidarität unter Gleichen abverlangt. ...


QuoteRichard Zietz 02.01.2017 | 12:13

... Ohne an der Stelle zu sehr ins Detail zu gehen, kann ich für mich persönlich sagen, dass die 68 ff. etablierte »Denke« ein Super-Rüstzeug war, um gesellschaftliche Entwicklungen in fast jeder Hinsicht zu analysieren. Leider hat die politische Linke sich seit den Neunzigern zunehmend von diesen »Roots« entfernt – mit der Folge, dass sie, am Ende dieses Anpassungsprozesses angekommen, selbst die Spießer, Hausmeister, Gesellschaftsformierer und Talarmuff-Repräsentanten repräsentiert, die sie damals bekämpft hat.

Mit welchen Mitteln man es schafft, aus dieser Nummer wieder rauszukommen (ohne in den Ökonomismus pur der alten, traditionellen Linken zurückzufallen), weiß ich nicht.


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Quote[...] 2008 sprachen Gisela Getty und Jutta Winkelmann im Interview mit dieser Zeitung, vor deren Werkstor sie mal kommunistische Flugblätter verteilt hatten, über ihre ungeheuer dichte, teils fast märchen- und dann wieder alptraumhafte Lebensbeschreibung. ,,Wir sind die Kinder Hitlers", sagten sie damals und dass das die antreibende Kraft war, sich ein neues, liebevolles Leben zu erfinden. Es war so etwas wie eine lichtdurchflutete Vision von Schönheit für unseren Planeten, die sie, die sich als ,,Götterkinder", als ,,Engel einer hellen Zukunft" empfanden, zu leben versuchten - verbunden auch mit viel Blumenkinder-Naivität und -Leichtfertigkeit.

Im Gespräch waren ihre Stimmen kaum zu unterscheiden - die Zwillinge selbst mussten später die abgetippten Passagen zuordnen. Als ,,unverbrüchliche Doppelexistenz" empfanden sie ihre symbiotische Beziehung, die Segen und Fluch war. Gisela nennt ihre Schwester ,,die liebste Person auf der Welt", doch hätten sich beide nach Individualität gesehnt. Mit ihrem Krebstod gehe Jutta konsequent ihren eigenen Weg: ,,Sie schmeißt mich auf mich zurück. Das ist jetzt die große Trennung."


Aus: "Kommune, Geiselnahme und Symbiose: Zum Tod von Jutta Winkelmann" (24.02.2017)
Quelle: https://www.hna.de/kultur/ikone-68er-7431383.html


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Quote[...] [Berlin, Hamburg, Frankfurt, Köln und Zürich in den 1970er Jahren, hier und nicht nur hier tobte der Häuserkampf. Bassist Kai Sichtermann, Gründungsmitglied von Ton Steine Scherben, war damals mittendrin. Gemeinsam mit seiner Schwester, der Publizistin Barbara Sichtermann, besuchte er nun die Protagonisten von einst. Sie erzählen davon, wie alles anfing und welcher Geist sie trug – nicht zuletzt weil sich die Frage, wem die Stadt gehört, heute noch stellt. Das ist unser Haus heißt ihr Buch. (Das ist unser Haus Barbara Sichtermann, Kai Sichtermann Aufbau 2017, 300 S.)]

... Florian Schmid: In einigen Texten wird auf den Zusammenhang der 68er, der Studentenbewegung und der Hausbesetzer verwiesen. Waren das die Erben dieser Bewegung?

Barbara Sichtermann: Ja, 1970 ging das ja los mit den Hausbesetzungen. Die Ehre des ersten besetzten Hauses fällt auf die Eppsteinerstraße 47 in Frankfurt am Main. Das war die ersehnte Praxis, die mal hinausgehen sollte über die Proklamationen, Demonstrationen, viel Geschrei und heiße Luft. Man wollte ja wirklich etwas ändern. Okay, es gab auch die Kinderladenbewegung und an den Universitäten ging es um Mitsprache von unten. Zu diesen Impulsen, die Gesellschaft tatsächlich mit mehr Partizipation im antiautoritären Sinn umzugestalten, da gehört die Hausbesetzerbewegung natürlich dazu. ... Es war genauso in der Studentenberwegung, dass es Kulturrevolutionäre gab, die anders leben wollten, anders studieren, anders arbeiten. Und es gab die von unseren Gesprächspartnern oft ,,Ideologen" genannten Besetzer, denen es darum ging, das mobilisierte Potenzial der Unzufriedenen zu bündeln und es irgendwie politisch zu einer Kraft zu machen, die dann eine Partei sein wollte. Die Grünen sind daraus hervorgegangen. Und dann gab es noch die Sex-Drugs-Rock-'n'-Roll-Fraktion, die vor allem anders leben wollte. Es gab Theoretiker, die Gegenmodelle entwerfen und schon mal mit dem anderen Leben anfangen wollten. Es waren unterschiedliche Nah- und Fernziele, die sich hart im Raum gestoßen haben. Im glücklichsten Fall war alles da, und man kam miteinander aus.

...

Florian Schmid: Die Militanz, mit der zwischen 1970 und 1990 um Häuser gekämpft wurde, ist heute nur noch schwer vorstellbar. Vielleicht war sie aber Teil des Erfolgs der Bewegung. Wie stehen Sie zur jahrzehntelang debattierten Militanzfrage?

Barbara Sichtermann: Die Ausgangslage war, dass die unverhältnismäßige Gewalt der Polizei, die mit der Erschießung von Benno Ohnesorg begonnen hatte, irgendwie beantwortet werden musste. Damals hatte man bei der Polizei noch nicht gelernt, mit Aufrührern mal ein paar Worte zu wechseln oder Kompromisse zu suchen. Die Linie war allermeistens: draufschlagen, einsperren, fertigmachen. Die jungen Menschen seinerzeit fühlten sich im Recht. Es gab immer noch viele alte Nazis. Es gab keine Selbstbestimmung, alles war verregelt, alles wurde von oben kontrolliert. Die Jugendlichen wollten sich das einfach nicht mehr bieten lassen. Ob das ein Erfolgsrezept war, ist schwierig zu beantworten. In Frankfurt war es umgekehrt. Da hat die enorme Militanz den Rückhalt der Hausbesetzer in der Bevölkerung beendet. Manchmal hat es auch was gebracht. Man muss das immer im Kontext sehen.

...


Aus: ",,Hart im Raum"" Florian Schmid (Ausgabe 0917, 15.03.2017)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/florian-schmid/hart-im-raum


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#15
Quote[...] Berittene Polizei jagt die Menschen auf den Bürgersteigen. Ein Beamter reitet direkt auf die Kamera zu. Polizisten klettern über die Absperrungen, stürzen sich auf friedliche Demonstranten. Szenen aus West-Berlin, Ende der 1960er Jahre. Schwarz-weiße Bilder, gedreht aus der Hand, manchmal im Laufschritt, verwackelt, unruhig wie die Zeiten, in denen sie entstanden. Am 2. Juni jährt sich der Tod Benno Ohnesorgs zum 50. Mal. Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras hatte den Studenten in Berlin am Rande einer Demonstration gegen den Schah-Besuch erschossen, gezielt, wie man heute weiß, nicht aus Notwehr, wie es bei seinem Freispruch hieß. Ohnesorgs Tod entfachte Wut, verschärfte die Konfrontation zwischen Staat und aufbegehrender Jugend.

Simone Jungs Dokumentation schildert diesen Tag, der die Republik veränderte, und sein zeitliches Umfeld vor allem mit einer eindrucksvollen Fülle historischer Filmsequenzen, darunter aus der ,,Abendschau", und Fotografien. Die zum Teil bekannten Bilder sind, neu zusammengesetzt, mal ein rockiges Zeitporträt mit Szenen aus dem Berliner Alltagsleben, mal der Versuch einer exakten Rekonstruktion der Ereignisse. Jung verwendete auch Ausschnitte aus dem Film ,,Berlin, 2. Juni 67", den der damalige Filmstudent Thomas Giefer gedreht hatte. Giefer, heute 72 und ein mit dem Grimme-Preis dekorierter Dokumentarfilmer, nennt seine Kamera ,,die subjektive Sicht der Revolte, eine ganz kleine Waffe gegen diese große Macht der Medien". Als Hauptgegner galt die Springer-Presse, insbesondere die ,,Bild", die mit Schlagzeilen wie ,,Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt" die Stimmung anheizte. Wenn man etwas in Jungs Film vermisst, dann dass hier niemand aus deren Reihen zu Wort kommt.

Mit Martin Textor ist ein prominenter Ex-Polizist unter den Zeitzeugen. Textor, der später zum Chef der Spezialeinheiten aufstieg, erinnert sich kritisch an den Geist, der in der Berliner Polizei in den 1960er Jahren herrschte. Mit den Bürgern solle kein unnötiges Wort gewechselt werden, habe eine Dienstanweisung gelautet. ,,Was wir getan haben, war Drill und Krieg", sagt Textor. In der ,,Frontstadt" Berlin verstand sich die Polizei offenbar als eine Art militärischer Vorhut, zudem hatten viele schon in der Nazizeit ihren Dienst versehen. Die beliebten Polizeischauen im voll besetzten Olympiastadion, ein Fackel-Aufmarsch eingeschlossen, wirken heute gespenstisch.

Auf Statements von Historikern oder anderen Experten verzichtet die Autorin, auch mit eigenen Kommentaren geht Simone Jung sparsam um. Dafür hat sie neben Augenzeugen wie dem Fotografen Bernard Larsson und der Historikerin Friederike Hausmann, die sich auf dem zur Bild-Ikone gewordenen Foto über den sterbenden Ohnesorg beugt, noch weitere Protagonisten der damaligen Zeit vor die Kamera geholt. Etwa Ralf Reinders, Mitbegründer der ,,Bewegung 2. Juni", oder den späteren Bundesinnenminister Otto Schily, der als junger Anwalt Nebenkläger im Kurras-Prozess war. Und mit Uwe Soukup tritt ein Journalist und Buchautor in Erscheinung, der die Umstände des Todes Ohnesorgs akribisch recherchiert hat. ,,Eine Frage wird offenbleiben", erklärt Soukup. ,,Warum hat der Mann geschossen?" Der verstorbene Kurras hatte, wie sich später herausstellte, auch für die Stasi gearbeitet. Belege für eine direkte Verstrickung der DDR fanden sich nicht.

,,Benno Ohnesorg – Sein Tod und unser Leben", Arte (2017)


Aus: "Der Tod des Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967" Thomas Gehringer (15.05.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/medien/doku-zum-50-jahrestag-der-tod-des-benno-ohnesorg-am-2-juni-1967/19806344.html

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Quote[...] Benno Ohnesorg, Romanistik- und Germanistikstudent an der Freien Universität Berlin, starb im Alter von 26 Jahren durch einen Kopfschuss. Karl-Heinz Kurras, der Kriminalbeamte, der ihn am 2. Juni 1967 während einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Kaiserpaares mit seiner Dienstwaffe niederstreckte, behauptete, in Notwehr gehandelt zu haben. Für diese Behauptung gibt es bis heute keine Beweise. Im Gegenteil: Zahlreiche Aussagen von Augenzeugen legten nahe, dass Kurras ohne Not geschossen hatte. Trotzdem wurde der Beamte vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Wegen der schweren polizeilichen und politischen Fehler, die ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Sommer 1967 aufdeckte und wegen der anhaltenden Studentenproteste, mussten nacheinander der Polizeipräsident, der Innensenator und der Regierende Bürgermeister Berlins zurücktreten.

Bereits unmittelbar nach Ohnesorgs Tod begannen sich zahlreiche Verschwörungstheorien um die Geschehnisse zu ranken, die allerdings alle in einem Punkt übereinstimmten: In der Anschuldigung, Benno Ohnesorg sei dem faschistisch-autoritären Polizeiapparat West-Berlins zum Opfer gefallen.

Am Abend des 2. Juni 1967 platzte die spätere RAF-Terroristin Gudrun Ensslin aufgeregt in das SDS-Zentrum am Kurfürstendamm. Dort fand eine Beratung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes statt. Ensslin erklärte, jetzt müsse man sich Waffen beschaffen, um gegen ,,die Faschisten" gewappnet zu sein. ,,Das postfaschistische System in der BRD ist zu einem präfaschistischen geworden", schrieb der SDS-Bundesvorstand in einer am 9. Juni 1967 verbreiteten Erklärung zu Ohnesorgs Tod. Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas warnte am selben Tag vor den mehr als 7000 Studierenden, die zu Ohnesorgs Begräbnis nach Hannover angereist waren, vor der ,,Fortsetzung einer systematisch betriebenen Provokationsstrategie gegenüber dem Staat" . Die Bundesrepublik sei eine leidlich funktionierende Demokratie mit restaurativen Tendenzen, der ,,legale Terror" durch die West-Berliner Polizei bedeute eine manifeste Einschränkung der Demokratie. Dagegen zu protestieren, sei legitim, sagte Habermas. Die Fortsetzung der ,,Provokationsstrategie" aber sei ein ,,Spiel mit dem Terror mit faschistischen Implikationen". Habermas bezeichnete das unter dem Protest der versammelten Studenten als ,,linken Faschismus".

Nicht in ihren schwärzesten Albträumen wäre den engagierten jungen Linken im Juni 1967 der ,,Studentenmörder" Karl-Heinz Kurras als das erschienen, was er nach den im Jahr 2009 aufgefundenen Stasiunterlagen tatsächlich war: ein verdeckter Ermittler des DDR-Staatssicherheitsdienstes und außerdem Mitglied in Walter Ulbrichts SED. Der Mann also, der mit seinen tödlichen Schüssen auf den Student Benno Ohnesorg eine bis dahin in der Bundesrepublik unvorstellbare Gewaltspirale in Bewegung gesetzt hatte, war nicht eine ,,Charaktermaske" des ,,Präfaschismus", wie die linken Studenten meinten, sondern ein gläubiger DDR-Sozialist mit SED-Parteibuch.

Die Frage, ob Kurras auf Anweisung der Stasi gehandelt hat, wird abschließend nie beantwortet werden können. Verbürgt aber ist, dass die SED-Führung und namentlich Walter Ulbricht die durch den 2. Juni 1967 in Westdeutschland hervorgerufenen Unruhen mit großer Genugtuung verfolgte.

Der Schriftsteller Uwe Timm, mit dem Benno Ohnesorg befreundet war, setzte dem getöteten Studenten 2007 mit seinem Buch ,,Der Freund und der Fremde" ein literarisches Denkmal. Die beiden hatten gemeinsam Albert Camus, Jean-Paul Sartre, Samuel Beckett, Ernst Bloch und Friedrich Nietzsche gelesen. Benno Ohnesorg hatte Gedichte geschrieben und wollte eigentlich an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste studieren. Als er dort abgelehnt wurde, bewarb er sich erfolgreich an der Freien Universität Berlin für ein Romanistik- und Germanistikstudium. Er gehörte der Evangelischen Studentengemeinde und dem marxistischen ,,Argument-Club" an. Benno Ohnesorg, ein überzeugter Pazifist, starb im Alter von 26 Jahren. Er hinterließ seine schwangere Frau Christa, die im November 1967 den gemeinsamen Sohn Lukas Ohnesorg zur Welt brachte.

Bis heute ist der 2. Juni 1967 ein Schlüsseldatum in den Erinnerungswelten der Achtundsechziger-Generation. Mit diesem Tag begann die antiautoritäre Studentenrevolte. Mit diesem Tag begann aber auch die Eskalation der Gewalt. Die Erschießung des friedfertigen Studenten Benno Ohnesorg durch Karl-Heinz Kurras rechtfertigt für viele Alt-Achtundsechziger bis heute die damalige Bereitschaft zur politischen Gewaltanwendung als Notwehr und ,,Gegengewalt". Auch wenn die 2009 bekannt gewordene SED-Mitgliedschaft von Kurras und seine Agententätigkeit für den DDR-Staatssicherheitsdienst so ganz und gar nicht in diese Geschichtserzählung passten, konnte sich das Establishment jener Zeit in Ost und West auf einen gemeinsamen Nenner einigen: Man mochte weder in der DDR noch in der Bundesrepublik aufmüpfige junge Leute, die die herrschenden Verhältnisse infrage stellten.




Aus: "1967 und die Folgen: Als die Gewalt begann" Jochen Staadt (09.04.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/themen/freie-universitaet-berlin/1967-und-die-folgen-als-die-gewalt-begann/19627014.html


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#16
Quote[...] ZEIT: Die siebziger Jahre in Westdeutschland gelten als ein Jahrzehnt des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Befreiung, besonders in Schulen und an Universitäten.

Maxim Biller: Die siebziger Jahre waren eine bleierne, eine ganz dunkle Zeit. Die Meinungsführer, die in der Nach-68er-Zeit in Schulen und Hochschulen auftraten, waren blind propalästinensisch und wüst antiisraelisch. Und wenn man sich heute fragt, woher die inzwischen völlig akzeptierte Israel-Feindschaft in deutschen Mitte-links-Kreisen stammt, dann muss man sagen: Sie kommt aus der Zeit nach 1968, als die PLO das Goldene Kalb der deutschen Täterkinder war. Das alles fiel mir sofort auf, zum Beispiel auf Anti-Atomkraft-Demonstrationen in Brokdorf, bei denen ich als Teenager ein paarmal dabei war. Wer nicht nach Brokdorf mitfuhr, der gehörte schon nicht mehr dazu. Es gab auch diesen Hass auf Amerika und diese absurde Humorlosigkeit der Linken. Und diese endlosen Zweiergespräche über Beziehungen, das war ganz schlimm.

ZEIT: Noch schlimmer als der Antizionismus?

Biller: Ja, das war das Schlimmste. Man durfte ein Mädchen nicht einfach küssen, man musste vorher stundenlang über seelische Dinge sprechen. Es war alles so unglaublich anstrengend.

...

ZEIT: Gab es in der Zeit nach 1968 denn nichts, was Sie genossen haben?

Biller: Nein, ich habe das alles nur verachtet. Man muss auch mal von der RAF reden, der Roten Armee Fraktion, dem linken Terror, der Brutalität und der Menschenverachtung. Die RAF-Leute waren Idole einer ganzen Jugend. In keinem Land der Welt gibt es so wenige Unterschiede zwischen Linksextremen und Rechtsextremen wie in Deutschland. Ich habe in meinen Kolumnen so viel angeschrieben gegen diese verschwommene Grenze zwischen Links und Rechts. Ich habe über den deutschen Nationalismus geschrieben und über den Antisemitismus. Aber heute, Jahrzehnte später, gibt es viel mehr von diesen Leuten und nicht weniger. Ich komme mir manchmal vor wie Kurt Tucholsky, der nach dem Ersten Weltkrieg gegen den Militarismus anschrieb, aber es wuchsen immer mehr Militaristen heran.

ZEIT: In der Zeit um 1968 gab es beides zugleich, das extrem Brutale und das extrem Intellektuelle. Ulrike Meinhof, die Terroristin, war mal Kolumnistin der Zeitschrift konkret.

Biller: Über Ulrike Meinhof wird inzwischen wie über eine Heilige geschrieben. Zu Meinhof gibt es aber kein einziges positives Wort zu sagen, auch nicht zu ihrer konkret-Zeit. Sie war eine widerwärtige Dogmatikerin, die sich nicht für den Einzelnen interessierte und später an Verbrechen beteiligt war. Wie kann es sein, dass sie in dieser Gesellschaft inzwischen als eine interessante Kolumnistin gilt? Hoffentlich leben wir nicht in einem Land, in dem in dreißig Jahren über Beate Zschäpe wie über eine Heilige geschrieben wird.

...


Aus: "68er-Bewegung: "Eine graue, gesichtslose Armee"" Interview: Stefan Willeke (7. Juni 2017)
Quelle: http://www.zeit.de/2017/24/68er-bewegung-maxim-biller-ausrichtung-kritik

Quote
CantHappenHere #1.3

Er reitet ellenlang auf dem einen, gleichen, überhaupt nicht neuen Klischee herum, antiautoritäre 68er seien auf ihre Art autoritär.

Das ist retrospektiv sehr leicht gesagt, weil es sich nach einer vermeintlich mutigen Neubewertung der Geschichte anhört. Ob es wirklich so war, dass Diskutanten damals "absurd autoritär" waren, lässt sich gar nicht ergründen.

Insofern lässt mich das Interview eher schulterzuckend zurück. Dass sich eine gesellschaftliche Strömung dann, wenn sie demographisch stark ist, von ihren ursprünglich liberalen und offenen Prinzipien teilweise entfernt und dogmatisch wird - big f'in news! Wenn ich mir die Gesellschaft der 50er angucke und dann die der 70er, bin ich dennoch gottfroh über das progressive Element 68er.


Quote
Michael Drews #1.17

... Ich finde das Interview interessant, denn der Herr Biller berichtet von seiner Wahrnehmung über diese Zeit. 1967 war ich 9 Jahre alt, also 3 Jahre älter als dieser Biller. Ich habe diese Zeit in Bremen erlebt und finde heute das diese Zeit die Zeit des Umbruchs war. Das ist meine Wahrnehmung dieser Zeit. Diese Wahrnehmungen sind subjektiv und andere Menschen haben diese Zeit vielleicht völlig anders erlebt. Das ist okay und nichts objektives. Die Wahrheit über verschiedene Wahrnehmungen gibt es nicht, weil diese individuell verschieden sind. Lassen sie doch einfach andere Meinungen stehen, ich habe damit kein Problem solange diese sachlich sind.


Quotejaakobus12 #7

Maxim Biller hat für sich die Rolle des Provokateurs gewählt. Immer Nachdenkens wert, dann und wann überspitzt und überzogen. Die durchgehende Dominanz des "Mitte-Links-Konsenses", der sich mit seiner speziellen Deutung der 68er-Geschehnisse zu legitimieren versucht, ändert nichts an der Tatsache, dass die Themen der linken Schickeria die Arbeitnehmer genauso wenig erreicht, wie die Flugblätter des KBW in den 70 Jahren. Was haben wir gewonnen, wenn die normative Bevormundung unserer Jugendjahre und die dogmatische Bevormundung der marxistischen Linken heute durch die hochmoralische Bevormundung der politisch Korrekten ersetzt wird.
In allen drei Fällen haben sich die Philister über die normalen Menschen erhoben und ihre jeweilige Begrenztheit zum neuen Ideal erkoren.
Die Karawane der Menschen zieht an ihnen vorbei und lebt ihr eigenes Leben.


Quotekeats #19

Maxim Biller gefällt sich im Gestus des Anders-Sein. Auch im Literarischen Quartett, aus dem er mittlerweile ausgestiegen ist, hat er sich so gebährdet. Es ist die Attitüde eines in die Jahre gekommen Rebellen, dessen Freiheitsbegriff Gleichgültigkeit gegenüber anderen beinhaltet. Der eigene Lebenslauf wird erzählt als der eines Menschen, der es nicht leicht hatte und es geschafft hat. Und diese romantische Selbstüberhöhung verlangt es, andere abzuwerten.


Quotechagall1985 #20

... Die Radikalität der 68'er, der Dogmatismus als Stützpfeiler und die teil absurde Gleichschaltung von Sprache und Verhalten kamen nicht aus dem Nichts!
Es war eine Gegenbewegung gegen die Normalität des Verdrängens.
Es war eine Provokation des Systems um sein wahres Gesicht zu zeigen.
Das wahre Gesicht aus autoritärem Obrigkeitsdenkens und erstickender Norm.

...


Quotetitanicus #21

Maxim Biller schießt mal wieder mit Vogelschrot, damit er wenigstens etwas trifft. Ein sauberer Blattschuss ist nicht sein Ding. DIE 68er har es nicht gegeben, Herr Biller. 1968 war nicht das Zäsurjahr, als das es dargestellt wird. Ihm war einiges vorausgegangen: Spiegel-Affäre, Auschwitz-Prozess, Hochhuths Stellvertreter oder Fischer-Kontroverse, Themen, welche schon lange vor 1968 den Virus der heilsamen Unruhe verbreitet hatten. Das war notwendig, denn die Parteigänger des überlappenden NS-Regimes hatten in allen Bereichen weiterhin die Finger im Spiel. Es war ein langwieriger Prozess, das Dritte Reich wenigstens zu beenden. Von Überwindung konnte in den 1960er Jahren noch keine Rede sein. Erstaunlich, dass Maxim Biller das trotz seiner bemerkenswerten Frühreife nicht erkennen konnte und bis heute nicht erkennen kann oder will.

Das Handwerk des Provokateurs beherrscht Biller jedoch perfekt. Es stimmt: Gäbe es ihn nicht, müsste er erfunden werden. Sein Dandytum hat was. Dumm nur, dass er sich so philisterhaft in die ominösen 68er verbeißen muss.


QuoteKarl Lauer #26

Wenn Biller mal wieder loslegt vom "linken Konsens" frage ich mich immer, ob ich irgendwelche massiven Verstaatlichungen verpasst habe..
Ich sehe keine linke Politik, beim besten Willen.


Quotescrambled Ex #32

Als fast-noch-68er fand ich diese Bewegung dereinst auch noch toll. Aber je mehr man die heutige Zeit und ihre Probleme ansieht, desto mehr ist die 68er-Bewegung als eines der Grundübel daran zu erkennen; eine zwar primär gut gemeinte Ideologie, aber darin zu verbohrt und vor allem zu kurzsichtig im Hinblick darauf, wie die Welt wirklich tickt. Schön, dass sich inzwischen einige Intellektuelle wie Biller trauen, die Patina der 68er-Verklärung zu beseitigen.


QuotepanchoVilladelacasa #33

Meine Fresse, diese Mini Revolte der Zu-Spät Geborenen. Natürlich müssen sie die übermächtige 68-Hegemonie konstruieren, um ihre reaktionäre Gestrigkeit als ach so *shocking* wagemutige Provokation verwursten zu können. Gipfelt dann gerne in das mimimi über Zensur ihrer Meinung, welches dann in Hunderttausender Auflage an die Massen gelangt.
Ich bin Jahrgang 61, meine Pauker waren fast durchweg in den 50igern Hängengebliebene und vereinzelt so reaktionär, dass wir SBZ statt DDR sagen mussten.
Backpfeifen gabs auch mal.
Diese Biller, Mattusseks, Fleischhauers und wie sie alle heissen sind, wie würden die Jungen sagen, "lame". Schlimmstenfalls ein Fall für Profis, wenn es denn in echte Paranoia ausartet.


QuoteBlues Man #34

'Das Autoritäre, gegen das die 68er gekämpft hatten, kehrte bereits in den Siebzigern zurück.'

In den Siebzigern und Achtzigern habe ich als Post-68er eine fast anarchische Freiheit erlebt. Wir waren Kumpels aus allen möglichen K-Gruppen und wer es vom Partei-Establishment wagte, uns als Sektierer oder wegen unserer Vorliebe für Rock 'n Roll, Blues oder Jazz als Kulturimperialisten zu bezeichnen, musste das Echo ertragen können. Und auch das war Freiheit, die örtlichen Parteibonzen, der Lächerlichkeit preiszugeben.
Wie unterschiedlich die Wahrnehmung doch sein kann!

Quoteazetge #34.1

Sorry, ganz so harmonisch war es leider nicht.
Ich habe erlebt, wie die maoistischen Stalinisten der KPD (vormals KPD-AO) auf einer Veranstaltung der trotzkistischen GIM (Gruppe Internationale Marxisten - Sektion der IV. Internationale) in der TU-Berlin diese sprengten, indem sie auf die trotzkistischen Genossen mit Zaunlatten und Dreizacks vom Straßenbau einprügelten.
Nie ein nachträgliches Wort der Selbstkritik, nachdem sie dann bei den Grünen an ihrer Karriere bastelten und ihre Vergangenheit vergessen machen wollten.



QuoteSt.Expeditus #38

Jean-Luc Godards Film "La Chinoise" kritisiert die 68er Bewegung als "Indianerspiel" angeblich revolutionärer Studenten, die maoistische Texte zitieren, aber sich von einer Komilitonin bedienen lassen. Die 68er waren nur Nachahmer der chinesischen Kulturrevolution, die in Europa lange Zeit verherrlicht wurde, in Wirklichkeit aber Millionen das Leben kostete.
Und wenn noch heute die Antivietnam-Bewegung gefeiert wird, zeigt die andere Seite der Medaille, dass auch 50 Jahre nach dem Ende des Krieges, die Menschen in Vietnam immer noch eine kommunistische Diktatur ertragen müssen, die hundertausende in Umerziehungslagern ermordet hat. ...


Quotewoherwohinwarum #39

Da hat sich einer aber ausgekotzt. Aber es stimmt ja: Dogmatismus und Gleichmacherei waren die Mission der 68er. Da sie gleichzeitig schelcht angezogen waren, Hasch rauchten und herumvögelten, hielt man es für Freiheit.

Das ist auch heute noch das Rezept - geblieben: der äußere Schein einer Verhaltensfreizügigkeit mit gleichzeitig rigiden Vorgaben, was gesprochen werden darf.

Der Unterschied zum Konservativen? Die Konservativen haben sich mit Gegnern auseinandergesetzt, sie - je - bekämpft und in ihrer gegenerschaft ernst genommen. Der eingeschlichene 68er-Sozialismus tut das nicht mehr: jeder kann (fast) alles sagen - es ist eh wurscht. Es bewegt nichts. Absolut nichts. Anstatt des gesellschaftlichen Diskurses gibt es nur noch ein Unschädlichmachen des unerwünschten. Das Individuum ist der Statistik gewichen. Die inhaltliche Auseinandersetzung dem formalen Spiel.


QuoteBellizistensohn #41

Es ist doch ein Trauerspiel mit den Bürgerlichen, wo man hinhört, verfallen sie immer wieder aufs Neue in diesen verheulten Tonfall, dass die bösen Linken alles kaputt machen und alles bestimmen. Da schwingt immer ein bisschen diese FDP-Attitüde mit; wer es wagt, moralisch zu werden, wünscht sich insgeheim Denkverbote und ist überhaupt ein Feind der Freiheit.
In welcher Welt leben diese Menschen eigentlich? Wie viele Artikel sind alleine in der Zeit erschienen, die sich mit dem Thema von vermeintlich übermäßig mächtigen und autoritären Linken beschäftigen? Rückt eure Wahrnehmung mal zurecht.


QuoteR. Reinert #42

Ich habe selten ein Interview von einem Menschen gelesen, der so grob pauschalierend, vorurteilsbeladen und aufgeblasen, garniert mit ein bisschen name dropping daher redet wie Biller. Als Superknabe (wer ohne ein Wort deutsch zu könne, gleich eine Klasse auf dem Gymnasium überspringen darf, hat selbstverständlich immer Recht!) hat er mit acht Jahren offenbar schon die ganze böse pseudolinke Mischpoke der 68er durchschaut. Herzlichen Glückwunsch, Biller sollte Weltkaiser werden!

Noch besser wäre es allerdings, wenn er sich mal ernsthaft mit den Zuständen im Deutschland der 50er und 60er Jahre befassen würde, als hier frei schwebend über Themen zu schwadronieren, über die er ganz offensichtlich nicht nachgedacht hat. ...


QuoteU. Hermes #52

Wieso interviewt man Biller zu den 68ern? Welche besondere Expertise oder Erfahrung legitimiert ihn? Hat sich niemand anderes gefunden (was ich nicht glauben kann - es gibt ja wohl sachlich ausgewiesene Kritiker, nehme ich mal an)?
Ich empfinde dieses Beballern mit Biller zu jedem x-beliebigen Thema als unangenehm - Biller im Interview zu seinem Buch, Biller als Berlin-Mitte-Kolumnist, Biller als Modehüpfer, Biller zu den 68ern. Seine Argumente sind schwach und pauschalierend, er argumentiert inkonsistent und interessegeleitet. Sein sprachliches Talent ist mittel; zu sprachlicher Brillanz würde gehören, dass man Aspekte der Wirklichkeit eindrücklich und ungewöhnlich wiedergibt; das gelingt ihm manchmal, aber nur bezogen auf einen extrem engen Wirklichkeitshorizont. Alles, was über sein eigenes Erleben hinausgeht, wird abgewertet, anders kommt er nicht zurecht. Es fällt ihm sehr schwer, sich in andere Perspektiven zu versetzen. Alles, was nicht er selbst ist oder ihm ähnlich, erscheint ihm sofort grau in grau. Das ist für einen Schriftsteller ein echtes Handicap und jeden Publizisten.
Ich würde es auch besser finden, wenn die Zeit nicht derartig seinen Anspruch auf jüdische Deutungshoheit bedienen würde. Man sollte durchaus mal andere Stimmen zu Wort kommen lassen. Bei Billers nationalistischen Tönen finde ich fatal, dass sie so harmlos unkommentiert stehen bleiben. Es ist ja eine Art Rassentheorie, das finde ich stigmatisierend und schwer erträglich.


QuoteAristippos von Kyrene #53

Jemand, der so krampfhaft versucht aufzufallen und sich als enfant terrible zu inszenieren wie Herr Biller, entlockt mir nur ein müdes Gähnen.


QuoteContendo #55

Klasse Artikel. Viele interessante Kommentare. Danke. Es macht richtig Laune, wenn ein provokanter Autor auf ein gescheites Forum trifft. Wenn ich Foristen jeweils zustimmen kann, die konträre Positionen zueinander vertreten, weil einfach beide Ansichten gut begründet und anschaulich dargestellt werden, ist es wirklich unterhaltsam und lehrreich.


QuotepanchoVilladelacasa #57

Boah, in den 80igern chic angezogen im Cafe gesessen als Protest gegen die hegemoniale Linke? Das muss man sich erst einmal zurecht spinnen können. Da er Jahrgang 1961 ist, dürfte meine Schätzung akkurat sein. Die 80iger waren Punk, New Wave und in weiten Teilen, zumindest was das klassische Links-Rechts Schema anging, unpolitisch. Und ein Maxim Biller wird mit seinen Klamotten vor allem erst einmal als "Popper" durchgegangen sein. Ablehnung, sehr gut möglich, aber politisch begründet?
Gleichzeitig kündigte sich ein Rechtsruck an. Maggie Thatcher, lähmende Kohl Jahre und bis in die Neuzeit, nachdem auch noch die "Sozialisten" Schröder und Blair marktliberale Politik machten, die sich nicht einmal ein Kohl getraut hätte, hat es (noch) keine Korrektur dessen gegeben. Soziale Marktwirtschaft eines L. Erhard würde doch heutzutage als Kommunismus verunglimpft.
Pädagogisch durchlebte unsere Generation ( Jahrgang 61 ) in den späten 70igern und frühen 80igern das Auflehnen gegen eben die 68er als Vorgänger Generation. Einige sind da leider hängengeblieben und jammern auf hohem Niveau.
Heidegger statt Adorno, darunter liesse es sich philosophisch subsummieren. Nur muß man sich entscheiden? Vielleicht haben wir deswegen nur noch Pop Philosophen, nur Sloterdijks, haben andere Länder die Führung übernommen.


Quote
Tordenskjold #58

"Man durfte die Mädchen nicht einfach küssen..."

Und wenn es beim Kindergeburtstag geregnet hat, dann waren auch die 68er schuld.
Schon komisch, wenn sich jemand selbst als Individualist und Rebell stilisiert und gleichzeitig mit den 68ern "abrechnet".
Ob wohl das miefig spießige Adenauer-Deutschland für ihn ein besseres Biotop gewesen wäre? Wahrscheinlich. Und genau deshalb ist sein Rebellengehabe und Möchtegernindividualismus ziemlich albern.


...

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Quote[...] Kai Hermann - Geboren 1938, arbeitete Hermann von 1963 bis 1968 als Redakteur und Autor der ZEIT. Danach ging er als Korrespondent zum Spiegel, leitete das Magazin twen und wechselte 1972 zum stern. Bekannt wurde er 1978 mit dem Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, das er zusammen mit Horst Rieck recherchierte hatte.

Hermann: In Berlin herrschte ein unglaublich reaktionäres Klima. Da brauchte man kein Kommunist zu sein: Man lief schon Gefahr, verprügelt zu werden, wenn man bei Rot über die Straße ging.

ZEIT: Dagegen rebellierten auch Gestalten wie Dieter Kunzelmann und Rainer Langhans von der Kommune 1. Kannten Sie die?

Hermann: Ja, aber damals konnte ich mit ihrer Eitelkeit und ihrem Drang zur Selbstdarstellung nicht viel anfangen. Ich war wohl zu spießig. Tatsächlich war ihr Spaß am Lächerlichmachen falscher Autorität ziemlich wichtig.

ZEIT: Wie konnten die Studenten eigentlich zu einem solchen Hassobjekt werden? "Durchgreifen", "abschieben", "ausmerzen", skandierten die Springer-Blätter. Ein Artikel forderte "Polizeihiebe auf Krawallköpfe, um den möglicherweise doch vorhandenen Grips lockerzumachen".

Hermann: Und man muss sich vor Augen führen, wie die meisten Studenten damals aussahen! 1967, beim Schah-Besuch, kamen 80 Prozent der Männer mit Schlips zur Demo. Aber das postfaschistische Establishment der frühen Bundesrepublik hat sich bedroht gefühlt, dazu kam der Ost-West-Konflikt. Im Februar 1968, das werde ich nicht vergessen, gab es eine Gegendemonstration des "anständigen Berlin" am Schöneberger Rathaus. Da machten die braven Bürger Jagd auf angebliche Rudi Dutschkes, von der Springer-Presse aufgehetzt. Was die damals an Fake-News produziert hat, ist wirklich einmalig.

ZEIT: Sie haben über die Springer-Hetze einen Artikel geschrieben, der einen Prozess gegen die ZEIT ausgelöst hat. Überschrift: Goebbels' Nachfahren.

Hermann: Ich war auch selbst betroffen von einer Falschmeldung. Ich bin als Reporter auf einer Demo ernsthaft verletzt worden, weil ich versucht hatte, einen angeblichen Dutschke, in Wahrheit ein junger Beamter, vor Arbeiterfäusten zu schützen. In der Welt hieß es dann, ich hätte provoziert.

ZEIT: Wie ist die Sache ausgegangen?

Hermann: Springer hat verloren. An der Berichterstattung hat das allerdings nichts geändert.

ZEIT: In der ZEIT ist auch eine Reportage von Ihnen über den 2. Juni 1967 und den Mord an Benno Ohnesorg erschienen. Hat Sie die Polizeibrutalität überrascht?

Hermann: Nicht wirklich, ich hatte schon zuvor darüber berichtet, dass die Berliner Polizeiführung zu einem nicht geringen Teil aus SS-Leuten bestand.  ... Für die Flakhelfer-Generation, die im Nationalsozialismus groß geworden ist, war wohl schon eine Demonstration an sich etwas Unerhörtes. Eine harmlose Anti-Springer-Demo beschrieb ein Kollege Anfang 1968 als Abstieg zum Mob. Die Älteren, die ein bisschen Weimar miterlebt hatten, dachten anders. Ich habe damals Rudi Dutschke mit Gerd Bucerius zusammengebracht. Zum Schluss sagte er: Rudi, ich find dich toll. Aber lass das mit dem Sozialismus sein!

ZEIT: Ein Hauptvorwurf gegen die 68er lautete, sie seien antiamerikanisch gewesen. Waren sie das?

Hermann: Ach was! Wir hörten amerikanische Musik, trugen amerikanische Hosen und lasen amerikanische Literatur. Aber Vietnam ging nun mal jedem, der nicht völlig washingtonhörig war, unter die Haut. Die 68er waren kulturell pro Amerika, aber gegen die damalige US-Politik. Die Flakhelfer-Generation, die sich nach dem Krieg den USA verschrieben hat, war politisch bedingungslos proamerikanisch. Das war der Konflikt.

ZEIT: Wurde in der ZEIT damals viel diskutiert?

Hermann: Nein. Meine Artikel wurden immer stärker zensiert. Nach dem Attentat auf Dutschke und dem Sturm aufs Springer-Haus wurde ich nach Hamburg zitiert. So gehe es mit meiner Berichterstattung nicht weiter. Kai, sagte die Gräfin, Sie haben das Handwerk ja nie richtig gelernt. Sie betreuen jetzt die Leserbriefe. Das war, nachdem ich die Carl von Ossietzky Medaille für meine Artikel über die Studentenbewegung gekriegt hatte. Da hab ich gekündigt.

ZEIT: War Ihnen 1968 eigentlich klar, welche Tragweite die Proteste haben würden?

Hermann: Man hat gemerkt, dass Deutschland danach nicht mehr so sein würde, wie es vorher war.

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Aus: "Kai Hermann: "Ich galt als liberaler Scheißer" ("68 ist aus und vorbei")" Interview: Christian Staas (13. Juni 2017)
Quelle: http://www.zeit.de/2017/25/68-interview-kai-hermann


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Quote[...] Der Sommer der Liebe in San Francisco war der Höhepunkt der Hippiebewegung. 50 Jahre ist es her. Was ist davon in der Stadt an der amerikanischen Westküste noch zu spüren?

Isaiah Wolfe, genannt Orange, verbringt seine Nächte unter einem Busch ausserhalb des Golden Gate Park und seine Tage unweit davon an der Kreuzung von Haight und Ashbury Street, wo er die Liebe geniesst. Die Liebe seiner Freundin, seiner Hunde, seiner Kumpel und aller anderen, die diesen Teil von San Francisco ihr Zuhause nennen. «Wir sind hierhergekommen, um die Liebe zu erleben, die dieser Ort ausstrahlt», sagt Orange, ein Zwanzigjähriger mit Bart, Piercings und buntem Pullover. «Ich habe gehört, dass der Sommer der Liebe das Beste war, was jemals geschehen ist.»

Es geschah im Jahre 1967, aber Orange aus dem Gliedstaat Minnesota, der seit drei Jahren kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten reist und im Freien schläft, kann das Glühen auch 50 Jahre später noch spüren. «Die Leute hier behandeln einen wirklich als Menschen – anders als irgendwo sonst im Land.»

... Wer nach San Francisco reist, kann ruhig Blumen im Haar tragen. Wichtiger sind aber die Kreditkarte und die Bereitschaft zu akzeptieren, dass der Sommer der Liebe Geschichte ist. Der Beat-Dichter Allen Ginsberg, der Punk-Rocker Ken Kesey und The Merry Pranksters, die im angemalten Schulbus für die Bewusstseinserweiterung durch LSD warben, vermittelten damals eine Aufbruchstimmung. Heute ist die Bucht von San Francisco das globale Hauptquartier von Hightech-Konzernen. Gemeinschaft ist hier ein Euphemismus für Kunden, Störung bedeutet Gründung einer eigenen Firma, und freie Liebe heisst Tinder oder Grindr. Der Sound von San Francisco kommt nicht mehr von psychedelischen Rock-Gruppen, sondern von klingenden Kassen.

Die Stadt an der amerikanischen Westküste ist eines der teuersten und ungerechtesten Pflaster der Welt, wo Milliardäre an schlafenden Schatten vorbeifahren. Eine zwangsweise aus ihrer Wohnung geschaffte Hundertjährige ist zum Symbol der Gentrifizierung geworden. Künstler, Schriftsteller und Musiker ziehen in billigere Städte um. Sogar IT-Experten mit sechsstelligen Gehältern klagen über die hohen Mieten. Unternehmen wie Uber und Airbnb haben das Wort «teilen» in die digitale Wirtschaft übergeführt, als Euphemismus für Arbeit ohne Grenzen. An die Stelle von Hippies, die sich von Acid und Almosen ernährten, sind Hipster getreten, die schüsselweise Bio-Beeren essen und Yoga-Studio-Abos haben. «Turn on, tune in, drope out» – das Mantra von Timothy Leary, dem Guru der Hippie-Bewegung, ist längst ersetzt durch «click, swipe, update».

«San Francisco ist nicht mehr dieselbe Stadt. Es hat seine Seele verloren», sagt Jim Siegel, ein 61-Jähriger, der den Sommer der Liebe erlebt und später beim Haight-Ashbury-Switchboard mitgearbeitet hat, einer freiwilligen Gruppe, die freie Konzerte, freie Lebensmittel, freie medizinische Versorgung, freie Unterkünfte, ja selbst freie Läden organisierte, die alles kostenlos abgaben.

«Distractions» heisst das Geschäft, das Siegel seit 41 Jahren an der Haight Street führt. Er verkauft Kultur-Kitsch. Als ein fliegender Händler eine Tüte voller Kleider in seinem Laden auszupacken beginnt, weist er ihm höflich die Tür: «Sorry, aber ich habe in letzter Zeit selbst nicht genug Geld gemacht.»

Es ist natürlich keine Überraschung, dass sich die Stadt in einem halben Jahrhundert verändert hat. Aber der Sommer der Liebe versprühte einen Zauber, der San Francisco, Babyboomer und Nachgeborene rund um den Globus betörte. Ein Strudel von Kunst, Politik, Musik und Revolte erfasste die Stadt, der sich in der Zwischenzeit als einmalig und letztlich unkopierbar erwiesen hat. Kein Wunder, dass San Francisco sich an 1967 klammert.

Die Stadt feiert jenen Sommer im laufenden Jahr mit Dutzenden von Konzerten, Ausstellungen und Happenings im Retro-Stil. Dazu gehört auch ein Liebesbus mit Perlenvorhängen, Flickenteppich und neonblauen Sitzen. Ein Werbeslogan verspricht: «Nicht nur eine Sightseeing-Tour, eine Reise!» Ein anderer verkündet: «Lavendelblaue Brillengläser – ein schwuler Blick auf den Sommer der Liebe.»

Das M. H. de Young Memorial Museum im Golden Gate Park präsentiert die «Summer of Love Experience» mit Kunst, Mode und Rock'n'Roll. Der Ausstellungsmix aus Musik, Plakaten, Outfits, Textilien und Beleuchtung katapultiert die Besucher in die Zeit vor 50 Jahren zurück.

«Diese Geschichte lebt, weil so viele der Protagonisten noch am Leben sind und ihre Ideologie sich nicht verändert hat», erklärt Jill D'Alessandro, einer der Kuratoren. «Ich glaube, dass das Ethos noch hier ist, dass es weiterlebt. San Francisco ist auch heute noch eine aufgeweckte, neugierige Stadt, die die Künste unterstützt.»

IT-Spezialisten seien keine Spiessbürger, sondern unterstützten die Kunst und Kultur, sagt D'Alessandro. Das Problem sei nur, dass sich andere das Leben in der Stadt nicht mehr leisten könnten. «Es geht am Ende ums Geld.»

Emily Duffy, eine 59-jährige Glaskünstlerin und selbsterklärte Hippiefrau, urteilt harscher: «Es ist eine ganz andere Stadt. San Francisco wurde Google-ised. Alle meine Künstlerfreunde sind weggezogen.» Das Glühen jenes Sommers sei erloschen, sagt sie. «Es ist verkohlt und in ein Museum gebracht worden.» Steve Dickison, ein prominenter Lokalpoet, erkennt zumindest noch Spuren, eine davon sei die Buchhandlung City Lights. «Aber es ist schwer, dies bei all dem Blendwerk und der Beschleunigung des Lebens noch wahrzunehmen.» Musikalische Innovation war einmal, stellt er fest. «Und wenn der Stadt die Musik abhandenkommt, fehlt wirklich etwas!»

Diese Aussage ist Häresie für all jene, welche die Liebe in Haight-Ashbury noch fühlen. «Frieden und Liebe waren früher ein Hippie-Ding, jetzt sind sie für alle», sagt Powers, eine glitterbehängte Künstlerin. Sie hat den Rat der Liebe gegründet, eine gemeinnützige Einrichtung, die Geld für Kliniken und Schlafstellen aus dem Jahre 1967 aufzutreiben sucht. Sie verweist auf die progressive Politik der Stadt – die Verteidigung der Rechte von Frauen, Einwanderern und der Homo-, Trans- und Bisexuellen – und ihre Leidenschaft für Yoga. «Der Sommer der Liebe hat Standards gesetzt.»

Die Kunstszene in San Francisco sei nicht todgeweiht, sagt Powers. «Ich bin schliesslich eine Künstlerin, und ich lebe hier.» Wie schafft sie das finanziell? Ihre Antwort darauf ist allerdings eher in Einklang mit Donald Trump als mit Timothy Leary: «Ich habe vier oder fünf Unternehmen.»

Auf der Strasse räumen Orange und seine obdachlosen Freunde ein, dass finanzielle Schwierigkeiten ihren Sommer der Liebe 2017 überschatten.

Sunshine Autrey, ein 18-jähriger Neuankömmling, sticht mit seiner adretten Kleidung aus der Gruppe heraus. «Ich versuche, eine Krawatte zu bekommen», sagt er. «Aber ich habe kein Geld. Und ein T-Shirt kostet hier bereits . . . 25 Dollar.» Ein anderer junger Mann, der anonym bleiben möchte, sagt, er habe als Software-Programmierer gearbeitet, bevor er abgerutscht sei. «Glaubst du etwa, ich schlafe gern auf der Strasse?»

Getümmel, Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit und Verbrechen, inklusive sexueller Übergriffe, überschatteten den Sommer der Liebe vor 50 Jahren. Im Herbst zogen die meisten Zugereisten weiter. Die Zurückgebliebenen hielten eine Spottbeerdigung ab, die angeblich den «Tod des Hippies» besiegelte.

Doch viele blieben in San Francisco, ihre Hinterlassenschaft passt allerdings nicht zum Flower-Power-Mythos. Sie liessen sich in armen Nachbarschaften nieder und verdrängten unbeabsichtigt afrikanisch-amerikanische Einwohner. Diese machen heute nur 5 Prozent der gut 870 000 Einwohner aus. «Die Hippies lösten eine Gentrifizierungswelle aus. Die Jazz-Klubs verschwanden», sagt Steve Dickison, der Lokalpoet. San Francisco lösche Aspekte seiner Vergangenheit einfach aus. «Das passiert in dieser Stadt wieder und wieder.»


Aus: "Nach den Hippies übernahmen die Yuppies" Rory Carroll Übersetzung: mak. (18.6.2017)
Quelle: https://www.nzz.ch/gesellschaft/hippies-yuppies-ld.1301133


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#19
Quote[...] [Matthias Matussek (* 9. März 1954 in Münster) ist ein deutscher Journalist, Publizist und Autor] .... Ich warf meinen letzten Trip 1974, als Nico von Velvet Underground, Eno und John Cale beim Metamusik-Festival in der Berliner Nationalgalerie auftraten. Kein schöner Trip, nicht diese sanfte Lichtflut, die sich in Perlenschnüren auflöst. Berlin bot eine nie abreißende Kette von hochsubventionierten Festivals. Man saß auf Kissen auf dem Boden, Nico hatte eine Art Akkordeon mit Blasebalg dabei, und sie sang die deutsche Nationalhymne, hinein in einen anschwellenden Chor aus Buh-Rufen.

Das war damals die größte Provokation, die sich vorstellen ließ: die Nationalhymne. Es gehörte zum guten Ton, ja zur Selbstverständlichkeit unter Intellektuellen, Deutschland zu hassen, und amerikanische Avantgarde-Künstler fanden diesen merkwürdigen Selbsthass interessant und spielten damit.

Das war ein ganz schlechter Start für diesen Trip. Ich lief hinaus in die Nacht und fühlte mich wie ausgespuckt, lief die zwei oder drei Kreuzberger Kneipen an, die in der Nähe lagen, auf der Suche nach Freunden, nach menschlichen Gesichtern, aber ich fand keine, ich flipperte ein wenig, aber die Krokodile auf dem Flipper-Untergrund bewegten sich und schnappten nach der Kugel, ich stand in Flammen, lief wieder nach draußen und lief über den Mond, über eine verkarstete, leere Einöde im Weltall – einsamer habe ich mich nie gefühlt.
Mein persönliches Ende von Flower-Power.
Die Blumen waren zertrampelt.
Die "One-World"-Blütenträume ausgeträumt.

... nach dem Mauerfall 1989 [erlebte ich], den Zusammenbruch der linken Theorie, allgemeiner: den Offenbarungseid eines Systems, das aus Lügen gezimmert war und einbrach wie eine morsche Theaterkulisse. Da war ich wohl, nach politischer Arithmetik, rechts, ein weiterer Mosaikstein zum "Matussek von heute", denn ich fuhr durchs Land und unterhielt mich mit den Opfern. Einquartiert war ich im Ostberliner Palasthotel.

Tatsächlich ein Kuddelmuddel aus Täter- und Opferbiografien, lauter Flickversuche. Das System der bösen alten verbohrten Männer hatte unendliche Verheerungen, unendliches Leid angerichtet. Vor allem: durch die Lüge in der Sprache. Es gab diese zwei Bereiche, in der Öffentlichkeit hielt man sich an die geforderten Sprachregelungen, in der Küche dagegen wurde Wahrheit geredet. Der Psychiater Maaß sprach vom "Gefühlsstau", der entsteht, wenn eine politisch "falsche" Äußerung zur sozialen Ächtung, zu Berufsverbot und eventuell Gefängnis führt.

Kennen wir das nicht heute wieder, in den Beschwörungen vom "Kampf gegen rechts" und dem "Antifaschismus" als Zivilreligion und "One World" (also Die Internationale, die es selbstverständlich nur als Phrase gab) und "Uns werden Menschen geschenkt"?

Der Krebs der Lüge fraß sich durch alles, all diese Phrasen von "Völkerfreundschaft" und "Solidarität" und "Besserer Zukunft" bis hin zur herrlich skurrilen unbeholfenen Autobahnwerbung "Küken aus Segrehna – gesund, vital, leistungsstark" oder "Electroimpex aus Bulgarien – ein verlässlicher Handelspartner". Aber es waren die moralischen Phrasen, die mich empörten, weil sie die schiere Unmoral, die Zuchthäuser, die nackte und brutale Herrschaft über Andersdenkende versäuselten.

... Mein Thema war Herrschaftskritik, mein Plädoyer war das Recht des Einzelnen auf Dissidententum. Figuren auf der Klippe. Das ist für mich, liebe Freunde und Matussek-Verächter, immer das Spannendste gewesen und geblieben.

... Als in Hoyerswerda 1991 Steine gegen Vietnamesen und Mosambikaner geworfen wurden, war ich als erster zur Stelle und fuhr mit verängstigten Vietnamesen in einem Bus mit gesplitterten Scheiben durch die Nacht, und ich schrieb eine Spiegel-Titelgeschichte über das Progrom an denjenigen, die im Rahmen der "Internationalen Völkersolidarität" hier untergebracht waren, ohne je wirklichen Kontakt zu haben mit "denen, die schon länger dort lebten".

Ich schrieb aber auch über die ratlosen, dumpfen Täter in ihren freudlosen Silos, viele junge darunter, die an den Wänden ihrer Kinderzimmer schwarze Popidole wie Michael Jackson hängen hatten und keine Sprache für ihre Widersprüche, also auf ihre Art Opfer.

... Kurz vor seinem Tod schrieb Chesterton eine fulminante Biografie über seinen Freund, und Shaw sagte: "Man muss mit ihm streiten, um ihn zu bewundern, und ich bin fast stolzer darauf, ihn zum Gegner gehabt zu haben als zum Freund." Einer der Gründe zum Streit war ganz sicher Chestertons orthodoxer Katholizismus. "Zu den Vorzügen der katholischen Kirche" (wie sie damals war) zählte Chesterton insbesondere, "dass sie die einzige Sache ist, die einen von der erniedrigenden Sklaverei befreit, ein Kind seiner Zeit zu sein."

Ein Unzeitgemäßer, den besonders unsere Kirche neu lesen sollte.
Ein Widerständler nach meinem Geschmack.

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Aus: "Wie ich von links nach rechts gelangte" Matthias Matussek (6. Juli 2017)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/2017-07/68er-matthias-matussek-rechtspopulismus-identitaere/komplettansicht

Quotemikeythinks #12

Herr Matussek, ... trösten sie sich, sie sind nicht der einzige, der aus Pop-Gründen irgendetwas war. Ob nun Punk, links, rechts, Skater, Hippie was auch immer. Sie beschreiben eine Vita, die es millionenfach in unserer Republik gab und immer geben wird. ...


Quoteamalgam-pitol #15

Finde die bisherigen Kommentare teilweise zu hart.

Wir haben doch alle unsere Lebenserfahrung in gewissen Milieus gemacht. Auch ich bin mit 20 in eine linke Kommune eingezogen und mit 30 aus einer zum Faschismus mutierten Organisation ausgezogen. Danach Berufsbildung nachgeholt und Steuerberater mit Diplom geworden. Heute fühle ich mich manchmal nicht viel anders als eine Hure - allerdings muss ich nicht meinen Hintern vermieten sondern nur mein Gehirn.

Quintessenz: das Leben ist vielfältiger als jede Ideologie einfangen kann. Und jeder, der sich erhaben fühlt gegenüber seinen verblendeten Mitmenschen verdient mein Mitgefühl - ich hoffe er kommt ins richtige Abteil seines vorgestellten Paradieses im Jenseits.


QuoteLumpaci #25

Matussek und sein Werdegang sind in der Tat so interessant, dass sie in Tychis obskur-sektiererischem "Magazin" (mit Broder und Genossen) am besten aufgehoben ist.

QuoteFreiheit oder Neoliberalismus #25.2

Oder bei "pi-news", wissen schon, die "Islamkritiker" aus der christlich-fundamentalistischen Ecke. Die lieben ihn auch.



QuoteShinee #32

"Wie ich von links nach rechts gelangte"

Wie jeder! Du bist älter geworden.
Deine Eitelkeit verstärkte allerdings den Effekt.


Quote47Ronin #33

Die extreme Linke und die extreme Rechte haben tatsächlich viel gemeinsam. Insofern ist diese "Wandlung" nichts besonderes. Der frühere RAF-Anwalt Horst Mahler wurde ja auch problemlos zum Neonazi.


QuoteMarybeth #34

Man muss nicht zwangsläufig in den Schoß der Kirche fliehen um ein unabhängig denkender Mensch über die Jahre zu bleiben und die verschiedenen Phänomene
nicht nur im Rückblick, richtig einordnen zu können. Wir leben längst nicht mehr
in der Bundesrepublik der 68er, in der man im Gegensatz zu heute, politisch relativ
frei war und seine Gedanken artikulieren konnte. ...


Quote
Tordenskjold #39

Was für eine eitle Selbstbeweihräucherung. Ich war schon in jungen Jahren ein cooler Hund, ich war immer Avantgarde, ich habe tolle Sachen erlebt und getan und gesagt, ich wurde gelobt, geliebt... Ich, ich, ich... Die klebrige Selbstverliebtheit des Herrn M. Ist gelinde gesagt anstrengend.

... Und Avantgarde war er nie. In seiner Jugend links zu sein war damals nix besonderes (Drogenkonsum auch nicht) und im Alter zu einem Rechtspopulisten zu mutieren ist nicht cool sondern angesichts der Lebenserfahrung einfach nur peinlich blöd. Schon als Mitarbeiter des Spiegel ging er mir als rechter, katholischer Klassenclown auf den Wecker. Unvergessen seine "Stilkolumne"- Videos auf Spiegel Online. Matussek hat sich einen "stilvollen" Hut gekauft und stolziert vor laufender Kamera durch Hamburg... Auch da: Ich, ich, ich...


Quoteheragema #45

Nur mal so, Herr Matsussek war 1968 gerade 14 Jahre jung, hatte prägende Erlebnisse im Jesuiten-Kloster nicht erleben dürfen und schloss sich dann einer K-Gruppe an, auch wieder kleine zersplitterte Gruppen evtl. auch der 68er (KPD, KPD-ML, -AO, etc.). Der ,,öffentliche Raum" nach dem Krieg musste von den Jugendlichen erst erobert werden. Erwachsenen geführte Einrichtungen gab es: Sportvereine, Pfadfinder, CVJM, wenige Jugendhäuser, usw., vom ,,Establishment" eingerichtet und kontrolliert (häufig auch geläuterte Nazis – in den öffentlichen Einrichtungen waren z.T. über 60% ehem. NSDAP Mitglieder s.a. AA). Spätestens mit Elvis Presley oder auch Bill Haley entwickelte sich eine Jugendszene jenseits des Erwachsenen-Tanztees. Und bei mehr Selbstständigkeit und zunehmender Politisierung bildete sich eine starke Gruppe der Jugend heraus, vor allem in den Metropolen, die sich gegen die ,,Machenschaften" der Eltern abgrenzen wollte, ein Teil der APO also. Sie suchte aufklärende Literatur, die von ,,ihren Eltern" verbrannt worden war, gestalteten eigene Kunst und Musik, entwickelten alternative Lebens- und Bildungsformen, forderten nie wieder Krieg, mehr Mitbestimmung in allen Bereichen auch Reformen im gesellschaftlichen Leben (,,Reformen" zu der Zeit noch positiv besetzt) usw. Häufig gegen den Protest und in Auseinandersetzung mit den ,,Alten". Das harmloseste was die ,,Jugend" zu hören bekam war noch Entartet, Langhaarige mit ihrer Hottentotten Musik, Nestbeschmutzer, alle vergasen usw.


Quotewoherwohinwarum #46

Bleibt einzig, dass er aus einer Zeit stammt, in der es noch möglich war, ungepamperte Erfahrungen zu machen und das auch getan hat. Der Mumm, in jede Pfütze zu springen und (bisher immer) wieder rauszukommen, immer wieder - und ab in die nächste. Ein experimentelles Leben. Das nehme ich ihm ab. Die Folgerichtigkeit, die er hineininterpretiert, nicht. ...


QuoteMarc87 #47

Vielen Dank für diesen Artikel, vor allem sprachlich habe ich ihn sehr genossen. Thematisch auf jedenfall ein interessanter Wandel, der hier beschrieben wird, entspricht er doch voll und ganz dem Cliché.

Ich persönlich stimme Herrn Matussek auch zu, dass er sich eigentlich nicht verändert hat: Und genau das werfe ich eben den meisten Menschen vor, die zuerst sehr weit links und schließlich sehr weit rechts landen.

Das Weltbild ist immer das Gleiche: Man steht für eine scheinbar unterdrückte Minderheit ein. Dabei ist man immer im Besitz der absoluten Wahrheit, ...


Quotetaxis #64

Der "jugendlich geblieben Held, ist ein Sohn aus gutem Hause der den Aufstand probt. Belesen und eloquent wirft er sich in die Brust, oder nach Bedarf, zu Boden, ist "Melchior Gabor und Felix Krull", "Jake Barnes" and "Statler & Waldorf".
Vom Strom der Zeit mitgerisse, bis zur Mündung, aber immer in Sichtweite des Ufers, der Kaptiän des Floßes auf großer Fahrt, der den Sturm vor Kap Hoorn so schildern kann, dass mir die Gischt im Gesicht zu gefrieren beginnt, ein guter Erzähler.

Ja, er ist sich selbt treu geblieben, immer noch er selbst, verwechselt Pose mit Einstellung und Trotz mit Widerstand.


QuoteHeinz Wescher #70

Kurzform: "Ich war immer antiautoritär und herrschaftkritisch und deswegen bin ich jetzt deutschnationaler Erzkatholik." ...


Quotequarx #77

... Spannend zu lesen wie Herr Matussek in diversen Rollen schlüpft. Rollen, die man sich anhängt: so wie er seine Holzperlen umhängt, oder wohl jetzt einen dreiteiligen Anzug mit Krawatte. Die Rolle die man im Kopf hat, oder zugewiesen bekommt. Eher spricht hier die Neiging um sich selbst zu vergessen und sich im Umkreis finden zu müssen. Selbstvergessenheit, die man zu Häufe findet, am Besten geht das im Kollektiv: sei es laut mit zu brüllen auf einer Demo, natürlich nach Vorgabe des Vorbeters mit seinem Megaphon, im Fussballstadium, beim Mega-Popkonzert, in der kollektiven Salbung eines Gottesdienstes oder hinter einer Fahne der Identitären (Hippe rechte Jungs die ihre Identität suchen). Schlichtweg eine Dämpfung des Selbstbewustseins, auch wenn der eine oder andere Teilnehmer das Gegenteil behaupten würde. ...


Quotewetware #83

Liest sich wie jemand der immer sehr oberflächlich war und sich vielleicht deshalb für einen tollen Überflieger hält, typisch narzistische Nabelschau. ... Wer fast alles in der "Dialektik der Aufklärung" meint anstreichen zu müssen, ist hilflos bei der Lektüre. ...


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Textaris(txt*bot)

#20
QuoteDer Mai 1968 (auch Pariser Mai) bildet das zeitliche Zentrum der 68er-Bewegung in Frankreich. Neben Verbesserungen der Studienbedingungen wurden politische Forderungen zur Arbeitslosigkeit, zur Konsumgesellschaft (Kapitalismuskritik), zur Friedensbewegung (vor allem gegen den Vietnamkrieg, zum Prager Frühling, Internationale Solidarität) und zur Demokratisierung der Gesellschaft erhoben.
Die Unruhen, die nach Studentenprotesten im Mai 1968 zunächst durch die Räumung einer Fakultät der Pariser Universität Sorbonne ausgelöst wurden, führten zu einem wochenlangen Generalstreik, der das ganze Land lahmlegte. Langfristig zog diese Revolte kulturelle, politische und ökonomische Reformen in Frankreich nach sich. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Mai_1968

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QuoteDie Träumer (Originaltitel The Dreamers) ist ein Spielfilm aus dem Jahr 2003. Das Werk des italienischen Regisseurs Bernardo Bertolucci basiert auf mehreren Werken von Gilbert Adair, der auch das Drehbuch schrieb. Vor dem Hintergrund der Unruhen von 1968 in Paris schildert er die erotischen Erfahrungen dreier junger Menschen. ... Ein Grund, diesen Film zu machen, war für Bertolucci das gegenwärtige Unwissen darüber, was die damalige Generation wirklich bewegt hat. Heute wüssten nur noch wenige, dass es Filmbegeisterte gewesen seien, welche die Pariser Mai-Unruhen ausgelöst hätten. Die Beteiligten hofften, die Welt zu verändern, und wussten, dass sie an dieser Veränderung irgendwie beteiligt sein würden. ,,Ich habe keinen historischen Moment erlebt, der einen solchen Glanz hatte, eine solche Magie, einen solchen Enthusiasmus!" Und: ,,Die 1960er Jahre waren für mich die beste Zeit meines Lebens." Er wolle nichts überhöhen, aber das Publikum dazu anregen, wie die Bewegung die Gesellschaft verändert hat. Die Zurückdrängung autoritärer Erziehungsformen, die Stärkung der Demokratie und der Frauen sowie freiere Sexualität seien Errungenschaften, die der Bewegung anzurechnen sind. In den Globalisierungsgegnern sieht er so etwas wie Erben der 1968er-Bewegung.

...  In der Zeit stellte Georg Seeßlen fest, Bertolucci gehe nicht der Frage nach, welchen politischen Sinn der Mai '68 hatte. ,,Es ist nicht der Narziss Bertolucci, der sich noch einmal in die süße Zeit vor der Revolution träumt, es ist der erwachsene Künstler, der nach dem Zusammenhang von Narzissmus, Kino und Revolte fragt. Und nicht bereut, mittendrin in der Groteske der tragischen Kinder gewesen zu sein." Er rechnete Bertolucci hoch an, dass er sich der, je nach Standpunkt, Denunziation oder Zerknirschung verweigere, mit welcher der Mai '68 im Rückblick oft behandelt werde. ,,Es ist, als würde man mit dem Erfolg der Revolte auch die Süße verneinen wollen." Bertolucci hingegen bewege sich lustvoll, leicht und persönlich durch das Thema.


Aus: "Die Träumer" (17. April 2017)
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tr%C3%A4umer

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Louis Malle (* 30. Oktober 1932 in Thumeries, Frankreich; † 23. November 1995 in Los Angeles) war ein französischer Filmregisseur und Drehbuchautor.
https://de.wikipedia.org/wiki/Louis_Malle

Quote[...] Eine Komödie im Mai (Milou en mai) ist ein Film von Louis Malle aus dem Jahr 1990, der in Château du Calaoue im Département Gers gedreht wurde.

Handlung: Als die betagte Madame Vieuzac im Mai 1968 in der südfranzösischen Provinz stirbt, reist ihre Familie zur Beerdigung an. Da infolge des Generalstreiks auch die Totengräber streiken, ist die Familie gezwungen, länger als geplant zu verweilen. Aufgewühlt durch spärliche Informationen aus dem Radio und einen später dazustoßenden Neffen, der von den Ereignissen in Paris berichtet, wähnt man sich in der Anarchie und überlegt, wie man unter diesen Rahmenbedingungen die Zukunft gestaltet. Durch eine Rede De Gaulles wird der Generalstreik beendet, die Totengräber erledigen ihre Arbeit und die Familienangehörigen reisen ab.

... Lexikon des internationalen Films: ,,Eine heiter-melancholische Gesellschaftskomödie, die nuancenreich und mit feinem Gespür Stimmungen und Empfindungen einfängt. Zwischen leiser Wehmut und subtiler Heiterkeit trauert Louis Malle sowohl um den Untergang einer großbürgerlichen Lebensart als auch um das vorprogrammierte Scheitern der Utopie der rebellierenden Jugend."
Prisma-online: ,,Louis Malle schuf eine heiter-melancholische Gesellschaftskomödie über das Scheitern einer Revolte, die ein ganzes Land bewegte und für wenige Stunden auch den Alltag einer großbürgerlichen Familie durcheinanderwirbelt. Malle zeigt ein ironisches Bild der französischen Bourgeoisie mit einer Unmenge guter und witziger Ideen (wunderbar: der Versuch der Gesellschaft, freie Liebe zu praktizieren), aber auch etwas Wehmut, da von der rebellischen Zeit Ende der 60er Jahre kaum etwas geblieben ist. Eine überzeugende, meist feinsinnig, mitunter auch derb sarkastische Komödie mit brillanten Darstellern."


Aus: "Eine Komödie im Mai" (30. Mai 2017)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Eine_Kom%C3%B6die_im_Mai


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Quote[...] Die Axel-Springer-Straße gibt es noch – als unbedeutenden Abzweig der vorfahrtberechtigten Rudi-Dutschke-Straße.


Aus: "Korrekturen & Klarstellungen: Dutschke, Springer, Reiser, Koch" (19.8.2017)
Quelle: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5435198&s=Rudi-Dutschke-Stra%C3%9Fe&SuchRahmen=Print/

Quote[...] Die Rudi-Dutschke-Straße ist eine Straße im Berliner Ortsteil Kreuzberg. Sie führt als Fortsetzung der Oranienstraße von der Lindenstraße/Axel-Springer-Straße bis zur Friedrichstraße, wo sie in die Kochstraße übergeht. Die Rudi-Dutschke-Straße entstand nach jahrelangen politischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen durch Umbenennung des östlichen Abschnitts der Kochstraße. Die Umbenennung, die durch die überregionale Tageszeitung taz angeregt worden war, wurde am 30. April 2008 mit der Enthüllung eines Straßenschildes an der Rudi-Dutschke- /Ecke Axel-Springer-Straße vor dem Axel-Springer-Hochhaus vollzogen. ... Ein Mehrheitsbeschluss der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg sah zunächst die Umbenennung eines Teils der Kochstraße zum 1. April 2006 vor. Diese schob das Verwaltungsgericht am 29. August 2005 auf Klage von Anwohnern, darunter der Axel Springer AG und der Bundesingenieurkammer, auf. Während die taz seit Februar 2006 Unterschriften für die Umbenennung sammelte, initiierte die CDU des Bezirks eine Unterschriftenliste für ein Bürgerbegehren gegen eine Umbenennung. Durch diese kam ein Bürgerentscheid zustande, in dem eine Mehrheit am 21. Januar 2007 die Aufforderung an das Bezirksamt, die Umbenennung zurückzunehmen, ablehnte.

Am 9. Mai 2007 gab das Berliner Verwaltungsgericht bekannt, dass die Umbenennung rechtens sei und keine Grundrechte der Anlieger verletze, und lehnte damit die Anwohnerklage ab. Die Berufung ließ das Gericht nicht zu. Die Klägergemeinschaft beantragte daraufhin die Zulassung auf Berufung beim Oberverwaltungsgericht.[2] Am 21. April 2008 wies dieses den Antrag zurück: Die Umbenennung könne als Ausdruck der Meinungs- und Informationsfreiheit verstanden werden und sei daher kein Verstoß gegen Willkürverbot und staatliches Neutralitätsgebot. ...


Aus: "Rudi-Dutschke-Straße" (27. August 2017)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Rudi-Dutschke-Stra%C3%9Fe

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Quote[...] Geht es nach der Linkspartei, wird dem verstorbenen Rockmusiker Rio Reiser demnächst ein Platz in Kreuzberg gewidmet – und zwar der Mariannenplatz. Einen entsprechenden Antrag brachte die Linksfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ein. Fraktionschef Oliver Nöll begründet die Forderung mit der Bedeutung, die der 1996 verstorbene Reiser und seine Band Ton Steine Sterben für den Bezirk hätten, sowie seines kulturellen und politischen Wirkens in der linken Bewegung. Die Gedenkplakette am Tempelhofer Ufer 32, wo die Band in den 70er Jahren gemeinsam wohnte, sei dafür unzureichend.

Die Fraktion fordert die Umbenennung eines Teils des Mariannenplatzes, den Reiser in seinem ,,Rauch-Haus-Song" während der Besetzung des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses besang (,,Der Mariannenplatz war blau, so viele Bullen waren da"). Konkret geht es um den Abschnitt zwischen Mariannen- und Waldemarstraße. Fraktionsübergreifend stimmte die BVV der Überweisung des Antrags an den Kulturausschuss zu. Der soll gemeinsam mit dem Ausschuss für Gleichstellung und Frauen eine mögliche Umbenennung prüfen.

Doch der Rio-Reiser-Plan hat einen Haken: Der Bezirk hat sich 2005 eine Frauenquote von 50 Prozent verordnet. Bis die erreicht ist, sollen Straßen und Plätze nur noch nach Patinnen benannt werden. So gibt es am Mariannenplatz, der schon nach einer Frau benannt ist, eigentlich nichts zu rütteln: Namensgeberin ist die Prinzessin von Preußen, Maria Anna (1785-1846).

Bei Rio Reiser jedoch sei eine Ausnahme möglich, sagte der Chef des Kulturausschusses, Werner Heck. Schließlich habe sich Reiser, der sich offen zu seiner Homosexualität bekannte, stark für Schwulenrechte engagiert, womit er sich ebenfalls für einen Straßennamen qualifiziere. Der Grüne-Verordnete erinnerte zudem an die Ausnahme bei der nach dem linken Aktivisten Silvio Maier benannten gleichnamigen Straße in Friedrichshain. ,,Fragwürdig", sagte Heck, sei hingegen eine ,,Umbenennung von oben". Deshalb soll es noch in diesem Jahr eine Öffentlichkeitsbeteiligung mit Anwohnern und Bekannten Reisers geben, in der die Umbenennung diskutiert werde.

Naturgemäß wenig begeistert ist die CDU. ,,Rio Reiser war bekanntermaßen ein prominenter Befürworter der Hausbesetzerszene. Wir sind der Meinung, dass es genug andere Menschen gibt, die hier ihren Lebensmittelpunkt hatten und sich um den Bezirk verdient gemacht haben", sagte Fraktionsvize Götz Müller. Obwohl seine Fraktion die Umbenennung ablehnt, unterstützt sie die formale Prüfung durch die Experten des Kulturausschusses.

Er störe sich grundsätzlich nicht daran, dass es sich um einen männlichen Namensgeber handle, sondern um die Person Reisers an sich. ,,Das ist Kreuzberger Landrecht, das da wieder gemacht wird", sagte er – und erinnerte an den Streit um die Umbenennung des Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platzes, bei dem der Bezirk an der Frauenquote festhielt. Im August bezeichnete Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) die Idee eines Rio-Reiser-Platzes als ,,Wahlkampfgag". Man darf gespannt sein, was die Kreuzberger von der späten Würdigung ihres berühmten Botschafters halten.

QuoteNoraZech 04.10.2017, 21:59 Uhr
"Rio-Reiser-Platz" für den Mariannenplatz wäre dufte! "Die CDU ist schwer empört..." steht ja auch schon im Songtext. Allerdings kommt das alles 20 Jahre zu spät. Die heutige "Beer & Burger"-Partyjugend in Kreuzberg kann mit Ton, Steine, Scherben nichts mehr anfangen.



Aus: "Berlin-Kreuzberg: Teil des Mariannenplatzes soll nach Rio Reiser benannt werden" (04.10.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-kreuzberg-teil-des-mariannenplatzes-soll-nach-rio-reiser-benannt-werden/20413612.html

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Quote[...] Er war das Phantom des Terrorjahres '77 und ist noch heute schwer aufzufinden. In der ,,taz" von 2001 steht eine vage Ortsangabe: ,,24 Jahre lang lebte er unerkannt in Lüdenscheid, Kanton und Wittenberg." Was für ein Satz!

Damals hatte der ,,Göttinger Mescalero" sein Geheimnis gelüftet. Klaus Hülbrock, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, hatte im April 1977 in einer Asta-Zeitung den Artikel ,,Buback – Ein Nachruf" geschrieben, in dem er ,,klammheimliche Freude" über den Mordanschlag auf den Generalbundesanwalt gestand. Hülbrock schuf damit ein Schlagwort für diese paranoide Zeit.

Nach seinem Bekenntnis verschwand er wieder aus der Öffentlichkeit. Verwandte blockten Interviewanfragen ab, hieß es damals, bis sich seine Spur wieder verlor. In diesem Sommer 2017, weitere 16 Jahre später, meldete Hülbrock sich in der politischen Debatte zurück. Diesmal schrieb er eine markige Abrechnung mit den G20-Randalierern: ,,Die Marschkolonne, der Block in der Demonstration ist eine Hirnblockade." Dabei hinterließ er seine Mailadresse.

Hülbrock antwortet prompt. Mittlerweile wohnt er in Weimar. ...  Das Pseudonym habe er sich damals spontan ausgedacht, sagt er. ,,Ich konnte ja nicht meinen richtigen Namen druntersetzen." Doch welches Ausmaß die Aufregung um seine Person annahm, verwundert ihn bis heute. ,,Ich habe einen Toten getreten, ja, tut mir leid! Würde ich auch nie wieder machen", versichert er lachend. ,,Aber das ist doch keine Staatsaffäre wert!"

Hülbrocks Passage um die ,,klammheimliche Freude" vervielfältigte sich, bis sie eine Druckauflage wie sonst nur die Bibel und das Telefonbuch erreichte, so schrieb es der ,,Spiegel" damals. Die Formulierung traf einen Nerv, weil das bürgerliche Deutschland darin die Geisteshaltung vieler Studenten zu erkennen glaubte. Die CDU kaperte sie sich als Kampfbegriff: Der Linken wurde damit eine Gesinnungsgenossenschaft mit den mordenden Terroristen unterstellt, eine weltanschauliche Kluft zwischen rechts und links behauptet, die es auch damals so nicht gab.

Im Laufe des Jahres 1977 wurde die Verfolgung von Terroristen auf deren vermeintliche Sympathisanten ausgeweitet, auf diejenigen, die sich zwar nicht offen, aber womöglich klammheimlich über die Morde freuten. Dass die Staatsfeinde nicht gleich erkennbar waren, ließ sie umso bedrohlicher erscheinen. 69 Männer und Frauen, die den Nachruf nachgedruckt hatten, wurden sogar vor Gericht gestellt. Das ist die seltener erzählte Seite des Deutschen Herbstes und zugleich ein Lehrstück über Worte und ihre Wirkung.

Klaus Hülbrock steht von der Bank auf, nimmt seine Aktentasche und läuft auf die nahe gelegene Bäckerei zu, die er für das Interview ausgesucht hat. ,,Wir hatten nun wirklich keinerlei Sympathie mit den RAF-Leuten", sagt er. ,,Sehen Sie: Eine solche Aktentasche voll mit Büchern und Papieren war schon damals mein Markenzeichen. Können Sie sich Baader mit so einem Täschchen vorstellen? Höchstens mit einer ausgebeulten Lederjacke, weil er da eine Waffe drunter hatte."

Ein Verkaufsraum mit Kuchentheke, drumherum Tische, alle frei. Hülbrock setzt sich auf die hinterste Bank. Er war damals Student der Germanistik und Volkskunde, erzählt er. Für die ,,Bewegung Undogmatischer Frühling", kurz BUF, ein Zusammenschluss von Frauengruppen, Spontis, Pazifisten, saß er im Asta. Die BUF war der kleine Koalitionspartner der ,,Sozialistischen Bündnisliste", bei der Jürgen Trittin eine führende Rolle spielte.

Im Namen der BUF hat Hülbrock auch den Buback-Nachruf geschrieben. An einem Samstagmorgen kurz vor der Deadline, in großer Eile. Zwischendurch musste er wie jedes Wochenende Erbsensuppe für seine Freundin kochen. ,,Das Ding irgendwie fertigzukriegen, war meine wahre Intention beim Schreiben des Textes", sagt er.

Die Formulierung ,,klammheimliche Freude" sei eine Eingebung gewesen, nicht reiflich überlegt. Hülbrock gibt nicht den Profi, mehr den genialen Dilettanten. Kurz entschlossen war auch die Wahl des Decknamens: Mescalero, wie ein übel beleumundeter Indianerstamm. Das passte zum Text, fand er. Zusammen mit einem Freund brachte er das Manuskript auf den letzten Drücker zum Redaktionstisch. Zeit zum Gegenlesen blieb keine [Zeit].

Hülbrock erinnert sich, dass in den ersten Tagen nach dem Erscheinen wenig passierte. Die beiden Worte entfalteten ihre Wirkung nicht von selbst. So ist das meist. Es bedarf oft jemandem, der in karrieristischer Absicht einen Text nach skandalisierungsfähigem Material durchsucht, und es – wenn nötig – aus dem Zusammenhang reißt.

In dem Fall könnte es Friedbert Pflüger gewesen sein, der Chef des CDU-Studentenverbandes und damit Gegenspieler der BUF, glaubt Hülbrock. Pflüger arbeitete später als Redenschreiber für Richard von Weizsäcker, er war ein Mann von großem Ehrgeiz, den er wieder bewies, als er vor zehn Jahren die Berliner CDU übernehmen wollte. Pflügers Studentenverband hatte im April 1977 Strafantrag gestellt und einen offenen Brief geschrieben, der an die Medien ging. Darin wurden nur Textauszüge zitiert.

In den darauffolgenden Wochen wurde der Asta von Journalisten belagert, erzählt Hülbrock. Sogar Gerhard Löwenthal, der Leiter eines ZDF-Magazins, stand vor der Tür. Er selbst habe Löwenthal aus dem ersten Stock einen Eimer Wasser übergeschüttet. Hülbrock lacht. Das ist die Art von Wehrhaftigkeit, die er mag. Widerstand als Schelmenstück. Löwenthals Dusche sei im Fernsehen gelaufen. Niemand ahnte, dass der Mescalero persönlich am Fenster gestanden hatte.

Das Spiel ,,Ich weiß was, was ihr nicht wisst" hat ihm gefallen. Ein gewisser Stolz kam hinzu über die plötzliche Bedeutung. Doch beides wurde überlagert vom ,,Entsetzen" darüber, dass seine prägnante Formulierung zum Kondensat des Textes erklärt wurde. Ja, er habe momentan eine klammheimliche Freude empfunden, räumt Hülbrock ein, aber schnell schon nicht mehr. Er habe das Gefühl aufgegriffen, um die wenigen Göttinger Sympathisanten abzuholen. In seiner Argumentation habe er sich dann klar von Gewalt distanziert. Wörtlich steht da, ,,unser Weg zum Sozialismus" dürfe nicht ,,mit Leichen gepflastert" werden. ,,Ich dachte mir: Können die nicht lesen?"

Die ,,Frankfurter Rundschau" schrieb von ,,krankem Gehirn", die ,,FAZ" von ,,Wasserspender des Terrors". ,,Heute würde der Artikel vielleicht einen Shitstorm auslösen und in drei Tagen vorbei sein", sagt Hülbrock. Damals hätten Politik und Presse eine ,,Hetzmasse" mobilisiert. ,,Wenn ich nicht den starken Decknamen gehabt hätte, wäre ich aus der bürgerlichen Existenz gejagt worden. Ich hätte die Uni verlassen müssen."

Einmal durchsuchte das BKA seine Wohnung. Doch die Frau eines Professors, die bei der Justiz arbeitete, hatte ihn vorgewarnt. So konnte er seine Schreibmaschine und seinen Schäferhund wegschaffen. ,,Sonst hätten die ihn noch erschossen und behauptet, er habe sich selbst umgebracht", sagt er – eine Anspielung auf die damals grassierende Paranoia der Linken.

Etwa hundert Leute hätten gewusst, dass er der alleinige Urheber des Textes war. Aber auf ihr Schweigen war Verlass. Unterdessen wurde ein Kommilitone von der ,,Gewaltfreien Aktion", der als Herausgeber der Asta-Zeitung namentlich bekannt war, wegen Gewaltverherrlichung zu drei Monaten Haft verurteilt. ,,Ausgerechnet dieser Pazifist", sagt Hülbrock lachend.

Auch für Hülbrock, der unerkannt und unbehelligt blieb, bestimmte die Affäre sein weiteres Leben. ,,Als Nachwirkung" sei sein Privatleben ,,aus dem Ruder gelaufen", glaubt er. ,,Vielleicht ist es ja so: Wenn man schon inkriminiert wird, so ein Arsch zu sein, dann glaubt man, auf gewissen Gebieten ein bisschen verwahrlosen zu können." Mehr will er dazu nicht sagen. Nur, dass er ans Scheitern seiner Beziehung mit viel größerem Bedauern zurückdenkt als an die Buback-Geschichte.

Hülbrock ergriff die Flucht nach China. Er nahm einen Lehrauftrag für Deutsch als Fremdsprache in Kanton an. Die ,,Stern"-Reporterin Edith Kohn traf ihn dort Ende der 80er zufällig, als sie über die aufständischen Studenten recherchierte. Beide waren im selben Wohnheim untergebracht. Auch sie verriet ihn nicht.

Hülbrock wäre gern in China geblieben. Doch mit dem beginnendem Wirtschaftsboom reichte sein Gehalt nicht mehr. 1992 zog er nach Lüdenscheid, zur Mutter unters Dach. ,,Die Rückkehr war eine fürchterliche Bauchlandung", sagt er. ,,Irgendwie kam ich nicht mehr klar. Ich ging nicht unter Leute, sondern nur mit dem Hund in den Wald."

1998 bot ihm eine chinesische Bekannte eine Dozentenstelle an der Uni Halle/Wittenberg an. Seine Rettung. Nun wollte Hülbrock sein Geheimnis lüften. Er schrieb Bubacks Sohn Michael einen Brief, gab sich als Nachruf-Autor zu erkennen, beteuerte, dass ihn die auf Siegfried Buback gemünzten Aussagen schmerzten. ,,Die tun mir immer noch weh", sagt er. Buback antwortete, lancierte den Brief aber nicht in den Medien. Ob er ihm nicht glaubte?

Drei Jahre später beschuldigte Buback Jürgen Trittin, Verantwortung für die Mescalero-Schrift zu tragen. Daraufhin schrieb Hülbrock ihm erneut: ,,Der hat nun wirklich nichts damit zu tun. Ich bin das scharfe Schwarz. Der Niemand, auf den Sie trefflicher zielen können." Diesmal ließ er den Brief über seine Mutter ,,Report Mainz" zukommen – zur Weitergabe an Buback. Am selben Nachmittag kam das Bekenntnis in den Nachrichten.

Jetzt schaut Hülbrock auf die Uhr: halb drei. Normalerweise halte er um diese Zeit Mittagsschlaf, sagt er. Seit ein paar Jahren ist er Rentner. ,,Gott sei Dank, ich bin auf dem Schrottplatz, wo ich hinwollte." Die Schrottplatzperspektive habe ihm immer gefallen.

Hülbrock pflegt ein spottlustiges Außenseitertum. In schonungslosen Worten spricht er auch von sich selbst. 1980 urteilte der Bundesgerichtshof, dass der Buback-Nachruf nichts Strafbares enthält. In den sozialen Medien fallen heute brutalere Aussagen. Da schreibt einer, dass er gerne ein Enthauptungsvideo von Renate Künast sehen würde, ein anderer fordert Merkels Hinrichtung. Beides wurde weit weniger empört aufgenommen als Hülbrocks Begriff. Deutschland ist dickhäutiger geworden, aber das ist es nicht nur.

Vielleicht liege die Stärke der Formulierung darin, dass die Wortkombination ,,eine Ambivalenz" in sich trage, mutmaßt Hülbrock. ,,Dass es keine helle Freude ist, sondern eine getrübte. Mit einer Verklemmung drin. Manche würden es Feigheit nennen." Hülbrock kann den Erfolg seiner Schöpfung nicht richtig begreifen, zumal es politisch betrachtet kein Erfolg für ihn war. Die Worte verselbstständigten sich. Hülbrock hat seine Gegner bewaffnet. Das ist die Tragik des lustigen Mescalero.

Er ist nach wie vor Antikapitalist, auch wenn ihm viele Linke fremd sind. ,,Hooligans und Linksradikale werden einander ähnlicher", sagt er. ,,Der Block im Stadion, der Block auf der Straße – welche Unterschiede sind da noch?"

Radikal wäre es eher, neue demokratische Formen zu erproben, beispielsweise ,,die Kunst der Versammlung" einzuüben. Bislang werde dort ja nur versucht, ,,die Leute auf eine Linie zu bringen, möglichst auf die Linie des vorne Sitzenden". Durchsetzen sollen das die Jüngeren.

Hülbrock läuft zum Bus nach Weimar West. Ein radikal unauffälliger Mann. Vielleicht meldet er sich ja in ein paar Jahren wieder zu Wort.



Aus: "Buback-Nachruf von 1977 - Der Klammheimliche: Eine Begegnung mit Klaus Hülbrock" Barbara Nolte (17.10.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/buback-nachruf-von-1977-der-klammheimliche-eine-begegnung-mit-klaus-huelbrock/20452424.html

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Quote[...] Bis 21.32 Uhr an diesem 10. Oktober 1986 ist der Taxifahrer, der vor der Buchholzstraße 34a in Bonn-Ippendorf angehalten hat, nur ein 24-jähriger Student, der sich Geld für die Uni verdient. Eine Minute später wird er Zeuge eines brutalen Mordes. Sein Fahrgast holt gerade zwei Aktentaschen aus dem Kofferraum, als aus der Dunkelheit eine Person auftaucht, etwa 1,65 Meter groß, vermummt mit einer Wollmütze, eine Pistole in der Hand. Zwei Schüsse knallen durch die Nacht, sie treffen Gerold von Braunmühl in den Oberkörper. Der 51-Jährige schleppt sich hinter einen VW Scirocco. Dann taucht ein zweiter Vermummter auf, nach zwei Schüssen in den Kopf bleibt von Braunmühl tot auf der Straße liegen.

,,Das Kommando Ingrid Schubert" der Roten Armee Fraktion hat einen weiteren Mordanschlag verübt.

Gerold von Braunmühl ist kein Prominenter, ,,nur" Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt, aber ein enger Vertrauter von Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Niemand hätte gedacht, dass solch ein Mann zum Opfer der RAF werden könnte. Die Mörder sind bis heute nicht gefunden. Es gibt nicht mal Verdächtige.

Der Fall von Braunmühl ist Teil einer traurigen Liste ungeklärter RAF-Attentate, alle verübt von der dritten Generation der RAF, die zwischen 1984 und 1993 bombt und mordet. Aber erst am 20. April 1998 erklärt die RAF in einem siebenseitigen Schreiben, dass sie sich an diesem Tag auflösen werde. Von Reue ist keine Rede. Stattdessen endet die Erklärung mit einem Zitat von Rosa Luxemburg: ,,Die Revolution sagt: Ich war/ich bin/ich werde sein".

22 Gewalttaten hat sie verübt, nur zwei konnten vollständig aufgeklärt werden. ...

Entweder sind die Fälle gar nicht geklärt und es gibt nicht mal einen Verdächtigen, oder aber es gibt noch viele Unklarheiten.
Ein Auszug aus der Liste: 1985 wird der Vorstandsvorsitzende des Konzerns MTU, Ernst Zimmermann, in Gauting bei München besonders brutal ermordet. Die RAF-Attentäter setzen ihn in seinem Schlafzimmer auf einen Stuhl und töten ihn mit einem Genickschuss.

1985 wird der US-Soldat Edward Pimental in Frankfurt ermordet, ebenfalls mit Kopfschuss. Die RAF benötigt seinen Armee-Ausweis, damit sie auf die Air Base in Frankfurt kommt. Dort zündet sie eine Bombe. Zwei Tote.

1986 jagt die RAF in Straßlach bei München das Siemens-Vorstandsmitglied Karl Heinz Beckurts und seinen Fahrer mit einer Bombe in die Luft, die am Straßenrand deponiert war. Beckurts und Goppler sind sofort tot.

1989 wird Alfred Herrhausen, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, mit einer Bombe getötet, die durch eine Lichtschranke ausgelöst wird.

1991 ermordet ein Scharfschütze aus 63 Metern Entfernung Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder in dessen Haus.

Birgit Hogefeld wurde unter anderem wegen ihrer Beteiligung am Pimental-Mord und am Air-Base-Anschlag zu lebenslanger Haft verurteilt. Wegen dieser Delikte erhielt auch das RAF-Mitglied Eva Haule eine lebenslange Gefängnisstrafe. Aber wer sonst noch an diesen Taten beteiligt war – niemand weiß es. Es gibt kaum Verhaftungen von Mitgliedern der dritten Generation. Die Polizei konnte Haule 1986 nur dank eines Tipps festnehmen, in einem Rüsselsheimer Eiscafé. Ein Mann, bei der Polizei genervt als ,,Oberverdachtsschöpfer" bekannt, hatte die Polizisten auf die Spur gebracht. Hogefeld und Grams wurden durch einen V-Mann des Verfassungsschutzes verraten.

Im November 2013 findet im Bundeskriminalamt eine Besprechung statt, mit Bundesanwälten und Kripoleuten. Thema: Bilanz der Fahndung nach RAF-Mitgliedern. Sie fällt überaus ernüchternd aus. Bundesanwalt Rainer Griesbaum, der führende Mann bei der Fahndung nach den Tätern, sagt: ,,Wir haben alle Ermittlungsansätze abgearbeitet, es gibt keine neuen Erkenntnisse."

Es gab schon vorher keine neuen Spuren, weil diese Generation keine hinterlassen hatte. Mitglieder der ersten und zweiten Generation hinterließen Fingerabdrücke, fuhren mit gestohlenen Autos, lieferten genügend Hinweise, so dass einige per Rasterfahndung aufgespürt werden konnten. Die letzten RAF-Mitglieder bewegten sich (und bewegen sich immer noch) ,,völlig unauffällig", sagt Griesbaum. ...

Nach dem Mord an Gerold von Braunmühl schreiben seine Brüder einen offenen Brief an die RAF. Die ,,taz" druckt ihn auf Seite eins. ,,Wer macht Euch zu Auserwählten Eurer elitären Wahrheit? Gibt es etwas außerhalb Eurer grandiosen Ideen, was Euch erlaubt, einem Menschen Eure Kugeln in den Leib zu schießen?"

Die RAF hat nie geantwortet.

QuoteMaria_M 12:00 Uhr
... Ich frage [mich], warum Bachner hier alle diese Morde so sicher der RAF zuschreibt. ...



Aus: "Aufarbeitung der RAF-Morde: Die Ohnmacht nach der Bombe" Frank Bachner (18.10.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/aufarbeitung-der-raf-morde-die-ohnmacht-nach-der-bombe/20468178.html

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#24
Quote[...] Der damalige Arbeitgeberpräsident Schleyer war nach sechswöchiger Geiselhaft im Oktober 1977 von der linksterroristischen Roten Armee Fraktion (RAF) erschossen worden. Zuvor war der Versuch gescheitert, mit der Entführung führende RAF-Mitglieder aus der Haft freizupressen. Andreas Baader und andere begingen daraufhin Selbstmord. "Viel zu lange hielt sich die Märtyrerlegende vom Justizmord an den Häftlingen", sagte Steinmeier. "Wahn und Lüge umgaben die RAF-Geschichte über Jahrzehnte."

... Zu der Veranstaltung im Schloss Bellevue waren auch Angehörige der Opfer und Terrorismusexperten wie der Autor Stefan Aust eingeladen.

Quote
Am 18. Oktober 2017 um 13:13 von Moderation
Schließung der Kommentarfunktion

Liebe User,

wegen der hohen Anzahl der Kommentare auf meta.tagesschau.de kann diese Meldung nicht mehr kommentiert werden.
Wir bitten um Ihr Verständnis.

Mit freundlichen Grüßen
Die Moderation



Aus: " Steinmeier-Rede "Tun wir genug? Nein"" (18.10.2017)
Quelle: https://www.tagesschau.de/inland/steinmeier-rede-terrorismus-101.html

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Quote[...]  Dieter, Mittwoch, 04.Oktober 2017, 10:57 Uhr
4. Die RAF -Zeit

Die geschmähte Bonner Republik brachte den Deutschen nicht bloß den größten Wirtschaftswunder-Wohlstandsschub ihrer Geschichte. Zum ersten Mal formierte sich eine sozial verfasste Gesellschaft, ein Wohlfahrtsstaat, der seinesgleichen suchte. Man integrierte Millionen Vertriebener und Flüchtlinge und achtete auf sanften Ausgleich nach innen wie nach außen. Dieses Adenauer-Deutschland versöhnte sich mit allen Nachbarn und legte den Grundstein für ein neues Europa - die beste Idee, die man auf diesem geschundenen Kontinent seit Generationen hatte. ...

    Antwort von Leonia, Mittwoch, 04.Oktober, 12:15 Uhr

    Nicht das "Spießige" und "Miefige" der 50er und 60er war für den wirtschaftlichen Erfolg grundlegend, sondern die enorme Nachfrage nach Gütern aufgrund der weitreichenden Zerstörungen durch den selbst angezettelten Krieg. Zudem darf nicht vergessen werden, dass der Westen Deutschlands seine noch vorhandenen Industrieanlagen und verbliebene Infrastruktur wie Gleise weiterhin nutzen konnte und nicht wie der Osten, der sie als Reparationen an Russland verlor.
    Hätte nicht die Jugend damals von diesem Mief die Schnauze voll gehabt, hätte der die positive Entwicklung binnen kurzem erstickt. Es mangelte damals schon an Arbeitskräften, aber die Frauen mussten sich damals vom Ehemann bescheinigen lassen, dass sie Arbeit suchen durften und fehlten größtenteils dem Arbeitsmarkt. Während der ersten großen Koalition entstand die außerparlamentarische Opposition (APO). Nach der großen Koalition entwickelte sich die Friedensbewegung daraus und leider auch eine kleine extremistische Gruppe, die RAF.




Aus Kommentaren zu: https://www.br.de/nachrichten/raf-terror-deutscher-herbst-story-100.html

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Quote[...]Der "Tatort: Der rote Schatten" hat die Geschehnisse rund um den sogenannten Deutschen Herbst und Todesnacht von Stammheim wieder aufgerollt. Hannes Jaenicke spielt im Krimi einen V-Mann für den Verfassungsschutz, der in den 1970er-Jahren gegen die RAF eingesetzt war. Tatsächlich war der in Frankfurt am Main geborene Schauspieler im Herbst 1977 zarte 17 Jahre jung. An die Zeit kann er sich trotzdem gut erinnern.

"Ich [war] längst politisiert, weil ich a) auf eine erzkonservative, komplett spaßbefreite Schule in Bayern ging und b) RAF, Alt-Nazis, Antisemitismus, Vietnamkrieg, Franz Josef Strauß et cetera Dauergesprächsthemen in meiner Familie waren", erinnert sich Jaenicke. Er habe das Glück gehabt, von Eltern großgezogen worden zu sein, "die durch und durch anständige Sozialdemokraten und engagierte Willy-Brandt-Unterstützer waren".

Für seine "Tatort"-Figur zieht Jaenicke eine nüchterne Bilanz. "Das Böse setzt sich nun mal leichter und schneller durch als das Gute", erklärt der 57-Jährige. "Es ist faszinierend, sich mit einem Charakter auseinanderzusetzen, der als Idealist anfing und als desillusioniertes, zynisches Wrack endet. Die Entwicklung dahin kann ich verstehen, den mangelnden Kampf dagegen nicht."

Über die "Todesnacht von Stammheim", auf die Regisseur Dominik Graf in seinem "Tatort" Bezug nimmt, möchte Jaenicke nicht spekulieren. "Ich bin kein Anhänger von Verschwörungstheorien", sagt er. Doch er räumt ein, immer starke Zweifel am Wahrheitsgehalt dessen gehabt zu haben, "was Politik und Medien uns seit 1977 über die RAF, deren Selbstmorde und Attentate kommuniziert haben".


Aus: "Jaenicke über RAF-"Tatort": "Das Böse setzt sich leichter durch"" (16. Oktober 2017)
Quelle: http://www.n-tv.de/leute/Das-Boese-setzt-sich-leichter-durch-article20084939.html

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Quote[...] "Der rote Schatten" nahm sich die Bilder, die allbekannt die 1970er-Jahre illustrieren, die Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF, um sie schneller zu schneiden, elliptischer das Material zu durchforsten, damit der Authentizitäts-Retro-Grusel, der noch von jedem wieder abgedruckten RAF-Fahndungsplakat ausgeht, nicht wohlig den Rücken runterrauscht. Sondern damit die Frage gestellt werden kann, was uns an diesen Bildern interessiert, heute noch, was sie eigentlich erzählen.

Über die sogenannte "Nacht von Stammheim" etwa, als Baader, Ensslin, Raspe starben nach der Befreiung der Lufthansamaschine "Landshut": War es Mord, war es Selbstmord? Oder kann so etwas nur geschehen, wenn sich die verfeindeten Blöcke – der Staat und seine Feinde – besser kennen, als es nach außen scheinen mag? Und der Selbstmord etwas ist, von dem der Staat zumindest wusste? Dies legt "Der rote Schatten" jedenfalls auf spekulativ interessante Weise nahe. ...

Nach der Ausstrahlung formulierte Stefan Aust harsche Kritik an Dominik Grafs "Tatort": Der Film betreibe "Propaganda für die RAF". Wir haben bei Brigitte Dithard nachgefragt, die beim SWR als Filmredakteurin seit vielen Jahren für den "Tatort" verantwortlich ist. Die Kritik treffe sie nicht, sagte sie im Deutschlandfunk Kultur. Dies liege schon am Begriff "Propaganda". "Wer Propaganda betreibt, beansprucht die eindeutige Deutungshoheit über ein bestimmtes Faktum und lässt andere Deutungen nicht zu." Doch der Film "diskutiert mehrere Thesen. ... Der Film entscheidet sich nicht für eine ganz konkret." Dadurch lasse der Film viel offen. "Das ist das Gegenteil von Propaganda", so Dithard.


Aus: ""Tatort" von Dominik GrafKein RAF-Retro-Grusel" Matthias Dell (16.10.2017)
Quelle: http://www.deutschlandfunkkultur.de/tatort-von-dominik-graf-kein-raf-retro-grusel.2150.de.html?dram:article_id=398309

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Quote[...] Stuttgart - Der Journalist und RAF-Experte Stefan Aust hat die Darstellung der Todesnacht von Stammheim im Stuttgart-«Tatort» als RAF-Propaganda kritisiert. Im «Tatort» am Sonntagabend war die Frage offen geblieben, ob die Terroristen der «Roten Armee Fraktion (RAF) sich 1977 im Gefängnis das Leben nahmen - oder doch ermordet wurden. «Es gibt keine ernstzunehmenden Zweifel daran, dass es Selbstmord war», sagte Aust der «Bild»-Zeitung. Im «Tatort» «Der rote Schatten» wurde der Mord an den Gefangenen der RAF in zwei Versionen inszeniert, auch als Mord durch eine geheime Truppe. «Das wird bei den Zuschauern hängen bleiben», kritisierte Aust, Autor des Buches «Der Baader-Meinhof-Komplex». «Ich halte das für sehr problematisch. Das ist RAF-Propaganda.»

QuoteOliver M. vor 2 Tagen
Und da wundert man sich, warum in Deutschland ansonsten langweiliges Kino und Fernsehen die Normalität ist. Weil Leute wie Stefan Aust die Mehrheit bilden. Schaut man nach Hollywood, wird dort oft mit fiktionalen Elementen ein historischer Stoff verwoben. Ginge es jedoch nach Aust, wären Filme wie JFK - Tatort Dallas, Forest Gump, Malcom X kaum möglich. Für mich ist das typisch deutsches /...gekürzt, bitte bleiben Sie sachlich, die Mod./


QuoteFreddy K., vor 3 Tagen
Wenn in einem Film das Ende offen bleibt, ist das problematisch? Weil das "hängenbleibt"?
Also darf der Zuschauer nur DIE EINE Version sehen, die staatlich freigegeben und als unbedenklich eingestuft wird?
Selber denken verboten, oder wie?




Aus: "Darstellung im RAF-"Tatort" ist "gefährlicher Unsinn"" (16.10.2017)
Quelle: https://www.welt.de/regionales/baden-wuerttemberg/article169667682/Darstellung-im-RAF-Tatort-ist-gefaehrlicher-Unsinn.html

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Quote[...] 40 Jahre nach dem Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) will der Stuttgarter «Tatort» eine Auseinandersetzung mit dem «Deutschen Herbst» anstoßen. In «Der rote Schatten» setzt der SWR auch dokumentarische Aufnahmen aus dem Jahr 1977 ein. Für Regisseur Dominik Graf wurde das Thema nicht genug aufgearbeitet, wie er im Interview der Deutschen Presse-Agentur sagt.

Frage: Der neue Stuttgart-«Tatort» befasst sich mit der RAF-Zeit. Was hat sie daran gereizt?

Antwort Dominik Graf: Ein Polizeithriller handelt immer von Ermittlungen und Nachforschungen. Kommissaren beim Nachforschen im Bereich der RAF zuzusehen finde ich extrem interessant.

Frage: Wie intensiv muss das Thema noch aufgearbeitet werden? Hat man das bisher nicht hinreichend genug getan?

Antwort Dominik Graf: Das Thema wurde überwiegend einseitig aufgearbeitet. Viel zu viel Schlamperei und Vertuschung der staatlichen Behörden wurde und wird bei uns nach wie vor unter den Teppich gekehrt. Man muss zum Thema RAF eine völlig neue Qualität in die Perspektive der Geschichtsschreibung und in die Analyse der Ereignisse einführen. Man muss verstehen, dass sich im Nachkriegs-Westdeutschland zwei Generationen als Todfeinde gegenüberstanden. Die alten Nazis, überall noch präsent, und die nächste Generation, die eine Utopie hatte.

Frage: Wie haben Sie selbst diese Zeit erlebt?

Antwort Dominik Graf: Ich habe ständig Faschismus im Alltag erlebt. Manche Lehrer, viele Beamte, fast das ganze damalige Staatspersonal bis hin zum Zugschaffner und Hausmeister, alles autoritäre Kettenhunde. Auf der Straße, in der Schule. Ich habe damals den Aufstand der Jungen gegen das Establishment der Bundesrepublik Deutschland (BRD) völlig verstanden. Gewalt aber hätte ich selbst nie anwenden können.

Frage: Der RAF-Terror ist 40 Jahre her. Ist das Thema angesichts der jüngsten Anschläge dennoch aktueller denn je?

Antwort Dominik Graf: Das Thema RAF wird niemals un-aktuell, weil es eben letztlich ungeklärt ist. Es geht um die konkrete Schuld der staatlichen Organe einerseits, und es geht darum, eine neue Mentalitätsgeschichte dieser Revolte zu erforschen, die dann mal bitte nicht von den Regierenden und ihren Vasallen geschrieben wird.

Frage: V-Männer wie im aktuellen «Tatort» sind ein umstrittenes Thema. Sollte der Staat gemeinsame Sache mit Straftätern machen? Oder sind V-Leute letztlich unverzichtbar?

Antwort Dominik Graf: Ermittlungstechnisch gesehen sind V-Leute im kriminellen Milieu weltweit unverzichtbar, glaube ich. Radikal ändern müssen sich aber die Behörden, die offenbar jede Art von Größenwahn und krimineller Energie ihrer Mitarbeiter und auch ihrer V-Mann-Führer dulden oder sogar unterstützen. Beamte im Höhenrausch müssen verschwinden.



Aus: "Interview: «Tatort»-Regisseur Dominik Graf über die RAF-Zeit" (13. Oktober 2017)
Quelle: http://www.stern.de/kultur/tv/interview--tatort--regisseur-dominik-graf-ueber-die-raf-zeit-7659908.html

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Quote[...]  Der Tatort-Krimi Der rote Schatten, der am letzten Sonntag ausgestrahlt wurde, hat ein Verdienst. Er lenkt noch einmal die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass zahlreiche Widersprüche zur offiziellen Version der Todesumstände der RAF-Gefangenen am 18.Oktober 1977 in dem Isolationstrakt von Stammheim unaufgeklärt sind.

Denn in der Tatort-Fiktion war offen geblieben, ob sich die Gefangenen das Leben nahmen, vielleicht unter Aufsicht des Staates, oder ob sie ermordet wurden. Deshalb haben sich sofort die Bild-Zeitung und Stefan Aust zu Wort gemeldet und behauptet, in dem Tatort werde RAF-Propaganda verbreitet.

Die Bild-Zeitung bleibt da ihrer Linie treu. Sie hatte ja bereits vor über 40 Jahren Heinrich Böll und andere linksliberale Intellektuelle zu RAF-Sympathisanten erklärt. Und der öffentlich-rechtliche RAF-Erklärer Stefan Aust fürchtet um seine Deutungshoheit für die Geschichte der RAF und der Ereignisse in Stammheim, wenn plötzlich auch über die Widersprüche zu der Version der Stammheimer Todesnacht diskutiert würden, die Aust ja immer vertreten hat.

Der Publizist Willi Winkler hingegen weist Austs Vorwürfe in einem Interview im Deutschlandfunk zurück. Zu Aust erklärt Winkler nur knapp:

    Naja, soll ich mich jetzt wirklich zu Herrn Aust äußern? Der hat seine Karriere auf dem Mythos RAF aufgebaut. Und er hat die Vorlage geliefert für den Baller-Film "Der Baader Meinhof Komplex". Also: Wer ist er, um das zu sagen?
    Willi Winkler

Obwohl er selbst an die Selbstmordversion glaubt, ist sich Winkler der vielen unaufgeklärten Widersprüche der Geschehnisse am 18.10.1977 in Stammheim bewusst. Er fordert von den staatlichen Stellen Transparenz und sieht in der Diskussion nach der Tatort-Fiktion etwas Positives:

    Wenn das jetzt Anlass dazu gibt, dass man die vorhandenen Akten offenlegt - nach 40 Jahren wäre das ja möglich, es wurde ja ausführlich die Geschichte eines V-Mannes behandelt, und es gab mehrere - das wäre doch kein schlechter Effekt, wenn die jetzt veröffentlicht werden müssten. Dann hätte es auch was Gutes.
    Willi Winkler

Tatsächlich könnte die Diskussion nach dem Tatort auch jüngeren Leuten deutlich machen, wie viel an den Geschehnissen vor 40 Jahren noch ungeklärt ist. Ein Nachgeborener, der seit Jahren dazu forscht, ist der IT-Spezialist Helge Lehmann, der 2011 seine Rechercheergebnisse in einem Buch unter dem Titel "Die Todesnacht von Stammheim" herausgegeben hat (vgl. dazu Helge Lehmann über blinde Flecken und Widersprüche. Zum vierzigsten Jubiläum der Ereignisse hat kaum jemand darauf Bezug genommen.

Telepolis sprach mit dem Autor, der sich wundert, warum niemand auch nur versucht hat, die von ihm benannten Widersprüche aufzuklären.
Am 18.10.2017 jährt sich die Todesnacht von Stammheim, an dem die RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe in ihren Zellen umgekommen sind, zum 40ten Mal. Kaum noch jemand bezweifelt die offizielle Selbstmordversion. Warum sind Sie da eine Ausnahme?

Helge Lehmann: Meine Zweifel rühren von meinen Recherchen zu der Todesnacht in Stammheim. Zahlreiche Punkte sind ungeklärt oder wurden nicht in die Untersuchung des Todesermittlungsverfahrens aufgenommen. Die Indizienpunkte aus meinem Buch, die mir bisher niemand widerlegt hat, machen es nicht schwer, den Selbstmord anzuzweifeln.

Telepolis: Sie beschreiben sich als anfangs unpolitischen Menschen und dann über 4 Jahre für Ihr im 2011 erschienenes Buch "Die Todesnacht von Stammheim" recherchiert. Wieso nahmen Sie sich die Zeit und wie finanzierten Sie sich und ihre Recherche?

Helge Lehmann: Wenn ich erkenne, dass es bei irgendeiner Sache mehr zu erfahren gibt, bzw. sich irgendwelche Thesen als unschlüssig zeigen, möchte ich es genau wissen. Das hat dann mal mehr, mal weniger zeitintensiver Recherche zur Folge. Die "Todesnacht in Stammheim" war extrem zeitintensiv, gefühlt unendlich viele Stränge gab es zu untersuchen. Da ich einen Job habe und hatte, konnte ich nur nach Feierabend, am Wochenende und an freien Urlaubstagen daran arbeiten.


Telepolis: Wie gingen Sie bei Ihrer Recherche vor?

Helge Lehmann: Da es keine Schemata gibt, begann ich logischerweise am Kernpunkt. Der Todesnacht selbst, sowie dem Auffinden der Toten und der verletzten Irmgard Möller. Schritt für Schritt sammelte ich Daten, holte mir in den verschiedenen Archiven verfügbare Akten und glich diese mit dem bereits vorhandenen Buchmaterial und dem Internet ab. So gelangte ich Schritt für Schritt voran und baute um die Todesnacht die Geschichte immer weiter aus. Dazu habe ich praktische Untersuchungen unternommen, wie beispielsweise die Lautstärke der Schüsse, um die Widersprüche aufzuzeigen.

Telepolis: Unmittelbar nach der Todesnacht von Stammheim bezweifelte ein großer Teil der Linken die Selbstmordthese. Ein Internationaler Untersuchungsausschuss versuchte Aufklärung. Haben Sie sich auf dessen Arbeit stützen können?

Helge Lehmann: Solche Untersuchungen habe ich im Nachgang mit meinen Recherchen abgeglichen. Hätte ich diese als Grundlage genommen, wäre ich in meiner Ausarbeitung beeinflusst worden. Das hätte ich als keine gute Herangehensweise gesehen.

Telepolis: Sie haben sich ausgiebig mit dem behaupteten Waffenschmuggel in das Gefängnis und dem angeblichen geheimen Kommunikationssystem der Stammheimer Häftlinge auseinandergesetzt. Zu welchem Resultat kommen Sie da?

Helge Lehmann: Nach meinen Untersuchungen, jeweils mit einem Versuchsaufbau, komme ich zu dem Ergebnis, dass der Waffenschmuggel nur möglich gewesen sein kann, wenn die untersuchenden Beamten grob fahrlässig und dilettantisch gearbeitet hätten. Da sich die Beamten bei einem Waffenschmuggel selbst in Gefahr gebracht hätten und da es vor jeder Durchsuchung intensive Vorbereitungen gab, erscheint mir die Wahrscheinlichkeit des Schmuggels mehrerer Waffen und Patronen sowie eine Kochplatte und anderer Gegenstände gleich null.

Telepolis: Wo sehen Sie einen weiteren zentralen Widerspruch in der offiziellen Version der Stammheimer Todesnacht? ... Sie schreiben, dass ihre Untersuchungen die Form "eines Indizienprozesses" gegen die offizielle Version angenommen hat. Wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, dass sie keine Beweise haben?

Helge Lehmann: In der Rechtsprechung ist ein Beweis mehr als ein Indiz, die Summe der Indizien kann als Beweis gelten. Natürlich habe ich keinen Beweis. Ich war nicht dabei, keiner der beteiligten Beamten hat sich dahingehend geäußert. Jedes Gericht würde aufgrund dieser Indizienlage das Ergebnis Selbstmord nicht als das tatsächliche zweifelsfreie Ergebnis sehen.

Telepolis: Waren Sie über die öffentlichen Reaktionen auf Ihr Buch enttäuscht? Schließlich wird es im Jubiläums-Jahr kaum erwähnt und selbst in linken Zeitungen wird die Selbstmordthese kaum in Frage gestellt.

Helge Lehmann: Nein war ich nicht. Genauer gesagt habe ich damit gerechnet. Die Sieger schreiben die Geschichte.

Telepolis: Aber auch der ehemalige RAF-Gefangene Karl-Heinz Dellwo, der heute als linker Verleger und Aktivist tätig ist, erklärte später, die RAF-Gefangenen hätten über einen Selbstmord als selbstbestimmten Akt, um sich der staatlichen Verfolgung zu entziehen, gesprochen. Würde die offizielle Version zumindest im Grunde gestützt?

Helge Lehmann: Seine Darstellung widerlegt die von mir offengelegten Indizien und Widersprüche nicht.

Telepolis: Könnten die von Ihnen untersuchten Widersprüche nicht auch darauf hinweisen, dass ein Selbstmord unter staatlicher Aufsicht damit verschleiert wurde? Ein Beispiel, die schon immer stark bezweifelte Art des angeblichen Waffenschmuggels könnte verschleiern, dass die Waffen mit Wissen staatlicher Stellen ins Gefängnis gelangt sind?

Helge Lehmann: Ich beteilige mich nicht an Spekulationen. Ich kann nur auf die in meinem Buch vorgelegten Indizienpunkte hinweisen. Warum löste keiner die benannten Widersprüche auf oder versucht, diese zu erklären?

Telepolis: Gehen Sie davon aus, dass es noch eine Aufklärung der Todesumstände in Stammheim geben wird? Welche politischen Folgen hätte das?

Helge Lehmann: Das ist nicht absehbar. Das bisherige Interesse an der Aufklärung hält sich ja in Grenzen. Diskussionen sind wichtig, um das ganze Thema zu verstehen. Es wäre allerdings nötig, dass sich mehr Menschen für das Thema interessieren beginnen. Vielleicht kann der Tatort, den ich sehr gelungen fand, dazu beitragen.


Aus: "Stammheimer Todesnacht: Es bleiben zahlreiche Widersprüche" Peter Nowak (17. Oktober 2017)
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche-3864072.html

"Hier sind ein paar Indizien, die gegen Selbstmord sprechen" (Friedensblick, 17.10.2017 19:53)
https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Hier-sind-ein-paar-Indizien-die-gegen-Selbstmord-sprechen/posting-31218088/show/

https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Re-Hier-sind-ein-paar-Indizien-die-gegen-Selbstmord-sprechen/posting-31218528/show/

QuoteSvenV, 18.10.2017 01:43


Interview einer Zeitzeugin:
https://www.youtube.com/watch?v=mGYINRC_RUI

Man sollte meinen, dass diese Überlebende wissen muss, was wirklich geschehen ist?
Ein ausführlicheres Interview ist hier zu finden:
https://web.archive.org/web/20070529192730/https://www.rote-hilfe.de/publikationen/die_rote_hilfe_zeitung/1997/4/interview_mit_irmgard_moeller

Mag sich jeder selbst sein Urteil bilden. Ich halte diese Zeitzeugin für glaubwürdig.
Hätte sie sich der staatlich diktierten Darstellung angeschlossen, hätte sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht fast 23 Jahre Haft in weitgehender Isolation kassiert.
Bei ihrer Haftentlassung war sie die am längsten inhaftierte Frau im deutschen Strafvollzug. Zu ihrem Glück gab es damals noch keine "Sicherheitsverwahrung".


https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Interview-einer-Zeitzeugin/posting-31219092/show/

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Quote[...]      Artur_B

mehr als 1000 Beiträge seit 09.09.2004
17.10.2017 22:22

Und was wäre das Motiv?

Fangen wir hinten an: die Morde an Herrhausen und Rohwedder wurden mit einem Fachwisssen und einer Kompetenz ausgeführt, wie man sie eigentlich nur bei Militärs findet. Herrhausen wollte die Entwicklungsländer entschulden und die den Umbau der DDR-Wirtschaft ganz qanders gestalten als er dann tatsächlich kam. Humaner würde ich sagen. Die, die danch kamen, hielten von Humanität erkennbar wenig. Ziemlich genau das Schema eines Gladio-Anschlags. Wofür auch spricht, dass trotz aller Fahndungsbemühungen kein Täter verhaftet werden konnte. Wenn die Verantwortlichen durch die moilitärische Geheimhaltung geschützt sind, dringt nie etwas nach außen. Jüngstes Beispiel die Geschichte um Franco A. Wir wissen keinen Deut mehr als am ersten Tag. Es wird nie einen Untersuchungsausschuss geben und wenn, erfährt er nichts. Geheimnisse verlassen die Kasernenmauern nie.

... Also das Grundmuster aller Gladio-Aktionen: Rechte begehen Anschläge, die als links motiviert dargestellt werden. Warum das? Nun, die RAF gab dem Staat die Legitimation für einen allseitigen Rollback und hier insbesondere den Radikalenerlass. Denjenigen, die '68 wieder zurück drehen wollten, konnte nichts besser in den Kram passen als die RAF.

... Gruß Artur


https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Und-was-waere-das-Motiv/posting-31218715/show/

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Textaris(txt*bot)

#25
Quote[...] Vierzig Jahre nach der Entführung und Ermordung von Arbeitsgeberpräsident Hanns Martin Schleyer hat die verurteilte RAF-Terroristin Silke Maier-Witt die Familie um Verzeihung gebeten. Die 67-Jährige, die wegen Schleyers Entführung und Ermordung zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war, habe die Entschuldigung vergangene Woche bei einem langen Gespräch mit Schleyers jüngstem Sohn Jörg in der mazedonischen Hauptstadt Skopje vorgebracht, berichtete die "Bild".

Maier-Witt habe Schleyer mit folgenden Worten begrüßt: "Es klingt so platt. Aber ich möchte erst einmal um Verzeihung bitten." Weiter sagte sie dem Zeitungsbericht zufolge: "Es hilft nicht viel, aber ich denke, dass ich immer ausgewichen bin, mich dem zu stellen." Sie habe "immer versucht, mich damit auseinanderzusetzen", sagte das ehemalige RAF-Mitglied demnach zu Jörg Schleyer. "Aber die eigentliche direkte Konfrontation mit Ihnen zum Beispiel habe ich nicht gesucht. Dafür möchte ich mich auch noch mal entschuldigen."

Schleyers Hinterbliebene suchen seit Jahrzehnten eine Antwort auf die Frage, welches RAF-Mitglied die tödlichen Schüsse auf den Entführten abgegeben hat. Dies ist bis heute ungeklärt, weil die beteiligten Täter dazu schweigen. Vergangenen Monat hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Täter aufgerufen, ihr Schweigen über die Bluttaten der RAF zu brechen.

Nach dem mehr als siebenstündigen Gespräch mit Silke Maier-Witt erklärte Jörg Schleyer nun in der "Bild": "Erstmalig habe ich aus dem Mund einer wegen des Mordes verurteilten Terroristin erfahren, wer die drei Personen sind, die bei meinem Vater waren, als die tödlichen Schüsse abgegeben wurden." Maier-Witts Bereitschaft, Auskunft über die Hintergründe der Tat zu geben, habe "glaubhaft" gewirkt, sagte Jörg Schleyer. "Jetzt hoffe ich, dass ihrem Beispiel weitere Täter folgen und ihr Wissen offenbaren."

Die Ermordung des von der RAF entführten Schleyer vor vier Jahrzehnten stand am Ende einer Serie dramatischer Ereignisse, die als Deutscher Herbst in die Geschichte eingingen.  ...


Aus: "Ehemalige RAF-Terroristin bittet Schleyer-Familie um Verzeihung" (28.11.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/politik/40-jahre-nach-schleyer-ermordung-ehemalige-raf-terroristin-bittet-schleyer-familie-um-verzeihung/20638816.html

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Quote[...] Eine Entschuldigung wird auch durch die richtigen Worte aufrichtig. ,,Ich möchte Sie, wenn das überhaupt geht, um Verzeihung bitten." Das hat die ehemalige RAF-Terroristin Silke Maier-Witt in einem Brief an Jörg Schleyer geschrieben, den jüngsten Sohn von Hanns Martin Schleyer, den die RAF vor 40 Jahren entführt und ermordet hat. Anschließend hat sie Jörg Schleyer in einem persönlichen Gespräch um Verzeihung gebeten, statt einfach nur Entschuldigung zu sagen.

Das macht nichts ungeschehen. Es bleibt ein Verbrechen, das auch Schleyers Fahrer und drei Personenschützer das Leben kostete. Dennoch haben Silke Maier-Witts Worte einen Wert und eine Bedeutung. Für die Familie des Ermordeten vor allem. Für den Blick auf dieses schwarze Kapitel der Nachkriegszeit. Als Erste aus den Reihen der RAF hat Silke Maier-Witt ihre Scham für die begangenen Taten zum Ausdruck gebracht. Sie hat sich dabei nicht in historischen Kulissen versteckt.

... Eine Entschuldigung kann keine Abwurfaktion für Seelenballast sein, nur damit man sich hinterher leichter fühlt. Sie setzt einiges voraus. Die Konfrontation mit einem Hinterbliebenen bedeutet, den Schmerz des anderen an sich heranzulassen. Hinzu kommt die Übernahme von Verantwortung. Maier-Witt etwa hat ihre eigene Verantwortlichkeit im Gruppenhandeln erkannt. Dass in Gerichtsprozessen Täter aus totalitären Regimen so selten Reue zeigen, liegt nicht zuletzt daran, dass sie ihre Verantwortung aufgelöst sehen in der eines Systems. Wer vermag sich schon einzugestehen, einen Teil seines Lebens einer falschen, einer furchtbaren Sache gewidmet zu haben, die Menschenleben zerstört hat.

Die Bitte um Verzeihung ist für Opfer oft genauso wichtig wie die Bestrafung der Täter. Ein Gericht mag Recht sprechen, im Namen des Volkes. Doch spürbar wird das Geschehene unmittelbar, konzentriert im persönlichen Verhältnis zwischen Opfer und Täter.

... Eine Gesellschaft kann die Kultur des Um-Verzeihung-Bittens fördern, indem sie eine von Reue getragene Entschuldigung würdigt. Indem sie andererseits hastig vorgetragene Entschuldigungsfloskeln nicht besser macht, als sie sind. Aufrichtig um Verzeihung zu bitten, ist mit das Stärkste, was sich aus der eigenen Schuld machen lässt.

Quote1964 10:28 Uhr

Für alle Terroristen gilt: Kein Vergeben, kein Vergessen!



Aus: "Warum es so wichtig ist, dass Täter Reue zeigen" Friedhard Teuffel (29.11.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/politik/lehren-aus-raf-terror-warum-es-so-wichtig-ist-dass-taeter-reue-zeigen/20649234.html


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Quote[...] When Alan Shane Dillingham, a historian at Spring Hill College in Alabama, lectures on the 1960s he starts by displaying a timeline of the decade's most iconic, tumultuous year — 1968.

The assassinations of the Rev. Martin Luther King Jr. and Robert F. Kennedy. The riots that shook Washington, Chicago, Baltimore and other U.S. cities. Campus protests. Civil rights protests. Vietnam War protests. The Tet Offensive. The My Lai massacre. The rise of Richard Nixon and the retreat of Lyndon Johnson. And so much else: Black Power, "The White Album," Andy Warhol, "Hair," Apollo 8, the first black character in Peanuts.

"Was there something in the water?" Dillingham asks his students. "What is it about this year?"

With 2018 marking the 50th anniversary of that extraordinary year, Dillingham and more than 1,500 other historians descend on Washington this week for the American Historical Association's annual meeting, where they will grapple with that question and others about 1968 in a series of special panels.

The historians arrive in the nation's capital at a time when many of 1968's flash points still consume the country, including race, political polarization, war and America's standing in the world. The man who occupies the White House graduated from the University of Pennsylvania in 1968 and got a draft deferment for bone spurs in his heels, exempting him from military service in Vietnam.

The election of President Trump, who came of age in the '60s, and even the designation of gender neutral bathrooms at the conference are reminders that the political and social forces unleashed at that time still reverberate today. But the historians aren't looking at 1968 in the context of current events. Instead, they are focusing on how that year shaped — and was shaped — by global events.

In many ways, the panels represent the symbolic pass-the-torch movement that occurs in any field of historical study — a move away from first-person, character-driven accounts in favor of more detached analysis. Civil rights leader Jesse Jackson, feminist Betty Friedan and activist-turned-academic Todd Gitlin, author of "The Sixties: Years of Hope, Days of Rage," had great stories to tell (and sell) about the 1960s. But what didn't they see?

"I think the limitations of historical narratives dominated by participants tell a kind of romantic story — obstacles overcome, that kind of stuff," Dillingham said. "That's important, but it can also simplify these moments and prevent you from seeing important connections."

Younger historians, many of whom were born in the 1970s or later, are examining the '60s through a global lens that isn't tainted by nostalgia.

Dillingham, who is leading a 1968 panel at the conference, is 36 years old. Chelsea Szendi Schieder, a historian who helped organize the special focus, is 34. Fabio Lanza, another '68 panel leader, was definitely around for 1968, but as a baby.

These younger scholars learned about King, Nixon and the Kennedy clan growing up, then in college and graduate school read works by historians who, as it happened, were often part of 1960s political movements. Gitlin, who teaches at Columbia University, was president of Students for a Democratic Society.

"This is not to dismiss a generation of scholars," Schieder said, "but I think right now is a kind of reckoning."

The papers being presented about 1968, for so long treated as an American artifact, certainly reflect that notion. One is titled, "Long Live African Women Wherever They Are! Black Women, Pan-Africanism, and Black Power's Global Reach." Another is, "Gender Trouble in Guatemalan Student Movement Memories." Schieder, who teaches at Meiji University in Tokyo, is presenting "Beyond the Barricades: The Possibilities and Pitfalls of the Campus-Based New Left in Japan," looking at campus protests that rivaled the more famous ones at Columbia and the University of California Berkeley.

In the 1960s, just about every matter of strife in the United States — race, war, free speech, the establishment — was a matter of contention elsewhere. The timelines line up nicely.

In February 1968, students in Boston staged a hunger strike to protest the war in Vietnam. Not long after, 10,000 people, many of them students, marched in Paris against the war. There were riots in Memphis and Mexico, Washington and Poland.

"The problem with the U.S. and '68 is that it looks very insular, but it's not," said Lanza, a professor at the University of Arizona. "I think that is changing, though."

But first, historians have some pretty big questions to answer.

One: Which came first, the American chaos or the global chaos?

Another: Why does 1968 loom so large in the narrative of political and cultural change?

There's a building consensus, historians say, that while 1968 gets all the attention, it is actually a later chapter of a story that begins much earlier — after World War II.

The postwar baby boom in the West and Asia vastly increased the number of people who went to college in the early 1960s. Dorms were crowded. Students argued a lot — with each other and university administrators. Many early campus protests, both in the United States and abroad, were not over Vietnam. They were over dorm living conditions.

"A lot of these small grievances start to snowball," said Dillingham, the Spring Hill College historian.

And the radicalization moves beyond college campuses, spurred by growing unease over the Vietnam War. As the body count in Southeast Asia grows, Americans take to the streets. But so do Europeans — and they have other concerns, too, including the Cold War clash between communism and democracy playing out on their doorstep. In August 1968, the Soviet Union invades Czechoslovakia to end the political liberalization movement known as the Prague Spring. Suddenly, the whole world seems like it's coming unglued.

Amid all of this, there's the incredible rise of the mass media, particularly television. In 1950, the number of U.S. households with TVs was 3.9 million. In 1968: 57 million. The adoption patterns are similar in other developed countries.

So, when two U.S. athletes gave the Black Power salute at the 1968 Summer Olympics in Mexico City, the footage is seen around the world. Television helps fuel protests, uniting activists at home and abroad.

"In the late 1960s, black civil rights activists in Alabama are also reading about struggles against colonialism in Africa," Dillingham said. "And they're reading about the Cuban Revolution. And they're reading about the Algerian struggle against the French. They start to understand their local fight within a global framework."

So what caused what?

"It's hard to know," Dillingham says, "because that global context is very much shaping local fights. The global and the local become deeply intertwined."

What's local in one place is global in another. Untangling all that is the goal for the conference — and beyond.

"As historians, we don't have the full picture yet because people weren't operating only within their national context," Schieder said.

"So I guess what I'm really hoping in bringing all these different scholars together, is that we can start to say, 'Oh, I only thought that happened in Argentina. Oh, I only thought that happened in Japan.'"

The scholarly infrastructure is now in place to make these connections. The 1960s even have their own academic journal, called, appropriately, the "The Sixties."
In an editorial in the first issue, the editors wrote this: "Nostalgia, in its most primitive form, entails the indiscriminate love of a particular past because it is one's own."
That year, 1968. It belongs to the world.

Quote... While the rest of the world was going nuts, the British were cranking out new bands in spades- Yes, Genesis, Pink Floyd, King Crimson- many more. Maybe when one's parents live through air raids one sees the world differently.......


...


From: "1968's chaos: The assassinations, riots and protests that defined our world" Michael S. Rosenwald (01.01.2018)
Source: https://www.washingtonpost.com/news/retropolis/wp/2018/01/01/1968s-chaos-the-assassinations-riots-and-protests-that-defined-our-world/

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Quote[...] Emmanuel Macron ist ein "Nachgeborener". 1977 auf die Welt gekommen, verspürt der bürgerlich erzogene Eliteschulabgänger nur eine beschränkte Nähe zu jenem historischen Studentenaufstand, der im Frühling 1968 von Paris aus Schockwellen durch ganz Frankreich und weit darüber hinaus geschickt hatte. Das würde ihn an sich nicht daran hindern, eine große Gedenkzeremonie zu inszenieren: Frankreichs Staatspräsident mag solche Auftritte, an denen er sich als junger und doch geschichtsbewusster Einiger der Nation über den Parteien präsentieren kann. Auch der (1948 geborene) Sozialhistoriker Pascal Ory erklärt: "Wir sind alle Kinder des Mai '68. Eine Gedenkfeier zu diesem Gründungsereignis versteht sich da von selbst." Doch Macron zögert. Und je länger, desto mehr. Denn der Mai '68 bleibt in Frankreich ein heißes Eisen. Das Ereignis liegt ein halbes Jahrhundert zurück, doch in Paris wird darüber zum Beginn des Jubeljahres mit einer Heftigkeit debattiert, als wären die Studenten und streikenden Arbeiter erst gestern auf die Straße gegangen. Mai '68 fegte mit seinem Sponti-Anspruch nicht nur eine alte Gesellschaftsordnung weg, sondern verankerte den Rechts-links-Gegensatz fest in der französischen Konfliktkultur.

Als die sozialistische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo jüngst Che Guevara anlässlich einer Gratisausstellung im Rathaus als "romantische Ikone" feierte, wurde sie von der Gegenseite mit Nettigkeiten wie "68er-Linksfascho" bedacht. Der konservative Politiker Maël de Calan schob nach: "Mai '68, das ist der Sieg des Individuums über die Familie, das Kollektiv, die Autorität, die Regeln." Nicolas Sarkozy hatte seine ganze Präsidentschaftskampagne 2007 unter das Motto gestellt, er wolle "das Erbe des Mai '68 liquidieren"; damit appellierte er an die gleiche schweigende Mehrheit, die im Juni 1968 den Wahltriumph der französischen Rechten gegen die Studenten und Streikenden ermöglicht hatte. Macron wird sich erst langsam der Gefahr bewusst, noch 50 Jahre "danach" zwischen die Fronten zu geraten. Er mag jung und liberal sein, doch er tritt auch für die Autorität des Staates ein. Sein "vertikales" Staatsverständnis ist das ziemliche Gegenteil studentischer Selbstbestimmung. Um sich von Sarkozy abzugrenzen, hatte Macron noch im vergangenen Herbst erklärt, er könne sich sehr gut vorstellen, des Mai '68 zu gedenken. Damals habe ja ein ähnlicher Geist wie im Prager Frühling des gleichen Jahres geweht.

Mit dieser Bemerkung zog der Präsident aber nur den Zorn der Rechten auf sich: Diese erklärt, die Tschechen hätten sich gerade auch gegen jene Kommunisten erhoben, die in Paris auch auf die Straße gegangen seien. Die Linke wiederum wirft Macron vor, er wolle Mai '68 für seine Zwecke vereinnahmen, so wie er sich im Wahlkampf um die Präsidentschaft der Unterstützung der 68er-Ikone Daniel Cohn-Bendit versichert habe. Die geballte Kritik von allen Seiten macht die Élysée-Berater vorsichtig. Einer von ihnen erklärte, noch sei gar nicht sicher, ob der "Mai-Tage" in irgendeiner Form gedacht werde. Man wolle "nicht einfach Cohn-Bendit einen goldenen Pflasterstein überreichen". Hinter diesem Sarkasmus verbirgt sich auch eine zunehmende Unsicherheit. Wie soll die Nation Proteste zelebrieren, die ein ziemliches "chienlit" – wie de Gaulle das Chaos im Pariser Sorbonne-Viertel nannte – verursachten? Und was wäre vorrangig zu feiern – eher der damalige Sponti-Geist ("Es ist verboten zu verbieten") oder das sozialpolitisch bedeutsame Grenelle-Abkommen, das dem Generalstreik von Mitte Mai folgte? Für den Mittepolitiker Macron stellt sich speziell die Frage, wo er sich positioniert. Seine Mühe, sich festzulegen, offenbart die Ambivalenz seiner ganzen Regierungslinie. Er will zwar bei der Linken nicht als "Präsident der Reichen" durchgehen, setzt aber selbst alle Hebel in Bewegung, um Streiks und Massendemonstrationen gegen seine eigenen Reformen zu vermeiden.

Élysée-Insider berichten, der Präsident scheine mehr und mehr gewillt, die ganze 68er-Sause im Mai sein zu lassen. Das Gedenken an den Mai '68 ist für den jungen Präsidenten eine Versuchung, sich als versöhnlicher Landesvater zu inszenieren – aber auch ein beträchtliches Risiko, seine politischen Gegner aufzuwecken. Erkennbar wurde das Ende Jänner, als das Institut de France in diversen Kulturzentren eine "Nacht der Ideen" organisierte, um analog zu einer 68er-Devise "die Fantasie an die Macht" zu bringen. Monatelang vorbereitet, wurde die Operation zum Schluss diskret und gänzlich unpolitisch umgesetzt. Macron glänzte durch Abwesenheit – um die heutigen Studenten nicht auf dumme Ideen zu bringen? (Stefan Brändle aus Paris, 6.2.218)




Aus: "Macron gerät zwischen die Fronten des Pariser Mai 1968" Stefan Brändle aus Paris (6. Februar 2018)
Quelle: https://derstandard.at/2000073681650/Macron-geraet-zwischen-die-Fronten-des-Pariser-Mai-1968

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Quote[...] Bis heute sorgen die Ereignisse dieser Zeit für Kontroversen. Versuch einer Sammlung  ...

"Sie protestierten gegen starre Strukturen, den Vietnamkrieg, die rigide Sexualmoral und die Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus: Tausende Studenten gingen in den 1960er Jahren auf die Straße – und unter der Chiffre '68' in die Geschichtsbücher ein. Bis heute sorgen die Ereignisse dieser Zeit für Kontroversen: War sie notwendig für den Übergang in die moderne Gesellschaft? Oder ist die 68er-Generation für Werteverlust, Kindermangel und Bildungsnotstand verantwortlich?

... "Misst man sie an ihren Liebes-Utopien, an Sozialismus und Weltrevolution, dann muss man die Bewegung der 68er für gescheitert erklären. Und doch war ihre Revolte eine der folgenreichsten Zäsuren der deutschen Nachkriegsgeschichte. Verdanken wir ihnen eine freiere und glücklichere Gesellschaft? Was ist geblieben vom Mythos '68?" (Spiegel Online)

"Als die Achtundsechziger sich daranmachten, das herkömmliche bürgerliche Wertekorsett aus Wohlanständigkeit und Enthaltsamkeit zu sprengen, war dieses längst Geschichte. Doch auch die schöne neue Alles-über-Sex-sagen-Welt der Linksalternativen war nicht von Dauer – wenn es sie überhaupt je gegeben hat." (FAZ.net)

"Die '68er seien zwar schon für seine Generation 'merkwürdige Typen' gewesen, sagte der Soziologe Heinz Bude (selbst 1954 geboren) im Dlf. Doch als Kriegskinder hätten sie auf faszinierende Weise aus dem Nichts etwas geschaffen. ... (Deutschlandfunk)

...


Aus: "Nachwirkungen" (01.02.2018)
Quelle: https://www.freitag.de/produkt-der-woche/buch/adorno-fuer-ruinenkinder/adorno_einblicke

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Quote[...] In einer Kapitelüberschrift Ihres Buches ,,Adorno für Ruinenkinder" ist von der letzten heißen Revolution und der ersten coolen Revolte die Rede. Bedeutet das, es ging mehr um Pose als um Politik?

Der Soziologe Heinz Bude: Nein, nicht so einfach. Es gab die SDS-Fraktion, die vertiefte sich in ,,Geschichte und Klassenkampf" von Lukács, träumte über die geschichtsphilosophischen Thesen von Benjamin und debattierte mit Adorno über den ,,versäumten Augenblick" der Revolution. Das wäre aber ein kleiner esoterischer Zirkel geblieben, hätte es nicht die Masse der Revoltierenden gegeben, die ihrer Sehnsucht nach Welt Ausdruck verleihen wollten. Das Verbindungsglied zwischen diesen beiden ungleichen Gruppierungen war der mysteriöse Begriff der Gesellschaft, der einem erlaubte, sein eigenes, ganz persönliches Leiden zum Maßstab für die Beurteilung der allgemeinen Verhältnisse zu nehmen. Deshalb war das Private politisch, deshalb enthielt 1968 die Lizenz, alles in Frage zu stellen und eine Politik der Ersten Person zu befördern, die Politik, Poesie, Pop und Pose zusammenbrachte. 1968 waren Rudi Dutschke und Fritz Teufel, Uschi Obermeier und Silvia Bovenschen und am Ende Bob Dylan mit dem Nobelpreis für Literatur und Ulrike Meinhof auf dem Bild von Gerhard Richter.

... Hat die rasche Radikalisierung, das Umschlagen der Revolte in terroristische Gewalt auch etwas mit den Traumata der Kriegsjahre zu tun?

In gewisser Weise ja. Wer im Krieg auf einem Heimaturlaub des Vaters gezeugt worden ist und in den ersten Jahren aufgerissene Straßen, abgedeckte Häuser und brennende Ruinen erlebt hat, hat ein Gespür dafür, dass Gesellschaft auf Gewalt gegründet ist. Gewalt nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Personen.

Wenn man sich die Alltagsgeschichte der 60er Jahre genauer ansieht, wird man feststellen können, dass die gesellschaftliche Liberalisierung weit vor 1968 begonnen hat. Wird die Wirkung des Aufbegehrens der 68er heute verklärt?

Ich glaube, die ganzen evolutionären Deutungen von 1968 führen in die Irre. Da hat nichts begonnen, was es vorher nicht schon gab. Weder die sexuelle Revolution noch die Demokratisierung der Gesellschaft und vor allem nicht die Konfrontation mit Auschwitz. Der Kinsey-Report und Oswalt Kolle, die Lehre der sozialen Demokratie und das Betriebsverfassungsgesetz, der ,,SS-Staat" von Eugen Kogon und die Courage von Fritz Bauer. Diese Suche nach dem gesellschaftlichen und geschichtlichen Trend verdeckt die Mischung aus Melancholie und Sehnsucht, aus radikaler Reflexion und rebellischem Elan, aus politischem Dadaismus und existenziellen Ausbruchsversuchen, die für die Bresche von 1968 kennzeichnend waren. Glaubten die 68er an ihre Mythen? Wenn sie auf der Straße riefen ,,Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment!", Ja; wenn sie abends auf leeren Bürgersteigen als dürre Gestalten in ihren Schlaghosen und Fransenjacken nach Hause gingen, Nein.

Eines der wesentlichen Merkmale der 68er-Bewegung war deren Theoriefixierung. Viele der einst heiligen Texte jener Jahre scheinen heute seltsam überholt und vergessen. Was hat Bestand?

Von der Masse der Bücher, die die 68er selbst dann über Ideologiekritik, Wertformanalyse, Klassengesellschaft und Warenästhetik geschrieben haben, bleibt kaum etwas. Die wichtigen Bücher von 1968 kamen danach und werden auch in fünfzig Jahre noch Leserinnen und Leser finden: Claus Offes ,,Strukturprobleme des kapitalistischen Staates" von 1972, Klaus Theweleits ,,Männerphantasien" von 1977/78, Horst Kern und Michael Schumanns ,,Das Ende der Arbeitsteilung?" von 1984 oder Friedrichs Kittlers ,,Aufschreibesysteme 1800/1900" von 1985. Und natürlich Hans-Jürgen Krahls geheimer Klassiker ,,Konstitution und Klassenkampf" aus dem Jahr 1971.

Sie versuchen, sich 1968 auch anhand dessen zu erklären, was übersehen wurde. Was war das?

Ich bin noch einmal die Interviews durchgegangen, die ich vor dreißig Jahren mit 68ern der Jahrgänge 1938 bis 1948 geführt habe. Da war der Punk schon Geschichte und der Mauerfall noch keine Zukunft. Im Abstand hat sich für mich gezeigt, dass 1968 eine ziemlich einzigartige Episode kollektiver Leidenschaft und existenzieller Emphase war. Die letzte Generation, die noch den Krieg erlebt hat, hat 1968 sich selbst und der Gesellschaft des Nachkriegs vor Augen geführt, wie dünn das Eis und wie verworren die Zustände sind. Für die Kriegskinder war das Leben, wie der 1940 im selben Jahr wie Rudi Dutschke geborene Rolf Dieter Brinkmann gesagt hat, eine einzige Entschuldigung dafür, dass sie überhaupt geboren worden waren. Das ist der Hintergrund für die ungeheure Kompromisslosigkeit, mit der sie sich 1968 gegen die Gesellschaft gestellt haben, die sie als die Kräfte von morgen begrüßen wollte. Die 68er waren eine junge und starke Generation, die Ernst damit gemacht hat, dass Fortschritt ohne Unterbrechung nicht möglich ist.

1968 wird heute nicht nur als historisches Schlüsseljahr betrachtet. Rechte Ideologen scheinen ihre Vorstellungen von 1968 geradezu konservieren zu wollen, um ein klares Feindbild zu haben. Sind Höcke und Co. die letzten Kinder von 1968?

Die Paradoxie ist, das die kulturmilitante Rechte 68 für etwas anklagt, was sie selbst in Anspruch nimmt. Es ist offenbar nach wie vor schwierig zu verstehen, wie die Gewinne von 68 mit ihren Kosten zusammenhängen.

Trotz aller Skepsis endet Ihr Blick auf die 68er auch versöhnlich. Sie erkennen in der Suche nach Linkssein bei den Jungen von heute auch ein Erbe von 1968. An was können sie anknüpfen?

Anknüpfen ist nicht das richtige Wort. Den 68ern ging es um Befreiung, der antirassistischen, postkolonialen und transimperialen Linken von heute geht es um Gerechtigkeit. Das ist nicht dasselbe. Das Schema der Gerechtigkeit will Anrechte erweitern und vertiefen, der Wunsch nach Befreiung will das Ganze in Bewegung bringen. Das Erbe von 68 besteht in der Verwunderung darüber, dass das vor 50 Jahren für einen kurzen Moment aus einem irren Antrieb gelungen ist.

QuoteSushi Train

Heiz Bude ist ein starker Typ geblieben, auch ohne schulterlange Haare und Schlaghosen. Ansonsten kenne ich niemanden, der auch nur eine Seite von Horkheimer gelesen hat. Die 68er sind und bleiben eine Erfindung des Feuilletons.


...


Aus: "Heinz Bude: ,,Mit Adorno durch die Hölle"" Harry Nutt (31.01.2018)
Quelle: http://www.fr.de/kultur/heinz-bude-mit-adorno-durch-die-hoelle-a-1437570,0#artpager-1437570-0

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Quote[...] Die 68er-Bewegung wirkte sich in Tübingen auch auf die Universitäten aus; vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften in Bezug auf neue, stärker gesellschaftsbezogene Forschungsthemen. Und durch sie entstand sogar ein neues Fach: die Empirische Kulturwissenschaft (EKW). Hervorgegangen sind sie aus dem Ludwig-Uhland-Institut für deutsche Altertumswissenschaft, Volkskunde und Mundartenforschung, das 1933 gegründet wurde und anfangs, im Dienste der damals neuen NS-Machthaber, eine rassistische Volkstumsideologie propagierte. Erst ab den 1950ern sorgt der spätere Institutsleiter Hermann Bausinger, "ein liberaler, soziologisch positivistischer Wissenschaftler, bei den Studenten sehr angesehen", für frischen Wind im Fach, forscht gegenwartsbezogen. "Das war die Gegenwarts- und Alltagswende der Volkskunde, die sich bis dahin auf alte Traditionen des Bauerntums kapriziert hatte", erzählt Warneken.

... Was ist für Warneken die Hauptwirkung der 68er? Da hält er es mit Habermas: "Die Fundamentalliberalisierung der Gesellschaft." Um noch etwas konkreter zu werden: "Die wichtigste Wirkung der 68er ist die riesige alternative Jugendszene, die ab Mitte der 1970er die Mehrheit der Jugend prägt." Das, was Jörg Meuthen von der AfD als 'links-grün versifftes 68er-Deutschland' bezeichne und ganz furchtbar finde. "Da muss ich sagen: Ich bin stolz auf diese Entwicklung! Und dass man zumindest für Tübingen sagen kann, dass diese Tendenz dort stark geblieben ist. In Deutschland in der Mehrheit ja leider nicht." Dass Versuche, die 68er zu verfemen, immer wieder kommen, nicht nur von der AfD oder von Unions-Rechtsauslegern wie Alexander Dobrindt (CSU), ficht Warneken nicht an, im Gegenteil. "Es ist ja auch eine Freude, wenn sie sich immer noch über uns ärgern, eine Bestätigung. Wir haben ihnen in der Tat etwas angetan."

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Aus: "Tübinger Revoluzzer" Oliver Stenzel (04.04.2018)
Quelle: https://www.kontextwochenzeitung.de/zeitgeschehen/366/tuebinger-revoluzzer-5008.html


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Quote[...] Es herrschen aufgewühlte Zeiten in Deutschland und Europa. Aber es ist doch kein Vergleich mit der Lage vor 50 Jahren, als die Bundesrepublik in Aufruhr war wie nie zuvor. Mit dem Anschlag auf den radikalen Studentenführer Rudi Dutschke und den folgenden Osterunruhen in Universitätsstädten erreichte im Frühjahr 1968 die Auseinandersetzung um den Weg Westdeutschlands aus der Nachkriegszeit einen Höhepunkt. Sie fügte sich ein in die Straßenkämpfe der revolutionären französischen Studenten und den Widerstand gegen den Vietnamkrieg in den USA. Nicht nur die Republik, die westliche Welt war in Aufruhr.

Dieser Kampf um die kulturell-politische Hegemonie wurde auf den Straßen ausgefochten, wie man es zuvor hierzulande noch nicht erlebt hatte. Viel mehr aber noch in den Hörsälen, in den Medien und überall, wo Menschen sich Gedanken machten über die Zukunft des Landes – in den Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, an Arbeitsplätzen und in den Kneipen. Westdeutschland war in jenen Jahren eine politisierte Republik, wie auch der breite Protest gegen die Notstandsgesetze zeigte, die die Große Koalition im Mai 1968 durch den Bundestag brachte.

Zwei Dinge fallen auf, wenn man auf diese Zeit zurückschaut: Die Radikalität mancher Debatten und der hohe Grad an Intellektualität, mit der sie geführt wurden. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas lieferten mit ihrer Kritischen Theorie das geistige Rüstzeug, aus der Dutschke und andere die Legitimation für den revolutionären Kampf gegen das System ableiteten, oft auch entgegen der Intention ihrer Lehrer.

Dutschke warb für eine revolutionäre Doppelstrategie nach dem Vorbild lateinamerikanischer Stadtguerilleros. Während eine kämpfende Avantgarde offen die Revolution organisierte, sollte eine verdeckt arbeitende Abteilung in die herrschenden Institutionen eindringen, um sie von innen her zu destabilisieren.

Dieser später viel apostrophierte lange Marsch durch die Institutionen war nicht als Karrierepfad für geläuterte Radikale wie Joschka Fischer an die Hebel des bürgerlichen Staates gedacht, sondern als Taktik im ,,permanenten Kampf für eine antiautoritäre sozialistische Weltgesellschaft". Doch diese Radikalität mündete nicht in Sprachlosigkeit mit der herrschenden Politik. Unter anderem der Sozialdemokrat Johannes Rau und der Liberale Ralf Dahrendorf stellten sich Debatten mit den Studentenführern.

So abstrus – und zum Teil mit verbrecherischen Irrwegen, wie der Terror der RAF – manche dieser Positionen auch waren, sie forderten die Mehrheitsgesellschaft zu einer geistigen Auseinandersetzung heraus, die dem demokratischen Klima im Lande gutgetan hat. Die heutige Klage, so vieles erscheine alternativlos, die meisten Politiker und Medien seien einer Meinung, der Mainstream ersticke jeden abweichenden Gedanken, wäre damals nicht verstanden worden.

Bis zum Beginn der 90er Jahre gehörten zum öffentlichen Meinungsspektrum ganz selbstverständlich auch widerständige Positionen, wie sie etwa die einstigen Grünen ,,Fundis" Jutta Ditfurth oder Thomas Ebermann vertreten. Solche Haltungen sind inzwischen in eine so außenseiterische Position geraten, dass sie im politischen Diskurs nicht mehr auftauchen. Das hängt auch mit dem Ende der Systemkonkurrenz durch den Untergang der Sowjetunion zusammen, das Norbert Blüm einst so famos auf die Formel gebracht hat: ,,Marx ist tot, Jesus lebt." So ist auch die Linke eine staatstragende Regierungspartei geworden.

Das hat zu einer geistigen Verödung geführt und der Sehnsucht nach Widerworten. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet eine neue Rechte beansprucht, diese Leerstelle zu füllen, manchmal gar mit kopierten Formen der einstigen linken APO (Außerparlamentarische Opposition). Doch bewegen sie sich auf einem intellektuell so unterbelichteten Niveau, dass sich nicht einmal aus dem Widerspruch zu ihren oft gar frei erfundenen Thesen irgendein geistig erhellender Funke schlagen ließe.

Das ist auch deshalb kein Wunder, weil ihre einzige Vision rückwärts gerichtet ist, auf historisch längst überwundene völkische und undemokratische Verhältnisse. Dass sich dafür kein intellektuell anspruchsvolles Umfeld findet, ist nicht überraschend.

Sie ist freilich auf der Linken nicht so viel besser, wo vor allem Schweigen und Ratlosigkeit herrschen. ,,Ich kann das nicht verstehen, ich kann diese Lethargie bei den Intellektuellen, Künstlern, Schriftstellern überhaupt nicht nachvollziehen", klagte gerade Bahman Nirumand, einer der klügeren Köpfe der 68er Bewegung. Was bleibt zu tun?

Wir sollten die Erinnerung an die aufrührerischen Tage vor 50 Jahren dazu nutzen, die Suche auch nach radikalen Alternativen wieder ernster zu nehmen. Die Herausforderungen unserer Zeit sind wahrlich nicht geringer, sondern komplexer geworden. Dass es damit auch nicht mehr so einfach ist, eindeutige Feindbilder zu bestimmen wie einst, macht die Sache nur umso spannender.


Aus: "1968er-Bewegung: Radikaler denken" Holger Schmale (12.04.2018)
Quelle: http://www.fr.de/politik/meinung/leitartikel/1968er-bewegung-radikaler-denken-a-1483687,0#artpager-1483687-1

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#31
Quote[...] 1968 geht als Jahr der Gewalt in die Geschichte ein: Am 4. April wird der Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet, am 6. Juni Robert F. Kennedy. In Vietnam sterben so viele US-Soldaten wie in keinem Kriegsjahr zuvor; amerikanische Kriegsverbrechen wie das Massaker von My Lai, dem mehr als 500 Zivilisten zum Opfer fallen, entsetzen die Öffentlichkeit. An der im Frühjahr besetzten Columbia University in New York droht der Studentenführer Mark Rudd (der sich später den militanten Weathermen anschließt) mit einem gewaltsamen Umsturz. Und im August gehen Polizeitruppen in Chicago hemmungslos gegen eine Kundgebung während des Nominierungsparteitages der Demokraten vor. Zu ihrem neuen Präsidenten wählen die Amerikaner wenig später Richard Nixon, der Law and Order verspricht statt Peace and Love.

Bei den Olympischen Spielen 1968 erheben die beiden afroamerikanischen Athleten Tommie Smith und John Carlos während der Siegerehrung die geballte Faust zum Black-Power-Gruß. Das Foto geht um die Welt. In Mexiko ruft die Chiffre "68" allerdings auch ganz andere Szenen in Erinnerung.

Am 2. Oktober des Jahres protestieren etliche Tausend Studenten, Arbeiter und Angestellte für eine Liberalisierung des seit fast 40 Jahren von der Partido Revolucionario Institucional autokratisch regierten Landes. 5.000 Soldaten umstellen den Platz der Drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco von Mexiko-Stadt, wo sich die Demonstranten versammelt haben, und feuern in die Menge. Etwa 300 Menschen sterben, Hunderte werden verletzt, Tausende festgenommen. Zehn Tage vor Beginn der als Friedensfest inszenierten Olympiade besiegelt das Blutbad das jähe Ende der mexikanischen Studentenbewegung.

Wie in Mexiko richtet sich der Protest in Brasilien nicht nur gegen autoritäre Mentalitäten und "Strukturen", sondern gegen eine autoritäre Regierung. Seit 1964 ist das Land eine Militärdiktatur. Linke Studentengruppen agieren aus dem Untergrund heraus. Anfang 1968 entzündet sich an einer Hochschulreform offener Protest.

Zunächst verläuft er friedlich. Dann, am 28. März, erschießt die Militärpolizei in Rio de Janeiro den 18-jährigen Schüler Edson Luis de Lima Souto. Rasch weitet sich die Revolte nun aus; Teile der Arbeiterschaft schließen sich den Studenten an. Im Sommer demonstrieren in Rio 100.000 Menschen.

Das Regime reagiert mit Waffengewalt und Repressionen – auch gegen Künstler, die sich die Ideen der antiautoritären counter culture zu eigen machen. Allen voran geraten die sogenannten Tropicalistas ins Visier der Behörden, eine Gruppe von Künstlern und Musikern, die bei ihren Auftritten in dadaistischer Manier Einflüsse aus aller Welt vermengen und mit Parolen wie É proibido proibir ("Es ist verboten zu verbieten") provozieren. Viele Tropicalistas fliehen ins europäische Exil. Einer von ihnen, der Sänger Gilberto Gil, wird 2003, Jahre nach dem Ende der Diktatur 1985, Brasiliens Kulturminister.

Am 2. Juni 1967 stirbt der Student Benno Ohnesorg am Rande der Proteste gegen den Besuch des persischen Schahs in West-Berlin durch einen Schuss aus einer Polizeiwaffe – das Schlüsselereignis für die westdeutschen Acht- oder vielmehr "Siebenundsechziger".

Die Suche nach den Ursprüngen des Aufruhrs führt, wie in den USA, zurück in die fünfziger Jahre. Zurück zu den Ostermärschen gegen die Atomrüstung. Zur beginnenden Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen – von der Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) von 1959 bis zum Frankfurter Auschwitz-Prozess. Zurück zu den Debatten über eine Neue Linke und zur Kritischen Theorie Adornos, Horkheimers und Marcuses. Zurück auch zu gegenkulturellen Bewegungen wie der Münchner Künstlergruppe SPUR, von der viele antiautoritäre Aktionen der legendären Kommune 1 inspiriert sind.

Mitte der sechziger Jahre wird der Westberliner SDS durch Rudi Dutschke zum Epizentrum der Rebellion. Und ging es zunächst um eine Reform der Hochschulen, steht alsbald die Weltrevolution auf der Agenda. Die wachsende Ablehnung des Vietnamkriegs, die Befreiungsbewegungen in der "Dritten Welt", Maos Kulturrevolution, Che Guevaras Versuch, die kubanische Revolution nach Bolivien zu tragen, und die Ereignisse in den USA wecken Hoffnungen auf einen Wandel.

Der scheint umso dringender, als viele deutsche 68er einen neuen "Faschismus" heraufziehen sehen. Die große Koalition und die Pläne für eine Notstandsgesetzgebung, die vielen Altnazis, die noch immer in hohen Positionen sitzen, und die Wahlerfolge der rechtsextremen NPD – das alles sind in ihren Augen grelle Alarmzeichen.

Das Jahr 1968 selbst bringt Radikalisierung und Zerfall: die Kaufhausbrandstiftung vom 2. April, an der die späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin beteiligt sind, das Attentat auf Dutschke am 11. April, die Unruhen danach.

Viele gemäßigte 68er finden in den folgenden Jahren zur SPD Willy Brandts, einige wenige Radikale beschreiten den Weg in den Terror. Ansonsten verläuft sich die Revolte in K-Gruppen, während sie an ihrem eher lebensweltlich und kulturell orientierten Ende zu einer Liberalisierung und Lockerung der bundesrepublikanischen Gesellschaft beiträgt.

In kaum einem anderen Land zeigt sich so deutlich, wie wenig der Geist des damaligen Aufbruchs allein im Kalenderjahr 68 zu suchen ist: Das "Jahr, das alles veränderte", verläuft in den Niederlanden ruhig. Auch davor und danach bleiben gewaltsame Auseinandersetzungen aus. Vielleicht weil der Protest hier auf eine erstaunlich tolerante und gelassene Gesellschaft trifft.

Provos nennen sich die niederländischen "68er", eine locker organisierte, 1965 gegründete Gruppe, die nicht nur aus Studenten besteht und zu deren wegweisenden Erfahrungen die Ostermarschbewegung zählt. Mit ihren fantasievollen Aktionen wollen sie nicht der Revolution den Weg bereiten: Eher setzen sie auf ein Unterlaufen des modernen Kapitalismus und die Selbstbefreiung des Individuums.

Manche ihrer Ideen sind heute, mit Abstrichen, Realität: etwa, im Zentrum von Amsterdam von jedermann benutzbare, weiß lackierte Fahrräder bereitzustellen. Gewagter war es da schon, die als kip ("Hähnchen") verspotteten Polizisten im Umgang mit dem Protest des "Provotariats" schulen zu wollen: Gesprächstherapie statt Barrikadenbau.

In den siebziger Jahren treten die Kabouter ("Heinzelmännchen") das Provo-Erbe an. Sie richten fehlende Spielplätze kurzerhand auf Brachflächen ein und nehmen ungenutzte Gebäude in Beschlag – was später in vielen europäischen Städten Nachahmer findet.

Im Mutterland der Revolution zündet der 68er-Funke spät, aber heftig. Für einige Wochen scheint gar eine fundamentale Wende nach links möglich.

Alles beginnt in Nanterre, an der Dependance der Sorbonne. Schon länger brodelt es auf dem Campus in dem Pariser Vorort. Als der Soziologiestudent Daniel Cohn-Bendit dann im Januar wegen einer Aufmüpfigkeit gegenüber dem Jugend- und Sportminister einen Verweis erhält, bricht sich der allgemeine Frust Bahn: der Verdruss über die Studienbedingungen an der anonymen Trabanten-Uni, über Wohnheime, die wie Internate geführt werden, bald auch über Vietnam und das kapitalistische System schlechthin.

Im Frühjahr erfassen die Proteste die Pariser Sorbonne. Im Mai tobt der Barrikadenkampf. In der Nacht vom 10. auf den 11. des Monats erlebt die Hauptstadt eine der gewaltsamsten Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit. Erinnerungen an die Pariser Kommune von 1871 werden wach. Zumal die neulinken Studenten Verstärkung von altlinken Kommunisten und Sozialisten erhalten. Wenige Tage später sind Millionen Franzosen im Streik. Nicht unbedingt, weil sie mit dem "roten Dany" sympathisieren, sondern weil sie ihre eigenen Interessen auf der Protestwelle vorantreiben wollen. Vielerorts besetzen radikale Arbeiter die Fabriken.

Als der Innenminister dem Studentenführer Cohn-Bendit nach einem Trip ins revolutionäre Frankfurt die Wiedereinreise verweigert, kocht die Erregung über. Mancher hört gar schon, wie der Spiegel es Ende Mai formuliert, "die Sterbeglocken des Gaullismus" läuten.

Nach Wochen des Aufruhrs jedoch schwindet der öffentliche Rückhalt, den die Studenten anfänglich genossen. Und statt ihrer haben die Gewerkschaften das Heft des Handelns ergriffen: In Verhandlungen mit der Regierung fordern sie nicht nur höhere Löhne, sondern den Rücktritt von Präsident Charles de Gaulle. Als dieser auf dem Höhepunkt der Konfrontation kurzzeitig das Land verlässt, rechnet mancher mit einem Militärputsch.

Nach seiner Rückkehr stellt der Präsident klar, dass nicht er und auch nicht Ministerpräsident Georges Pompidou zurücktreten wird. Stattdessen löst er die Nationalversammlung auf.

Damit gelingt es ihm, die Stimmung zu drehen. Bei den Neuwahlen Ende Juni triumphieren die bürgerlichen Kräfte, während der Anteil der Linken auf nahezu die Hälfte schrumpft. Nirgends in Europa entwickelten die Proteste eine ähnliche Dynamik wie in Frankreich im Frühjahr 1968 – und nirgends waren sie so kurzlebig.

Der Wandel scheint im Vereinigten Königreich zunächst von oben zu kommen: 1964 gewinnt die Labour Party bei den Unterhauswahlen die Mehrheit. Doch die linken Hoffnungen, die sich auf die neue Regierung richten, werden rasch enttäuscht.

Zum Zentrum des studentischen Aufbegehrens wird 1966 die London School of Economics. Auslöser ist die Besetzung des Direktorenpostens mit dem ehemaligen Prinzipal des University College in Rhodesien, einem Apartheidstaat im heutigen Simbabwe, der bis 1965 Kronkolonie war. Im März 1967 besetzen Studenten ihr Institut, und zur Erregung über den neuen Direktor kommen rasch neue Themen: der Vietnamkrieg und die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika. Eine breite Studentenbewegung wird nicht daraus.

Weitaus wichtiger für das britische Achtundsechzig sind die sprichwörtlich gewordenen kulturellen Ingredienzen der Revolte: Sex, Drogen und Rock 'n' Roll. Von London – und von Paris – gingen die entscheidenden Impulse für die Mode der sechziger Jahre aus. Und aus Großbritannien – nicht den USA – kamen die beiden einflussreichsten Bands der Dekade, die Beatles und die Rolling Stones. Geprägt haben sie, anders als viele der politischen 68er-Ideale, Bürger- und Arbeiterkinder gleichermaßen.

In Südeuropa gibt es 1968 mehr rechte Regime als Demokratien: In Spanien herrscht Franco, in Portugal – bis Mitte des Jahres – Salazar; Griechenland ist seit 1967 eine Militärdiktatur. Auch im demokratischen Italien geht das Gespenst des Faschismus um. Ende April 1966, kurz nach dem Nationalfeiertag zu Ehren der Partisanenaufstände in Norditalien 1945, kommt der Student Paolo Rossi bei einer Auseinandersetzung mit neofaschistischen Kommilitonen ums Leben. Sein Tod setzt eine landesweite Erhebung in Gang, die Italien über Jahre in Atem halten wird.

Zunächst sind es die Studenten, die rebellieren. Und zunächst richtet sich ihr Zorn gegen die Zustände an den Universitäten, gegen den Professorenmangel, Studiengebühren und die wachsende Arbeitslosigkeit unter Akademikern. Frustriert sind vor allem Absolventen aus unteren Schichten, die sich um ihre Aufstiegschancen betrogen sehen.

1968 eskaliert der Konflikt in Rom, als der Rektor die Protestierenden unter Androhung eines Polizeieinsatzes auffordert, den Campus zu verlassen. Tags darauf attackieren wütende Studenten eine Polizeieinheit mit Steinwürfen – der Anfang einer Radikalisierung, die sich bald auch jenseits der Universitäten ausbreitet.

Etwa in den Fabriken Norditaliens, wo seit den fünfziger Jahren mehr und mehr ungelernte Kräfte aus dem rückständigen Süden unter prekären Bedingungen arbeiten. Agitiert wird dieses Milieu von den Anhängern des Operaismus, einer marxistisch-anarchistischen Bewegung, die sich als Alternative zur erstarrten Kommunistischen Partei begreift. Mithilfe kleiner Gruppen "arbeitender Studenten" beschleunigen sie die Mobilisierung.

Streiks, Werksbesetzungen und Prügeleien in den Betrieben sind die Folge, begleitet von Demonstrationen in den Städten. Immer wieder geraten Protestierende und Polizei heftig aneinander. Neofaschisten heizen den Konflikt mit Mordanschlägen und Bombenattentaten an. Es herrscht ein Klima der Gewalt, in dem einige der radikalisierten Studenten in den terroristischen Untergrund abtauchen. 1970 gründen sich die Brigate Rosse, die Roten Brigaden, die in Italien bis weit in die achtziger Jahre hinein aktiv bleibt.

Besuchern der Tokioter Eliteuniversität Todai bietet sich 1968 ein bizarrer Anblick: Mit Helmen und Holzlatten bewehrte Studenten stehen sich wie mittelalterliche Krieger in Formation gegenüber, brüllen sich durch Megafone gegenseitig an, werfen einander "falschen Kommunismus" vor und gehen prügelnd aufeinander los. In keinem anderen Land trägt die Revolte so brutale Züge, und in keinem anderen Land eskaliert die Rivalität studentischer Gruppen in solch blutiger Weise.

Die japanische Studentenschaft ist früh organisiert – von 1948 an, in dem der Kommunistischen Partei nahestehenden Verband Zengakuren. Und früh regt sich dort die Kritik an der Stationierung amerikanischer Soldaten in Japan. Bereits 1959 organisieren Studenten Proteste – und bereits damals setzt eine Zersplitterung in konkurrierende Fraktionen ein. Mitte der Sechziger eint sie kurzzeitig die Opposition gegen den vor der eigenen Haustür tobenden Krieg in Vietnam. Von 1967 an liefert sich die politisierte Jugend regelrechte Schlachten mit der Polizei.

An den Universitäten artikuliert die Studentenschaft von Mitte der sechziger Jahre an ihr Unbehagen am autoritären Erziehungssystem. 1968 werden Hochschulen wie die renommierte Todai in Tokio komplett bestreikt und verwandeln sich in den Schauplatz eines erbitterten Kleinkriegs um die Vorherrschaft auf dem Campus. Bis Mitte der Siebziger fordern die Fraktionskämpfe 44 Tote und fast 5.000 Verletzte – weitaus mehr Opfer, als die japanische Rote Armee Fraktion auf dem Gewissen hat, die 1971 aus den Straßenkämpfen der sechziger Jahre hervorgeht.

Der Prager Frühling ist nicht der erste Versuch, demokratische Reformen im Ostblock durchzusetzen. Und er ist nicht der erste, den Moskau niederschlägt: Im August 1968 rollen sowjetische Panzer über die Grenzen der ČSSR, so wie es 1953 in der DDR geschehen ist und 1956 in Ungarn.

Der Frust über die Verhältnisse hat sich in der Tschechoslowakei über Jahre angestaut, schon 1953 ist es in Pilsen zu einem ersten Aufstand gekommen. Die Wirtschaft stagniert, es herrschen Zensur und ruinöser Stillstand. Kritik wird von vielen Seiten laut: sei es 1967 auf dem Kongress des Schriftstellerverbandes oder in der Kommunistischen Partei selbst, wo der Ökonom Ota Šik Wege aus der Misere sucht. Studentischer Ungehorsam flankiert den Wandel eher, als ihn anzutreiben. So am 31. Oktober 1967, als in Prag 1.500 Studenten mit Kerzen und der hintersinnigen Parole "Mehr Licht!" auf die Straße gehen, um gegen die Zustände in den schlecht beheizten und mangelhaft mit Strom versorgten Wohnheimen zu protestieren.

Der Mann, auf den sich bald alle Hoffnungen richten, heißt Alexander Dubček. Am 5. Januar 1968 wird er Erster Sekretär des Zentralkomitees. Binnen weniger Wochen bringt er das Land auf Reformkurs, lockert die Zensur, setzt eine Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen in Gang und verspricht einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Die Aufbruchsstimmung führt zu immer weiter gehenden Forderungen der Zivilgesellschaft. Dubček, der aus Moskau argwöhnisch beobachtet wird, bringt dies rasch in Bedrängnis. Nach knapp acht Monaten erstickt die Sowjetunion den demokratischen Frühling mit militärischer Gewalt.

Ende Januar 1968 demonstriert eine kleine Gruppe von Studenten in Warschau gegen die Zensur des Kulturlebens, nachdem ein Drama des polnischen Dichterfürsten Adam Mickiewicz abgesetzt worden ist. Im März weitet sich die Kritik zum Massenprotest aus, der auch die Universitäten ergreift.

Das Regime unter Władysław Gomułka reagiert mit Schlagstöcken, Handschellen und Tränengas – und mit antisemitischer Propaganda. Hinter den Protesten, heißt es, steckten "aufwieglerische Zionisten". Tag für Tag decken regierungstreue Zeitungen angebliche Verschwörungen auf: der Beginn einer Hetzjagd, die viele Beobachter an Stalins antizionistische Kampagne der frühen fünfziger Jahre erinnert.

Die Sündenbock-Taktik verfängt – und ermöglicht es Gomułka nicht nur, einige der Protestführer zu isolieren, die aus jüdischen Elternhäusern stammen, sondern auch unliebsame jüdische Genossen aus dem Staatsapparat zu entfernen. Bis zum Sommer 1969 verlassen rund 11.000 jüdische Polen das Land, unter ihnen Hunderte Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler.

Wird die Prager Frühlingsstimmung auch die DDR erfassen? Die Befürchtungen in der SED-Führung sind groß, zumal die Tschechoslowakei zu den beliebtesten Reisezielen der DDR-Bürger zählt.

Schnell nimmt das staatliche Reisebüro das Nachbarland aus dem Programm. Verhindern aber lässt sich nicht, dass der Funke hier und da überspringt. Zu großen Protesten allerdings kommt es nicht. Courage beweisen all jene, die Transparente aufhängen und Flugblätter verteilen, auf denen sie ihre Solidarität mit Dubček bekunden. Den Akten der DDR-Generalstaatsanwaltschaft zufolge werden 1189 meist junge Ostdeutsche wegen ihrer Sympathie für die Reformen in der ČSSR strafrechtlich belangt.

Ansonsten hat sich der Protest 1968 in die Nischen der realsozialistischen Gesellschaft zurückgezogen. Anders drei Jahre zuvor. Damals erlebt der "Arbeiter-und-Bauern-Staat" ein kleines Achtundsechzig: während der Beat-Proteste im Herbst 1965, als die Staatsmacht die Versammlungen einiger Hundert "echter Beat-Fans" zusammenprügelt. Ende 1965 dann dekretiert Walter Ulbricht auf dem berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees, dem sogenannten Kahlschlagplenum, eine Art sozialistische Leitkultur in Abgrenzung zum Westen. Es müsse, rief er, Schluss sein mit der "Monotonie des Yeah Yeah Yeah". Wenn man irgendwo in vollem Ausmaß begriff, wie revolutionär die kulturellen Errungenschaften der sechziger Jahre waren, dann hier, hinter dem Eisernen Vorhang.

...


Aus: "1968: USA, LSD & SDS" Christian Staas (18. April 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/2018/17/1968-revolution-befreiungsbewegungen-weltweit-schlaglichter/komplettansicht

Quote
r.schewietzek #2

Vor 68 war es auch noch üblich in Deutschland, daß Mädchen knicksen mussten, wenn sie jemanden begrüßten und natürlich trugen sie Röcke - Hosen waren verpönt, allenfalls trug man im Winter Skihosen, wenn Schnee lag und man Winterstiefel anziehen musste, um keine nassen Füsse zu bekommen. An Hosen für Mädchen als allgemeine Bekleidung war nicht zu denken.

Vielleicht sollte man noch dazu sagen, daß es damals noch Kolonialismus gab - und es gab Bilder, wo man sehen konnte, wie portugiesische Kolonialisten die abgeschlagenen Köpfe von 'Terroristen' in Angola in die Luft hielten; das waren keine historischen Bilder, sondern aktuelle. Wenn man den Spiegel las, galt man schon als revolutionär und die Frauenbewegung existierte nur marginal. Abtreibung war natürlich verboten und Homosexualität war strafbar und wurde auch bestraft - mit Gefängnis. Ehemänner durften bestimmen, ob ihre Frauen arbeiten durften, bzw. es verbieten - und falls diese angeblich die Familie vernachlässigten, konnte das tatsächlich als Scheidungsgrund herhalten. Ein Ehemann konnte auch die Ersparnisse seiner Frau vom Konto abheben und ausgeben, ohne zu fragen. Natürlich hätte auch die Bank oder Sparkasse niemals die Frau davon verständigt. Der Vater einer Schulfreundin von mir hat ihr Sparbuch geplündert, er war Alkoholiker, das Geld war weg. Erdbeeren im Winter gab es nicht, Kiwis auch nicht, und diverses anderes importiertes Obst auch noch nicht. Die Welt hat sich wirklich verändert.


Quotelennon68 #2.2

Danke für die Ergänzungen, die zeigen wie verknöchert die Gesellschaft damals noch war. Nicht zu vergessen, die sexuelle Revolution. Keine sexuelle Aufklärung an Schulen, Abtreibungen waren verboten, die Pille kaum zugänglich. Unverheiratete durften nicht zusammen wohnen; kein Sex vor der Ehe. ...


Quotenana hara #3

Einige Kommentare wie "Euch sollte man vergasen", "An die Wand stellen" oder "Hitler hätte mit Euch aufgeräumt" waren damals die Sprache der Mehrheit über die asozialen Gammler und Demonstranten in Deutschland! Die Zeiten haben sich Gott sei`s gedankt geändert.

Ich erinnere mich noch gut: abends am Tisch beim Abendessen und ihm schwarz-weiß Fernsehen: brennende Dörfer, schreiende Menschen, eine entfesselte Militärmaschinerie (Vietnam) ...


QuoteSt.Expeditus #5

Die 68er waren nur eine kitschige Kopie der Chinesischen Kulturrevolution unter Mao.
Die wahren Revolutionäre waren Elvis Presley, Chack Berry, die Beatles und die Rolling Stones. Sie haben Millionen junger Leute erreicht und deren Leben verändert.
Die 68er waren elitär, doktrinär, autoritär. Sie haben - Gott sei Dank - die Welt nicht verändert.


Quotenana hara #5.1

Ich weiß nicht wo derKitsch der 68er ist, sicherlich haben die 68er nicht Millionen Menschen ermordet und Interlektuelle auf's Land verschickt.

Das die Musik ihren Einfluß hatte ist zweifellos richtig. Aber diese Musik war nur "Urwaldmusik", wie man damals sagte, zum Hüfte wackeln und zur Partnersuche. Ich glaube nicht, dass sich diese Musik mit dem Nazi-Terror der Vergangenheit auseinander gesetzt hat, sowie dies die 68er versucht haben. ...


QuoteHeimdahl #8

Der rebellische Lifestyle war schon der Abgesang, der in der am besten bestochenen Generation aller Zeiten mündete. Sogar ihren Nimbus durften sie mit in die Führungsposten nehmen.

Fundamentalkritik fand einige Jahre früher statt, insbesondere an Wiederbewaffnung, unkritischer Westbindung und Konsumgesellschaft als Bestechungsmittel. ,,68" war die Kanalisierung dieser Kritik ins Integrierbare.


Quotemagnalogger #11

Ich fand es interessant, dass die Kinder der fanatischsten Nazis oftmals zu fanatischen Linken wurden.
Vater war Fähnleinführer, Sohn wurde glühender Maoist, Marxist oder whatever.


Quotedeep_franz #11.1

Das ist nun gar nicht verwunderlich, sondern im Grunde klassischer Bestandteil jeder Jugendkultur. Es lässt sich übrigens auch in genau die andere Richtung beobachten, wenn aus den Kindern der "Revolutionäre" richtig konservative "Spießer" werden.
M.E ist dieser Mechanismus jugendlicher Auflehnung gegen die Elterngeneration sogar Teil der "Erfolgsgeschichte" der Menschheit.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Catherine Millet 70, leitet als Kunstkritikerin in Paris das Magazin art press. Ein Welterfolg war ,,Das sexuelle Leben der Catherine M." Aktueller Titel: ,,Traumhafte Kindheit".

... Der Mai 1968 hat die Sexualität aus der Versenkung geholt. Frauen wollten frei Lust empfinden. ... Jeder weiß, dass der Mai 68 am 22. März 1968 begann, als eine Gruppe Studierender den Sitzungssaal der Professoren ganz oben im Verwaltungsgebäude der Universität Nanterre besetzte. Freilich hatte es schon zuvor Proteste und Aktivitäten aller Art gegeben. So hatte die studentische Campusinitiative für den Abend des 21. März Myriam Revault d'Allonnes zu einer Vorlesung über Die sexuelle Revolution von Wilhelm Reich eingeladen – eine gute Gelegenheit, um das Manifest des Orgontheoretikers ,,Was ist sexuelles Chaos?" als Flugblatt zu verteilen.

Ein Beispiel darin für sexuelles Chaos: ,,Durch erotische Filme die Jugendlichen sexuell zu erregen, um Geschäfte zu machen, aber ihnen die natürliche Liebe und Befriedigung, noch dazu mit Berufung auf die Kultur, zu versagen."

... Pierre Viansson-Pontés Artikel ,,Wenn Frankreich sich langweilt" [Quand la France s'ennuie], eine Woche vor dem 22. März 1968 in Le Monde erschienen, wird heute oft als Beispiel für Verblendung herangezogen. Er schreibt: ,,Was macht unsere Jugend? Sie will wissen, ob die Mädchen von Nanterre oder Antony freien Zugang zu den Zimmern der Jungs bekommen – ein beschränkter Begriff der Menschenrechte." Anders gesagt: Nichts zu erwarten von unserer nutzlosen Jugend, die sich mehr für Belanglosigkeiten interessiert als für Politik.

Diese Auffassung steht für eine Geisteshaltung, die das Thema Sexualität zwar nicht ignoriert, es aber trotzdem für vollkommen unernsthaft hält. Unwichtig, unbedeutend. Bei einer Schwimmbadeinweihung am 8. Januar 1968 auf dem Campus von Nanterre kritisierte Daniel Cohn-Bendit den Sport- und Jugendminister François Missoffe dafür, dass er sich nicht für die sexuellen Schwierigkeiten der Jugend interessiere. Der Minister empfahl dem jungen Mann daraufhin einen Sprung ins Becken, er riet zu kaltem Wasser als Gegenmittel, so wie andere früher Bromid zur Beruhigung verschrieben hätten. Ein Sprung ins Wasser, und schon denkt man nicht mehr daran.

Der Journalist wie auch der Minister hinkten weit hinter ihrer Zeit zurück. Ihre Äußerungen legen die große Kluft offen, eine Kluft zwischen Mächtigen in den Medien und der Politik und dem, was in der Gesellschaft damals bereits gelebt wurde. Der Pariser Mai hat die Gesellschaft nicht umgekrempelt, aber er hat die Notwendigkeit aufgezeigt, dass die Regierenden ihre Uhren richtig stellen. Trotz allem hätten Viansson-Ponté und Missoffe im Hinterkopf haben sollen, dass die Nationalversammlung im Dezember 1967 endlich die Empfängnisverhütung legalisiert hatte, was nicht ohne Kampf abgegangen war. Doch sogar General de Gaulle hatte sich den Argumenten von Lucien Neuwirth, dem Initia­tor des Gesetzes, gebeugt. Dieses Gesetz bestätigte gewissermaßen die tiefgreifende Veränderung, die in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen begonnen hatte, vor allem bei den Babyboomern, die nun in einem Alter waren, dass sie selbst Kinder bekamen, und deren Lebensstil sich an der amerikanischen Gegenkultur orientierte, vielleicht träumten sie ja vom Summer of Love in San Francisco.

Heute denke ich, dass es für meine Freundinnen, die bürgerlicher aufgewachsen sind als ich, sicher viel schwieriger war, von ihren eher konservativen Eltern die Erlaubnis zu kriegen, die Pille zu nehmen. Ich komme aus einem volkstümlichen Pariser Vorort, und sobald meine Mutter merkte, dass ich sexuelle Kontakte hatte, schickte sie mich zum Arzt. Das war 1966, als die Pille bereits unter dem Vorwand medizinischer Gründe verschrieben werden konnte. Merci, Maman! Sie ermöglichte mir ein Jahr Vorlauf vor dem Gesetz.

Vor dem Gesetz, nach dem Gesetz – die Vorschriften auf dem Campus von Nanterre waren folgende: Nach 22 Uhr durften die Jungs Besuch bekommen, während dies den Mädchen verboten war. Ich habe mir viele Gedanken über diese absurde Ungleichbehandlung gemacht. Florence Prud'homme, heute Frauenrechtlerin und Verlegerin, die 1968 auf dem Campus lebte, erinnert sich, dass Studenten und Studentinnen intensive Kontakte hatten und dass es in Nanterre eine Beratungsstelle für Familienplanung gab. Florence nimmt mir darüber hinaus meine naive Vergesslichkeit in Bezug auf die damalige Mentalität: Jungen Männern wurden Bedürfnisse zugestanden, die junge Frauen gar nicht kannten. Frühere Generationen fanden es ja auch normal, dass ein junger Mann seine ersten sexuellen Erfahrungen im Bordell machte, während ein junges Mädchen seine Jungfräulichkeit bewahren musste. Beim Mann also ist sexuelles Verlangen drängend, bei der Frau kann es warten. Eine Moral und ein Begriff von Körperlichkeit, die eher ins 19. Jahrhundert gehören!

Der Dekan nannte die Studenten, die den Abend des 21. März 1967 bei den Studentinnen verlängert hatten, ,,Eindringlinge". Doch sie waren nirgendwo eingedrungen – die Mädchen hatten ihnen die Tür geöffnet. Sie haben damals deutlich gemacht, dass ihre Lust genauso drängend sein kann wie die der Männer. Meine These ist einfach: ,,Lust ohne Fesseln" [jouir sans entraves] wäre nicht auf die Mauern geschrieben worden, hätten die Frauen nicht zuvor beschlossen, dass sie ebenso frei Lust empfinden wollen wie die Männer.


Aus: "Der Mai '68 in Frankreich - Merci, Maman!" Catherine Millet (12. 5. 2018, Übersetzung: Gaby Wurster)
Quelle: http://www.taz.de/Der-Mai-68-in-Frankreich/!5501327/

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Berlin - Diesmal ist er wirklich tot: Der linksradikale Politaktivist Dieter Kunzelmann, der 1998 per Todesanzeige seinen Selbstmord vorgetäuscht hatte, ist am Montag im Alter von 78 Jahren in seiner Kreuzberger Wohnung verstorben. Das bestätigte sein Anwalt Hans- Christian Ströbele dem Berliner KURIER.

Er war eine der führenden Personen der Studentenproteste in West-Berlin, Freund Rudi Dutschkes, Mitbegründer der Kommune 1, Terrorist und 1983 bis 1985 Abgeordneter des Grünen-Vorläufers Alternative Liste. Sein ehemaliger Anwalt, zeitweiliger Arbeitgeber und Weggefährte Hans-Christian Ströbele sagte dem KURIER: ,,Ich bin sehr traurig. Das ist eine Zeit, um nachzudenken und sich zu erinnern."

Er hatte erst ein Ei auf den Dienstwagen des damaligen Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU) geworfen und beim Prozess ein Ei auf dem Kopf des Zeugen Diepgen zerdrückt – begleitet von den Worten: ,,Frohe Ostern, du Weihnachtsmann." Dafür sollte Kunzelmann sitzen, ,,starb" aber lieber ,,Auferstanden" war er ein gutes Jahr später, trat seine Haft an und kam im Mai 2000 frei. Dabei warf er drei Eier an das Gefängnis Tegel.

So ulkig das heute klingen mag: Der Provokateur Kunzelmann, zeitweilig Mitglied der ,,umherschweifenden Haschrebellen", war kein harmloser Clown. 1969 lernte er – begleitet von seiner Freundin und späteren Terroristin des ,,2. Juni", Ina Siepmann – bei den palästinensischen Fatah-Bewegung das Bombenbauen und das Schießen.

Kurz nach seiner Rückkehr wurde am Jahrestag der ,,Reichspogromnacht", dem 9. November 1969, eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus gelegt, die aber nicht explodierte. Urheber waren laut einem Flugblatt die Terrorgruppe ,,Tupamaros West-Berlin", deren Kopf Kunzelmann gewesen sein soll.

Er hatte die Bombe offenkundig nicht gelegt, ehemalige Mitstreiter beschuldigten ihn aber der Anstiftung und bezeichneten ihn als Antisemiten. Kunzelmann selbst bestritt später eine Beteiligung an dem Anschlag. Später saß er wegen Brandstiftungen und anderer Straftaten jahrelang hinter Gittern.


Aus: "Dieter Kunzelmann (✝78) Abschied von einem Bürgerschreck" Christian Gehrke, Gerhard Lehrke (16.05.18)
Quelle: https://www.berliner-kurier.de/berlin/leute/dieter-kunzelmann---78--abschied-von-einem-buergerschreck-30412794

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Quote[...] Der Politologe Wolfgang Kraushaar deckte 2005 auf, dass Peter Urbach, ein V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes, die Bombe geliefert hatte. Die Berliner Behörden kannten durch ihn die Namen der beteiligten Täter, die der Schlussbericht einer eingesetzten Sonderkommission benannte. Die Staatsanwaltschaft erhob jedoch keine Anklage; der damals zuständige Staatsanwalt wollte sich 2005 nicht dazu äußern. Kraushaar erklärt dies mit dem ,,großen Ansehensverlust der Bundesrepublik", falls der Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus mit staatlichen Mitteln verübt wurde.[11] Urbachs Rolle bei dem Anschlag wurde nicht vollständig geklärt.[9] ...

[9] Gerd Koenen: Rainer, wenn du wüsstest! Der Anschlag auf die Jüdische Gemeinde am 9. November 1969 ist nun aufgeklärt – fast. Was war die Rolle des Staates? In: Berliner Zeitung, 6. Juli 2005
[11] Steffen Mayer, Susanne Opalka: Bombenterror gegen jüdische Gemeinde – nach 30 Jahren packt der Täter aus. Kontraste, 10. November 2005 (Nachdruck)


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Tupamaros_West-Berlin (23. April 2018)

https://de.wikipedia.org/wiki/Zentralrat_der_umherschweifenden_Haschrebellen

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Quote[...] Kommune 1: Politaktivist Dieter Kunzelmann ist tot - Er war Mitbegründer der Kommune 1 und galt als wichtiger Aktivist der Studentenbewegung in den 1968er Jahren. Mit 78 Jahren ist Dieter Kunzelmann gestorben.  ...

QuoteKonfusius #10

Zu Glanz und Elend (ja auch Elend) der 68er-Bewegung empfehle ich Götz Aly: 'Unser Kampf: 1968 - ein irritierter Blick zurück'. - Er, - wir alle, - waren oder sind (so wir noch leben) - Kinder unserer Zeit, Suchende und Irrende, belastet mit schweren Hypotheken der Vergangenheit. Aber war überhaupt lebendig, wer nicht suchte und irrte ?



QuoteDierahape45 #9

Namensvetter und Weggefährte, ich selbst habe bald schon in Frankfurt einen anderen Weg beschritten, aber ich halte dich in guter Erinnerung.
Fantasievoll, verrückt, mutig und menschlich warst du immer.



Quote
matotope #8

Ein wahrer Situanionist.



Aus: "Politaktivist Dieter Kunzelmann ist tot" (16. Mai 201)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-05/kommune-1-dieter-kunzelmann-gruender-tot

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Textaris(txt*bot)

#34
Quote[...] Der klerusnahe Psychiater Raphael Bonelli warf jetzt im ORF den 68ern vor, sie seien "in der Pubertät steckengeblieben, denn sie müssen ständig gegen etwas sein, obwohl sie schon Jahrzehnte das Establishment erobert haben". Aber wenige Jahre nach '68 kamen die praktischen Maßnahmen der großen gesellschaftspolitischen Reformen der ersten sozialdemokratischen Alleinregierung unter Bruno Kreisky: Familienrechtsreform, Strafrechtsreform, Bildungsreform durch neue Hochschulgesetze, Schülerfreifahrten und Gratisschulbücher. "Das ist genau die Lücke, in die Kreisky hineinstieg", sagt Rathkolb. Der SPÖ-Kanzler war ein Gegner der 68er, fing aber gleichzeitig das gesellschaftliche Bedürfnis nach Veränderung auf – und brachte es 1970 genau dorthin, wo der Bedarf war: bei Jungwählern, Erstwählern, bei den Frauen, in kleinen Gemeinden. "Das sind jene Gruppen, die von den autoritären Strukturen am stärksten unterdrückt waren." "Eine entscheidende Veränderung war der Umgang mit Kindern", urteilt Fischer-Kowalski. "Das ist wirklich geblieben und hat einen Riesenunterschied gemacht. Das antiautoritäre Moment hat die Sozialisationsbedingungen von Kindern nachhaltig verändert. Der schiere Autoritarismus und die Gewalt gegen Kinder haben sich stark verringert." "Die Familien- und Sexualstrafrechtsreformen von Kreisky hätte es ohne die 68er nicht gegeben", sagt Gerfried Sperl, früherer STANDARD-Chefredakteur und damals Chef der Hochschülerschaft Graz. Sperls "Aktion" war übrigens der Beleg dafür, dass Österreich 1968 nicht nur links, sondern auch bürgerlich-katholisch- liberal war. Die Forderung der Grazer Studenten: Die "kostümierten" Burschenschaften müssen von den Feierlichkeiten an den Unis verschwinden . "Am stärksten geblieben von 1968 ist die Hochschulgesetzgebung", sagt Sperl. Mitbestimmung, Drittelparität, Schluss mit der Herrschaft der Ordinarien.

Und die "Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie" (Kreisky). Der Gedanke, dass man Autoritäten infrage stellen kann, sogar erfolgreich, dass Hierarchien nicht gottgewollt sind, dass es eine Liberalität des Denkens gibt – "dieser Gedanke hat Österreich massiv verändert", ist Peter Kowalski überzeugt. Eine Rolle dabei spielte für Peter Huemer die "Demokratisierung" durch den neuen ORF, einfach durch intensive Berichterstattung. Ist eine neue Revolution am Horizont? Derzeit nicht, sagen alle. Eine Umfrage, die Rathkolb gemeinsam mit dem Sora-Institut gemacht hat, zeigt sogar einen Schub in Richtung autoritäre Einstellungen. "Momentan kämpfen auch gut Ausgebildete in prekären Verhältnissen um ihre Zukunft. Aber wenn ihnen das Wasser bis unter die Nase reicht, dann werden sie sich schon rühren." (Hans Rauscher, 21.5.2018)

...


Aus: "1968 – war da was?- SPURENSUCHE" Hans Rauscher (21. Mai 2018)
Quelle: https://derstandard.at/2000080015931/1968-War-da-was

Quoteanders and 69

a bisserl a akademische Nabelschau ist das schon - der erste kulturelle Umbruch kam doch um 1955 mit der städtischen Arbeiterjugend, die sich an James Dean und Elvis Presley orientierte, und ihr Leben nicht mehr alleine auf Arbeit und Familie hin orientieren wollte, wie das in den vermieften 50ern zuvor üblich war;
aber dafür interessieren sich die angeblich linken, intellektuellisierenden Zirkel ja überhaupt nicht. Sind ja nur Arbeiter, die mit der Elite überhaupt nichts am Hut hatten, wie garstig!


QuoteEdwinTheMan

Kommt alles wieder. Jetzt kommt erst mal der Spießermief zurück, halt laktosefrei und ohne Gott, dafür um so mehr mit Geld. Irgendwann wird's dann wieder zu dick werden, so ein Spießerleben hat auf die Dauer einfach zu viele Widersprüche. Dann werden wieder Leute kommen, die das ganze wieder aufbrechen.


QuoteGrüner Hein

Lernunfähigkeit - Sämtliche 68er-Konzepte sind gescheitert: Freie Liebe, Multikulti, antiautoritäre Erziehung, Abschaffung von Heimat und Familie usw.
Trotzdem scheinen die Proponenten dieser "Revolution" bis heute nichts dazuzulernen. Selbstreflexion ist den 68ern anscheinend unbekannt, was umso mehr verwundert, als diese Leute doch intelligent waren. Somit bleibt als Erklärung für ihre Irrationalität nur ein für heutige junge Leute unvorstellbares Ausmaß an Komplexen, was sicher mit der Erziehung durch die Kriegsgeneration zusammenhängt.


Quoteanders and 69

"neues Biedermeier" ist doch schon seit 45 Jahren ein Schlagwort für die jeweils aktuelle Situation - lustig, wie viele Leute meinen, das sei originell so unheimlich passend, gerade für die jetzige Situation - dabei wird "das Neue Biedermeier" zuverlässig mindestens alls fünf Jahre ausgerufen:

"Ein neues Biedermeier?" (29.01.1973)
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42713745.html


QuoteJuusto Hampurilainen

Die 68er haben die Kriegsgeneration noch als voll im Leben stehende, vitale Patriarchen mit Allmachtsanspruch erlebt und versucht, dieser autoritären und rückwärtsgewandten Welt etwas entgegenzusetzen. Im Gegensatz dazu kennen die Millenials diese extreme gesellschaftliche Enge nicht. Ihr Bezug zur Kriegsgeneration ist entweder inexistent oder jener zu altersmilden Großeltern, bei denen man nicht so genau hinhört, wenn sie eigenartige Ansichten absondern.
Diese junge Generation wählt nun wieder den Rückschritt und kapiert nicht, was sie sich damit einbrockt.



QuoteLe Comte

Für mich ist das Folgende charakteristisch für das, was sich geändert hat:

Anzeige nach StVO vor 68:
Sie haben sich am y.x hierorts um 10:45 im Zimmer xxx einzufinden.

Nach 68:
Sie werden gebeten etc. Sollten Sie dazu nicht in der Lage sein, bitten wir Sie um telefonische Kontaktaufnahme.


Quotemy nucular dingaling

Erst vor kurzem wieder eine Doku über die Muehl Kommune gesehen. Ein Drecksack und perversr Kinderschänder der sich für eine art Gott hielt. Ich weiß schon, jetzt kommen wieder die Leute die meinen man muss die Kunst und die Person trennen, aber das ist in meinen Augen Unsinn.


QuoteAnton Szanya

Revolutionsjahr 1968? - Das studentische Revolutionsjahr war 1848!
Damals forderten die Studenten mit Erfolg Lehr- und Lernfreiheit und die Abschaffung des streng reglementierten Studienganges, der auch schon damals "prüfungsinaktive" Studenten sanktionierte. Der damalige Studiengang hatte, wie Anton Massari es ausdrückte, in erster Linie "philantropistische" Ziele, das heißt die Verwendbarkeit der Studenten als juristisch geschulte Beamte und als taugliche Ärzte. Der heutige Bologna-Prozess mit seinem Zwang zum Erwerb der erforderlichen Anzahl an ECTS-Punkten ist im Grunde nichts anderes.
Ein Studium im eigentlichen Sinne zur Befriedigung wissenschaftlichen Erkenntnisdranges und Bereicherung der Persönlichkeit war damals so unmöglich wie es das heute ist.
Wir leben wieder in einem Vormärz.


Quotedasmussichloswerden

Was lief den zeitgleich in katholischen und staatlichen kinderheimen ab, in priesterseminaren? Was in gutbürgerlichen, angesehenen familien? Wieso fanden sich Altnazis als lehrer und richter unbehelligt in der gesellschaftsmitte? Ich kann die 68er heute bestens verstehen und ohne deren radikalität und provokation hätte sich gar nichts geändert. Es war nicht die zeit und nicht die Verpflichtung für alles lösungen anzubieten, aber der protest war und bleibt vorbildlich.


QuoteGünther Bauer sen.

Was wirklich etwas bedeutete war nicht die "Uniferkelei", die wurde von den Jugendlichen eher mit Humor genommen. Das Wichtige war der Generationenwechsel der Jugend vom Folgsamen, Strebsamen und auf Konvention bedachten Heranwachsenden zum Nein-Sager, Kritiker und Nonkonformisten. Gab es in den 50ern und Anfang der 60er nur das Bestreben, den Eltern nachzueifern und auch "Erwachsen" sein zu wollen, begann man ab 66, lieber ewig jungedlich bleiben zu wollen (auch wenn das Berufsleben dann zuschlug).
Und ein wirklich tragendes Element der Veränderung war, war die Musik. Nach Jahren des Tingeltangel-Schlagers kamen erstmals Rock und Pop nach Österreich. Das bewirkte ein unglaubliches Freiheitsgefühl und grenzte gleichzeitig gegen die Elterngeneration ab.


QuoteShyama Charan

In Paris, Berlin & London kämpfte man auf den Straßen
In Wien saß man im Trockenen und onanierte gemütlich ...


QuoteNoTrueScotsman

Wer sich ein paar Interviews von damals reinzieht (gibt's unter anderem auf YouTube) der merkt relativ schnell, dass diese Kids vor allem das waren, was man heute als Hipster bezeichnen würde - und auch ähnlich auftraten. '68 ist massiv romantisch verklärt - meistens von den damaligen Anhängern. Nüchtern betrachtet handelt es sich beim "Geist" dieser Zeit um irgendeine nicht greifbare Form der Rebellion, die meistens nicht einmal von den Teilnehmern ernst genommen wurde.


Quoteyoghurtinator

Um die Auswirkungen von 68 in Österreich auf das heute zu konstatieren, muss man sich nur den späteren Zustand der damaligen 68er vor Augen führen. Viele von ihnen sind übergangslos von "wer zweimal mit derselben pennt..." in eine biedere Karriere, etwa in der Bank oder als Beamter eingebogen. Das sind dieselben Leut, die heut bei ihren eigenen Kindern jammern "Oiso i versteh des ned, wieso die Jungen heut so konformistisch san. Wie mir jung warn, hamma doch so revolluzt."



Quotequisquam

Ein echter schauriger
Treppenwitz der Geschichte, daß ausgerechnet ein ehemaliger NS-Arzt und Mordgeselle über den Geisteszustand der Aktionskünstler zu befinden hatte. Von solchen Figuren wie Gross (SPÖ-Mitglied) hat uns die Zeit befreit und leider keine 68er- oder sonstige Revolution. Überhaupt sehe ich die Bilanz dieser Protestbewegung im Ergebnis nicht ganz so positiv. Ein subalterner Parvenü und Beschwörer des "gesunden Volksempfindens" schreibt immer noch in der "Krone" und wird für seine Dreckschleudereien noch von der Republik ausgezeichnet. Rechte Burschenschafter sitzen 50 Jahre nach 1968 in hohen Positionen und lassen in ihren Zirkeln unter sich den Ungeist der Vergangenheit hochleben. Viel gelernt haben manche also keineswegs, im Gegenteil...


QuoteAlfred J. Noll

Die Sozialdemokratie konnte sich 1970 ff. als politischer Vermittler darstellen. Sie hatte eine gesellschaftliche Kraft links von ihr. Strafrechtsreform, Familienreform, Bildungsreform, neue Arbeitsverfassung etc. waren nur möglich, weil neben der Sozialdemokratie eine (radikal-)engagiert-utopische "politische Macht" bestand, die dem Institutionengefüge Reformen aufzwang, indem sie den Eindruck erweckte, dass bald alles außer Kontrolle geraten könnte. Als die Gruppen, Grüppchen und Einzeldarsteller dann eingefangen (bürokratisch pazifiert) waren, beschied sich die Sozialdemokratie wieder damit, die bestehenden Verhältnisse bloß noch zu verwalten - das Ergebnis sehen wir heute.


QuotePfeil

Die 68er-Generation hat uns die aktuelle Misere eingebrockt: Rückgang der Geburtenrate, Werteverfall und Islamisierung. Ein hässliches Erbe.


QuoteToxo Logic

Islamisierung?
Das wahr wohl umgekehrt. Schauen Sie sich einmal Bilder aus den 70ern von Kairo, Kabul oder Ankara an. Da waren Miniröcke angesagt und nix mit Kopftüchern.
Es sind die Wertkonservativen, die auf der ganzen Welt die Islamisierung verbreiten.


QuotePhaidros_III

Die 68er für die Islamisierung verantwortlich zu machen ist schon ein starkes Stück. Ziehen's bitte Ihre Lederhose an und gehen's zum Volksfest ( bei der John Otti Band werden sie sich unter ihresgleichen sofort besser fühlen).


QuoteLaTuja

Was war 68? In den USA die Proteste gegen den Vietnamkrieg und damit der Beginn einer Friedensbewegung.
In Europa der größte gesellschaftliche Wandel nach dem Krieg.
Kulturelle Freiheiten, Die Pille , neue Musik wie Beatles, Stones, Minirock als Skandal, Die Bewegung der Grünen in Hainburg, Das Infrage stellen aller Autoritäten und dem neu Definieren von Frauenrechten und Kinderrechten.
die 68 beschränkten sich nicht auf eine Aktion in der Uni und ich würde es nicht als Höhepunkt bezeichnen.
Es war ein neues Lebensgefühl, mit Irrungen und Fehlern, aber im großen und ganzen die Basis des liberalen Lebens, das wir heute genießen.
Lassen wir uns das nicht wegnehmen durch eine rückwärts gewandte Politik.


Quoteabaris

Was viele immer wieder vergessen: '68 war nicht dieser große Knall und plötzlich war alles anders. Das hat Mitte der 60er begonnen und sich bis weit in die 70er entfaltet.
Ja, ich war ein Kind damals. Woran ich mich erinnere, ist primär die Musik, die Paperbox am Graben (some old farts might remember) und dass mir niemals der Mund verboten wurde. Auch dass meine Eltern die Zeit willig und begeistert angenommen haben, obwohl Kriegsgeneration und in den 20ern geboren. Es war, aus kindlicher Perspektive, lustig und bunt damals. Die Großeltern, obwohl kleine Gewerbetreibende, waren überzeugte Sozis.
Ich muss aber auch sagen, dass ich aus heutiger Sicht, äußerst privilegiert aufgewachsen bin. Geld war kein Thema. Andere haben die Zeit wohl nicht in so guter Erinnerung.


Quotemaximalist

... Ich halte nichts vom "hoch stilisieren" der 68er, aber es ging fast immer um die Gesellschaft und Allgemeinheit und nicht um Abschottung und Abgrenzung.


Quotele pere duchesne

Natürlich war 68 was - aber in Österreich leider nicht so richtig: Die großen Studentenrevolten in Frankreich und der BRD waren die Spitze eines Eisberges, der den ganzen konservativen Mief der Nachkriegszeit durchbrochen hat. Autoritäten und Hierachien wurden hinterfragt und der Lächerlichkeit preisgegeben, die Gesellschaft wurde liberaler - gut so.
Die Entwicklung hier fand allerdings so statt, dass diese Einflüsse vor allem von Deutschland her einsickerten und nicht vor Ort erkämpft wurden. Wie immer hinkte Österreich hinterher - ein Land, das sich für Revolten nicht eignet.
Warum? Geringe Bevölkerungsdichte, wenig urbane Zentren und eine jahrhundertelange Verdummung durch den Katholizismus.

...


QuoteDerSchenkelklopfer

"Wir sind uns manchmal recht revolutionär vorgekommen, aber so wirklich waren wir das nicht"
Das ist eigentlich die Zusammenfassung der gesamten österreichischen Linken.


Quotemag. wilhelm polterer reloaded

Ist es nicht ein bißchen traurig, dass linke Bewegungen in der Gegenwart ständig nur von der Vergangenheit reden? Da ist einerseits der Säulenheilige Kreisky, der bei jeder Gelegenheit erwähnt wird und andererseits die "68-er", deren Revolution im Dauerdurchlauf alle paar Jahre gefeiert, er- und verklärt wird. Nur was ist mit der Gegenwart - gibt es seit den 70er-Jahren keine gedanklichen Impulse und Ideen mehr?


QuoteMafi

Es ist der ewige Kampf ums Narrativ, um die Erzählung der Geschichte. Für die Rechten ist 68 der Sündenbock für alles, für die 68er ihr beweis das sie was bewegt hätten. ...


Quote
pol.korr. Weltbild-Schoner

Grau: Der Schwenk ins Intolerante kam, als die Ideale von 1968 mehrheitsfähig geworden waren, also in den 1990er Jahren. Überhaupt würde ich darauf pochen, dass nicht 1968 unsere Gesellschaft verändert hat. Nur Intellektuelle glauben, dass Intellektuelle die Welt verändern.


Quote
Erich aus Hietzing

Uni-Ferkler und ihre Anhänger kassieren jetzt oft hohe Beamtenpensionen
1968 gegen den Staat protestieren,
2018 sich von den Steuerzahlern mit einem Vielfachen der ASVG-Pension aushalten lassen, die bei weitem nicht durch erhöhte Pensionsbeiträge abgedeckt ist.


Quotesaurewurst

österreich hat zehntausende nazis mit spitzenpensionen durchgefüttert und wird sicher mit einer handvoll 68er rentner nicht in konkurs gehen


Quotebretterregens

"Aus den 68ern ist eine Generation Egoisten entstanden."

Die 68er haben verschiedenste Lebensentwürfe und unterschiedliche Richtungen mit unterschiedlichen Zielen hervorgebracht, von ausgerägtem Individualismus bis kollektiven Forderungen. Das auf banale Phrasen runter zu brechen wie Sie es tun zeugt nicht von faktischer Differenziertheit, sondern von populärphilosophischen Versuchen, die zur Zeit um sich greifen.


Quote
slim shady

... 1968 hat nicht nur eine gesellschaftliche sondern auch eine kulturelle Revolution in Gang gesetzt. Musik, Mode, Theater, Film.
Und natürlich die sexuelle Revolution. Insgesamt die Machtgewinnung der Jugend, das Aufbrechen der jahrhundertlang durch Kirche und Monarchien gefestigten und allgemein anerkannter Autoritätsordnung.

Sozusagen die Pubertät der westlichen Gesellschaft.


QuotePenjamin Hakeler

Ich bin in den Siebzigern geboren und in den Achtzigern und Neunzigern groß geworden. Ich habe sie miterlebt, die Revolution, den Bruch mit der Gesellschaft und dem Elternhaus. Es war eine wahnsinnig energiegeladene Zeit. Und heute ist es nicht anders. Unsere Kinder werden uns zeigen wo es lang geht.


QuoteDante75

Die 68er haben vorallem das Gesellschaftssystem, dass von den Nationalsozialisten geprägt wurde aufgebrochen. Der Nationalsozialismus stärkte die konservativen Rollen, verfestigte Rollenverständnisse und lies, wie heute im neokonservativen Kapitalismus, die Reichen reicher werden. Die 68er waren ein Versuch, diese gesellschaftliche Grundordnung, die "nur" durch den Führungswechsel 1945 ja nicht beseitigt wurde, aufzubrechen. Und es gelang den 68ern auch und dafür sind wir ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, denn sonst würden wir immer noch in einer Gesellschaft leben, in der gesellschaftliche Positionen zum größten Teil vom Schicksal vorgegeben sind.


Quoteka-tse

Ich habe diese Zeit der 68er durchlebt und auch mitgemacht. Und Sie haben meiner Meinung nach grade die eigentlichen Ursachen der Bewegung aufgezeigt. Damals saßen die alten Nazis in gleichen oder ähnlichen Stellungen wie unter Hitler. So waren meine Lehrer damals fast alle 'ehemalige' Nazis. Die Nichtnazis waren entweder tot oder geflohen. Aus diesem Grund war meine Schulzeit ein Horror, inklusive der elterlichen verstaubten und rigiden Erziehung. Für mich war das damals der Grund in der 68er-Bewegung eine Chance zu sehen und daher mitzumachen - soweit ich das als jugendlicher Naiver eben verstand.


QuoteKanton

Es war halt für Auflehnung gegen ,,unterm Hitler hätt's des ned gebn".
Etwas verkürzt gesagt.


...