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[Kurzgeschichten aus der Post - Moderne]

Started by Thomasio, October 19, 2008, 03:27:01 PM

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Thomasio

  Schon im Erdgeschoss steigt mir ein beißender Geruch in den Kopf. Auf den Treppen liegt ein dunkler, schmieriger Schmutzfilm. Ich überhole zwei Männer in Arbeitsklamotten, die sich erschöpft und missmutig die Stufen hinauf quälen. Der Gestank wird von Etage zu Etage stärker. Es riecht bestialisch nach Fäulnis. Während ich in der dritten Etage die Post einwerfe, holen die beiden Männer auf und senken demütig den Blick, als sie an mir vorbei gehen. Im Vierten ist der Gestank so stark, dass ich kurz die Luft anhalte. Durch eine offene Tür sehe ich drei Männer mit hängenden Armen um einen riesigen Müllhaufen in einer völlig verdreckten und verwahrlosten Wohnung stehen. Einer von ihnen sagt in gebrochenem Deutsch; "Wohnungsauflösung." Sie sehen aus, als würden sie gleich aus den Schuhen kippen. Der Gestank bricht sich stechend seinen Weg durch die Nase und benebelt das Gehirn. Jemand fügt hinzu, dass die Leiche erst nach einer Woche entdeckt wurde. 

Thomasio

  Es regnet seit einigen Stunden, der Wind treibt die Blätter von den Bäumen und lässt sie durch die Luft segeln. Das Herbstlaub bedeckt die Straßen und Gehwege mit einem rotbraun glänzenden Teppich. Ein feucht – kühler Vormittag vergeht in einer dumpfen Hypnose. Während ich die Post aus der Tasche hole, kommt mir ein Mann entgegen. Seine Gangart sticht durch eine kerzengerade Körperhaltung hervor, der Blick ist dabei auf mich gerichtet. Vielleicht will er den Überbringer der Nachrichten abfangen, um zu fragen, ob was für ihn dabei ist, so wie es viele machen, die dringend etwas erwarten. Aber seine angebliche Zielstrebigkeit entpuppt sich als hilfloser Versuch der Selbstdisziplin. Je näher er durch die Flucht der Bäume heran kommt, desto deutlicher werden die torkelnden Ausbrüche seines Körpers, der nach Gleichgewicht tastet. Er ist völlig durchnässt. Für einen Moment legt er den Kopf in den Nacken und sein Gesicht weitet sich zu einer leidigen Grimasse, als würde er gleich verzweifelt auflachen müssen. Mit weit aufgerissenen Augen, die starrend den Weg fixieren, erkennt er mein Fahrrad rechtzeitig als Hindernis und streift mit hoch gezogenen Augenbrauen an mir vorbei. Er steuert den Hauseingang an, wo ihn eine sichtlich ältere Frau mit verschränkten Armen erwartet. In ihren dunklen, abgründigen Augen hat sich eine Mischung aus Wut und Mitleid gesammelt. Als er vor ihr auf wackeligen Beinen zum Stehen kommt, versucht er zu lächeln, und sie vollführt eine heftige Bewegung, wie um ihn zu schlagen, aber dann umarmt sie ihn und er sackt schluchzend in ihr zusammen.

Thomasio

#2
  Kaum habe ich die Postkarte in den Briefschlitz geworfen und die knartschende Gartentür des windschiefen Jägerzaunes verlassen, geht hinter mir im alten, backsteinroten Einfamilienhaus die Tür auf. Es hört sich an, als würde sie das erste Mal geöffnet werden in diesem Jahr. Eine alte, kleinwüchsige Frau tastet mit dem Krückstock nach Halt und streckt die altersschwachen Augen suchend in meine Richtung.
  ,,Haben Sie das eben eingeworfen?" fragt sie mit kraftloser, um jedes einzelne Wort kämpfende Stimme.
  Mit der Vermutung, das ich wohl falsch eingeworfen habe, kehre ich zurück.
  ,,Ach, wissen Sie, ich kann meine Lesebrille nicht finden..." Sie hebt den kleinen, von einem dünnen Haarnetz bedeckten Kopf und blickt mich mit wässrigen Augen an. ,,Ob Sie vielleicht...?" Sie reicht mir die Karte und lächelt entschuldigend. ,,Die ist bestimmt von Hannelore."
  Während ich den kurzen Urlaubsgruß vorlese, blickt sie konzentriert auf einen fernen Punkt. Nach und nach hellt sich ihr Gesicht in zarter Freude auf.
  ,,Wie schön." sagt sie. ,,Auch wenn sie immer das gleiche schreibt."

Thomasio

Ein Tag im tiefsten Wintergrau. Die kurzen Stunden der Helligkeit scheinen in einer Zeitstarre von stetiger Dämmerung zu stecken. Die kaltnasse Witterung hat sich zu einer Dunstglocke verwoben, unter der die Stadtgeräusche einen gedämpften Klang annehmen. Die Menschen verschwinden wie die Ratten in den Häusereingängen, als wollen sie einem ständigen Verfolger entkommen. Eine Atmosphäre aus Kälte und Schwere, verdichtet in einem Nebel, der hartnäckig die Straßenfluchten blockiert und jedem eine Handvoll Sichtweite mit auf den Weg gibt. Hinter einer Wand aus grauem Nichts ertönen die Geräusche der Müllabfuhr, dumpf und mechanisch bellt ein Hund, lästernde Krähen hocken auf nackten Bäumen, die Pausenklingel einer Schule ertönt, lärmende Kinderscharen, die über den verhangenen Schulhof rennen...
  Schlüsselklirrend und die Holzstufen hinauf trampelnd arbeite ich mich durch die Stockwerke. Ein handgeschriebener Brief bleibt übrig. Die Schrift ist krakelig, wie von einem Kind geschrieben, und wechselt zwischen Schreib – und Druckschrift. Beim Hinuntergehen treffe ich auf eine ältere Bewohnerin und frage sie, ob sie denjenigen kennt. Sie schüttelt den Kopf und geht weiter. Plötzlich dreht sie sich wieder um.
  ,,Doch, natürlich." Ihre Stimme wird ganz lebhaft. ,,Der ist doch hier aus dem vierten Stock gesprungen..."  Sie nickt eifrig. ,,Ja, ja..., jetzt erinnere ich mich..." Sie kommt die paar Stufen langsam wieder hinunter gestiegen. ,,Wie ich nämlich vom Einkaufen zurück bin, war die Straße abgesperrt. Obwohl ich es selbst nicht gesehen hab, soll er ja direkt auf dem Verkehrsschild gelandet sein..." Sie blickt noch einmal auf den Brief. ,,Aber das ist doch schon drei Jahre her... Wer kann denn das sein?"

Thomasio

#4
In einer Wohnsiedlung aus Einfamilienhäusern, zwischen gepflegten Vorgärten mit akkurat geschnittenen Hecken, abgezäunten Rasenflächen und parkenden Autos, die sich wie weich gebettete Juwelen in Schaufenstern lümmeln, und dem alljährlichen Ritusschmuck christlicher Konsumfreude, steht er da; ein Gnom in Kinderkleidung. Er mag vielleicht fünfzig Jahre alt sein, doch seine Körpergröße geht nicht über ein Meter dreißig hinaus. Er stützt sich mit beiden Armen auf dem Griff seines Handkarrens ab, der ihm fast bis ans Kinn reicht. Er steht mitten auf der unbefahrenen Straße und scheint mit seinen dunklen Knopfaugen einen entfernten Punkt in der Ferne zu fixieren. Obwohl es kalt ist, trägt er nur einen dünnen Pullover und eine Stoffhose, die ihm paradoxerweise zu kurz ist. Das geschorene Haar lässt seinen runden, faltig durchzogenen Kopf kugelförmig zur Geltung kommen. Es geht eine fremdartige Traurigkeit von ihm aus. Erst als er sich wieder in Bewegung setzt, begreife ich, dass er Zeitung austrägt und sich nur kurz ausgeruht hatte. Er schiebt jenen Handkarren, den Omas einhändig hinter sich her ziehen, mit beiden fest umklammernden Händen vor sich her. Sein Gesicht verformt sich dabei zu einer Grimasse der Kraftanstrengung, und er muss seinen kleinwüchsigen Körper schräg dagegen stemmen, um überhaupt vorwärts zu kommen. Während er sich die Straße hinauf kämpft, geht unentwegt ein verächtliches Gestammel von ihm aus. Die Art, wie er dann die mit Werbung voll gestopften Zeitungen zusammen rollt, das überdimensional große Gartentor öffnet und sich zum viel zu hoch angebrachten Briefkasten streckt, lässt die Welt in einer neuen Größenordnung erscheinen. Einige Häuser weiter verschwindet er auf einem Grundstück mit wild wucherndem Garten, drängt sich durch herum stehendes Gerümpel auf einen Hinterhof und verschwindet in einem schäbigen Gartenhaus. Bevor er die Tür zumacht, schaut er heimlich zu allen Seiten, wie um sich zu vergewissern, dass er unbeobachtet ist. Ein kurzer Film aus dämonischen Zwiegesprächen und zwischenweltlichem Dasein rauscht durch mein Kopfkino, und dann taucht er wieder hervor, mit Bergen von Zeitungen, und er setzt sich wieder keuchend und fluchend in Bewegung, schiebt den Karren wie Sisyphus vor sich her, um sich mit einem kleinen Zuverdienst über die Runden zu bringen...

Thomasio

#5
  In einer kleinen, unbefahrenen Straße ist es mit einem Mal sehr still. Kaum ein Mensch ist an diesem Samstagmorgen unterwegs. Als ich postbeladen zum ersten Hauseingang gehe, sehe ich im Erdgeschoss eine fettleibige Frau am offenen Fenster lehnen. Sie trägt einen farblosen Haushälterkittel und hat die nackten, wurstigen Arme verschränkt auf der Fensterbank liegen. Sie mag vielleicht Mitte Vierzig sein. Ihr Gesicht ist von kränklicher Blässe, die geschlossenen Lippen sind mit einem blutroten Lippenstift übertrieben bemalt und das Haar ist wild toupiert. Ihre trüben, ausdrucksschwachen Augen betrachten mich mit der unaufdringlichen Neugierde eines Menschen, der das Vorbeiziehen der Dinge in einer Art Fernsehstarre verfolgt. Ich grüße sie, während ich die Haustür aufschließe und sie reagiert erst nach einigen Sekunden mit der Andeutung eines Nickens, als sei sie überrascht, dass sie überhaupt wahrgenommen wird. Eine Woche darauf sehe ich sie wieder und ihr Anblick ist identisch mit dem Vorherigen. Immer mal wieder sehe ich sie in ihrer fleischlichen Verankerung auf die ihr dar gebotene Welt blicken. Nichts in ihrem Gesicht lässt erahnen, welche Gefühle oder Gedanken sich dahinter verbergen. Nichts in ihrer gemäldehaften Erscheinung scheint auf irgendeine Art von Anteilnahme zu schließen. Sie sitzt dort wie eine Gefangene, die müde vom Nichterleben die Stunden in gedehnter Zeitlichkeit absitzt.

Thomasio

  Nachdem ich die Post in den Außenbriefkasten der Friedhofsverwaltung geworfen habe, stapfe ich über den Schotterparkplatz zum Flachdachgebäude, wo sich die Toiletten befinden. Es ist sehr heiß an diesem Tag. Das gleißende Sonnenlicht strömt in gebündelten Strahlen durch die Baumkronen der riesigen Eichen und brennt ringsherum seine Lichtlöcher. Neben dem Geräteschuppen sitzen die Friedhofsgärtner schweigsam im Halbschatten und halten ihre Frühstückspause ab. Einer von ihnen hat sich in die Schubkarre gelegt und lässt die Beine über den Rand baumeln. Durch ihre gebräunten und stummen Gesichtszüge arbeiten sich Kaffee und Zigaretten. Unsere Blicke treffen sich wie die verschiedener Klassen, die sich gegenseitig ihrer Zugehörigkeit mustern. 
  Vor der Kapelle steht eine Gruppe, die sich zum Abschied um einen Verstorbenen eingefunden hat. Bei dem mit Blumen geschmückten Eingang steht das Namensschild des Verstorbenen. Ich kannte ihn, zumindest vom Namen her. Er wohnte auf der anderen Straßenseite, schräg gegenüber vom Friedhof. Seine Verwandten und Freunde tragen trotz der Hitze ihre schwarzen Anzüge. Jemand holt ein Taschentuch aus der Tasche und tupft sich die tropfende Stirn ab. Eine Frau schluchzt leise, eine andere hat den Arm um sie gelegt. Ein junges Mädchen hält einen Strauß Blumen in der Hand und blickt mit ungläubigem Staunen durch die bedrückende Stimmung. Andere weichen dem innerfamiliären Blickkontakt aus. Vielleicht ist es das erste Mal, dass sie sich seit Jahren wieder sehen. Sie scheinen darauf zu warten, dass die Trauerfeier beginnt.
  In der Toilette herrscht Sauna – Atmosphäre. Ein älterer Mann um die sechzig steht neben mir und knöpft einhändig seinen Hosenstall auf. Mit der anderen Hand stützt er sich an der gekachelten Wand ab. Er wirkt müde und erschöpft von der Hitze. Für einen Moment verharren wir nebeneinander in unserer jeweiligen körperlichen Konzentrationshaltung, auf den entscheidenden Punkt wartend, an dem sich der Blasendruck seinen erlösenden Weg bahnt. Als wäre es uns unangenehm, nicht alleine zu sein, zieht sich der Moment lange hin. Mir läuft der Schweiß in Strömen übers Gesicht. Meine Gedanken kreisen in ihrem Betäubungskäfig. Eine Fliege klebt in der Fuge und starrt mich an. In der Kabine scheint die Spülung kaputt zu sein; dort läuft das Wasser ununterbrochen. Ich merke, wie mein Nachbar inzwischen einmal kurz hinüber schaut und meine Postuniform zur Kenntnis nimmt. Als würde es ihn vom Druck befreien, kann er als Erster lospinkeln.
  ,,Verdammt heiß heute, was?!" sagt er.
  ,,Ja..."
  ,,Soll der heißeste Tag des Jahres sein."
  ,,Wirklich?"
  ,,Haben sie im Radio gesagt."
  ,,Oh..."
  ,,37°!"
  Er pfeift seufzend durch die Lippen, während ein kräftiges Schütteln die letzten Tropfen raus holt. Ich kann immer noch nicht.
  ,,Und ich hab noch fünf Beerdigungen vor mir."