"Arbeiten kann, wer keine Lust zu leben hat. Für Leute mit Verstand gibt’s nur zwei Möglichkeiten: Künstler oder Krimineller."
Thomas Brasch (1990): Lovely Rita, in ders.: Drei Wünsche, sagte der Golem. Gedichte, Stücke, Prosa. S. 123. Leipzig: Reclam.
http://ratlosnetzwerk.tumblr.com/post/80468554919/arbeiten-kann-wer-keine-lust-zu-leben-hat-fur-.-
[...] Friedrich Nietzsche hat gesagt,
daß der Dichter "eine Nachbarschaft zum Verbrechen" hat.
Die Tatsachen scheinen ihm recht zu geben.
[...] Die Abgrenzung des
Kriminellen vom Psychopathischen ist bekanntlich oft
schwierig; ebenso führt das Kriminelle in das Geniale
hinüber. Alle drei — Psychopathen, Kriminelle, Geniale —
leiden an egozentrischer Betrachtung und Zielsetzung,
die aber beim Genialen in seinem "Werk" auch eine
objektive sachliche Erweiterung finden. Daß in Kunst-
und Kulturgeschichte nicht viele kriminelle Ausbrüche
Genialer zu verzeichnen sind, liegt daran, daß bei ihnen
die kriminellen Regungen im psychisch verwandten
genialen Schaffen mit aufgezehrt werden.
[...] Tatsache ist, daß es gewisse Geisteskranke
(Schizophrene) gibt, die sich bisweilen durch eine
eigenartige künstlerische Betätigung auszeichnen. Der
Leipziger Psychiater Dr. Richard Arwed Pfeifer ("Der
Geisteskranke und sein Werk. Eine Studie über
schizophrene Kunst," Leipzig 1922) zeigt an einem sehr
"aufschlußreichen Material, daß die Geisteskrankheit der
Schizophrenie gewisse kunstfördernde Eigenschaften
besitzt. Der Schizophrene lebt in einem Zustand
unbekümmerter Wunschlosigkeit und ist ganz in seine
eigene Ideenwelt versunken. Das führt ihn zu einer
beständigen Beschäftigung mit seinem Innenleben, wie
sie auch dem Künstler eigen ist. Dazu kommt die Treue
des Gedächtnisses, das dem Irren gerade die kleinsten
und unbedeutendsten Einzelheiten vergegenwärtigt und
ihm daher eine große Genauigkeit der Schilderung
ermöglicht. Seine Halluzinationen stellen ihm
Wunschszenen vor Augen, die er gern festhalten möchte
und daher im Bilde wiedergibt. Aber die Behauptung, daß
die Schizophrenie einen Menschen zum Künstler mache,
ist durch keinen einzigen Fall bewiesen. Die weitaus
größte Zahl der Schizophrenen betätigt sich künstlerisch
überhaupt nicht.
[...] Psychologisch erklärt liegt das Wesentliche des
Kunstschaffens "in einer außergewöhnlichen
Potenzierung der Leistungen der Phantasie, im
Hervorbringen von Gestaltsqualitäten mit
Schönheitswert" (Kreibig).
[...] Das künstlerische Schauen als solches ist kein
krankhafter Prozeß. Wie wirkt die Psychose auf das
künstlerische Schaffen ein? Daß sie es verflüchtigen,
zersetzen, auslöschen kann, bedarf keiner
Beweisführung. Aber daß sie es unter bestimmten —
seltenen — Umständen positiv zu beeinflussen vermag,
dieser auffallende Tatbestand erheischt Deutung. "Die
mächtige Gefühlsaufwühlung, die Gefühlszerpflügung,
die nach Ausdruck schreit, — mag sie die Psychose
einleiten oder begleiten — sie erzeugt einen für
künstlerisches Schaffen geeigneten Boden, aber doch nur
Boden. Nicht das künstlerische Schaffen wird produziert,
vielmehr eine für sein Eintreten günstige Voraussetzung.
Aber es ist eine gefährliche Mitgift. Erinnern wir uns, mit
welcher Schärfe Schiller Bürgers Gedichte ablehnte, oder
wie kühl Goethe Heinrich von Kleists Werk
entgegennahm, das ihm dieser auf den .'Knieen seines
Herzens' überreichte! Man darf sich nicht darüber
täuschen, daß der künstlerische Schaffensprozeß in der
eigentlichen Bedeutung des Wortes außerhalb der
Psychose steht, und diese ihn nur färbt, durchtränkt, auf
ihn einwirkt in positiver und negativer Beziehung."
(Universitätsprofessor Dr. Emil Utitz "Kunst und Psychose".)
Bruchstueck aus: "Kriminalpsychologie. Psychologie des Täters. Ein Handbuch für Juristen, Justiz-, Verwaltungs- und Polizeibeamte, Ärzte, Pädagogen und Gebildete aller Stände"
von Dr. Erich Wulffen Ministerialdirektor und Vorstand der Abteilung für Strafsachen, Gnaden- und Gefängniswesen im sächsischen Justizministerium. Berlin: Dr. P. Langenscheidt
1926(!)
Quelle:
http://www.joachim-linder.de/data/Wulffen_guv.pdf