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[Zur Kunstfreiheit (Notizen)... ]

Started by Textaris(txt*bot), June 22, 2005, 12:57:50 PM

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Textaris(txt*bot)

Quote[...] [Die Kunst] muß die Wirklichkeit verlassen und sich mit anständiger Kühnheit über das Bedürfnis erheben; denn die Kunst ist eine Tochter der Freiheit, und von der Notwendigkeit der Geister, nicht von der Notdurft der Materie will sie ihre Vorschrift empfangen.  ...


Aus: "FRIEDRICH SCHILLER (1759-1805) . Über die ästhetische Erziehung des Menschen"
Quelle: https://www.gleichsatz.de/b-u-t/can/stx/schiller-briefe1.html

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Quote[...] Da die Kunstfreiheit im Brennpunkt zwischen (politischer) Meinungsäußerung und den allgemeinen Persönlichkeitsrechten steht, ist sie auch heute noch von großer Bedeutung: so zum Beispiel bei der Entscheidung des BVerfG zum Tucholsky-Zitat "Soldaten sind Mörder" oder der Darstellung des Schauspielers Gustaf Gründgens in Klaus Manns Roman Mephisto. (sog. "Mephisto-Entscheidung"). Auch der Macher der "Körperwelten" Ausstellung Gunther von Hagens beruft sich bei seinem Tun neben der Wissenschaftsfreiheit auf die Kunstfreiheit.


Aus: "Kunstfreiheit" (02/2008)
http://de.wikipedia.org/wiki/Kunstfreiheit

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Quote[..] Kunst die sich an dem kleinsten gemeinsamen Wertekonsens orientiert, ist kastriert.
Rechtliche und tätliche Angriffe auf Künstler deren Werke nicht dem "Wertesystem" entsprachen, sind auch in der "aufgeklärten" Neuzeit nicht unüblich.

# Der Wiener Maler Egon Schiele (1890-1918) wurde wegen seiner Malerei im Jahre 1912 zu Haft verurteilt, wobei eines seiner Bilder öffentlich zerstört wurde.


# Das Buch "Lady Chatterlys lover" von David Herbert Lawrence (1885-1930) war jahrzehntelang verboten und wurde, z.B. in Großbritannien, erst im Jahre 1962 zugelassen.
(Interessanterweise war das Buch lange Jahre zuvor erhältlich - allerdings nur als teure gebundene Ausgabe. Der Protest aus der konservativen Oberschicht entzündete sich an der billigen Taschenbuchausgabe. Während öffentlich der sexuelle Inhalt kritisiert wurde, war der eigentliche Grund für die Zensur wohl das Klassenkämpferische Potential einer Beziehung zwischen Upperclass und Lower class.)


# Eines der Werke der Weltliteratur, der Roman "Ulysses" des irischen Schriftstellers James Joyce (1882-1941) wurde z.B. in den USA erst über 10 Jahre nach seinem Erscheinen (1923) zum Verkauf zugelassen.


Zensur und Agitation gegen Kunst allgemein ist in Deutschland noch aus dem dritten Reich ("entartete Kunst") und der DDR ("verbotene Bücher") bekannt. Aus Jugendschutzgründen wurden in der BRD aber in den letzten 50 Jahren 15.000 Bücher indiziert.

Aus: Kunstfreiheit vs. "Volk ohne Werte" von Jens (07.04.04)
Quelle: http://www.reich-der-mitte.de/privat/blog/index.php?p=222&more=1&c=1



Textaris(txt*bot)

#1
QuoteDas Verbot des Romans "Esra" von Maxim Biller ist durch den Bundesgerichtshof in Karlsruhe bestätigt worden. Zwei Klägerinnen glauben, sich in dem Buch wiederzuerkennen und sehen sich in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. Dieser Ansicht haben sich die Karlsruher Richter angeschlossen. Ihrer Meinung nach sind die Klägerinnen für einen großen Bekanntenkreis im Buch durch viele Details zu erkennen und nur unzureichend verfremdet. Biller habe in seinem Roman "keine Typen dargestellt, sondern Porträts". Dies sei von der Kunstfreiheit nicht gedeckt.

Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes stellt lakonisch fest: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei." Dennoch ist, so Joachim Kersten, einer der renommiertesten Urheberrechts-Anwälte des Landes, "die Geschichte der Kunstfreiheit in Deutschland eine Geschichte ihrer fortwährenden Einschränkung". Das neue Urteil des Bundesgerichtshofs muß als weiterer Schritt auf diesem Weg betracht werden. Die Forderungen der Richter an die Schriftsteller, ihr Erfahrungsmaterial zu verfremden, bevor sie es in Literatur verwandeln und gefälligst Typen und keine Porträts zu zeichnen, lassen sich schwer mit den Forderungen moderner Ästhetik in Einklang bringen, der es oft genug eben um Authentizität und Porträtgenauigkeit geht. So fragwürdig Billers Buch in einzelnen Passagen sein mag - das Verbot des kompletten Buches ist eine Niederlage der Literatur und dokumentiert die Geringschätzung der Kunst durch unsere Gerichte.

von Uwe Wittstock (DIE WELT; 22. Juni 2005)

Aus: "Biller bleibt verboten"
http://www.welt.de/data/2005/06/22/735130.html

Quote[...] Gerda Müller, Vorsitzende des VI. Zivilsenats, sprach von einer «schwierigen Gratwanderung». Die Frage nach der Fiktionalität führe die Juristen an die Grenze ihres Fachs. Nach ihren Worten dürfte für diese Frage entscheidend sein, ob die reale Person innerhalb eines Kunstwerks «künstlerische Selbstständigkeit» erlangt habe. (NZ; 21. Jun 2005)

Quelle: http://www.netzeitung.de/kultur/344818.html

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Quote[...] Der stark autobiographisch gefärbte Roman "Esra" des Schriftstellers Maxim Biller (47) bleibt verboten. Nach jahrelangem Rechtsstreit hat das Bundesverfassungsgericht das Erscheinen des Romans aus dem Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch endgültig untersagt. Das 2003 erschienene Buch verletze das Persönlichkeitsrecht von Billers Ex-Freundin, weil sie eindeutig als "Esra" erkennbar sei und der Roman intimste Details der Liebesbeziehung zwischen der Romanfigur und dem Ich-Erzähler Adam schildere, heißt es in dem am Freitag veröffentlichten Beschluss.

Damit wiesen die Karlsruher Richter eine Verfassungsbeschwerde von Kiepenheuer & Witsch im Wesentlichen ab und bestätigten ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom Juni 2005. Drei der acht Karlsruher Richter stimmten allerdings gegen die Entscheidung und warnten vor einer Tabuisierung des Sexuellen. (Az: 1 BvR 1783/05 - Beschluss vom 13. Juni 2007) Biller, der in den 80er Jahren durch seine Kolumne "Hundert Zeilen Hass" in dem Magazin Tempo bekannt wurde, gilt als provokanter und bisweilen aggressiver Kritiker des Kulturbetriebs.

"Esra" ist sein zweiter Roman. Zu Billers bekanntesten Arbeiten gehören "Wenn ich einmal reich und tot bin" (Erzählungen, 1990) und "Die Tochter" (Roman, 2000). In dem Werk beschreibt er schonungslos und detailliert eine inzestuöse Vater- Tochter-Beziehung. In einem Punkt revidierten die Verfassungsrichter am Freitag das BGH-Urteil. Die Mutter von Billers Ex-Freundin - im Roman als herrschsüchtige, psychisch kranke Alkoholikerin Lale geschildert - hat keinen eigenen Unterlassungsanspruch.

Der Umstand, dass sie dort sehr negativ gezeichnet sei, reiche nicht für ein Verbot. Die realen Vorbilder waren vor allem deshalb leicht erkennbar, weil die Tochter den Bundesfilmpreis (im Buch: "Fritz-Lang-Preis") und die Mutter den
alternativen Nobelpreis ("Karl-Gustav-Preis") erhalten hatten. Nun muss der BGH noch einmal entscheiden - was aber am Verbot auf Antrag der Tochter nichts ändern wird. Die beiden Frauen haben außerdem noch vor dem Landgericht München eine Klage auf 100 000 Euro Schadensersatz laufen.

Eine Entscheidung wird im Dezember erwartet. Der Verlag zeigte sich "zutiefst enttäuscht". Gaby Callenberg, eine Sprecherin, wertete es am Freitag in Köln aber als einen Teilerfolg, das ein Verbot von zweien aufgehoben worden und die
Mehrheit für das Verbot in Karlsruhe offenbar knapp gewesen sei. Der Verlag hatte, nachdem ihm 2003 per einstweiliger Verfügung der Verkauf untersagt worden war, eine entschärfte Fassung aufgelegt.

Doch auch diese Version blieb nach einer Gerichtsentscheidung verboten. Nach der Karlsruher Grundsatzentscheidung des Ersten Senats schützt die Kunstfreiheit die Verwendung von Vorbildern aus der Wirklichkeit. "Für ein literarisches Werk, das an die Wirklichkeit anknüpft, ist es gerade kennzeichnend, dass es tatsächliche und fiktive Schilderungen vermengt."

Auch wenn hinter den Figuren reale Personen erkennbar seien, sei ein Roman "zunächst einmal als Fiktion anzusehen". Bei Kollisionen mit Persönlichkeitsrechten sei eine solche "kunstspezifische Betrachtung" notwendig. Deshalb rechtfertigt die bloße Erkennbarkeit noch kein Verbot.

Andererseits muss, so das Gericht, auch die Kunstfreiheit einem absolut unantastbaren "Kernbereich privater Lebensgestaltung" weichen, "zu dem insbesondere auch Ausdrucksformen der Sexualität gehören". Deshalb ist der Entscheidung zufolge ein gewisser Abstand zwischen "Abbild und Urbild" nötig: "Je mehr die künstlerische Darstellung die besonders geschützte Dimension des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen."

Zwei der überstimmten Richter, Christine Hohmann-Dennhardt und Reinhard Gaier, kritisierten die Mehrheitsmeinung als "widersprüchlich". Die Formel "je mehr Intimbereich, desto mehr Verfremdung sei notwendig" führe letztlich zu einer "Tabuisierung des Sexuellen". Dies schränke die Kunstfreiheit in nicht hinnehmbarer Weise ein. In einem weiteren Sondervotum warnte Wolfgang Hoffmann-Riem vor einem Verlust der Vielfalt künstlerischen Schaffens.


(dpa)


Aus: "Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts - Billers Roman "Esra" bleibt verboten" (12.10.2007)
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/730/137454/

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Quote[...] Das Bundesverfassungsgericht hat ein ebenso spektakuläres wie vermessenes Urteil gefällt. Es hat den Roman "Esra" von Maxim Biller endgültig verboten. Und in seiner Begründung des Verbots schreibt es Methoden vor, mit denen man künftig die Grenzen der Kunstfreiheit juristisch bestimmen soll. Mit diesen Formeln sei festzustellen, wie viel künstlerische Autonomie und wie viel zulässiger Realismus in einem Roman stecken.

Das Gericht hat diese Messmethoden selbst angewendet, um Billers Roman zu prüfen - und es konstatiert nach seinem juristisch-literarischen Test: Zu viel Wahrheit über die ehemalige Freundin von Maxim Biller, zu viel Wirklichkeit und zu wenig Fiktion, also: zu wenig Kunst.

Damit hat das Gericht ein Verfahren der juristischen Titration entwickelt. So nennt man das chemische Verfahren, mit dem man den Essigsäuregehalt von Essig und den Weinsäuregehalt von Wein bestimmen kann. Der Chemiker nimmt dazu ein Glasröhrchen und gibt daraus tropfenweise eine Probelösung in die Flüssigkeit, die es zu analysieren gilt. Schlägt die Farbe der zu bestimmenden Flüssigkeit von Rot in Blau um, weiß der Chemiker, jetzt ist es genug.

Auf ähnliche Weise soll künftig gemessen werden, wie viel Kunst in einem Roman steckt. So wird nun künftig festgestellt, ob ein Buch, in dem wiedererkennbare Personen auf ihnen unangenehme Weise vorkommen, verboten werden muss, oder ob es sich bei dem Roman um Kunst handelt, der den Schutz der Kunstfreiheit des Grundgesetzes genießt. Die Richter stellen das zu prüfende Buch auf den Tisch wie der Chemielehrer einen Weithals-Erlenmayerkolben, und warten auf den Umschlag von Rot in Blau.

Die Richter haben Billers Roman also höchstrichterlich bemessen. Das darf jeder Leser. Er darf ein Buch begeistert, gelangweilt, verdrossen, verärgert oder angeekelt weglegen, er darf es in den Müllschlucker werfen oder der Altpapiersammlung übergeben; er kann all seinen Freunden abraten, es zu lesen, er darf es als widerlichen Exhibitionismus bezeichnen; das mag man dem Biller-Roman auch vorwerfen.

Die Richter in Karlsruhe waren aber keine normalen Leser. Sie haben das Buch nicht nur gelesen und bewertet, sie haben es verboten und aus dem Verkehr gezogen - weil es unlauter umgehe mit einer wiedererkennbaren Person, weil er diese Person verletzte, weil es "Esra" nicht entrücke in den Himmel der Kunst.

Als Grundlage für die Bewertung haben die Richter also eine juristische Formel dafür gefunden, wie diese literarische Entrückung angeblich funktioniert. Die Formel heißt "Jedesto". Schriftsteller werden sie sich künftig auf den Schreibtisch kleben müssen, wenn sie nicht umsonst arbeiten wollen; und Verleger sollten sie sich eingerahmt über den Schreibtisch hängen, wenn sie ihr verlegerisches Risiko vermindern und vermeiden wollen, dass ihre Bücher von Gerichten vom Markt genommen werden.

Diese Karlsruher Jedesto-Formel steht im vierten Leitsatz des Esra-Urteils: "Je stärker Abbild und Urbild übereinstimmen, desto schwerer wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts. Je mehr die künstlerische Darstellung besonders geschützte Dimensionen des Persönlichkeitsrechts berührt, desto stärker muss die Fiktionalisierung sein, um eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auszuschließen."

Anders gesagt: Je mehr Verfremdung, desto mehr Kunst, und desto geringer die Gefahr, verboten zu werden; je mehr Erkennbarkeit, desto größer die Beeinträchtigung, und desto größer die Gefahr des Verbots; und je mehr es um Intimes geht, desto mehr Verfremdung ist notwendig. Das ist eine quantitative Messmethode, die qualitativ schon dann in größte Schwierigkeiten kommt, wenn die beschriebene Person gerade die Verfremdung anstößig findet.

Die Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt und der Verfassungsrichter Reinhard Gaier erklären in ihrem abweichenden Votum, in dem sie sich von der Mehrheitsmeinung distanzieren: "Mit solch quantitativem Messen, an denen ein Abgleich des Romans mit der Wirklichkeit vorgenommen werden soll, wird man der qualitativen Dimension der künstlerischen Verarbeitung von Wirklichkeit nicht gerecht."

Kunst, so sagen die beiden Richter, "erschöpft sich nicht in der subjektiven Sicht auf Realitäten, sondern formt aus diesen eigene Welten, mit denen Anliegen des Künstlers ihren Ausdruck finden". Damit beziehen sie sich auf die Ästhetische Theorie von Adorno, in der es heißt: "Selbst Kunstwerke, die als Abbilder der Realität auftreten, sind es nur peripher, sie werden zur zweiten Realität, indem sie auf die erste reagieren." Die Mehrheit der Richter kennt nur eine Realität.

Das Freitags-Verbot aus Karlsruhe gegen den Roman "Esra" ist das erste höchstrichterliche Verbot eines Buches seit dem Jahr 1971. Damals traf das Verdikt "Mephisto. Roman einer Karriere" von Klaus Mann, ein Buch, das von der zwielichtigen Karriere einer Figur namens Hendrik Höfgen und von deren Aufstieg im Dritten Reich handelt.

Klaus Mann erklärte seinerzeit dazu, es handele sich nicht um ein Porträt von Gustaf Gründgens, sondern "um einen symbolischen Typus". Aber das half nichts; der Adoptivsohn und Alleinerbe des verstorbenen Schauspielers und Intendanten Gründgens erwirkte ein gerichtliches Verbot, und dieses wurde 1971 in der "Mephisto"-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestätigt.

Damals machten sich die Richter zu Literaturkritikern wie folgt: Das "Abbild" Höfgen erscheine gegenüber dem "Urbild" Gründgens nicht ausreichend "verselbstständigt"; es fehle an der Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus des Kunstwerks, sodass Persönlich-Intimes nicht zu Gunsten des Allgemeingültige und Zeichenhaften objektiviert sei.

Die Verfassungsrichter Erwin Stein und Wiltraud Rupp-von Brünneck wiesen damals in ihrem Minderheitenvotum vergeblich darauf hin, dass eine einseitig an der Realität orientierte Betrachtungsweise wohl einer Biographie oder Dokumentation angemessen sei, aber nicht einem Roman. Es gehöre, schrieben sie, zur Kunst, Reales mit Fiktivem zu "vermischen". Die Mehrheit der Richter des 1. Senats sah das damals anders - so wie heute wieder, bei Billers Roman.

Diesmal gibt es zwei Sondervoten von drei Richtern - das erwähnte Votum von Hohmann-Dennhardt/Gaier zum einen, das von Wolfgang Hoffmann-Riem zum anderen. Sie alle erklären die "Jedesto"-Formel für falsch und unpraktikabel: "Es ist ein Zirkelschluss", heißt es im ersten Sondervotum, "mit steigender Anzahl erkennbarer einzelner Daten von Personen die Kunstfreiheit zurücktreten zu lassen und dabei nicht nur eine Beeinträchtigung entdecken zu wollen, sondern auch ihre Schwere daran zu bemessen".

Und Hoffmann-Riem schreibt in seinem Dissenting: "Bei Geltung einer solchen Jedesto-Formel ist es schwer, ein Geschehen mit Anklängen an reale Vorgänge durch die künstlerische Transformation auf 'eine zweite Ebene' zu heben, und dadurch in den Genuss der Kunstfreiheit zu kommen." Er schildert die Schwierigkeit des Schriftstellers am aktuellen Fall: "Ein Autor, der, wie vorliegend, die betroffene Person aus eigenem sexuellen Erleben kennt, hat nach den Maßgaben der Mehrheit (Anm.; des Gerichts) praktisch keine Möglichkeit, die Darstellung von Sexualität so zu fiktionalisieren, dass der verfassungsrechtliche Schutz greift."

[...] Was hätte Goethe machen müssen, um dem Verbot auszukommen, das ihm heute drohte? Das Verfassungsgericht rät: Die Schilderung von Intimbeziehungen bleibe "unbenommen ..., wenn dem Leser nicht nahegelegt wird, sie auf bestimmte Personen zu beziehen". Man kann sich den Spaß machen, den "Werther", ebenso wie "Dichtung und Wahrheit", Kellers "Der Grüne Heinrich" oder Fontanes "Jenny Treibel" mit der Jedesto-Formel zu prüfen. Es erschließt sich ein schier unerschöpflicher Born für germanistische Magisterarbeiten.

Das Verbots-Urteil ist in seinem ersten Teil eigentlich gar nicht so angelegt, dass es einen zu solchen Späßen triebe. Es stellt nämlich zunächst richtigerweise fest, dass die Kunstfreiheit "für ein literarisches Werk, das sich als Roman ausweist, eine kunstspezifische Betrachtung verlangt". Das Gericht will also zu Recht an einen Roman mit anderen Maßstäben herangehen als an eine Biographie oder an ein Sachbuch. Und es erklärt, dass man grundsätzlich erst einmal von einer "Vermutung für die Fiktionalität eines literarischen Werks" ausgehen müsse, auch wenn Personen darin erkennbar seien.

Das ist ein Fortschritt gegenüber dem Mephisto-Urteil. Aber dann wendet das Gericht die von ihm selbst angemahnte "kunstspezifische" Betrachtungsweise im konkret zu entscheidenden Fall, bei Esra, nicht an - und fällt mit der "Jedesto"-Formel noch hinter die Mephisto-Entscheidung zurück.

Das grundsätzliche Problem hinter dem Fall Esra ist sicherlich, dass hier zwischen zwei Grundrechten vermittelt werden muss, die miteinander in Konflikt geraten können: dem Persönlichkeitsrecht und der Kunstfreiheit. Das Verfassungsgericht statuiert in diesem Fall, dass die Kunstfreiheit hinter das Persönlichkeitsrecht zurückzutreten hat. Das liegt in einem Trend, der auch zu Lasten der Presse- und der Filmfreiheit geht.

Heute hat der Künstler weniger, wie in alten Zeiten, den Staatsanwalt zu fürchten, der wegen angeblicher Gotteslästerung oder Pornographie mit dem Strafrecht droht. Heute muss er den Rechtsanwalt fürchten, der mit Schmerzensgeld- und Verbotsklagen geltend macht, das "Persönlichkeitsrecht" seines Mandanten sei verletzt. Früher war Kunstgeschichte Zensurgeschichte. Diese Art der Zensur ist tot. Sie ist in neuer Form wieder auferstanden.


Aus: "Verbot von Billers Roman "Esra" - Die Kunstrichter von Karlsruhe" Von Heribert Prantl (12.10.2007)
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/857/137580/4/

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Quote[...] ,,Esra" schildert das Scheitern der Liebesbeziehung zwischen dem Ich-Erzähler, einem Schriftsteller, und seiner türkischen Freundin. In beiden Figuren sind unschwer Biller selbst und seine frühere türkische Lebensgefährtin zu erkennen, die ebenso gegen die Veröffentlichung des Romans klagte wie ihre im Buch ausführlich dargestellte Mutter. Das Buch wurde kurz nach seinem Erscheinen verboten, weil es nach Ansicht des Gerichts auf unannehmbare Weise Details auch intimster Natur aus dem Privatleben der Klägerinnen verbreite. Der Verlag berief sich auf die Freiheit der Kunst und ging in Berufung. Damit standen zwei von der Verfassung garantierte Grundrechte im Widerspruch zueinander, und der ,,Fall Esra" wurde zur wichtigsten Gerichtsentscheidung in Fragen der Kunstfreiheit seit 1971, als die Veröffentlichung von Klaus Manns Schlüsselroman ,,Mephisto" über Gustaf Gründgens auch hinter dem Persönlichkeitsschutz zurückstehen musste.

Dass die Antwort aus Karlsruhe nicht einstimmig erging, zeigt, wie heikel und komplex die Abwägung verschiedener Grundrechte gegeneinander ist. Mit fünf zu drei Stimmen haben die Richter das Verbot des Romans bestätigt und die Klage des Verlags in allen wesentlichen Punkten abgewiesen: ,,Esra" bleibt verboten.

[...] Dass nun eine Welle von Klagen über deutsche Autoren und ihre Verlage hereinbricht, ist aber nicht zu befürchten. Denn die Verfassungsrichter machen auch deutlich, dass die Abwägung zwischen den Verfassungsrechten der Kunstfreiheit und des Schutzes der Persönlichkeitsrechte keinen festen Regeln folgt. Sie kann nur von Fall zu Fall getroffen werden.

QuoteSchwierig?

Erni Bär (Kuwitter)
13.10.2007, 09:56
Was ist denn mit der Freiheit des Autors, seine Lebensdetails, hier sein Kunstmaterial, schonungslos zu offenbaren, wenn er das möchte? Pech für die ehemalige Lebensgefährtin und deren Mutter. Die so genannten "Details", wie süffisant oder saftig diese auch immer sein mögen, sind mit Sicherheit schon einem bestimmten Personenkreis bekannt. Was hätten wohl die Exfreundinnen von Charles Bukowski dazu gesagt?


QuoteGibt es in dieser Gesellschafft keine Grenzen mehr??
Mete Can (Mete1)
12.10.2007, 22:22
Was ich in der deutschen Gesellschaft sooo Schade finde ist, dass es keine Grenzen mehr gibt, es soll immer alles im Sinne der Kunst erlaubt sein??

Auch Kunst muss seine Grenzen haben! Ich finde Kunst sollte dort aufhören, wo Religionen, Privatsphäre, etc. verletzt werden! Daher begrüsse ich die Entscheidung des Gerichts sehr!

QuoteEin Trauerspiel
Martin Standfuß (wandfuessl)
12.10.2007, 21:59
In dieser Causa kann es nur Verlierer geben. Auf der einen Seite ein Autor, der Intimitäten ausplaudert und das nur notdürftig mit dem Deckmäntelchen "Roman" kaschiert. Auf der anderen Seite zwei Frauen, die den Vorgang ungewollt im kollektiven Bewusstsein einbrennen: in Zeitungsarchiven, in Rechtsbibliotheken, in den Giftschränken der Antiquare.

Billers und der beiden Damen zweifelhaftes Verdienst ist es, sich für eine moderne Transkription der antiken Tragödie zur Verfügung gestellt zu haben.


Aus: "Verbot des Romans ,,Esra" - Kunst gegen Leben" (13. Oktober 2007 )
Quelle: http://www.faz.net/s/RubA5D2D6FBDDF441DC904B6BAD9133F933/Doc~E3DB9F530022E4D42A1661172B889A01A~ATpl~Ecommon~Scontent.html

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Quote[...] Wer dagegen unromantisch ist, den bestraft das Leben. Etwa Maxim Biller. Die Veröffentlichung seines Romans "Esra" wurde gerichtlich verboten. Zuletzt bestätigte das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechung, weil die Persönlichkeitsrechte von Billers Freundin und deren Mutter verletzt worden wären. Wie konnte es zu dieser Panne der Kunstfreiheit kommen? Biller wurde von der Justiz vorgeworfen, dass die recht offenen Darstellungen der beiden Frauen zu nahe am Objekt seien. Der Autor hatte also, wie wir jetzt wissen, vergessen, seine Geschichte zu romantisieren. Hätte er die (ihm sicher bekannte) Novalis´ Regel beherzigt, das Wunder zum Gewöhnlichen oder eben umgekehrt die saftig präsentierten "dramatis personae" zu Mythenwesen zu machen, hätte die Kunstfreiheit obsiegt. Stattdessen existiert jetzt eine gemischt juristisch-ästhetische Theorie: Die Kunst ist romantisch verfremdend - oder sie ist nicht. Jedenfalls nicht, wenn sie sich Freiheiten herausnimmt.

Vielleicht jedoch sind dann die Freiheiten keine mehr und vielleicht können auch hinter künstlerischen Bizarrerien Zeitgenossen effektiv diskreditiert werden, wofür die Literaturgeschichte übrigens zahllose Beispiele bereithält, aber die Botschaft ist unhintergehbar: Der Schein der Kunst muss so weit romantisiert werden, dass ein deutscher Richter nichts Böses mehr dabei denkt.

...


Aus: "Virtueller Blüthenstaub - Teil 2" - Von der Romantik, dem deutschen Wesen und anderen unheimlichen Zuständen" Goedart Palm (TP, 26.01.2008)
Quelle: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/27/27042/1.html


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Quote[...] Kunstfreiheit ist ein Grundrecht und in Deutschland geschützt durch Art. 5 Abs. 3 GG.

Geschützt sind die künstlerische Betätigung und die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks; der sog. Werkbereich und der Wirkbereich. Die Kunstfreiheit enthält das Verbot, auf Methoden, Inhalte und Tendenzen der künstlerischen Tätigkeiten einzuwirken, insbesondere den künstlerischen Gestaltungsraum einzuengen, oder allgemein verbindliche Regelungen für diesen Schaffungsprozess vorzuschreiben.

Dabei wird heute von der Rechtsprechung und der Rechtswissenschaft ein "offener" Kunstbegriff vertreten. Kunst ist also nicht nur in den überkommenen Formen wie Literatur, Malerei, Musik etc. existent, sondern ist gekennzeichnet durch einen subjektiven schöpferischen Prozess, dessen Ergebnis vielfältige Interpretationsmöglichkeiten zulässt. Verständlicher: Kunst ist das, was der Künstler als Kunst bezeichnet, wenn auch andere möglicherweise darüber streiten, ob es Kunst ist.

Insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Kunstfreiheit stark eingeschränkt, zum Beispiel durch die Bücherverbrennung 1933, Berufsverbote für Künstler oder durch die Ausstellungen "Entartete Kunst".

Da die Kunstfreiheit im Brennpunkt zwischen (politischer) Meinungsäußerung und den allgemeinen Persönlichkeitsrechten steht, ist sie auch heute noch von großer Bedeutung: so zum Beispiel bei der Entscheidung des BVerfG zum Tucholsky-Zitat "Soldaten sind Mörder" oder der Darstellung des Schauspielers Gustaf Gründgens in Klaus Manns Roman Mephisto. (sog. "Mephisto-Entscheidung"). Auch der Macher der "Körperwelten" Ausstellung Gunther von Hagens beruft sich bei seinem Tun neben der Wissenschaftsfreiheit auf die Kunstfreiheit.

Die Schwierigkeit der Kunstfreiheit in verfassungsrechtlicher Hinsicht besteht dabei darin, dass sie vorbehaltlos gewährleistet ist. Im Gegensatz zu anderen Grundrechten sieht das Grundgesetz für sie keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt vor. Der Gesetzgeber ist aber gehalten, durch Gesetze einen Ausgleich mit anderen Grundrechten und Verfassungswerten herzustellen. Damit ist die Kunstfreiheit zwar nicht schrankenlos, es muss aber letztlich in jedem Einzelfall bestimmt werden, ob sie durch eine staatliche Maßnahme verletzt wird. Besondere Probleme ergeben sich hierbei bei Vorschriften zum Schutz der persönlichen Ehre (s.o.) und im Rahmen der politischen Straftaten. Das BVerfG vertritt hierbei die Theorie von der Wechselwirkung, d.h. Gesetze, die die Kunstfreiheit beschränken, sind wiederum ihrerseits im Lichte der Kunstfreiheit (kunstfreundlich) auszulegen.


Aus: "Kunstfreiheit" (10/2007)
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Kunstfreiheit

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Maxim Biller:
http://de.wikipedia.org/wiki/Maxim_Biller

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Quote[...] München - Die Ex-Freundin des Schriftstellers Maxim Biller bekommt 50.000 Euro Entschädigung wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte in dem Roman "Esra". Die 9. Zivilkammer des Landgerichts München I verurteilte den Autor und seinen Verlag Kiepenheuer & Witsch am Mittwoch zur Zahlung und gab damit der Schmerzensgeldklage der Schauspielerin statt. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Über die Forderung ihrer Mutter in gleicher Höhe wurde überhaupt noch nicht entschieden. Deren grundsätzlichen Anspruch muss der Bundesgerichtshof noch einmal prüfen.

[...] Die Tochter und deren Kinder seien in Billers Roman eindeutig identifizierbar, urteilte die Zivilkammer. "Unabhängig von der Frage der Wahrheit der Schilderungen sind weder das Intimleben noch das Mutter-Kind-Verhältnis legitime Gegenstände öffentlicher Erörterung." Das Gericht beurteilte die Persönlichkeitsverletzung als so schwerwiegend, dass die Forderung der Schauspielerin angemessen sei. Der im Grundgesetz garantierte Schutz des Persönlichkeitsrechtes überwiege in diesem Fall gegenüber der Kunstfreiheit, er müsse mit zivilrechtlichen Sanktionen durchgesetzt werden können. (APA/dpa)




Aus: "Schuldspruch im Zivilprozess um Roman "Esra"" (13. Februar 2008)
Quelle: http://derstandard.at/?url=/?id=3223169

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Quote[...] Das Verfassungsgericht hat aber mehrere Signale gegeben, die die Freiheit der Literatur betonen. Schon im "Esra"-Beschluss war betont worden, dass es keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts darstellt, wenn sich jemand in einem Roman einfach nur zu negativ porträtiert fühlt. Deshalb hatte auch der Verbotswunsch der Mutter von Billers Exfreundin keinen Erfolg. Auch über ihren Schmerzensgeldanspruch wurde gestern noch nicht entschieden.

Zwischenzeitlich hatte Karlsruhe in zwei weiteren Entscheidungen versucht, die Wogen weiter zu glätten. So lehnte es ein Verbot des Romans "Pestalozzis Erben" ab, in dem sich zwei Lehrer nachteilig dargestellt fühlten. Auch das Theaterstück "Ehrensache", in dem ein Mädchenmord verarbeitet wurde, blieb unbehelligt. Hier hatte die Mutter des getöteten Mädchens protestiert, weil ihr Kind als moralisch haltlos dargestellt wurde.

In beiden Fällen betonte das Verfassungsgericht, dass ein literarisches Werk "zunächst als Fiktion anzusehen ist, das keinen Faktizitätsanspruch erhebt". Diese Vermutung gelte auch, wenn erkennbar reale Vorbilder verarbeitet wurden. Selbst die Darstellung der Sexualität des ermordeten Mädchens wurde nicht beanstandet, weil der Autor, der die Getötete nicht kannte, nicht den Anschein von Authentizität zu erwecken versuchte.

Insofern war wohl der Fehler von Biller, dass er faktisch wie ein Reporter über die reale Sexualität seiner Exfreundin zu berichten versuchte - oder zumindest diesen Eindruck erweckte.

Quote14.02.2008 01:11 Uhr:
Von Präkarius:

Das Problem Billers ist, dass er keinen Roman geschrieben hat - ich glaube, dem talentierten Kurzschreiber liegt dieses Genre nicht -, sondern eine Rachepamphlet. Ich habe das Werk gelesen, ihm fehlt alles, was einen Roman ausmacht - und ist dazu noch grottenschlecht.



Aus: "Der Preis der Authentizität" VON CHRISTIAN RATH (14.02.2008)
Quelle: http://www.taz.de/nc/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2008%2F02%2F14%2Fa0137&src=GI&cHash=d21da7d16b

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Quote[...] Seit dem Verbot von Klaus Manns Mephisto von 1971 wurde in Deutschland nicht mehr so intensiv über die Freiheit von Literatur diskutiert.

Die Diskussion ging allerdings am Thema vorbei. Denn die Kunstfreiheit war im Fall Esra nie gefährdet. Natürlich darf ein Schriftsteller reale Personen in seinen Werken darstellen. Er darf sie porträtieren, er darf sie verfremden. Literatur lebt von der Vermischung von Fiktion und Realität und deren Abstraktion. Diese Freiheit ist wichtig und schützenswert. Aber sie ist kein absoluter Wert. Auch ihre Bedeutung muss abgewogen werden mit anderen Gütern, hier mit dem Schutz des Persönlichkeitsrechts.

Denn dem Porträtierten muss auch eine Freiheit zugestanden werden; er muss sagen können: Ich bin's nicht! Heikel wird's zumal, wenn, wie in Esra, intime, sexuelle Details der Person ausgebreitet werden. Es kann so keine vollkommene Autonomie der Kunst geben. Sonst könnte jeder fürderhin private Details anderer aufschreiben, persönliche Schmähschriften verfassen, und das ginge in Ordnung, solange Roman, also Kunst, draufstünde.

Die Ex-Geliebte Billers hatte keine Chance, sich in Esra nicht gemeint zu fühlen, weil es darin nicht um Erkennbarkeit ging, sondern um Identifikation. Ob aus Bosheit so geschehen, aus Gedankenlosigkeit oder enttäuschter Liebe spielt überhaupt keine Rolle. Daher ist das Verbot gerechtfertigt. Und auch der Anspruch auf Schadensersatz ist zunächst schlüssig: Wenn etwas verboten wird, kann man davon ausgehen, dass es Schaden verursacht hat. Alles legitim. Doch auch übertrieben.

Der Skandal und das anschließende Verbot haben sowohl dem Schriftsteller als auch seinem Verlag Kiepenheuer & Witsch genug geschadet. Jetzt wird Biller auch noch finanziell ruiniert. 50.000 Euro – diese Summe ist unerhört. Offenbar wissen das Gericht und die Klägerin nicht, wie wenig ein Schriftsteller verdient. Vielleicht verzerren prominente Ausnahmen wie J.K. Rowling oder Cornelia Funke schnell das Bild. Die meisten Autoren können froh sein, wenn ihr Verlag ihnen einen höheren vierstelligen Vorschuss für ein Buch bezahlt. Dazu kommen noch Tantiemen je nach Verkaufserlös. Und Billers Verdienst an Esra dürfte niedrig gewesen sein: Der Roman wurde kurz nach Erscheinen verboten.

Augenmaß hatten die Münchener Richter nicht. Denn der Gerechtigkeit war mit dem Verbot genug, egal wie laut die Klägerin nach mehr geschrien hat. Es wurde Maxim Biller vorgeworfen, er habe das Ansehen und die Existenz einer Person zerstören wollen. Nach dem Urteilsspruch in München könnte man das seiner Ex-Freundin auch unterstellen.

[...]

QuoteAliceMeinbauch, 14.02.2008 um 08:06

Todesurteil

Wie war das mit Martin Walsers "Tod eines Kritikers"?




Aus: "Kein Augenmaß" Von David Hugendick (13.2.2008)
Quelle: http://www.zeit.de/online/2008/07/esra-urteil

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Quote[...] Dabei befinden wir uns längst nicht mehr bei der edlen Frage, ob die Freiheit der Kunst durch die neue Klagelust gefährdet wird; sie wird es ohnehin. Der Paradigmenwechsel von der Sittenwidrigkeit - man denke etwa an den Hamburger Prozess gegen Jean Genets "Notre Dame des Fleurs", 1962 - hin zum Persönlichkeitsrecht hat längst stattgefunden. Die Freiheit der Kunst bleibt ein Grundrecht, das sich inzwischen behaupten muss gegen das Persönlichkeitsrecht. Insofern haben wir nüchtern zu konstatieren, dass in der Tat bedeutende Werke wie Goethes "Die Leiden des jungen Werthers", Thomas Manns "Buddenbrooks" oder Max Frischs "Montauk" heute mit Schwierigkeiten zu rechnen hätten, mit denen sie zu ihrer Zeit nicht zu rechnen hatten, so wie anders herum wegen Sittenwidrigkeit heute so leicht kein Kunstwerk mehr die Mühlen der Justiz gerät. Man kann sich über diese Veränderung empören, aber es ändert nichts daran, dass sie stattgefunden hat.

[...] Wie aber viel kostet der Schmerz? Der Verlag hat gestern in einer Presseerklärung die Entschädigung von 50 000 Euro "grotesk unangemessen" genannt. Die Summe ist in der Tat sehr hoch. Sie könnte geeignet sein, eine Schrifstellerexistenz zu vernichten, es sei denn, der Verlag übernähme den Bärenanteil. In Deutschland wurde bislang, etwa im Vergleich mit den Vereinigten Staaten, wenig, ja zu wenig Schmerzensgeld gezahlt. Ein geprelltes Bein, das eine zweiwöchige Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat, bringt kaum 600 Euro.

Hier geht es nun um eine geprellte Seele, also um eine länger wirkende, vielleicht lebenslange Verletzung. Daniel Kehlmann warnte einmal weise: "Autoren sind keine netten Leute, es ist nicht empfehlenswert, einem von ihnen Einlass in sein Leben zu gewähren. Es ist dies eine menschliche Grundtatsache, älter als die Schrift, so alt wie das Erzählen selbst." Soeben verschieben sich vor unseren Augen die Maßstäbe, und es wäre in der Tat beängstigend, wenn die durch Kunstwerke persönlich Geschädigten in Zukunft auf allzu hohe Summen spekulieren dürften. Die Versuchung, sich als seelisch verletzt darzustellen und Geld zu wittern, wird einfach zu groß.

Bleibt dennoch zu fragen: Ist eine Klage der früheren Freundin Billers berechtigt oder nicht? Der psychische und sexuelle Exhibitionismus des Romans "Esra" ist evident und grenzwertig, und auch wenn der Autor sich selbst nicht schont, so tut er das dennoch auf Kosten seiner früheren Geliebten, die in München bekannt ist und an der die desaströsen Liebeswünsche Billers, an der das zelebrierte Verhängnis förmlich kleben. Die Wiedererkennbarkeit der Figuren steht nicht in Frage, jedenfalls nicht für die, die sich gemeint fühlt. Dass die Klägerin gemeint war, hat der Autor sogar expressis verbis in das ihr gewidmete Exemplar geschrieben. Biller hat mehrfach gesagt, er wolle brutal schreiben. Seine - ästhetisch gemeinte - Brutalität hat sich letztlich an ihm selbst gerächt.


Aus: "Verbotener Roman: Esra, das Geld und der Schmerz" VON INA HARTWIG (Feuilleton, 13.02.2008)
Quelle: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/?sid=95ea6f38a5149589521257d85eb8cdb4&em_cnt=1287740


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#2
Quote[...] Pigor hat so seine Erfahrungen mit Adolf, Moers wählte ihn als Stimme aus, nachdem er Pigors Song über Hitler vorm Rasierspiegel gehört hatte. "Hitler ist das Böse an sich, und er hat durch dieses Böse an sich eine dämonische Größe bekommen, die fast schon sakral ist, dass man die Stimme senkt und sagt 'Hitler'. Es ist fast eine blasphemische Lust, diesem großen Dämon ans Bein zu pinkeln."


Aus: "aspekte - "Ich hock in meinem Bonker" Der neue Hitler-Comic von Walter Moers - Darf man über Adolf Hitler Witze machen? "Im Gegenteil, man muss!", beantwortete die Frage seinerzeit Walter Moers, als er vor acht Jahren seinen ersten Comic-Band über "Adolf - die Nazisau" veröffentlichte" von Achim Zeilmann, 07.07.2006; zdf.de
Quelle: http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/16/0,1872,3953360,00.html

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Quote[...] Walter Moers: Ich möchte zunächst mal darauf hinweisen, dass ich meinen ersten Adolf-Comic bereits vor acht Jahren veröffentlicht und damit sozusagen Pionierarbeit geleistet habe. Da kann ich heute nicht hingehen und Hitler Guido Knopp überlassen. Der Führer gehört mir!

Ferchl: Das ist der Grund für das neue Adolf-Buch?
   
Moers: Wir haben in Deutschland nun mal nur zwei international auswertbare Pop-Ikonen: den Papst und Adolf Hitler. Für den Papst hat die Katholische Kirche die Lizenz, Hitler ist rechtefrei. Kein Wunder, dass sich alle auf ihn stürzen wie die Geier. Nein, der eigentliche Grund für mich ist, dass Hitler so leicht zu zeichnen ist. Punkt, Punkt, Komma, Strich - fertig ist das Arschgesicht!  [...] Thomas Pigor hat einen Adolf-Reggae komponiert und eingesungen, und Felix Goennert, einer der besten deutschen Computer-Animatoren, hat das animiert. Jetzt haben wir Adolf nicht nur in zwei, sondern in drei Dimensionen. Das erweitert die Möglichkeiten im Umgang mit der Figur enorm. [...] es ist so eine Art Wundertüte aus Comic, Tragikomödie, Videoclip und Bastelbogen. Man kann sogar die Handlung nachspielen, mit ausschneidbaren Figuren. Oder beim Adolf-Song vermittels einer Karaoke-Version mitsingen. Interaktiv, digital, dreidimensional und mit Musik. Lesbar, sehbar, hörbar, tanzbar. Das Buch der Zukunft.

[...] Ferchl: Als Sie Hitler vor Jahren erstmals als Comicfigur gezeigt haben, gab es neben Beifall auch harsche Kritik. Das dürfe man nicht, sie würden Hitler damit zu sehr vermenschlichen. Gehen Sie jetzt mit der beigelegten DVD vielleicht endgültig zu weit? Hitler nackt, auf dem Klo, zusammen mit Schäferhund Blondi in der Badewanne.

Moers: Adolf Hitler war nun mal ein Mensch. Er ging aufs Klo und wahrscheinlich auch manchmal in die Badewanne. Ich weiß, dass die Menschheit es mit ihm vielleicht einfacher hätte, wenn er der Teufel oder ein Außerirdischer gewesen wäre. Aber er gehört zur Familie, so unangenehm das auch sein mag. Gefährlich ist die Dämonisierung, die ihn zur Kultfigur für Neonazis werden ließ. Hätte man Hitler schon zu Lebzeiten mal nackt gesehen, wäre alles vielleicht nicht so weit gekommen.

[...] wenn man dann irgendwann wieder einmal eine Dokumentation über Konzentrationslager sieht oder ein Buch liest wie "Die Vernichtung der europäischen Juden", dann können einem schon arge Bedenken kommen. Aber Betroffenheit alleine hilft ja niemandem. Hitler ist nie menschlicher und komischer dargestellt worden als in Chaplins "Der große Diktator".
   
Chaplin hat in seinem späteren Leben gesagt, dass er den "Großen Diktator" nicht gemacht hätte, wenn er gewusst hätte, was sich wirklich in den Konzentrationslagern zugetragen hat. Das kann ich verstehen. Dennoch: Chaplin hätte die Konzentrationslager nicht ungeschehen gemacht, wenn er den "Großen Diktator" nicht gedreht hätte. Aber dieser Film hat mehr zur Entmystifizierung Hitlers und des Nationalsozialismus beigetragen als jeder andere der Filmgeschichte.



Aus: "aspekte: Der Führer nackt - muss das denn auch noch sein, Herr Moers?" - Interviews mit dem bekennend medienscheuen Walter Moers sind eine Rarität. Er lässt sich nicht fotografieren, geschweige denn geht er vor eine Fernsehkamera. Nur seinem Verleger Wolfgang Ferchl gab er dieses exklusive Interview zum Erscheinen von "Der Bonker" (zdf.de; 10.07.06)
Quelle: http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/9/0,1872,3954249,00.html



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#3
Quote[...] Wie Kastner am Sonntag mitteilte, erließ das Amtsgericht München aufgrund einer «unangemeldeten Versammlung» einen Strafbefehl gegen ihn. Kastner und der Autor Georg Ledig waren als Papst und Adolf Hitler verkleidet während des Papstbesuchs durch die Münchner Innenstadt spaziert, um symbolisch gegen das Reichskonkordat von 1933 zwischen dem Heiligen Stuhl und Nazi-Deutschland zu protestieren, das bis heute in Kraft ist.

Polizisten hatten Kastner und Ledig an dem geplanten Umzug gehindert und ins Polizeipräsidium geführt. Dort wurde nach Kastners Angaben das weiße Papstgewand beschlagnahmt. Anschließend begann die Staatsanwaltschaft laut Kastner Ermittlungen wegen «Beleidigung eines ausländischen Staatsoberhauptes», «Missbrauchs von Zeichen» und einer «unangemeldeten Versammlung». Das Amtsgericht ließ nach Angaben des Künstlers die beiden ersten Vorwürfe fallen. Gegen den Strafbefehl legte Kastners Anwalt Widerspruch ein.

In seiner Mitteilung machte sich Kastner über den «bayerischen Staatschutz» und die Polizei lustig. Die Ermittlungsakte gegen ihn und Ledig sei 55 Seiten stark. Unter anderem sei darin festgehalten worden, dass der Beschuldigte zugegeben habe, «er sei nicht der amtierende Papst». Kastner warf der Polizei vor, sich nur um Kleinkram zu kümmern. Wichtiger sei es, «den braunen Sumpf auszutrocknen» sowie «Wirtschaftskriminelle, Waffenhändler, Bombenbastler und Gammelfleischer dingfest zu machen».


Aus: "Strafbefehl gegen Münchner Aktionskünstler wegen Anti-Papst-Demo" -  Aktionskünstler Wolfram P. Kastner muss Geldstrafe von 1500 Euro zahlen (ddp; freiepresse.de; 5.2.2007)
Quelle: http://www.freiepresse.de/NACHRICHTEN/KULTUR/808928.html


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#4
Quote[...] Es ist ein Rechtsstreit von weitreichender, grundsätzlicher Bedeutung: darüber, wie frei Filmemacher bei fiktionalen Werken mit historisch-zeitgeschichtlichen Hintergründen sind - es geht um die Grenzen der Kunstfreiheit. Der Film thematisiert die Affäre um das Schlafmittel Contergan, nach dessen Einnahme Tausende von Frauen Ende der 50er-Jahre missgebildete Kinder geboren hatten.

Der Contergan-Hersteller Grünenthal und der Rechtsanwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen, an dessen Lebensgeschichte sich der Film orientiert, hatten zahlreiche Stellen des Drehbuchs kritisiert und auf eine angebliche Verdrehung historischer Tatsachen und eine Verletzung der Persönlichkeitsrechte verwiesen. Sie erwirkten im vergangenen Jahr einstweilige Verfügungen gegen einige Szenen in dem Streifen. Im Sommer 2006 hatte das Hamburger Landgericht die Verfügungen im Wesentlichen bestätigt und damit die Ausstrahlung von Passagen des Films untersagt. Der WDR sowie die Produktionsfirma gingen in Berufung. Sie berufen sich auf die Kunstfreiheit.

"Der Senat hat bei seiner Abwägung insbesondere berücksichtigt, dass es sich bei dem Spielfilm um ein Kunstwerk handelt, welches nicht den Anspruch erhebt, in allen Details die damaligen Ergebnisse dokumentarisch abzubilden", sagte die Vorsitzende Richterin des 7. OLG-Zivilsenats, Marion Raben. Das OLG entschied auf Basis der filmischen Fassung, in der einige der im Drehbuch vorgesehenen und monierten Stellen bereits nicht mehr vorhanden sind oder verändert wurden. Demnach habe sich Grünenthal "im Ergebnis im größeren Umfang durchgesetzt, als dies nunmehr den Anschein hat", betonte die Richterin.

[...] Der Deutsche Kulturrat sprach von einem "ersten Teilerfolg für die Kunstfreiheit".


Aus: "Im Zweifel für die Kunstfreiheit" - Der Zweiteiler "Eine einzige Tablette" muss nicht alle Details der damaligen Ereignisse dokumentarisch abbilden - Weitere juristische Hürden" Von Ralf Nehmzow (11. April 2007)
Quelle: http://www.abendblatt.de/daten/2007/04/11/721980.html


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#5
Quote[...] "Einer der Gründe für die enormen Fortschritte unserer Zivilisation ist der Mut zur Provokation", hat der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen geschrieben, als er in der Zeitung Jyllands-Posten deren umstrittene Mohammed-Karikaturen verteidigte. Jetzt ist Rasmussen das Opfer einer Provokation, die in Dänemark eine heftige Debatte ausgelöst hat. Wie die Boulevardzeitung BT reißerisch aufmachte: "Fogh als Schwuler bloßgestellt und ermordet".

Mockumentary nennt man in der Filmbranche Pseudo-Dokumentationen, in denen die Grenzen zwischen Wahrheit und Erdichtetem verschwimmen, und eine Mockumentary hat der dänische Filmemacher Morten Hartz Kaplers gedreht, mit den Initialen des Premiers AFR als Titel. Dafür hat er neben Schauspielern und Statisten viel Fernseh-Archivmaterial benützt und Interviews mit dänischen Politikern verwendet. Missbraucht, sagen diese.

Pia Kjærsgaard zum Beispiel, die Vorsitzende der rechten Dänischen Volkspartei, die posthum von einem "mutigen Mann" spricht und grinsend hinzufügt: "Außerdem war er schwul, das wussten alle." Ihr Zitat ist auf den holländischen Politiker Pim Fortuyn gemünzt, im Film wirkt es, als spreche sie von Rasmussen. Der Liberale Nasser Khader erzählt vom erschütterten Schweigen in der Fraktionssitzung. In Wirklichkeit redete er von den Stunden nach dem Mord an der schwedischen Außenministerin Anna Lindh. Und auch US-Präsident George Bush oder der frühere UNO-Generalsekretär Kofi Annan sprachen natürlich nicht vom dänischen Premier, als sie einen "großen Staatsmann" ehrten.

Hartz Kaplers hat diese Zitatausschnitte mit gestellten Interviews mit erfundenen Personen zu einer fiktiven Dokumentation verwoben, die mit dem Mord an AFR beginnt und dann dessen Vorgeschichte aufrollt. Beim Aufstieg des rechtsliberalen Politikers stimmen Fiktion und Wahrheit noch weitgehend überein. Doch dann wird das Geschehen durch eine Liebesgeschichte mit einem (vom Filmemacher selbst gespielten) Strichjungen namens Emil verbrämt, der schließlich als Mörder gejagt und bei seiner Verhaftung von der Polizei getötet wird. Was nach Eifersuchtsdrama aussieht - der fiktive AFR hat Emil aus Rücksicht auf seine Karriere verlassen - bekommt schließlich eine politische Dimension: in Wahrheit, stellt sich heraus, stecken nämlich dunklere Kräfte hinter dem Mord an dem Regierungschef. Dieser hat, just von Emil zum Umdenken gebracht, sein Herz für Afrika entdeckt und einen "Rettungsplan" für den Kontinent entwickelt, den er wichtigen Finanzkreisen vorlegen will, als er auf der Fahrt zu dem Treffen erschossen wird.

Das ist bar jeder Glaubwürdigkeit. Doch darum geht es in der dänischen Debatte nicht. Die fragt: sind die Grenzen künstlerischer Freiheit überschritten, wenn man einen lebenden Spitzenpolitiker filmisch ermorden lässt? Und geht es an, Politiker zu einem Thema zu interviewen und dann ihre Worte in ganz anderem Zusammenhang zu benützen? Wie beim konservativen Fraktionschef Helge Møller, der sagt: "Zuletzt war er eine Art Diktator", aber dabei nicht von Rasmussen spricht, sondern von einem abgehalfterten ehemaligen Parteichef. Pia Kjærsgaard nennt es "abstoßend" und "geschmacklos", gegen ihren Willen in eine "fiktive Mordgeschichte an einem absolut nicht fiktiven Regierungschef" verwickelt zu werden. Auch der gleichfalls zitierte Sozialist Holger Nielsen fühlt sein "Vertrauen missbraucht".

Hartz Kaplers beteuert, dass er niemanden missbrauche: "Das Publikum ist zu keinem Zeitpunkt im Zweifel, dass in dem Film die Wirklichkeit manipuliert wird." Indem er bekannte Politiker benütze und Realität und Fiktion mische, zwinge er die Zuschauer, Stellung zu nehmen. "Der Film ist ein künstlerischer Ausdruck und braucht daher weder journalistischer noch allgemein bürgerlicher Ethik zu folgen." Provokation? "Wenn Dinge auf den Kopf gestellt werden, ist das immer provozierend", sagt der Filmemacher und findet es "typisch für unsere Doppelmoral", dass AFRs angeblicher schwuler Lover die Schlagzeilen stiehlt und die Debatten prägt und nicht der ebenso angebliche Afrika-Rettungsplan.

Zur Provokation hat sich auch Rasmussen bekannt, als es um die Mohammed-Karikaturen ging. Doch wie damals muss man sich auch heute fragen, ob Provokation um der Provokation willen richtig ist. Was Kapler mit seinem Film eigentlich bezweckt, bleibt auch nach der Premiere schleierhaft. Und seine unfreiwillige Hauptperson? "Ich bin für Meinungsfreiheit in weitestem Rahmen", sagt Anders Fogh Rasmussen, doch er glaube nicht, dass er "Stunden genug" habe, um sich den Film anzusehen.



Aus: "Staatschef mit Lover: Dänemark diskutiert über eine Pseudo-Dokumentation" VON HANNES GAMILLSCHEG (25.04.2007)
Quelle: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/medien/?em_cnt=1121996

Mockumentary:
http://de.wikipedia.org/wiki/Mockumentary

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LINK => [too much for Russia's culture minister Alexander Sokolov... (Bilderverbot)]
http://www.subfrequenz.net/forum/index.php/topic,100.msg2514.html#msg2514


etc.


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#6
Quote[...] Tötet Helmut Kohl!" skandierte 1997 Christoph Schlingensief bei der Documenta in Kassel. Worauf die Polizei ihn festnahm und zumindest zum Plaudern aufs Revier mitnahm, glaubt man den überlieferten höflichen Gesprächsfetzen zwischen Künstler und Polizisten.

Am Vortag des Putin-Besuchs in Wien geschah Ähnliches mit dem dänischen Poster-Künstler Jan Egesborg: Nachdem er am Karlsplatz Plakate aufgeklebt hatte, auf denen über einem Putin-Porträt groß ,,Erschießt Putin" zu lesen war, wurde er von der Polizei festgehalten. Am Revier wurde dann wohl über Kunst und Freiheit diskutiert – denn der Sinn des Posters ändert sich durch das (sehr) Kleingedruckte: Der Zusatz ,,... Journalisten?" macht aus der Aufforderung ,,Erschießt Putin" eine kritische Frage – die sich nach Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja viele Gegner des russischen Präsidenten stellten. Am späten Nachmittag wurde Egesborg schließlich wieder freigelassen. Seine Posters allerdings, so der Künstler, dürfe er dennoch nicht weiter aufhängen.

Spätestens seit dem Streit um die Mohammed-Karikaturen ist bekannt, dass mit der satirischen Kunstszene in Dänemark nicht zu spaßen ist. ,,Wir haben eine lange satirische Tradition und sind alle Kinder von ihr", erklärte Egesborg schon am Montag bei einem Interview der ,,Presse". Gemeinsam mit Pia Bertelsen ist er seit 2006, seit die beiden ehemaligen Journalisten das Begräbnis Milosevics besuchten, als Guerilla-Kunstgruppe ,,surrend" aktiv. Ziemlich unverfroren und meist direkt in der Höhle des Löwen selbst legen sie sich mit denen an, die sie als Despoten dieser Welt identifizieren.

Den iranischen Präsidenten Ahmadinejad ließen sie etwa per verschlüsselter Anzeige in seinem hauseigenen Propagandablatt ,,Teheran-Times" wissen, was sie von ihm halten: Beachtete man nur die Anfangsbuchstaben von fünf, eigentlich gegen die USA gerichteten Sätzen, stand da plötzlich S-W-I-N-E zu lesen. Zynischer Absender: ,,Dänen für den Weltfrieden". Eine Aktion, die durch die internationalen Medien ging.

Aber Überraschung: Keine Todesdrohungen, keine Fatwa folgten, erzählt Egesborg, der in seiner Heimat als Posterkünstler bereits museale Weihen erhielt und mittlerweile für seine Kunst mit permanenter Angst zu leben gelernt hat. Sehr wohl folgten aber tausende E-Mails aus aller Welt, teils belustigte, teils zustimmende, teils wütende. Diese Reaktionen sind es, die ,,surrend" mit ihren derben Spässen erreichen wollen. Die Leute sollen durch die satirischen Aktionen wenn nicht gar bestärkt in ihrer Opposition gegen die Übermächtigen, so doch zumindest aufgerüttelt werden. Ihr Antrieb sei Friede und Humor, so Egesborg.

Wichtig ist bei ,,surrend" – das Wort ergibt sich aus dem verstümmelten englischen ,,surrender", ,,sich geschlagen geben" – immer der zweite Blick. Wie bei der gestern von der Polizei verhinderten Aktion in Wien. Ein zweites Plakatsujet, das der Künstler ebenfalls im Vorfeld der ,,Presse" gezeigt hat, druckt ein fiktives Grußwort Putins an die Österreicher ab: Er radebrecht auf Deutsch über die baldige Einverleibung des Landes und, zur Erheiterung Wodka-trunkener Minister im Kreml, über Journalistenmord. Ein kurzer Auszug aus der von ,,surrend" gefälschten Putin-Homepage ,,www.prezidenta.ru", wo erfundene innere Monologe Putins über Sex, Religion, den Tschetschenien-Krieg und ähnlich garantiert provozierende Themen zu lesen sind. Auf Russisch.

So wolle man vorführen, wie es hinter der glatten Fassade des Präsidenten aussehen könnte, so Egesborg. Vor einiger Zeit scheint der Kreml versucht zu haben, diese Seite zu eliminieren – jedenfalls war sie plötzlich aus dem Internet verschwunden und man musste eine neue Kopie online stellen.

Aktiv war ,,surrend" bisher bereits in der Türkei, Polen, Serbien und Sri Lanka. In Bagdad verbreiteten sie tausende zynische Peace-Poster, die aufriefen, doch weiterhin der Propaganda zu glauben und so das Leben kompliziert zu halten. Und in Deutschland versuchten sie dieses Frühjahr mit verfremdeten NS-Plakaten gegen die Wahlerfolge der NPD zu protestieren – was ihnen eine Klagsdrohung der Partei einbrachte.

,,Wir haben verrückte Ideen und setzen diese auch um", meinte Egesborg am Montag. Am Dienstag kam ,,surrend" dabei erstmals die Polizei dazwischen. Allerdings nicht die irakische oder türkische, wie die Künstler es eher erwartet hätten. Sondern die Wiener.




Aus: "Politische Kunst: Mit Polizei gegen Putin-Poster" ALMUTH SPIEGLER (22.05.2007, Die Presse / "Die Presse", Print-Ausgabe, 23.05.2007)
Quelle: http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/305858/index.do?_vl_backlink=/home/index.do

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Surrend ist ein dänisches Künstlerduo, bestehend aus Jan Egesborg und Pia Bertelsen, das vor allem durch provokante Aktionen auffällt. So gelang es ihnen, einen Artikel in der staatsnahen Tehran Times zu platzieren, der vordergründig den damaligen Präsidenten Mahmud Ahmadineschad unterstützte, allerdings die verschlüsselte Botschaft SWINE (,,Schwein") enthielt. ...
http://de.wikipedia.org/wiki/Surrend




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Quote[...]  Heute ist materieller Erfolg die entscheidende Kategorie bei der Verehrung für künstlerische Produktion, egal ob es nun um die Auflagenziffern für Daniel Kehlmann geht oder um die Summen, die für die Bilder Neo Rauchs gezahlt werden. Gerade weil aber die Rede von der Kommerzialisierung zur kulturkritischen Binsenweisheit geworden ist, tut es gut, wenn man sich ab und an daran erinnert, dass Kunst traditionell eine andere, ziemlich existenzielle Dimension hat: Da kann es manchmal auch heute noch um die letzten großen Fragen gehen.

Auf diese schaut das aktuelle Heft des Merkurs angesichts der heftigen Kunstdebatten der letzten Zeit. Remigius Bunia schildert die unübersichtliche Konfliktlage "Kunstfreiheit versus Persönlichkeitsschutz" im Falle des Verbots von Maxim Billers "Esra"-Roman und kommt zum Schluss, dass der Konflikt nicht auszuräumen ist - was auch gut sei: Nicht "Konsens strukturiert die gesellschaftliche Kommunikation maßgeblich, sondern Konflikt." Daher hofft Bunia auch, dass der konfliktfreudige Kölner Kardinal Meisner "demnächst wieder eine seiner - aus meiner persönlichen Sicht oft verdammungswürdigen - Meinungsäußerungen wagt."


Aus: "Schriften zu Zeitschriften: Europäisches Denken im "Merkur" - Tiefer hängen, genauer gucken: Der "Merkur" analysiert die Lage der Kunst im öffentlichen Debattenraum. VON ALEXANDER CAMMANN" (12.02.2008)
Quelle: http://www.taz.de/1/leben/medien/artikel/1/europaeisches-denken-im-merkur/?src=SZ&cHash=34cff178e4



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Quote[...] But last week, after only seven daily entries, it emerged that her promise may have been a hoax. In a final blog, the 24-year-old claimed the whole project was a piece of art made in tribute to Christine Chubbuck, an American journalist who shot herself live on air.

Overwhelmed by the public response, the mysterious woman with the thick black bob wrote: "My closeness to this project must have made art seem like reality to many people. That is not a reaction that I expected nor can I morally justify. This is why my project, 90DayJane, will be taken down in the next few hours."

[...]


From: "'Suicide blogger' claims project was art" - Identity of '90DayJane' still unknown as site closed  - By Jasper Hamill (2008)
Source: http://www.sundayherald.com/news/heraldnews/display.var.2050687.0.suicide_blogger_claims_project_was_art.php



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Quote[...] Mit dem gestrigen Urteil des Bundesgerichtshofs geht endlich eine quälende Geschichte juristisch zu Ende. Über Maxim Billers Roman "Esra" wird vor Gericht nicht mehr verhandelt werden. Des Autors frühere Freundin, die sich durch das 2003 bei Kiepenheuer & Witsch erschienene und kurz darauf vom Markt genommene Buch in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt fühlt, wird über das Verbot des Romans hinaus kein Schmerzensgeld erhalten. Damit wird nicht gesagt, Maxim Billers Buch habe die Klägerin nicht verletzt. Das hat das Buch zweifellos getan, auch steht die Wiedererkennbarkeit der Klägerin trotz Namensänderung nicht in Frage, ebensowenig der schmutzige Subtext der autobiographisch verbürgten verhängnisvollen sexuellen Passion, von der Biller genüsslich erzählt. Nein, ein harmloses Buch war "Esra" nie.

Die gute Nachricht ist: Keiner, der sich in einem literarischen Werk wiedererkennt, kann auf Schmerzensgeld spekulieren mit der Begründung, er fühle sich verletzt. Er oder sie kann höchstens, problematisch genug für die Schriftstellergilde und die Verlage, ein Verbot erwirken. Das ist hier geschehen, 2007 abgesegnet vom Bundesverfassungsgericht. Wäre der Klägerin darüber hinaus vom BGH Recht gegeben worden, hätten also Verlag und Autor die geforderte Summe von 50.000 Euro zahlen müssen, hätte das fatale Folgen gezeitigt.

[...] Die Freiheit der Kunst ist durch das gestrige Urteil gestärkt worden. Deshalb wird "Esra" noch lange nicht zu einem guten Buch. Aber es steht fortan allen Schriftstellern frei, gute Bücher über böse Affären zu schreiben - wie es Flaubert und Goethe, Thomas Mann und Max Frisch vorgemacht haben. Ein bisschen mehr als diese werden sie dennoch aufpassen müssen. Das Persönlichkeitsrecht hat eine stärkere Lobby als in früheren Zeiten. Dafür wird man die Heutigen kaum mit dem Vorwurf der "Sittenwidrigkeit" belästigen. So hat alles sein Gutes.


Aus: "Endlich" Von Ina Hartwig (24.11.2009)
Quelle: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/feuilleton/2101270_Times-Mager-Endlich.html


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#10
Quote[...] Eine Malerin nennt sich Erika Lust. Sie malt die Oberbürgermeisterin Helma Orosz - nackt. Die zieht dagegen vor Gericht. Nun hat die Kammer geurteilt: das Bild darf nicht mehr gezeigt werden. Vorhang auf für eine Provinzposse.

...


Aus: "Darf man eine Oberbürgermeisterin nackt darstellen?"
von Carlos-Primeros @ 2009-12-03 – 19:14:28
Quelle: http://rielasinger.blog.de/2009/12/03/darf-oberbuergermeisterin-nackt-darstellen-7505834/



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Quote[...] Vor dem Dresdner Landgericht wurde am Donnerstag über ein Gemälde verhandelt. Das Bild zeigt eine dickliche, nackte Frau. Die posiert in Strapsen vor einer Brückenauffahrt. Das Bild wirkt unbeholfen, fast amateurhaft - noch unbeholfener allerdings ist die Reaktion der Porträtierten. Denn dargestellt wird auf dem Bild mit dem Titel "Frau Orosz wirbt für das Welterbe" keine andere als die Dresdner Oberbürgermeisterin.

Helma Orosz zog gegen das Werk, es stammt von der Malerin Erika Lust, vor Gericht. In einem Eilverfahren entschied dies: Das Bild darf vorerst von der Künstlerin nicht mehr öffentlich zur Schau gestellt werden. Denn die Persönlichkeitsrechte der Bürgermeisterin seien erheblich verletzt.

Die Politikerin, sie ist in der CDU, erschien persönlich zur mündlichen Verhandlung und sagte dort: Sie fühle sich durch das Bild diffamiert und entwürdigt. Sie könne eine Menge aushalten und auch mit Satire umgehen. "Es gibt aber Grenzen!"

Auch die Malerin war vor Gericht erschienen und erklärte dort ihre Motive: Das Bild sei eine Reaktion auf den Verlust des Unesco-Welterbetitels für das Dresdner Elbtal. Es zeige Orosz, wie sie praktisch mit "nichts in der Hand" für den Titel werbe. Die Nacktheit bezeichnete sie als künstlerisches Mittel, das Tatenlosigkeit ausdrücke.

Nach der Entscheidung darf Lust das Werk oder Kopien des Werks bis auf weiteres nicht mehr öffentlich präsentieren und muss es auch auf ihrer Internetseite löschen. Das Gericht drohte ein Ordnungsgeld von 250.000 Euro oder ersatzweise ein halbes Jahr Ordnungshaft an - für den Fall der Zuwiderhandlung.

Der Vorsitzende Richter Stephan Schmitt sagte, ein nackter Körper sei sicherlich ein Stilmittel in der Kunst. Mit der frontalen Darstellung des Geschlechtsbereichs liege aber im vorliegenden Fall eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts vor. Von Bedeutung sei auch, dass sie als Oberbürgermeisterin mit Amtskette "in Würden aber nicht in Würde" zu sehen sei.

Erika Lust kündigte noch im Gerichtssaal Berufung gegen die Eilentscheidung an. "Ich bin damit nicht einverstanden, ich akzeptiere es auf keinen Fall", sagte sie der Presseagentur Associated Press (AP). Auch eine gütliche Einigung schloss sie aus. "Ich stehe zu dem Bild."

Das Originalbild ist inzwischen allerdings gar nicht mehr in ihrem Besitz: Sie hat es für 1500 Euro an einen Wirt verkauft.

...


Aus: "Dresdner Bürgermeisterin darf nicht nackt gezeigt werden" Von Sebastian Hammelehle (03.12.2009)
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,665029,00.html

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http://www.erika-lust.de/malerei.htm

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Quote[...] Erika Lust wurde 1977 in Stockholm geboren und studierte Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt Menschenrecht und Feminismus. Über das Theater kam sie zum Film. Daneben arbeitet Erika Lust als Autorin erotischer Beiträge für Magazine und TV. Im September 2009 erschien im Heyne Verlag ihr Buch X Porno für Frauen, dass von Christian Sönnichen ins Deutsche übersetzt wurde.

Der Durchbruch als Pornoproduzentin gelang Erika Lust mit dem Film Five hot Stories for her .. Binnen kurzer Zeit wurde Five hot Stories for her zu einem der erfolgreichsten Frauenornofilme.

...


Quelle: http://www.female-porn-producer.com/erika-lust.php (12/2009)


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https://de.wikipedia.org/wiki/Jafar_Panahi

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Quote[...] "Im Iran müssen Filme mit Erlaubnis gedreht und auch mit Erlaubnis ins Ausland geschickt werden, daher ist die Produktion und Aufführung dieses Films illegal und dementsprechend eine Straftat", sagte Vize-Kultusminister Dschawad Schamaghdari. Bis jetzt habe man Geduld gezeigt, sagte der Vizeminister. "Aber nicht wir, sondern die Polizei ist für so etwas zuständig", sagte Schamaghdari.

...


Aus: "Iranische Regierung droht Filmemacher Panahi" (19.02.2013)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/film/2013-02/Iran-Panahi-Berlinale


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#12
Quote[...] Am zweiten Prozesstag hat die Richterin [...] angedeutet, dass sie davon ausgehe, dass Meese eine Performance gezeigt habe. ...


Aus: "Hitlergruß-Prozess gegen Meese: Wie würden Sie entscheiden?" (14.08.2013)
Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/jonathan-meese-urteil-im-hitlergruss-prozess-in-kassel-a-916177.html

Quote[...] Gleichwohl wäre etwas zu gewinnen, jenseits von Meeses «Muskelbewegungen» und ungeachtet des Urteils der Amtsrichterin: mit einer offenen Diskussion darüber, ob es denn noch zeitgemäss und notwendig sei, die deutsche Gesellschaft mit dem Strafgesetz vor den «Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen» zu beschützen. Das Strafgesetzbuch hat keinen Neonazi verhindert. Es stimuliert allenfalls die Virtuosität dieser Kreise im Umgang mit den verbotenen Insignien. Aber dank dem Paragrafen 86a findet der Hitlergruss grossformatig in die deutschen Feuilletons. Und er mag auch ursächlich in Zusammenhang stehen mit gewissen «Muskelbewegungen» Jonathan Meeses. 2016 könnte er sich abermals dazu veranlasst sehen. Dannzumal wird er in Bayreuth Wagners «Parsifal» inszenieren. ...

QuoteRobert W., 08/2013: Ein Verbot einer Handbewegung? Die Handbewegung an sich ist harmlos, der Papst macht den "Hitlergruß mit beiden Händen". Verboten sollte doch eigentlich die unterstellte Willensbekundung sein, die hinter dem Gruß steht. Und ich denke Meese wollte doch nicht seine Zugehörigkeit zum System Hitler demonstrieren! Ich denke Kunst sollten nur Menschen beurteilen die etwas von der Kunst verstehen. Kunst muss provozieren, sonst kann sie nicht aufklären. Und Meese zeigt uns nach welchen festgefahrenen, verkrusteten und eingeübten Denkmustern wir alle funktionieren. Und wie sinnentleert diese Denkmuster sind: Wenn irgend ein Mensch der Öffentlichkeit mit der rechten Hand zeigt wie groß seine Enkeln sind und im richtigen Moment eine Kamara die Situation festhält, befindet er sich schon in größten Schwierigkeiten. Und wenn dann die Staatsanwaltschaft tätig wird, muss ich Meese recht geben: Ein blindwütiger Überwachungsstaat beschneidet zunehmend die Grundrechte - Freiheit der Kunst, Meinungsfreiheit, Infromationsfreiheit, Schutz der Privatsphäre, infformationelle Selbstbestimmung. Wenn ein Wachrütteln nur durch diesen blödsinningen Hitlergruss möglich ist, soll es uns recht sein.



Aus: "Jonathan Meese unter Anklage - Ein Hitlergruss zu viel" (08/2013)
Quelle: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/ein-hitlergruss-zu-viel-1.18131637

-.-

http://www.jonathanmeese.com/2013/20130801_Berlin_Erzproklamation/index3.php


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Quote[...] Dmitrij Medwedew und Kreml-Chef Putin in Frauenunterwäsche: In St. Petersburg hat die Polizei regimekritische Bilder beschlagnahmt.

... Moskau - Nach der Beschlagnahme eines satirischen Gemäldes, das Kreml-Chef Wladimir Putin zeigt, ist der Polit-Künstler Konstantin Altunin nach Paris geflohen und hat dort Asyl beantragt. "Er hat um sein Leben gefürchtet", sagte Kurator Alexander Donskoi vom Museum der Macht in St. Petersburg. Das konfiszierte Gemälde zeigt Putin in einem Negligé. Vor ihm sitzt Premierminister Dmitrij Medwedew in BH und Höschen, der Kreml-Chef kämmt ihm die Haare. Auch drei weitere Bilder wurden von den Behörden beschlagnahmt.

Altunin habe in einem Brief an Putin die Rückgabe der Werke gefordert und eine Klage angekündigt, teilte das Museum mit. Zudem habe er die Teilnehmer des G20-Gipfels in St. Petersburg am 5. und 6. September aufgefordert, bei Putin das Thema der Zensur in der Kunst anzusprechen. Die Ausstellung "Herrscher", bei der die Bilder gezeigt werden sollten, war auch als künstlerischer Beitrag zum Besuch von Staats- und Regierungschefs aus aller Welt geplant. Nun würden die Gemälde vermutlich zerstört, hieß in einer Mitteilung des Museums.

Altunins Ehefrau bat unterdessen um finanzielle Hilfe. Mit dem letzten Geld habe ihr Mann die überstürzte Flucht bezahlt. Nun stünden sie und ihre zweieinhalbjährige Tochter an der Schwelle der Armut, so Jelena Altunina.

Erst Ende Juni waren die Behörden gegen den Karikaturisten Wassilij Slonow vorgegangen. Der Künstler hatte Putins Prestigeprojekt, die bevorstehenden Olympischen Winterspielen in der Schwarzmeerstadt Sotschi, verspottet und Bilder von Josef Stalin im Bärenkostüm gezeigt. Der Organisator der Ausstellung wurde daraufhin fristlos entlassen.

lei/dpa


Aus: " Putin im Negligé: Russlands Polizei beschlagnahmt regimekritische Kunst" (29.08.2013)
Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/putin-im-neglige-polizei-beschlagnahmt-regimekritische-kunst-a-919273.html


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Quote[...] Am 14. Februar 1989, ein paar Monate vor seinem Tod, verkündete in Teheran der 86-jährige Ayatollah Khomeini: ,,Ich informiere das stolze muslimische Volk der Welt, dass der Autor des Buches ,Die satanischen Verse', welches sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet, sowie alle, die zu seiner Publikation beigetragen haben, zum Tode verurteilt sind. Ich bitte sämtliche Muslime, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie auch sein mögen ... Ich ersuche alle tapferen Muslime, Rushdie, gleich wo sie ihn finden, schnell zu töten, damit nie wieder jemand wagt, die Heiligen des Islam zu beleidigen. Jeder, der bei dem Versuch, Rushdie umzubringen, selbst ums Leben kommt, ist, so Gott will, ein Märtyrer."

Das war die Valentinsbotschaft des schiitischen Revolutionsführers an den damals 41-jährigen Salman Rushdie. In seiner Aufzählung derer, die Rushdie beleidigt haben sollte, hatte Khomeini sich selbst ausgelassen. Dabei gibt es in ,,Die satanischen Verse" ein paar Anspielungen auf den blutdürstigen Ayatollah. Rushdie war seit seinem Roman ,,Mitternachtskinder" von 1981, über die Spaltung Indiens in Indien und Pakistan, einer der bekanntesten Autoren der Welt. ...

Khomeinis Fatwa veränderte Rushdies Leben. Neun Jahre lang hauste er in ständig wechselnden Verstecken, rund um die Uhr bewacht. 1998 sagte dann der damalige Staatspräsident des Iran, Mohammad Chatami, der Iran betreibe nicht die Ermordung Rushdies, habe das nie getan. Die schiitischen Religionsführer aber haben jene Fatwa immer wieder erneuert. Wie viele Anschläge auf Rushdies Leben dank des britischen Geheimdienstes verhindert wurden, weiß niemand. Auf Rushdie-Übersetzer und Verleger hat es Anschläge gegeben.

Rushdies deutscher Verleger zog sich zurück und so erschien die Übersetzung der ,,Verse" in einem eigens dafür gegründeten Verlag: ,,Artikel 19" hieß er, rund 90 Verlage und über 100 Herausgeber schlossen sich der Initiative an. Der Artikel 19 der Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen lautet: ,,Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten." Alle UN-Mitglieder haben Artikel 19 unterschrieben. Wie viele halten sich – wenigstens meist – daran?

...


Aus: "Gegen den Kampf der Kulturen" Arno Widmann (13. Oktober 2015)
Quelle: http://www.fr-online.de/hintergrund/salman-rushdie--gegen-den-kampf-der-kulturen-,24549698,32153476.html

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Quote[...] Das Leben des diesjährigen Gastredners der Frankfurter Eröffnungsfeier nahm 1989 eine radikale Wende als der iranische Staatschef Khomeini wegen Rushdies Roman ,,Die satanischen Verse" die Todesstrafe in Form einer Fatwa über ihn verhängte. Der damals 42-jährige Autor war über viele Jahre gezwungen, sich vor möglichen Attentätern zu verstecken. Salman Rushdie wurde zum weltweiten Symbol einer latent bedrohten Freiheit der Kunst und des Wortes.

Und so erscheint es wie ein übles Déjà-vu, dass der 26 Jahre zurückliegende Skandal durch die Ankündigung des Irans, wegen des Rushdie-Auftritts nicht an der diesjährigen Buchmesse teilzunehmen, noch einmal aufgewärmt wird. Die aggressive Reaktion ist leicht als Versuch der iranischen Führung zu erkennen, in der angespannten innenpolitischen Lage des Landes Prinzipienfestigkeit zu dokumentieren. Zugleich aber zeigt es, wie sehr religiöser Fanatismus, erst recht, wenn er von staatlicher Seite befeuert wird, internationale Rechtsstandards gefährdet. Rushdie war und ist Opfer des iranischen Autoritarismus – und nicht etwa ein möglicherweise verletztes religiöses Empfinden.

Das Schicksal Salman Rushdies ist leider kein Sonderfall, allenfalls haben sich seither die politischen Routinen mit den Verletzungen von Meinungsfreiheit verfeinert. Die gegen den saudischen Blogger Raif Badawi verhängte Prügelstrafe wegen vermeintlicher Gotteslästerung ist eine Todesstrafe auf Raten und markiert die Hilflosigkeit einer internationalen Gemeinschaft, die Saudi-Arabien weiterhin als Partner betrachtet. Die Macht, die dem veröffentlichten Wort zugeschrieben wird, steht im krassen Widerspruch zu der Ohnmacht, der Autoren immer wieder ausgesetzt sind.

Die Grenzen der Toleranz werden aber nicht nur im Umgang mit autoritären Regimen deutlich sichtbar. Der deutsch-ägyptische Schriftsteller Hamed Abdel-Samad ist wie Salman Rushdie wegen seiner islamkritischen Bücher einer sein Leben bedrohenden Fatwa ausgesetzt, was ihn jedoch nicht davon abgehalten hat, mit einer provozierenden Biografie über den Propheten Mohamed auf sich aufmerksam zu machen. Hamed Abdel-Samad hat sich damit nicht nur Feinde unter religiösen Eiferern und islamistischen Verschwörern gemacht.

Die einheimische Kritik reagierte äußerst hasenfüßig auf seinen Versuch, die historische Figur des Propheten als politischen Akteur seiner Zeit zu entzaubern. Der Autor wurde nicht nur wegen seines Hangs zu Zuspitzungen und Vereinfachungen kritisiert, sondern darüber hinaus auch zu einem Fall der politischen Hygiene. Man mochte ihm nicht verzeihen, dass er bei den öffentlichen Vorstellungen des Buches wenig wählerisch war in der Auswahl der politischen Milieus, in denen er auftrat, darunter auch eher rechte Organisationen.

Dennoch ist die Auseinandersetzung um die forcierte Religionskritik Hamed Abdel-Samads kaum mehr als ein Nebenschauplatz der Saison. Der Verdacht, dass hier einer sein brisantes Thema zur Schärfung des eigenen Profils missbrauche, scheint vielen als Urteil zu genügen. Bücher wollen und müssen provozieren, da mag auch der Einsatz des eigenen Lebens bisweilen als berechenbares Kalkül durchgehen. Die von Ressentiments getriebene Diskussion um Hamed Abdel-Samad ist aber auch ein Indiz dafür, wie schnell eine Debatte um die großen Themen sich in Spitzfindigkeiten verlieren kann.

Und trotzdem oder gerade deswegen bedürfen wir der literarischen Einbildungskraft. Deutschland werde sich verändern, lautet einer der häufigsten stereotyp wiederholten Äußerungen zur andauernden Zuwanderung von Flüchtlingen. Wie diese Veränderungen wirken und was sie mit uns machen, findet sich vor allem auch in den imaginären Tiefbohrungen der Schriftsteller. Sie sind es, die in ferne Welten aufzubrechen vermögen oder wie Jenny Erpenbeck in ihrem Roman ,,Gehen, ging, gegangen" imstande sind, den bei uns ankommenden Menschen ein Gesicht und eine Geschichte zu geben.

Das Vermögen von Dichtung und Recherche ist beachtlich, aber es ist auch flüchtig. Trotz einer beachtlichen Konjunktur politischer Themen gelten insbesondere für Bücher die knallharten Gesetze einer Ökonomie der Aufmerksamkeit. Das egalitäre Nebeneinander von Kochbüchern, Thrillern, Esoterik sowie unterhaltender und anspruchsvoller Belletristik verlangt im Gedränge der Titel und Themen vom Leser eine gesteigerte Geistesgegenwart. Die Buchmesse verhält sich dazu ebenso konkret wie ambivalent: Sie bietet Vorschläge zur Orientierung und lädt dazu ein, sich in der Welt der Worte und Gedanken zu verlieren.

QuoteErz815 • vor einem Tag
... Wer gerne König von Gottes Gnaden oder Diktator oder Hohenpriester der Staatsreligion seines Landes bleiben möchte, kann die Machtausübung durch das Wort nicht hinnehmen. In demokratischen Staaten sind die Herrschenden geübt, durch Widerworte oder Ignorieren-Lassen sich mit Worten zu wehren und so an der Macht zu bleiben. ...



Aus: "Die bedrohte Freiheit des Wortes" Harry Nutt (12. Oktober 2015)
Quelle: http://www.fr-online.de/leitartikel/frankfurter-buchmesse-die-bedrohte-freiheit-des-wortes,29607566,32140510.html


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#15
Das 11. Plenum des ZK der SED (16. bis 18. Dezember 1965) bedeutete eine Zäsur in der Entwicklung der DDR. Der ursprünglich als Wirtschaftsplenum (Beschluss der zweiten Etappe des ,,Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung", NöSPL) konzipierte Gipfel entwickelt sich zu einer ,,Kahlschlag-Diskussion" der Jugend- und Kulturpolitik. ...  Erich Honecker: ,,Unsere DDR ist ein sauberer Staat. In ihr gibt es unverrückbare Maßstäbe der Ethik und Moral, für Anstand und gute Sitte." ...
https://de.wikipedia.org/wiki/11._Plenum_des_ZK_der_SED (1. Oktober 2015)

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Ulbricht: "Wir wissen auch nicht alles, noch nicht alles. Als in der DDR durch bestimmte Gruppen der Jugend und die sogenannte Beatbewegung Exzesse sichtbar waren, haben wir also uns die Frage gestellt, was sind die Ursachen. Wir sind zu der Schlussfolgerung gekommen, dass es nicht richtig wäre, sozusagen mit einer Jugenddiskussion zu beginnen, sondern wir haben uns gesagt, wollen wir doch mal beginnen mit der Untersuchung - oben. Wo ist von Seiten zentraler Organe des Fernsehens, der Kultur, der Literatur so gewirkt worden, dass solche Auswirkungen auf die Jungen unvermeidlich waren." Die Künstler haben der Partei die Jugend verhetzt. 1965, auf dem 11. Plenum des ZK der SED, zeigt sich Walter Ulbricht davon zutiefst überzeugt. ... Die Gegenkultur wird wesentlicher Bestandteil einer Dynamik, die am Ende den Staat DDR wegfegt. Dass ausgerechnet die marode Wirtschaft entscheidend zum Untergang der DDR beiträgt, gehört zur besonderen Ironie der Geschichte: denn das 11. Plenum des ZK der SED hätte sich 1965 eigentlich um den Zustand der Wirtschaft und nötige Reformen kümmern sollen. Doch den harten Realitäten wichen Ulbricht und die Genossen aus, indem sie den Kulturkampf eröffneten. Und der hat dann maßgeblich zum inneren Zerfall des Systems beigetragen. ...
"Das 11. Plenum der SED"Unsere DDR ist ein sauberer Staat"" Nicolaus Schröder (02.12.2015)
http://www.deutschlandradiokultur.de/das-11-plenum-der-sed-unsere-ddr-ist-ein-sauberer-staat.976.de.html

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"Wie das 11. Plenum 1965 die Geschichte der DDR bestimmte - Rolle rückwärts" Gunnar Decker (09.12.2015)
In den frühen 60ern gewährte die DDR Film, Literatur und Wirtschaft überraschend viele Freiheiten. Das 11. Plenum Ende 1965 ändert alles.
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/wie-das-11-plenum-1965-die-geschichte-der-ddr-bestimmte-rolle-rueckwaerts/12681922.html

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"SED-Zentralkomitee : "Hier wird unsere Partei beleidigt!"" Regine Sylvester (15. Dezember 2015)
Gegen die "perverse", "unsittliche" Kultur des Westens: Vor 50 Jahren tagte das berüchtigte "Kahlschlag-Plenum" des SED-Zentralkomitees. Heute lässt sich im Originalton nachhören, wie die Partei Künstler und Schriftsteller niedermachte. ...
http://www.zeit.de/2015/50/sed-zentralkomitee-zensur-kunst-kultur


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Quote[....] Samstagnachmittag hatte die luxemburgische Performance-Künstlerin Déborah de Robertis auf sich aufmerksam gemacht, indem sie das Motiv eines Gemäldes im Pariser Musée d'Orsay vor Ort nachstellte. Es handelt sich dabei um ,,Olympia" von Édouard Manet und zeigt eine Frau, die nackt auf einem Bett liegt. In selber Position und genauso nackt legte sich de Robertis vor das Gemälde auf den Boden. Mit dabei hatte sie eine Handkamera, um die Reaktion der Besucher zu filmen.

,,Es standen viele Leute vor dem Bild", sagte eine Sprecherin des Museums. Wärter hatten den Saal geschlossen und de Robertis aufgefordert, sich wieder anzuziehen. Das lehnte sie ab. Das Museum rief daraufhin die Polizei, die die 31-Jährige wegen Exhibitionismus festnahm und sie in Polizeigewahrsam nahm. Am Sonntag musste diese laut Le Républicain Lorrain aus medizinischen Gründen kurzzeitig unterbrochen werden. Am selben Abend wurde ihr Fall der Staatsanwaltschaft in Paris übergeben.

Der Anwalt der Künstlerin, Tewfik Bouzenoune, beschrieb das Vorgehen der Behörden als unangemessen. Einen Künstler in Gewahrsam zu nehmen, sei ein schlechtes Signal und zeige eine beunruhigende Prüderie der Justiz.

Es war nicht das erste Mal, dass Déborah de Robertis mit dem Gesetz in Konflikt geriet. Im Mai 2014 trat sie vor dem Gemälde ,,Ursprung der Welt" (L' Origine du monde) von Gustave Courbet auf. Das 1866 entstandene Gemälde zeigt die Zeichnung einer nackten Frau mit gespreizten Beinen.

Genau das machte Déborah de Robertis auch. Sie setzte sich unten ohne vor das Gemälde auf den Boden, öffnete die Beine und spreizte mit ihren Fingern ihre Vagina. Ihre Performance nannte Déborah ,,Spiegel des Ursprungs" und sollte den ,,Ursprung des Ursprungs" zeigen.

Die künstlerische Performance dauerte nur wenigen Minuten, bevor sie das Sicherheitspersonal des Museums nach draußen begleitete. Das Museum erstattete auch damals Anzeige. Immerhin bekam sie während ihres Auftritts Applaus von den anwesenden Besuchern (welche die Künstlerin angeblich selbst eingeladen hatte).

Mit ihren Aktionen möchte de Robertis das Verhältnis zwischen Künstler und Kurator sowie Mann und Frau in Frage stellen.


"Performance-Künstlerin verhaftet, weil sie Aktgemälde im Museum nachstellte" Philipp Kienzl (18. Januar 2016)
Quelle: http://ze.tt/warum-nackt-und-nackt-nicht-dasselbe-sind/


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Quote" ... Die Freiheit des Netzes tendiert dazu, die Freiheit der Kunstinstitutionen einzuschränken, wie auch Marion Ackermann als Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden berichtet: "Es gibt Tendenzen zur Prüderie und Rückschritte in der Emanzipation. In diesen Entwicklungen zeigt sich, dass wir in einer Welt der Verbote und Tabuisierungen leben." In Berlin wurde sogar gefordert, Caravaggios Amor abzuhängen, diese "ausdrücklich obszöne Szene", wie es im Protestbrief hieß. Eine Zensur von unten drängt darauf, die Grenzen des Zeig- und Sagbaren deutlich zu korrigieren. ..."
https://www.zeit.de/2018/33/wie-frei-ist-die-kunst-hanno-rauterberg-buchauszug  Hanno Rauterberg (8. August 2018)
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QuoteMastershark #10 (13.08.2018): " ... Diese Bewegung der vorauseilenden Selbstzensur eines neuen Puritanismus scheint, wie so viele andere, aus den USA zu uns herüberzuschwappen. Da gibt es schon länger diese seltsamen Geschichten von Warnungen vor Triggerelementen, die zart besaitete LiteraturstudentInnen bei der Lektüre eines Buches im Curriculum schocken könnten, da gibt es diese Bewegung gegen Kulturassimilation (nach dem Motto: Falaffel darf nur ein arabischer Koch zubereiten, wenn das ein Pizzabäcker macht, ist es kultureller Imperialismus) da gibt es diese vorauseilende Zensur durch SammlungskuratorInnen, die vorsorglich provokante Bilder oder Skulpturen verschwinden lassen. So etwas gab es kürzlich sogar als Provinzposse in einem Rathaus im Kreis Plön/Schleswig-Holstein als Bilderverhüllung.
Diese Tendenzen gedeihen auf dem selben Boden, wie der wieder aufkeimende Nationalismus, allgegenwärtige Rassismus oder die Fremdenfeindlichkeit. Man will eine Umwelt, die irgendwie nur heimelig ist, die die eigenen Werte und Grenzen nicht überschreitet, wobei eben diese eigenen Werte zum allgemeingültigen Maßstab erklärt werden.
Soziale Medien und der endlose Echoraum von Foren befeuern diese unheilvolle Entwicklung, die rational gar nicht nachvollziehbar ist, denn gelebt wird auf der anderen Seite eine vollständige individuelle Entgrenzung, sobald es um die eigenen Begehren geht. ..."

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Salome (op. 54) ist eine Oper in einem Akt von Richard Strauss. Sie beruht auf dem gleichnamigen Drama von Oscar Wilde aus dem Jahr 1891 und stellt eine der ersten Literaturopern dar. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Salome_(Oper)


Quote[...] Am 9. September sollte am größten Theater Weißrusslands, dem Bolschoi in Minsk, eine Neuinszenierung von Richard Strauss' Oper "Salome" Premiere haben. Doch am Vorabend wurde sie durch eine Entscheidung des weißrussischen Kulturministeriums abgesagt. Grund dafür ist ein Brief, unterschrieben von zahlreichen orthodoxen Aktivisten, an den Präsidenten, die Staatsanwalt und den heiligen Synod der russisch-orthodoxen Kirche. Darin heißt es "Wir lassen nicht religiöse Gefühle der orthodoxen Bürger Weißrusslands verletzen, das Andenken an Johannes den Täufer verhöhnen und verbitten uns darum die Aufführung der Oper "Salome"." In dem Brief riefen sie die Verantwortlichen dazu auf, "korrigierende Anpassungen in der Staatsideologie und der Arbeit des Kulturministeriums vorzunehmen" und ähnliche "Meisterwerke", die geistige Sicherheit und Einheit der Nation bedrohen, zu verbieten. Dem Brief legten sie eine "kulturelle Studie" bei, in der die Oper als "Blasphemie" bezeichnet wird, die Handlung als "antichristlich" und "Beleidigung der religiösen Gefühle der Gläubigen". Sie sprechen sogar von einer Straftat und fordern eine Bestrafung des Chefregisseurs Michail Pandzhavidze, da der Komponist Richard Strauß und Autor des Dramas Oscar Wilde schon längst tot sind.

Daraufhin wurde ein Expertenausschuss aus Künstlern und Geistlichen einberufen, das die Oper von den Vorwürfen freisprachen und zur Aufführung empfahlen. Doch für das Kulturministerium reichte das Urteil nicht aus. Es sperrte trotzdem die Oper bis Ende Oktober, in der Hoffnung, dass sich alle orthodoxen Aufregungen bis dahin beruhigen. Am 11. September erinnern die orthodoxen Christen an die Enthauptung Johannes' des Täufers.

2015 machten "die verletzten religiösen Gefühle" auch im russischen Nowosibirsk viel Lärm - damals ging es um die Regie von Timofej Kuljabin von Richard Wagners "Tannhäuser". Das führten sogar zum Rausschmiss des Theaterintendanten. In Minsk klagen radikale orthodoxe Aktivisten nun nicht einmal die Regie an, sondern die Oper selbst. Und eine weltliche Institution wie das Kulturministerium gibt nach.


Aus: "Orthodoxe Aktivisten kämpfen gegen "Salome"" Liudmila Kotlyarova (10.09.2018)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/opernverbot-in-minsk-orthodoxe-aktivisten-kaempfen-gegen-salome/23029334.html


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#19
Quote[...] Manchmal ist es nicht leicht, sich in der Welt der Proteste zurecht zu finden. Da kontaktiert man den finnischen Künstler Jani Leinonen, weil es im israelischen Haifa heftigen Streit um seine Skulptur mit einem gekreuzigten Ronald McDonald gibt, dem Maskottchen der Fastfoodkette. Sie trägt den Titel "McJesus", stammt aus dem Jahr 2015 und war bereits in Ausstellungen in Helsinki und Dänemark zu sehen, ohne dass dies Blasphemie-Vorwürfe zur Folge hatte. Auch in Haifa ist das Werk seit Ende Juli zu sehen, im Rahmen der Cluster-Ausstellung "Shop It!", von der ein Teil unter dem Titel "Heilige Güter" konsumkritische Werke versammelt. Und erst jetzt, Monate später, hagelt es Proteste beim Haifa Museum of Art - wobei Jani Leinonen nun mitteilt, dass er sein Werk selbst bereits im September zurückgezogen habe, weil er sich der Israel-Boykottbewegung BDS angeschlossen habe. Erst jetzt, im Zuge der heftigen Proteste in Haifa, habe er erfahren, dass das Museum seinem Wunsch offenbar nicht nachgekommen sei.

Der Reihe nach: Hunderte Christen hatten am Freitag versucht, in die Ausstellung einzudringen. Nach Informationen der Zeitung "Haaretz" wurden drei Polizisten verletzt; ein Brandsatz war geworfen worden, ein 32-Jähriger wurde festgenommen. Israels Kulturministerin Miri Regev forderte laut "Haaretz" die Entfernung des Werks, ebenso verlangen die katholischen Bischöfe des Landes, dass die als "verletzend empfundene" Christusdarstellung aus der Schau entfernt werden solle. Trotz des Rechts auf Meinungsfreiheit sei es nicht hinnehmbar, dazu ,,das bedeutendste Symbol der christlichen Religion" zu missbrauchen, so die Bischöfe.

Am Samstag meldete sich auch das griechisch-orthodoxe Patriarchat zu Wort und forderte zusätzlich die Entfernung mehrerer Kunstwerke, die Christus und Maria darstellen, wie die palästinensische Nachrichtenagentur Wafa berichtete. Neben dem Kunstwerk von Jani Leinonen stießen demnach Christus- und Mariendarstellungen als Ken und Barbie auf Kritik. Von der Stadt Haifa verlangte das Patriarchat eine Entschuldigung für die Finanzierung der Ausstellung.

Das Museum kündigte nun an, einen Warnhinweis auf den potenziell verletzenden Charakter der Ausstellung anzubringen. Das Kunstwerk verweise auf den zynischen Gebrauch religiöser Symbole durch Großkonzerne, hieß es.

Und Jani Leinonen? Zeigt sich auf Nachfrage des Tagesspiegels konsterniert darüber, dass sein "McJesus" - es gibt Ronald McDonald von ihm auch als "McBuddha", "McPharao" oder "McLenin" - immer noch in Haifa hängt. Er habe sich der Bewegung "Boycott, Divestment, Sanctions" (BDS) angeschlossen, weil "Israel offenkundig Kultur als Form der Propaganda nutze, um sein Regime der Okkupation, des Siedler-Kolonialismus und der Apartheid über das palästinensische Volk schönzufärben oder zu rechtfertigen". Deshalb wolle er nicht länger an der Ausstellung teilnehmen und sei entsprechend der Reaktion seitens des Museums davon ausgegangen, die Arbeit sei nicht mehr zu sehen. Als er von den Protesten hörte, habe er die Kuratorin der Schau erneut gebeten, "McJesus" sofort zu entfernen.

Schon seltsam, dass ein Künstler und Aktivist, der sich kritisch mit Konsum und Werbung, Ernährungskultur, Warenwelt und Kapitalismus sowie mit christlichen Symbolen und Ikonografien  befasst, politisch offenbar doch so schlicht gestrickt ist, dass er sich seinerseits kritiklos der umstrittenen BDS-Kampagne anschließt. Einer Bewegung, bei deren Protestaktionen immer wieder offen antisemitische Äußerungen laut werden und deren Wortführer auch keine Zwei-Staaten-Lösung wollen. Sie möchten, dass Israel als Judenstaat verschwindet zugunsten eines Palästinenserstaats.

"Die Kunst ist eine Lüge, die die Wahrheit enthüllt", hat Jani Leinonen einmal gesagt. Manchmal ist die Kunst auch eine Wahrheit, die von der Lüge umnebelt ist. chp (mit KNA)


Aus: "Proteste gegen gekreuzigten Ronald McDonald" (13.01.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/streit-um-kunstwerk-in-haifa-proteste-gegen-gekreuzigten-ronald-mcdonald/23859146.html

QuoteUriel 13.01.2019, 17:56 Uhr

Ich habe inzwischen das Gefühl das mit der "Empörung" über das Kunstwerk McJesus ein massiver Angriff der "religiösen Eiferern" wieder mal gegen die Anderst- und Ungläubigen" geführt wird. Ich erinnere an die Kampagne in Südtirol als der Künstler M. Kipppenberger einen gekreuzigten Frosch im Bozener Museum für Moderne Kunst ausgestellt hat.

    Martin Kippenberger: "Zuerst die Füße" Der Streit: In Südtirol löste ein gekreuzigter Frosch eine Kunstdebatte aus. 2008 sollte die Skulptur des deutschen Künstlers Martin Kippenberger wegen eines Papstbesuches aus dem Bozener Museum für Moderne Kunst entfernt
    werden, weil sie angeblich die Gefühle von gläubigen Katholiken verletze. Dabei stellt der Frosch nach Aussage des Künstlers ein ironisches Selbstporträt nach dessen Alkohol- und Drogenentzug dar. Der Papst schrieb einen Brief, der Präsident des Regionalrats von Südtirol
    trat sogar in Hungerstreik.
    Das Ergebnis: Der Protest blieb erfolglos, der gekreuzigte Frosch durfte weiter in Bozen hängen. Der Stiftungsrat des Museums entschied sich in einer
    Abstimmung für die Kunst - und gegen den Heiligen Vater.
    https://www.sueddeutsche.de/kultur/streitfall-kunstfreiheit-was-kunst-darf-und-was-nicht-1.2949157-4

Ich frage mich was ist den Besonderes an "religiösen Gefühlen" im Gegensatz zu normalen Gefühlen. Haben die einen "höheren Wert"? ...

"GUNKL über Wüsten-Religionen, Wissen, Respekt und Kränkungen"
Am 29.08.2013 veröffentlicht - Der Kabarettist Günther ,,Gunkl" Paal über Gott, Glauben, Aufklärung, Religionen des Friedens, Frauenrechte und Respekt. Ein komprimierter Angriff gegen Religionen und dem Umgang damit. Ausschnitt aus dem Programm "Die großen Kränkungen der Menschheit auch schon nicht leicht" ...
https://www.youtube.com/watch?v=EKQVsHwOGII


Quotefroggy08 13.01.2019, 17:21 Uhr

Ja mit der Toleranz haben es die religiösen Fanatiker egal welcher Religion alle nicht so. Denn dazu müssten sie ja mit einer gewissen Distanz auf ihren Glauben blicken können, was der Fanatiker eben nicht kann. Sonst wäre es keiner...


QuoteQuellenanalyse. 13.01.2019, 14:06 Uhr
Da schau einer her, ich dachte "wir Christen" sind doch die toleranteren und können mit der Verhohnepiepelung unserer Symbole ruhiger und gesitteter umgehen, als die anderen mit den Mohammed-Karikaturen. War dann wohl doch nicht so, wenn sich selbst katholische Bischöfe aufgerufen fühlen, Statements abzugeben.


Quoteeinauge 13.01.2019, 10:22 Uhr
jaja, wieder mal die verletzten Gefühle...

    Es sei aber nicht hinnehmbar, dazu ,,das bedeutendste Symbol der christlichen Religion" zu missbrauchen, so die Bischöfe.

....das dürfen selbstverständlich nur offizielle Vertreter einer anerkannten Kirchengemeinschaft. Wo kommen wir denn hin, wenn jeder dahergelaufene Künstler da einfach mitmißbrauchen darf, da hat er ja gar kein Recht zu....

Religiöse Symbole wurden schon immer mißbraucht und zwar fast ausschließlich durch die jeweiligen Vertreter oder Anhänger der Religion selbst.

Für alle Religionen (und ihre Symbole) gilt: in ihrem Namen, unter ihrem Schutz, teilweise sogar direkt im Auftrag haben Anhänger im Laufe der Zeit tausende, zehntausende, hunderttausende Male weit Schlimmeres getan als nur Gefühle anderer Menschen verletzt. Religion wurde als Machtinstrument benutzt und die religiösen Führer haben das nicht nur toleriert, sondern die meiste Zeit aktiv unterstützt.
An all ihren Symbolen klebt Blut, und zwar nicht zu knapp, aber da regt sich niemand auf, dass die im öffentlichen Raum gezeigt werden.
Aber sobald jemand ein Bild malt, oder eine Skulptur zeigt, ja dann ist wieder große Empörung angesagt.

Ich habe mich immer schon gewundert, warum religiöse Gefühle nun soviel schützenswerter sein sollen als andere Gefühle.

Vielleicht liegt das Problem für unsere Gesellschaften nicht so sehr bei solchen Künstlern, sondern bei den Leuten mit diesen religiösen Gefühlen

P.S.: und bei diesem Kunstwerk gehts nicht einmal um Kritik an der Religion, sondern um Kritik an der zunehmenden Vergötterung von Konsum (ich hätte da als Künstler allerdings eher das heilige iphone ans Kreuz genagelt). 


QuoteUriel 12.01.2019, 20:36 Uhr

    Es sei aber nicht hinnehmbar, dazu ,,das bedeutendste Symbol der christlichen Religion" zu missbrauchen, so die Bischöfe.

Das sagen die Vertreter einer "Religionsvereinigung", die Weltweit real zig Tausende Missbrauchsfälle vertuscht hat und diese Verbrechen halten immer noch an. Religion ist eine Ideologie und für die besteht kein Artenschutz. Nicht alle Religionen die sich auf das "Christentum" berufen benutzen das "römische Hinrichtungsinstrument!" als Vereins-Logo.


QuoteUriel 13.01.2019, 09:12 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Charybdis66 12.01.2019, 22:27 Uhr

Es stimmt durchaus das die Überzeugung eines Anderen zu tolerieren ist, aber daraus ein Dogma zu machen das etwas was ich für richtig finde auch Andere für richtig und gut halten müssen ist ist für mich ziemlich Arrogant. Ich als Freidenker habe sehr viel mit "Gläubigen" jeder Art gesprochen und musste erleben das die "religiösen Eiferer" meiner "Gottlosigkeit" nicht nur keinen Respekt gezeigt haben, sondern oft sehr Aggressiv wurden bis zum Angebot ,,mir meine Vorderzähne zu den Mandeln zu schicken". Andere wurden beleidigend oder haben mich sogar angespuckt. Ich bin überzeugt wenn die Menschen jedem seine Überzeugung lassen, natürlich im Rahmen der für alle gültigen Gesetze, dann wäre die Gesellschaft sehr viel Friedlicher. Keiner der "Empörer" wurde gezwungen in die Ausstellung zu gehen. Das erinnert mich an die Karikaturen in Dänemark, 99 % der "Empörer" haben sicherlich die Karikaturen je gesehen, aber ein "Kultbeamter" hat gesagt das es schlecht ist und schon ging die Lawine los.
Ich hätte mir gewünscht das die "kath. Bischöfe" die sich jetzt über "McJesus" aufregen, sich genauso aufgeregt hätten bei den Weltweiten Missbrauchsfällen durch Kleriker. Haben sie jemals etwas von den deutschen Kirchenoberen gehört als in Irland auf dem Gelände eines kath. Heimes über 800 Kinderskelette gefunden wurden?
Ich bin der Meinung das wir uns um das Wichtige kümmern sollten und nicht um ein vergängliches Kunstobjekt.


...

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#20
Quote[...] Mitglieder der rechtsextremen Identitären Bewegung stören mit lauten Zwischenrufen eine live im Radio übertragene Diskussion im Berliner Gorki Theater. Die AfD in Sachsen-Anhalt, immerhin mit 24,3 Prozent der Stimmen in den Landtag gewählt, fordert, dass die Bühnen im Land ,,mehr klassische deutsche Stücke spielen und sie so inszenieren, dass sie zur Identifikation mit unserem Land anregen". Die Berliner Fraktion der radikal rechten Partei beantragt, drei missliebigen Theatern in der Stadt den Etat zu kürzen. ...

Immer häufiger erleben Theater, Museen und andere Kultureinrichtungen Angriffe von rechts. Die AfD und ihr neurechtes Umfeld haben neben der Politik längst auch die Kultur zum Kampfplatz erkoren. ,,Viele Kollegen und Kolleginnen, die erstmals damit konfrontiert sind, sind ratlos, wie sie reagieren sollen", sagt der Präsident des Deutschen Bühnenverein, Ulrich Khuon, der Intendant des Deutschen Theaters ist.

Khuon weiß, wovon er spricht. Sein Haus hat im vergangenen Sommer selbst einen Angriff der Identitären erlebt, die eine Aufführung auf dem Vorplatz des Theaters störten. ,,Das war ein gewalttätiger Übergriff: durch Lärm, durch Geschrei, durch Dazwischengehen. Das ist mehr als ein verbaler Zwischenruf. Dagegen müssen wir uns wehren."

Auch deshalb sitzt Khuon wohl am Donnerstagvormittag im Saal seines Theaters auf einem Podium und stellt gemeinsam mit Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) und Bianca Klose, Leiterin der Mobilen Beratungssstelle gegen Rechtsextremismus (MBR), eine Handreichung vor. Diese gibt Tipps zum Umgang mit dem ,,Kulturkampf von rechts".

Denn darum, da sind sich alle drei einig, gehe es längst: ,,Wir müssen deutlich machen, wie gefährlich das ist, was gerade passiert", sagt Khuon. ,,Es geht um die Freiheit der Kunst." In Ländern wie Ungarn und Polen, wo Rechtspopulisten regieren, sehe man bereits, ,,wie eine einstmals offene Gesellschaft sich verengt", ergänzt Kultursenator Lederer.

Klose, bei deren Beratungsstelle Anfragen aus der Kultur in vergangenen Monaten stark zugenommen haben, äußert einen alarmierenden Befund: ,,Wir sehen, dass Häuser und Projekte sich hetzen lassen und beinahe in vorauseilendem Gehorsam zurückweichen." Deshalb klinge mancher Ratschlag, den die vom MBR erstellte Handreichung gibt, zwar banal, sei es aber nicht: sich nicht verunsichern lassen. Ruhig bleiben. Und das Selbstverständnis klären. Das sei die Voraussetzung dafür, dass man diesen Angriffen entschlossen entgegentrete – und nicht etwa Forderungen nach einem politisch neutralen Kulturbetrieb aufsitze oder Opferinszenierungen auf den Leim gehe.

Klose gibt aber auch konkrete Tipps. Sich etwa juristisch beraten zu lassen, wenn AfD-Politiker Einsicht in die Fördermittel beantragen oder behaupten, als gewählte Abgeordnete hätten sie jederzeit Recht auf den Besuch einer öffentlich geförderten Einrichtung. So dramatisch wie Klose sieht Intendant Khuon die Lage an den Theatern nicht. ,,Ich bemerke dort eine große Sehnsucht, Gesicht zu zeigen."

Das gelte auch für Bühnen in Chemnitz oder Dresden, wo gerade ,,Das blaue Wunder" auf dem Spielplan steht. Dort koste das deutlich mehr als in Berlin. Wichtig seien die Vernetzung und der Austausch untereinander. Ein Beispiel dafür: die ,,Erklärung der vielen", in der sich Kultureinrichtungen und Kulturschaffende gegen Rechtspopulismus positionieren. 2.350 Unterschriften gibt es bereits.

,,Wir dürfen aber auch nicht überempfindlich sein", betonte Khuon. Und natürlich müsse man in die Auseinandersetzung mit der AfD und ihren AnhängerInnen gehen. Er selbst sei beispielsweise einer Einladung der AfD nach Magdeburg gefolgt und habe mit dem AfD-Rechtsaußen Hans-Thomas Tillschneider diskutiert. ,,Aber ich würde ihnen doch kein Podium im Deutschen Theater bieten."

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Aus: "Kulturschaffende im Umgang mit Rechts: ,,Es geht um die Freiheit der Kunst"" Sabine am Orde (17.?2.?2019)
Quelle: http://www.taz.de/!5573331/

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Quote[...] Alles schreit immer und überall, die Freiheit der Kunst sei in Gefahr. Und die Debatte wird am Laufen gehalten mit den immergleichen paar Beispielen. Zuerst: Balthus. Dabei hat die Fondation Beyeler in ihrer schönen Übersichtsschau vom letzten Jahr die umstrittene Leihgabe aus dem Metropolitan Museum – ja, jenes Bild eines halbwüchsigen Mädchens mit geschürztem Rock – eben gerade nicht aus dem Programm genommen, sondern trotz allem gezeigt. «Trotz allem», das heisst hier, um uns zu erinnern, trotz der Petition, die in New York an das Metropolitan ging, weil 12 000 Unterzeichnende ihre Bedenken äusserten, das Werk könnte pädophile Neigungen bedienen.

Herhalten muss auch das Gedicht «Avenidas» von Eugen Gomringer an der Fassade einer Berliner Hochschule, das auf Begehren der Schülerschaft als nicht mehr zeitgemäss eingestuft und übermalt wurde. Auch diese Inschrift wird immer wieder dafür als Beispiel angeführt, wie sehr heute die Freiheit der Kunst unter Beschuss geraten sei. Dann gibt es noch eine Handvoll weiterer Fälle. Etwa der Fall Sam Durant, an dessen Installation «Scaffold» sich Indianer störten, weil sie den Völkermord der Indigenen Amerikas thematisiert. Oder das Skandälchen um die temporäre Entfernung eines Nymphenbildes vom Präraffaeliten John William Waterhouse aus den Räumen der Manchester Art Gallery.

Diese Fälle werden als Zensur dargestellt. Und zwar als eine solche von unten. Nur, was ist dabei so ungewöhnlich? Anders ist allein die Richtung, aus der hier Zensur erfolgt. Früher kam sie von oben, jetzt kommt sie von unten. Dabei bleibt eigentlich alles beim Alten: Kunst war noch nie frei. Vielmehr ist sie seit je begehrter Zankapfel jener, in deren Dienst sie treten soll.

Vor nicht allzu langer Zeit erhitzte noch Brancusis Bronzekopf der «Princess X» (1916) als obszönes Phallussymbol die Gemüter und wurde 1920 aus einer Pariser Ausstellung entfernt. Damals stand die Kunst eben noch im Dienst eines von Doppelmoral geprägten Bürgertums. Zeitweilig waren es die Nazis und die Kommunisten, die sich die Kunst als effektives Propagandamittel dienlich machten. Wer nicht mitmachte oder nicht ins Bild passte, wurde verfemt und verfolgt. Auf solche Weise kontrollieren diktatorische Staaten auch heute die Kunstproduktion.

Aber eigentlich war das nie wirklich anders. Kunst hatte die Macht von Fürsten und Kirchenvätern zu repräsentieren. Hochkulturen wie das alte Ägypten nahmen sie in Dienst des göttlichen Pharaonentums. Und nicht einmal bei den Höhlenbewohnern von Lascaux war sie frei. Die Tiermalereien an den Wänden jedenfalls entsprangen gewiss nicht irgendeinem ausgelassenen Selbstverwirklichungs-Workshop, sondern galten dem schamanistischen Jagdzauber.

Was wir für die Freiheit der Kunst halten, ist ein junges Phänomen. Mit Kunstfreiheit meinen wir vor allem die Freiheit einer antibürgerlichen Kunst. Diese Kunst war indes keineswegs freier als jene anderer Epochen. Sie stand ganz einfach im Dienst einer neu etablierten kulturellen Macht, nämlich jener der Linken.

Wessen Brot ich ess, dessen Lied ich sing – das gilt eben auch für die Kunst. So hat heute bald jede Stimme, die sich Gehör zu verschaffen vermag, auch ihre Kunst. Die Feministinnen haben sie, die Homosexuellen und die Schwarzen ebenfalls. Was wäre die Kunst ohne Louise Bourgeois oder Valie Export, ohne Robert Mapplethorpe oder Keith Haring, ohne Kara Walker oder Chris Ofili?

Und so echauffiert sich heute kein scheinheiliger Bourgeois mehr an Jeff Koons' Kopulationsbildern mit Cicciolina; Thomas Ruffs Porno-Close-ups sind längst salonfähig. Denn die 68er haben uns die sexuelle Revolution gebracht und mit ihr sozusagen den pornografischen Kunst-Freipass. Auch vermochte Thomas Hirschhorns unappetitliche Attacke auf Blocher vor 15 Jahren kaum grosse Wellen zu schlagen, denn solche Schläge gegen die Konservativen gehören schliesslich zur Kunstfreiheit der Linken.

Heute ist die Kunst nun aber eben nicht mehr allein Sprachrohr der Linken. Auch ist sie nicht länger abendländisch dominiert, sondern so bunt wie eine Benetton-Werbung. Kaum ist der Hype um chinesische Gegenwartskunst verflogen, meldet sich bereits der nächste aus Indien oder Indonesien. Die angebliche Kunstfreiheit von heute besteht in ihrem schieren Pluralismus. Die Kunstproduktion der Gegenwart ist ein Abbild unserer Multikultigesellschaften: Anything goes. Könnte man meinen.

Dabei hat sie sich längst den Mächtigen und Reichen angebiedert, ja angedient. Die Exzesse auf dem Kunstmarkt jedenfalls machen deutlich, wer der neue Herr ist. Was produziert wird, muss vermarktet werden, und was sich vermarkten lässt, gilt als gute Kunst. Und das kann für den globalisiert-vielstimmigen Chor der Kunstkonsumenten so ziemlich alles sein. Noch nie war Kunst so vielfältig wie heute. Noch nie auch hatte sie ein solch breites Publikum. Museen und Kunstinstitutionen schiessen weltweit wie Pilze aus dem Boden. Es herrscht der freie Markt des Kulturbetriebs, die Massen strömen in die Musentempel, und Kunstwerke zirkulieren millionenfach im Internet.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass in dieser Vielstimmigkeit nicht mehr so klar ist, in wessen Dienst – abgesehen von den Geldgebern – die Kunst eigentlich noch steht. Oder vielmehr stehen sollte. So viele künstlerische Ausdrucksformen es gibt, so viele Stimmen gibt es auch, die die Kunst gerne für sich reklamieren und Anspruch auf sie zu haben glauben.

Und so gibt es heute eben auch immer mehr von denjenigen, die sich stören an all jenen Kunstwerken, die nicht ihre Sache vertreten. Schwarze stören sich an Kunst, die nicht von ihnen selbst beglaubigt ist. Feministinnen stören sich an Kunst von Männern. Einschlägig Traumatisierte sehen plötzlich überall vermeintliche «Pädophilenkunst». Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Dass Kunst aber einigen Gruppierungen nicht passt, ist nichts Neues. Neu ist höchstens die diffus anmutende Diversität von Zensurwilligen. Diese ist aber symptomatisch für das digitale Zeitalter. Und sie ist symptomatisch für noch etwas: die Freiheit selber. Denn diese sogenannte Zensur kommt von unten.

Ist nun aber solche Zensur von unten irgendwie schlechter als solche von oben? Sie ist vielleicht unberechenbarer, weil man nicht genau weiss, mit wem man es zu tun hat. Ist es aber nicht vielmehr die Freiheit, die Zensur von unten überhaupt ermöglicht? Wenn sich irgendwelche Leute über irgendwelche Kunst aufregen, dann geschieht das, weil sie den Freiraum dazu haben, und sei er auch vor allem jener des Internets. Das Individuum welcher Couleur auch immer meldet sich zu Wort und tut sein Missfallen kund. Denn frei sind jene, die sich zu Wort melden können. Und im Dienst dieser Freiheit stehen denn auch all die unterschiedlichsten Ausdrucksformen der Kunst von heute.

Wenn nun nämlich Ausstellungsmacher und Festivalbetreiber – das kommt vor – im Zeichen des Zuspruchs den Empfindlichkeiten irgendwelcher Gruppierungen nachgeben und sogenannte Zensur üben, dann geschieht dies aufgrund der Freiheit eines sich optimal vermarktenden Kulturkapitalismus. Wirkliche Zensur aber, das ist dann doch noch etwas anderes. Sie kommt nämlich von oben.


Aus: "Die Kunst ist nicht frei, wir aber sind es" Philipp Meier (13.3.2019)
Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/die-kunst-ist-nicht-frei-wir-aber-sind-es-ld.1466640

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Quote[...] Übergriffe, Störungen, versuchte Geldknappheit - Kultureinrichtungen sind offenen Angriffen von rechts ausgesetzt. Bühnenvereins-Präsident Khuon sieht die Freiheit der Kunst gefährdet.

Berlin (dpa) - Kulturelle Institutionen werden aus Sicht des Präsidenten des Deutschen Bühnenvereins, Ulrich Khuon, zunehmend von rechts attackiert. «Es geht real um die Freiheit der Kunst», sagte Khuon am Donnerstag in Berlin. Dies sei erklärtes Ziel nationaler und völkischer Bewegungen, sagte er unter Verweis auf Übergriffe und Störungen sogenannter identitärer Gruppen oder Kürzungsanträge für Subventionen von Seiten der rechtspopulistischen AfD.

«Die Rechte will ein Gesinnungstheater, nämlich ein nationalistisches Theater», sagte Khuon, der auch Intendant des Deutschen Theaters Berlin ist. Theater hielten dem einen kritischen Raum für Diskurse dagegen. Die Auseinandersetzung müsse verkraftet und geführt werden.

Es gebe schon seit langem gesellschaftlich und künstlerisch agierende Theater, sagte Khuon. Dies werde nun durch die Aktion «Die Vielen» ergänzt. Darin haben sich zahlreiche Künstler und Institutionen im Einsatz für eine offene, freie, vielfältige Gesellschaft zusammengeschlossen.

Gemeinsam mit Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) präsentierte Khuon eine Handreichung «Alles nur Theater? Zum Umgang mit dem Kulturkampf von rechts» der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR). Darin enthalten sind Hinweise für Theater und andere kulturelle Einrichtungen.

«Unsere Aufgabe ist es, sich nicht einschüchtern zu lassen und mit Selbstbewusstsein die Vielfalt und Diversität unserer Kultur zu verteidigen», sagte Lederer.

MBR-Projektleiterin Bianca Klose verwies auf AfD-Erfolge bei Wahlen: «Der Kulturkampf von rechts fühlt sich dadurch gestärkt und hat eine neue Dimension erreicht.» Die Partei mache aus dieser Feindschaft gegenüber dem Kulturbetrieb überhaupt keinen Hehl, sagte Klose. Abgeordnete wollten die Kunstfreiheit zugunsten einer nationalistischen, völkischen Agenda beschränken.

Wichtig sei, dass sich Theater und Projekte nicht von Rechten hetzen ließen oder gar «in voraus eilendem Gehorsam handeln», sagte Klose. Wichtig sei es, in den Auseinandersetzungen das eigene Tempo zu bestimmen und eigene Orte zu wählen.

So hätten auch gewählte Abgeordnete kein Recht, jederzeit Kultureinrichtungen zu betreten, sagte Klose. «Viele Einrichtungen lassen sich verschrecken zum Beispiel von der Forderung nach einer vermeintlichen politischen Neutralität, die es so gar nicht gibt.»


Aus: "Bühnenverein-Präsident: Es geht real um die Freiheit der Kunst [update, 15.2.]" dpa, KIZ (14.02.2019)
Quelle: https://www.nmz.de/kiz/nachrichten/buehnenverein-praesident-es-geht-real-um-die-freiheit-der-kunst


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Quote[...] Fünf amerikanische Verleger hatten das Manuskript abgelehnt, dann kam Walter Minton, der junge Verleger von Putnam, und druckte ,,Lolita". Sechzig Jahre ist das jetzt her. Auf einer Party hatte Minton eine Revuetänzerin kennengelernt, auf deren Sofa er später eingeschlafen war, sie hieß Rosemary Ridgewell. Als er mitten in der Nacht wieder aufwachte, lag da auf dem Tisch Nabokovs Buch – in jener gekürzten Ausgabe, die drei Jahre vorher bei Olympia Press erschienen war, einem englischsprachigen Verlag für Erotika in Paris. Minton, so hat er es neulich dem ,,New Yorker" erzählt, las bis zum Morgengrauen – und er war fest entschlossen, dieses Buch zu drucken.

Er schrieb sofort einen Brief an Vladimir Nabokov, der seit 1940 in den Vereinigten Staaten lebte und als Professor an der Ivy-League-Universität Cornell in Ithaca russische und europäische Literatur unterrichtete. Nabokov war damals ein kaum bekannter Schriftsteller, die Familie war nach der russischen Revolution nach Westen geflohen, Nabokov studierte in Cambridge, lebte zeitweilig in Berlin, floh dann vor den Nazis nach Frankreich und weiter nach Amerika. Seit 1940 schrieb er nur noch auf Englisch. In einem Schneesturm flog Minton zu ihm nach Ithaca – und dann, als sie sich einig waren, auf dem Weg zur Frankfurter Buchmesse weiter nach Paris: um dem Verleger von Olympia Press, Maurice Girodias, die Rechte von ,,Lolita" abzuhandeln.

Das Buch wurde, in seiner Originalfassung, ein Welterfolg. Und ein Skandal. Und verfilmt, einmal von Stanley Kubrick, später dann mit Jeremy Irons in der Hauptrolle als Humbert Humbert: ein pädophiler, französischer Lehrer in Amerika, der eines Tages, durch Zufall, die zwölfjährige Dolores und deren Mutter kennenlernt, ins Haus der Familie Haze einzieht und die Mutter heiratet, um der Tochter nah zu sein.

Die Mutter entdeckt die pädophilen Neigungen ihres Mannes für ihre Tochter, stürzt aus dem Haus und läuft vor ein Auto. Humbert, verwitwet, nimmt das Mädchen, das gerade im Sommerlager ist, mit auf einen Roadtrip quer durch die Vereinigten Staaten, von Hotel zu Motel. Irgendwann ist er am Ziel, hat Sex mit dem Mädchen, Tag für Tag und so oft er will, er bezahlt sie auch dafür. Die Reise endet nach einem Jahr in Beardsley, wo Dolores kurz zur Schule geht. Die beiden brechen bald erneut auf, Richtung Westen, irgendwann wird Dolores krank, muss ins Spital, verschwindet von dort. Humbert, aufgelöst, verzweifelt, sucht und sucht und findet sie schließlich, drei Jahre später, da ist Dolores verheiratet und schwanger. Die beiden nehmen Abschied voneinander – und Humbert reist weiter und erschießt den Mann, zu dem Dolores gezogen war, nachdem sie aus dem Krankenhaus abgehauen war. Er wird von der Verkehrspolizei festgenommen, schreibt in der Haft jenen Text, aus dem ,,Lolita", der Roman, gemacht ist. Sein Arzt bringt ihn postum heraus: Denn Humbert stirbt am Ende, genau wie Dolores, die er Lolita nannte. Humberts wahren Namen erfährt man nie.

,,Da war, ich schwör's, wirklich eine gelblichviolette Stelle auf ihrem holden Nymphettenschenkel, den meine mächtige, behaarte Hand massierte und langsam umfasste, und da sie nur sehr spärliche Unterkleidung trug, schien nichts meinen muskulösen Daumen daran zu hindern, die heiße Mulde ihrer Leisten zu erreichen." Es sind Stellen wie diese, die ,,Lolita" zum Skandal gemacht haben, in Ländern wie Südafrika war er verboten. ,,Mein stöhnender Mund – meine Herren Geschworenen – erreichte fast ihren bloßen Nacken, während ich die letzte Zuckung der längsten Ekstase, die Mensch oder Monster je zuteilwurde, an ihrer linken Gesäßbacke ausdrückte."

Mensch oder Monster: Den Menschen monströs gezeichnet zu haben, das Monster menschlich, wie es Nabokov getan hat, und dabei aber nicht aufzulösen, ob Humbert das eine oder das andere ist: Dieses Rätsel, das nur die Kunst so stellen und darstellen kann, beschäftigt bis heute das Publikum des Romans. War Nabokov ein Moralist? Oder ein kalter Voyeur eines unaussprechlichen Verbrechens? Oder macht er sein Publikum zu kalten Voyeuren eines unaussprechlichen Verbrechens? Oder ist es Nabokovs Verbrechen gewesen, das Unaussprechliche auszusprechen, es dem Franzosen Humbert in den Mund zu legen, ,,Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele"?

Es ist ein Roman. Nichts davon, was hier geschieht, ist wirklich geschehen, und weil das, was geschieht, zudem Humbert Humbert aus seiner Sicht, mit seinem Gestaltungswillen, erzählt, sollte man erst recht nichts wörtlich nehmen – auch nicht, dass Humbert sich selbst zu ,,mindestens fünfunddreißig Jahren Haft wegen Vergewaltigung" verurteilen würde. Er schreibt das zwar – aber er nennt Dolores eben auch sein ,,Äffchen" und ,,Haustier" und ,,geistig ein widerwärtig konventionelles kleines Mädchen", und er nimmt ihr das Geld, das er für den Sex bezahlt, wieder weg. ,,Wie süß war es, ihr den Kaffee zu bringen und ihn ihr dann zu verweigern, bis sie ihre Morgenpflicht erfüllt hatte."

Nichts davon ist also wirklich geschehen – und doch macht der Roman aus den Vergewaltigungen einer Minderjährigen etwas, an dem man teilhaben kann, indem man davon liest, weil es sich ein Schriftsteller ausgemalt hat – so wie man mit Stevenson nach einer Schatzinsel suchen kann, ohne dass es den Schatz oder die Insel oder die Suche je gegeben hätte. Das war der Verdacht, der Skandal: dass hier ein Verbrechen idealisiert werden könnte, indem der Autor ein Kunstwerk daraus macht. ,,Ich schere mich nicht im Geringsten um öffentliche Moralbegriffe in Amerika und anderswo", hat Nabokov im Interview mit der ,,Paris Review" gesagt, und solche Sätze haben es sicher nicht einfacher gemacht.

,,Die Freiheit der Kunst", hat die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse vor ein paar Wochen gesagt, als sie das Internationale Literaturfestival Berlin eröffnete, ist ,,heute kleiner als noch vor wenigen Jahren." Und sie spitzte es auf ein Beispiel zu: ,,Heute wäre so gut wie undenkbar, dass Nabokovs ,Lolita' veröffentlicht werden könnte, eines der großartigsten Kunstwerke der Literatur, obwohl und weil es um einen detailliert beschriebenen Kindesmissbrauch geht." Schon 1955 habe es erhebliche Schwierigkeiten gegeben, das Buch zu drucken: ,,Heute bekäme Nabokov mindestens Morddrohungen."

Menasse sieht eine ,,pseudokorrekte Inquisition" am Werk, die per Shitstorm Künstlerinnen und Künstler verfemt: ,,Die eigenen Leute, das eigene Lager, an ihrer Spitze die ganz Jungen, verlieren ihre Liberalität, die Offenheit und Neugier und vor allem den Humor, den wir den Rechten früher voraushatten. Sie geben das auf zugunsten von Forderungen nach literarischer Säuberung, von Denk- und Redeverboten, die aus falsch verstandener, aus auf die Spitze getriebener Rücksichtnahme entstanden sind." Von ,,militanter Intoleranz" und einem ,,Tsunami der Vereinfachungen" spricht Menasse. Ein Roman wie ,,Lolita" habe in diesem Klima keine Chance mehr.

Das ist leider nicht überprüfbar, was aber man tun kann, ist, ,,Lolita" zu lesen – in meinem Fall zudem zum ersten Mal für diesen Artikel, und das also 2018, unter dem Eindruck einer öffentlichen Auseinandersetzung über sexuelle Gewalt, die seit einem Jahr unter dem Hashtag MeToo gebündelt wurde.

Und die Lektüre ergibt: ,,Lolita" ist ein Monument des weißen, alten Mannes, so wie er zur Chiffre geworden ist im Laufe dieser Auseinandersetzung – und allein deswegen gehört der Roman in die Bibliothek von #MeToo. Denn er zeigt, worum es im Kern bei dieser Bewegung immer gegangen ist: sichtbar zu machen, wie Machtverhältnisse sexuell ausgenutzt werden können. ,,Im Hotel hatten wir getrennte Zimmer", schreibt Humbert, ,,aber mitten in der Nacht kam sie herüber, und sehr sanft machten wir es wieder gut. Verstehen Sie, sie hatte sonst ja auch niemanden, zu dem sie hätte gehen können."

Im Original klingt es noch desolater: ,,You see, she had absolutely nowhere else to go", und diese Stelle ist nur eine von vielen, in denen Humbert vorführt, wer über wen verfügt. Hier rationalisiert er das sogar noch, ,,verstehen Sie", schreibt er, sie konnte ja nur in mein Bett, wohin sonst? Dass er es aber war, der sie obdachlos gemacht, der diese Situation erst herbeigeführt hat, so wie Harvey Weinstein die Schauspielerinnen zum Casting ins Hotelzimmer zitierte: Das sagt er nicht.

Wir sollen verstehen, ihn verstehen: ,,Lolita" ist das Psychogramm eines Täters, und das erzählerische Risiko, das Nabokov eingegangen ist, indem er die Tat von innen her zu beschreiben versucht, spürt man noch immer. Gerade ist in den Vereinigten Staaten ein Buch erschienen, ,,The Real Lolita" von Sarah Weinman, das von der elfjährigen Sally Horner erzählt, die 1948, exakt zur gleichen Zeit, in der Nabokov ,,Lolita" spielen lässt, von einem fünfzigjährigen Mann namens Frank La Salle entführt und über einundzwanzig Monate hinweg vergewaltigt wurde, bis sie um Hilfe rufen konnte. Nabokov spielt in seinem Roman sogar auf den Fall an, nennt Täter und Opfer beim Namen: Sarah Weinman will jetzt dem Mädchen, das zwei Jahre nach seiner Befreiung starb, in ihrem Buch die Biographie zurückgeben, die La Salle ihr geraubt hat – und in gewisser Weise auch Nabokov, dieser Vorwurf schwingt jedenfalls mit, weil der sich für seinen Roman beim Schicksal des Mädchens bedient habe.

Aber das tut auch Humbert Humbert, indem er Dolores erzählt: davon, wie sie in sein Bett kroch. Wie sie ihn verführt hat. Was das Publikum von Dolores weiß, weiß es nur von ihm. Wenn es bei #MeToo darum geht, die Opfer zu Wort kommen zu lassen, dann ist ,,Lolita" das komplette Gegenteil davon, und mehr noch: Der Täter schildert auch sein Opfer und entrechtet es damit ein weiteres Mal. Wir müssen, als Publikum, Humbert glauben, dass sie ihn zu Doktorspielen aufgefordert hat. Wir sind ihm auch darin ausgeliefert, sind abhängig von dem, was er uns gibt – ihre Tränen in der Nacht, ihr ,,nicht schon wieder!", wenn Humbert es schon wieder will.

Humbert, der über sich selbst zu Gericht sitzt, das ist der erzählerische Rahmen dieser Bekenntnisse, ist jederzeit im Vollbesitz dieser Erzählung. Sosehr er auch leidet, sosehr er sich selbst, in seiner Raserei und Verzweiflung und Geilheit, auch verachtet und diese Verachtung mit der Verachtung anderer, kleinerer Geister verbrämt: Er entscheidet, was er preisgibt. Eigentlich wissen wir gar nicht, was wirklich geschah, wir wissen nur, was Humbert uns zu wissen gegeben hat. Nabokovs ,,Lolita" ist ein Meisterwerk der Machtverhältnisse – auch der einer Figur über seine Leserinnen und Leser.

Aber die Jahre, die seit 1958 vergangen sind, haben aus dem Buch auch das verwitternde Denkmal eines abendländischen Bildungsideals und aller damit verbundenen Statusansprüche und -gewinne gemacht, und auch das trägt dazu bei, dass sich ,,Lolita" liest wie das Buch zur Diskussion: ,,Shorts, Büstenhalter mit wenig zum Halten, helles Haar – eine Nymphette, beim Pan!", ruft Humbert einmal beim Anblick eines kleinen Mädchens, und beim Pan, dieser Tonfall des klassischen Abendlandes trägt das ganze Buch! Einmal beschreibt Humbert eine junge Krankenschwester ,,with overdeveloped gluteal parts", andere (und die deutsche Übersetzung bei Rowohlt) sagen Hinterteil dazu – Humbert, der Vergewaltiger, aber ist sich zu fein dafür.

Diese Prätentionen, das Sendungsbewusstsein, das Bedürfnis, sich selbst im eigenen Vokabular immer wieder der eigenen Auserwähltheit zu versichern: Mag sein, dass Nabokov es gar nicht interessiert hat oder es sogar gegen seine Absichten geschieht; es ist ja zudem kurios, wie hier ein gebürtiger Russe auf Englisch einen Franzosen auf Englisch erzählen lässt, und zwar im erlesensten Englisch. Aber Humbert wirkt wie das Relikt einer Sprachmacht, die außer Kraft gesetzt wird – und zwar durch die Emanzipation jener Teile der Gesellschaft, die jetzt, endlich, auch mitreden wollen, damit alle gleichberechtigt reden dürfen.

Walter Minton, der Verleger, der sich traute, dieses Buch vor sechzig Jahren zu drucken, ist heute fünfundneunzig Jahre alt. Er hat zwar vor kurzem noch den ,,New Yorker" in seinem ,,Haus, das Lolita gebaut hat" empfangen, wie Nabokov es einmal genannt hat. Aber die Frage aus Deutschland, ob ,,Lolita" heute noch eine Chance hätte, beantwortet seine Tochter Jenny, die auch in der Buchbranche arbeitet: Sie bereite einen Band mit Essays vor, schreibt sie, ,,Lolita in the Afterlife", in der Autorinnen wie Sloane Crosley diese Frage beantworten – und die Regisseurin Sofia Coppola ein paar Szenen für ein Drehbuch über Lolita im 21. Jahrhundert schreiben soll. Das Buch zu drucken sei damals eine radikale Tat gewesen, sagt Jenny Minton, und heute wäre es das immer noch. Ihr Vater bestellt herzliche Grüße, die Frankfurter Buchmesse habe er immer geliebt.


Aus: ",,Lolita" und #MeToo : Monument des weißen alten Mannes" Tobias Rüther (12.10.2018)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/60-jahre-lolita-ein-jahr-metoo-passt-das-zusammen-15824786.html?printPagedArticle=true#pageIndex_3

QuoteWir sind alle Relikte

    Harald Bollbuck (haboll)

    12.10.2018 - 11:53

An einigen Stellen ihres Textes überkommt micht der Eindruck: sehen Sie Nabokovs Ironie nicht? Es ist doch genau diese Spannung zwischen klassischer Bildung und hoher Bürgerlichkeit auf der einen und dieser zerissenen Leidenschaft auf der anderen Seite. Das, was einen guten Roman ausmacht. Man muss den Helden eines Romans nicht mögen. Nicht den "Untertan" oder "Die Wohlgesinnten". Sollen wir uns alle nur gegenseitig zunicken? Und was heißt "Relikt"? Das erinnert mich an die selige DDR-Literaturkritik (Thomas Manns Texte als Ausdruck einer abgestorbenen Epoche). Aber vielleicht wollen Sie den MeToo-Aktivisten auch gerade diesen Roman in die Lesekiste legen? Dann stimme ich zu.


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Quote[...] ZEIT ONLINE: Ihr neuer Film Gelobt sei Gott sorgte schon vor seinem Filmstart für einige Aufregung. Er erzählt vom Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche von Lyon – und der Täter, der ehemalige Priester Bernard Preynat, hat versucht, den französischen Filmstart per einstweiliger Verfügung zu verhindern.

François Ozon: Ja, Preynat hat gegen den Kinostart geklagt mit der Begründung, dass der Film sein Recht auf die Unschuldsvermutung verletze, weil das Urteil im Prozess schließlich noch nicht gesprochen ist.

ZEIT ONLINE: Moment – obwohl Preynat sofort gestanden hat, wie es im Film auch zu sehen ist, hat er auf sein Recht auf Unschuldsvermutung geklagt?

Ozon: Tja, da war auch ich etwas naiv. Die Unschuldsvermutung gilt auch im Falle eines Geständnisses des Angeklagten. Sie ist in Frankreich sehr wichtig. Der Richter hat dann aber abgewogen gegenüber einem anderen Recht, das sehr hoch geschätzt wird: der Freiheit der Kunst. Und er hat schließlich entschieden, dass in diesem Fall die Freiheit der Kunst wichtiger ist.

... ZEIT ONLINE: Wie haben Sie das Thema bei der Vorbereitung des Films recherchiert?

Ozon: Ich habe alle Beteiligten – alle Beteiligten auf Seiten der Opfer – getroffen und ausführlich gesprochen. Mit den Mitarbeitern der katholischen Kirche habe ich nicht gesprochen, ich konnte diesbezüglich ohnehin auf das bereits veröffentlichte Material zurückgreifen. Die Pressekonferenz zum Beispiel, in der Kardinal Barbarin diesen furchtbaren Satz sagt, dass "Gott sei Dank" ("Grâce à Dieu") alle Geschehnisse bereits verjährt seien, ist auf YouTube zu sehen. Der Titel des Films spielt auf genau diesen Satz an. In Frankreich hat er für viel Empörung gesorgt. Es war, als hätte dabei das Unterbewusstsein des Kardinals gesprochen: "Gott sei Dank ist die Mehrheit der Verbrechen verjährt."

ZEIT ONLINE: Der Satz ist gleich in doppelter Hinsicht schockierend: Zum einen, weil er bedeutet, dass Barbarin froh ist, dass die Taten verjährt sind. Und zum anderen, weil er eben das mit Gott in Verbindung bringt. Als würde Gott absichtlich die Täter schützen, nicht die Opfer.

Ozon: Eben. Der Kardinal tut so, als sei es Gottes Wille, dass sexueller Missbrauch nach einer festgelegten Frist verjährt – dabei ist es der Wille einer Justiz. Und die wurde von Menschen geschaffen.


Aus: "François Ozon: "Sehen, welche Folgen Missbrauch für die Opfer hat"" Interview: Julia Dettke (25. September 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/film/2019-09/francois-ozon-gelobt-sei-gott-film


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Quote[...] Schon vor 30 Jahren protestierten in New York die Guerilla Girls gegen die Männerherrschaft in den Kunstmuseen. Schon vor 40 Jahren appellierten afrikanische Staaten an Europa, geraubte Kunstwerke aus der Kolonialzeit zurückzugeben. Schon vor 50 Jahren beklagten Künstler wie Hans Haacke den Einfluss dubioser Sponsoren auf die Museen und riefen dazu auf, sich gegen das schmutzige Geld zu wehren.

Was folgte? Die Museen, Orte der Aufklärung und Selbstreflexion, taten in all den Jahrzehnten, was sie am liebsten tun: Sie zeigten sich zeitresistent. Vermutlich hofften sie, die Proteste würden von allein wieder verschwinden. Das allerdings ist nicht geschehen, im Gegenteil, die Kritik hat sich deutlich verschärft. Mehr Menschen denn je wollen heute wissen, was sich hinter dem schönen Schein der Kunst, hinter den dicken Mauern der Museen verbirgt: Wer hat die Macht? Woher kommt das Geld? Sie verlangen demokratische Mitsprache.

Manchmal wenden sich die Proteste gegen fragwürdige Trustees (wie jüngst am Whitney Museum und am MoMA in New York), manchmal gegen Sponsoren und ihre unrühmlichen Geschäfte (wie auf der Sydney-Biennale). Neuerdings müssen auch Kuratoren mit einem Shitstorm rechnen, beispielsweise wenn sie wieder einmal mehr Männer als Frauen in ihre Ausstellung eingeladen haben. Das Museum der Digitalmoderne ist ganz offensichtlich ein politisiertes Museum. Willkommen in der Gegenwart!

Allerdings gelten die Proteste keineswegs nur der Institution, sie gelten auch dem, was dort zu sehen ist: den Werken der Kunst. Der Kanon müsse neu ausgehandelt werden und zwar möglichst demokratisch, so die Forderung. Nicht Kuratoren oder Sammler allein sollten entscheiden, auch die Besucher müssten ihre Vorlieben einbringen dürfen (ZEIT Nr. 45/19) [https://www.zeit.de/2019/45/kunst-kunstszene-kunstwelt-exklusivitaet].

... Wir haben es mit einem Teufelskreis zu tun: Je weniger die künstlerischen Qualitäten bei der Auswahl der gesammelten Werke eine Rolle spielen, desto mehr dürfen sich jene zu Protesten und Boykottaufrufen ermutigt fühlen, die ihre sozialen und politischen Ideale widergespiegelt sehen wollen und gerne auch die historische Kunst an den moralischen Maßstäben der Gegenwart messen. Je mehr aber diese demokratisch bestimmten Maßstäbe das Programm der Museen prägen, desto schwerer wird es, für die unbedingte Freiheit der Kunst, auch für ihre Absurditäten und ihre Zumutungen einzutreten.

Das Schöne an einem solchen Dilemma ist jedoch: Es weckt Energien. Es zwingt die Museen, sich ungewohnten Debatten zu stellen und viel besser als bisher zu begründen, welchen Wert die autonome Kunst in ihren Augen hat. Sie müssen genauer hinhören, mit welchen Erwartungen das Publikum auftritt – nicht um dem zwingend zu entsprechen, sondern um eine eigene, eine von der Ästhetik bestimmte Antwort auf die ethische Kritik zu geben. Die Museen sind ein politischer Ort, und sie sind ein Ort der Kunst. Es reißt sie hin und her. Viel besser könnte es nicht sein.


Aus: "Der Teufelskreis demokratischer Kunst" Hanno Rauterberg (13. November 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/2019/47/kunstmuseen-aufklaerung-diskriminierung-protest-mitbestimmung/komplettansicht

QuoteDesaguliers #1

,,Das Publikum will mehr Mitsprache, zu Recht"

Sie meinen sicher die Zehntausenden, die jeden Dienstag für die Demokratisierung der Kunst auf die Straße gehen, das berühmte Tuesday for Arts.
Im Ernst, nicht das Publikum ,,will" das, sondern eine promillekleine Filterblase.


Quotestrixaluco #3.1

Zensur und Kunst sind etwas, das sich diametral widerspricht. Es ist das innerste Wesen, Freiheiten bis an die Grenzen des Erträglichen auszunutzen und auch zu provozieren. Das muss man nicht mögen, und ich mag Werke, die wesentlich von Provokation bestimmt sind, oft gar nicht. Aber zur Demokratie gehört beides, Grenzen zu testen, und auch die Diskussion darüber, was man noch schön, geschmackvoll, richtig findet, sowohl, was aktuelle Werke als auch solche der Vergangenheit betrifft. Ohne dass es etwas gibt, das fragwürdig ist, gibt es solche Diskussionen oft nicht, und Kunst ist nicht das schlechteste Mittel, sie zu führen, weil sie ins Abstrakte, Intellektuelle und in die Phantasie führt, wo man letztlich mit weniger gegenseitigen Verletzungen diskutieren kann als bei Alltagsdingen.

Was die Kunst gerade bräuchte, sind keine Tabus, sondern wäre ein weniger snobistischer und überheizter Markt. Von den absurden Preisen, die für berühmte Namen gezahlt werden, haben ausschliesslich Spekulanten und die ganz wenigen "Grossen" etwas. Durchschnittskünstler leben auch heute noch oft in prekären Verhältnissen und ungesunden Abhängigkeiten, unabhängig von der Qualität ihres Werks. Ich wäre dafür, für Kunstverkäufe sehr harte Spekulationssteuern einzuführen und damit Raum für einen qualitätsorientierteren Markt zu schaffen. Wenn Mondpreise sich nicht lohnen, ist der Anreiz, mehr Werke auch unbekannterer Personen zu kaufen, viel grösser!


QuotePaul Freiburger #4

Da scheint mir ein Denkfehler vorzuliegen. Die Autonomie der Kunst ist ein ethischer Wert, kein ästhetischer. Ob Caravaggio gute Kunst geschaffen hat, ist eine ästhetische Frage, keine ethische.

Das Problem, um das es geht, lautet also, ob ein ethisch fragwürdiger Künstler (statt Caravaggio könnte man vielleicht besser Emil Nolde nennen) ästhetisch gute Kunst schaffen kann und ob man sie ausstellen darf.

Bis jetzt wurde die Frage, ob ethisch fragwürdige Künstler gute Kunst schaffen können, allgemein durch die Praxis der Rezeption mit ja beantwortet.
Kann ja sein, dass Menschen keine Freude mehr haben, den berühmten Sänger X zu hören, Werke des berühmten Filmemachers Y zu sehen, wenn sie wissen, dass er Frauen belästigt oder vergewaltigt hat. Ohne das Wissen würde man diese künstlerischen Darbietungen aber als Meisterwerke werten.

Über ethisch fragwürdige Künstler die ästhetisch schlechte Kunst gemacht haben, braucht man erst gar nicht zu reden.

Qualität ist ein Kriterium, das letztlich unvereinbar ist mit Fragen der gesellschaftlichen Repräsentation. Wenn der Kanon nicht mehr akzeptiert wird, ist das natürlich ein Problem. Man löst es aber nicht, indem man Kuratorenstellen künftig anstatt mit Kunsthistorikern mit Soziologen besetzt.


QuoteZwischenmensch #5

Danke, interessanter Artikel! - Ist die "Autonomie der Kunst" nicht eine Setzung der Moderne? Ist der Künstler wirklich autonom, als so Abhängiger von Käufern, Märkten und Sponsoren?
Spürt ein sich als Künstler definierender Mensch nicht einfach, was in der Luft liegt, manchmal vor anderen? Scheint deshalb "sehend"?
O.k., nicht der Künstler ist autonom, die Kunst ist es?
War es nicht auch in der Vergangenheit immer eine Vereinbarung, was als Kunst erkannt und anerkannt wurde? Ganz früher waren die Höfe der Mächtigen, war auch die Kirche Auftraggeber - heute scheint es der Markt!?


QuoteIeldra #10

Kunst ist gerade dann besonders relevant, wenn sie aneckt. Gerade bei denjenigen, die meinen, ihre eigenen Maßstäbe müssten universale Geltung habe und gegebenenfalls auch der Kunst ihre Freiheit nehmen. Dass diese Gruppe der Dauerempörten heute aus einem anderen politischen Lager kommt als noch vor 20 oder gar 50 Jahren, sollte dabei irrelevant sein.


...

Textaris(txt*bot)

#24
Quote[...] Die Debatte, die der Empörung nun folgt, ist die gute alte Kunstfreiheitsdebatte, die wir gefühlt alle 14 Tage führen: Ein heterosexueller, weißer - meist alter - Mann veröffentlicht etwas, das am Rande oder gern auch einfach voll und ganz rassistisch, frauenfeindlich oder anderweitig diskriminierend ist und nennt es Kunst.

...


Aus: "Weniger sexistischen Dreck, mehr gesamtgesellschaftliche Verantwortung, bitte!" Julia Maria Grass (5.4.2020)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/till-lindemann-gedicht-sexismus-und-kunst-li.80566

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Quote[....] Es ist schon immer die Kunst der Band ,,Rammstein" und Sänger Till Lindemann gewesen, etwas Abartiges zu nehmen und es überzogen wohlwollend und blumig zu beschreiben, um so einen Bruch zu erzeugen.

Bestes Beispiel dafür ist das Lied ,,Mein Teil", über den sogenannten Kannibalen von Rothenburg. ,,Ist doch so gut gewürzt / Und so schön flambiert / Und so liebevoll / Auf Porzellan serviert / Dazu ein guter Wein / Und sanfter Kerzenschein / Ja, da lass ich mir Zeit / Etwas Kultur muss sein." Hier wird der festliche Verzehr von Menschenfleisch beschrieben. Durch die Darstellung eines feinen Dinners, bei dem wohlgemerkt der Penis des Opfers verspeist wird, wird die Absurdität und Falschheit der Situation klar.

Das gelingt im Gedicht ,,Wenn du schläfst" in Lindemanns Gedichtband, erschienen beim Kiwi-Verlag, aber nicht. Lindemann gibt lediglich eine realistische, detaillierte, lustvoll-beschönigende Beschreibung einer Vergewaltigung wieder. Es entsteht kein Bruch, kein Moment, in dem klar wird: Das hier ist falsch.

Schlimmer noch: Durch die lustvolle Beschreibung wird im sexuellen Kontext sogar eher noch ein Reiz geweckt. Was das Gedicht zu nicht mehr als einem weiteren frauenfeindlichen Text unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit macht.

Aber: Kunstfreiheit ist wichtig und darf nicht beschnitten werden. Sie existiert, um im künstlerischen Kontext auch hart formulierte Kritik möglich zu machen, um auf Missstände aufmerksam machen zu können. Weil gerade durch krasse Vergleiche und überzogene Formulierungen Aufmerksamkeit auf eine unhaltbare Situation gelenkt werden kann. Drastische Umstände brauchen drastische Worte. Ein Beispiel, das dies sehr gelungen zeigt, ist eine Textzeile aus dem Song ,,Anti Alles Aktion" der Antilopen Gang, eine Kritik an Pegida: ,,Da braucht man gar nicht drüber reden, wenn die Massen sich erheben, schmeiß ich aus dem Flugzeug eine Brandbombe auf Dresden."

Natürlich lässt das Raum für Kunst, die nicht systemkritisch ist, sich nicht gegen widerliche Gesinnungen richtet, sondern die widerliche Gesinnung sogar propagiert. Es sollte aber generell eher über eine bessere Gesetzeslage gegen volksverhetzende, rechtsextremistische und frauenfeindliche Inhalte gesprochen werden, als die Kunstfreiheit in Frage zu stellen.

Lindemann tut, was er immer tut: Provozieren, um so das Thema zu verarbeiten. Aber das ist bei sexuellem Missbrauch völlig fehl am Platz.

Vergewaltiger ziehen Macht und Lust aus dem Ausgeliefertsein des Opfers. Die Abartigkeit der Tat wird daher gerade nicht anhand einer beschönigten, liebevollen Beschreibung des wehrlosen Opfers aufgezeigt, sondern beschreibt nur die Gefühle des Vergewaltigers. Die Vergewaltigung wird in Lindemanns Gedicht somit romantisiert.

Das hätte dem Kiwi-Verlag auffallen müssen - und das Gedicht nicht veröffentlicht werden dürfen.


Aus: "Romantisierte Vergewaltigung" Sonja Thomaser (04.04.20)
Quelle: https://www.fr.de/meinung/till-lindemann-rammstein-erntet-shitstorm-sein-gedicht-romantisiert-vergewaltigung-13639867.html

QuoteBarbara S

Weitaus schlimmer als dieses Gedicht finde ich die Tatsache, dass Opfern von Vergewaltigungen unter k.o.-Tropfen-Einfluss häufig nicht geglaubt wird. Als Frau muss ich sagen, dass das Gedicht für mich unter die Kunstfreiheit fällt und es in der Rapper-Szene wesentlich krassere und frauenverachtendere Liedtexte gibt. Die ganze Aufregung ist für mich deshalb scheinheilig.


...

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Quote[...] Aktuell wird in sozialen Netzwerken in Deutschland wieder über ein sexistisches Gedicht diskutiert, doch dieses Mal braucht es keine tiefgreifende Interpretation. Statt um Blumen, Frauen und Fassaden, geht es hier nämlich um Vergewaltigungsfantasie. Unter dem Titel ,,Wenn du schläfst" schildert Till Lindemann, der Sänger von Rammstein, explizit sexualisierte Gewalt, die unter Einfluss von Drogen vollzogen wird. Die Vergewaltigung wird jedoch nicht nur beschrieben, sondern auch verherrlicht: ,,Und genau so soll das sein (so soll das sein so macht das Spaß)" und weiter ,,Es ist ein Segen", schreibt er.

Das kurze Gedicht ist Anfang März in Lindemanns Band ,,100 Gedichte" im Verlag Kiepenheuer & Witsch (KiWi) erschienen, herausgegeben von Alexander Gorkow, dem Leiter des ,,Seite 3"-Ressorts der Süddeutschen Zeitung. Bisher hat es wenig Beachtung gefunden. Doch in den letzten Stunden wurde in sozialen Netzwerken immer mehr Kritik an Lindemanns Gedicht laut.

... Nur hat ja in der Debatte niemand Till Lindemann vorgeworfen, er würde gerne Frauen vergewaltigen. Kritisiert wird die Darstellung der Vergewaltigung in seiner Poesie. Auch ein Lyrisches Ich kann die Täterperspektive feiern, Gewalt verharmlosen oder rechtfertigen und mögliche reale Täter animieren – dafür muss es nicht deckungsgleich mit einer realen Person sein. Auch die Gedanken eines Lyrischen Ichs können Betroffene sexualisierter Gewalt triggern.

Das scheint im KiWi-Verlag nur leider keine*r mitgedacht zu haben. Schade, denn 2020 sollten gewaltverherrlichende und menschenverachtende Texte nicht mehr unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit verteidigt werden.


Aus: "Vergewaltigungen sind keine Poesie" Carolina Schwarz (3.4.2020)
Quelle: https://taz.de/Gedicht-von-Rammsteins-Till-Lindemann/!5676267/

QuoteCochino

Man muss das Gedicht auch einordnen. Zuerst wird darin die Vergewaltigung eines mit Rohypnol betäubten Menschen beschrieben. Das muss nicht zwingend eine Frau sein und wie ich Lindemann kenne ist das auch gewollt offen gelassen.
Dass hier wieder nur Frauen in der Opferrolle wahrgenommen werden ist reiner Sexismus. Werden Männer nicht vergewaltigt?
Wie bei den meisten Texten Lindemanns (vor allem bei Rammstein-Liedern), ist das Lyrische Ich keineswegs eine Person, mit der man sich identifiziert. Im Gegenteil: man soll vom Protagonisten angewidert sein und dessen Taten/Aussagen ablehnen.
Dass jetzt Menschen gegen das Gedicht und dessen Aussagen auf die Barrikaden gehen, ist vom Autor genau so gewollt und genau das ist der Kern seiner Kunst.


QuoteC.O.Zwei

Als kompetente Kritikerin habe ich Erwin Lindemann von Loriot schon immer über Till Lindemann von Rammstein gestellt. Jetzt zeigt sich erneut, wie recht ich hatte.


QuoteHanibal Lecker

und startschuss für eine weitere bigotte diskussion... wir sprechen hier über poesie, über kunst... der gute herr lindemann, den ich im übrigen schon oft genug als sehr gruselig und zweischneidig empfand, was er ja auch beabsichtigt, ist doch selbst schon eher ne kunstfigur und was aus seinem kopf auf papier gebracht wird, darf gefälligst auch so sein und muss auch ausgehalten werden. wenn wir bei allem, was uns triggert sofort einen riegel vorschieben, sind wir nicht besser als das, was wir fürchten. es geht doch bei kunst auch um konfrontation und auseinandersetzung.

würde er das gedicht im rahmen einer lesung am frauenhaus präsentieren, oder es wild gröhlend am ballermann der tumben masse ins hirn implementieren, wäre das ganze schon diskussionswürdiger.

so sehe ich nur eine weitere, künstlich aufgeblasene debatte um etwas, wofür man eigentlich dankbar sein sollte: freiheit der kunst


QuoteDr. McSchreck

Nach der Argumentation des Artikels dürfte es überhaupt keine Kunst mehr geben, die die Täterperspektive einnimmt.

Das wäre bedauerlich, denn Kunst soll den Horizont erweitern und es gibt hervorragende Werke der Literatur und des Films, die aus der Sicht von Menschen geschrieben wurden, die alles andere als Vorbilder sind.


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Quote[...] Es muss knallen - immer. Sex und Gewalt sind deshalb Lieblingsthemen von Till Lindemann. Ob in seinen Songtexten für Rammstein, auf seinen Soloalben oder in seinen Gedichten: Stets ist er auf Krawall gebürstet. Provokationslust und Pyrotechnik, damit füllt seine Berliner Band weltweit Stadien aus.

Till Lindemanns kürzlich erschienener Band ,,100 Gedichte" (Hrsg. v. Alexander Gorkow. Kiepenheuer & Witsch, 160 Seiten, 18 €) reiht sich in diese Serie ein. Zwar wirken die meist kurzen, mal gereimten mal in freier Versform gehaltenen Gedichte ohne den donnernden Vortrag ihres Schöpfers nicht ganz so furchteinflößend wie viele seiner Lieder. Zum Gruseln ist hier dennoch einiges.

Insbesondere das Gedicht ,,Wenn du schläfst", in dem es heißt: ,,Schlaf gerne mit dir wenn du träumst/ Weil du alles hier versäumst/ Und genau so soll das sein (so soll das sein so/ macht das Spaß)/ Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas)/ Kannst dich gar nicht mehr bewegen".

Diese Vergewaltigungfantasie hat heftige Kritik auf sich gezogen. Für viele - sowohl Frauen als auch Männer - ist es unverständlich, weshalb so etwas überhaupt veröffentlicht wird. Zumal nach zwei Jahren MeToo-Debatte und in Zeiten zunehmender Sensibilisierung für frauenverachtende Sprache.

Dass der 57-jährige Till Lindemann, der erst letzte Woche aufgrund einer intensivmedizinischen Behandlung in den Schlagzeilen war, sich von solchen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht beeindrucken lässt, verwundert allerdings kaum. Die Provokation ist sein Geschäftsmodell.

Seitens des Verlags reagierte man gelassen: ,,Die moralische Empörung über den Text dieses Gedichts basiert auf einer Verwechslung des fiktionalen Sprechers, dem sogenannten ,lyrischen Ich' mit dem Autor Till Lindemann. Die Differenz zwischen lyrischem Ich und Autor ist aber konstitutiv für jede Lektüre von Lyrik wie von Literatur allgemein und gilt für alle Gedichte des Bandes wie für Lyrik überhaupt", schreibt KiWi-Chef Helge Malchow in einem Presse-Statement.

Er verweist überdies auf die Kunstfreiheit und die zahlreichen Beispiele in der Weltliteratur, in denen das Böse beschrieben wird. ,,Dass der im Gedicht dargestellte Vorgang unter moralischen Gesichtspunkten zutiefst verwerflich ist, ist eine Selbstverständlichkeit und erlaubt keine persönliche Diffamierung des Autors", heißt es weiter.

Selbstredend fallen die Lindemannschen Widerwärtigkeiten unter die Kunstfreiheit. Man könnte höchstens prüfen lassen, ob es sich um einen jugendgefährdenden Inhalt handelt. Allerdings wäre es höchste Zeit, einmal Till Lindemanns immer noch weitgehend unangetasteten Starstatus zu hinterfragen - und zu revidieren. Die von ihm geradezu mustergültig verkörperte toxische Männlichkeit, seine ewigen Macho-Posen, sie sollten angegriffen und nicht gefeiert werden.

Einen weiteren Grund dafür liefert etwa das ekelhafte Gedicht ,,Am Strand", in dem ein Mann mit einem Ständer in der Hose junge nackte Mädchen beobachtet. ,,Er ist alt/ Ihm wird heiß/ Den Mädchen kalt", lauten die letzten Zeilen. Eine lyrische Perspektive, die man nur abstoßend finden kann - und bei der man sich natürlich fragt, warum ihm ein solches Podium geboten wird.

Dass Lindemann, der noch drei weitere Gedichtbände veröffentlicht hat, seit Jahren als finsterer Romantiker, als gequälte Seele und ähnliches verklärt wird, ist lachhaft - und zudem eine feige Ausweichbewegung. Um den Weltstar nicht angreifen zu müssen, projiziert man lieber allerlei in ihn hinein, baut ihn zu einem Dunkelmann auf, mit dessen Kunst man sich mal ganz ungeniert an Verwerflichem ergötzen kann.

Lindemann verspritzt sein Gift in ,,100 Gedichte" - auf dem Cover ist sinnigerweise ein Vierbeiner mit Peniskopf abgebildet -  nur hier und da. Es findet sich darin auch viel Albernes, Aphoristisches, sowie Naturlyrik und Balladenhaftes. Das sechseinhalbseitige ,,Toilette" beschreibt etwa einen slapstickhaft verlaufenden Besuch auf einer Bahnhofstoilette. Zudem gibt es Gedichte übers Fleischessen, übers Pickelausdrücken oder das fehlende Begehren für die eigene Frau.

Ob sich dafür ein Verlag und ein SZ-Redakteur als Herausgeber gefunden hätten, wäre der Autor kein bekannter Rocksänger?


Aus: "Till Lindemann provoziert mit Vergewaltigungsfantasie" Nadine Lange (03.04.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/rammstein-saenger-als-dichter-till-lindemann-provoziert-mit-vergewaltigungsfantasie/25713674.html

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Quote[...] Jenni Zylka ... Für mich ist das ein bisschen Bürgerschrecklyrik. ... Aber ich finde, dass Lindemanns Lyrik dennoch sehr berechtigt ist. Ich würde sowieso nie jemandem das Dichten verbieten. Es gibt bestimmt auch Menschen, vielleicht auch gerade Menschen, die sonst nicht unbedingt einen ,,weak spot" für Lyrik haben, denen könnte das durchaus richtig gefallen. Das ist nicht kompliziert zu interpretieren – wenn da jemand Beine leckt, dann leckt er wirklich Beine, das ist also 1:1. Und das kann man ja auch gut finden. ... Ich habe vor Jahren schon einmal anlässlich der Veröffentlichung seines ersten Gedichtbands mit ihm gesprochen. Damals hat er gesagt, die Leute seien an Abgründen interessiert und nicht daran, wie er von der Kaufhalle nach Hause geht. ... Man kann mit ihnen gefahrlos dieses Bedürfnis nach Düsternis oder Wildheit ausleben, aber in einem ,,safe space", das ist nicht wirklich gefährlich. Insofern spricht er vielleicht die Menschen an, die das Bedürfnis nach dieser Art von klassischer Gothic-Rockpose teilen, und am Rest des Tages völlig glückliche Familienväter und –mütter sind.


Aus: "Bürgerschrecklyrik vom Rammstein-Frontmann" Jenni Zylka im Gespräch mit Martin Böttcher (10.03.2020)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/gedichtband-von-till-lindemann-buergerschrecklyrik-vom.2177.de.html?dram:article_id=472176

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Quote[...] Im Februar hat Rammstein-Sänger Till Lindemann mit seinem Soloprojekt Lindemann im Rahmen der Vermarktung seines aktuellen Albums "F + M" ein Video zu seinem Song "Platz 1" veröffentlicht: "Alle Frauen, alles meins!". Das laut der feministischen russischen Telegram-Plattform "Female Power" in einem Luxushotel in St. Petersburg mit russischen Frauen gedrehte Video ist aufgrund seiner Sexszenen unzensuriert nur auf einem deutschen Pornokanal zu sehen, Stichwort "Till the end".

Die Herstellung von pornografischen Werken ist in Russland allerdings streng verboten. Der in Russland ungemein populäre Lindemann brachte mit seiner spekulativen Provokation daraufhin Nutzer von frauenverachtenden russischen Netzwerken wie "Männlicher Staat" offensichtlich dazu, die Identität der im Video auftretenden Frauen mittels Gesichtserkennung und deren Instagram-Profilen preiszugeben, manchmal inklusive Angabe der Privatadressen.

Die Frauen – auch jene, die im Video auftauchen, ohne an pornografischen Handlungen beteiligt zu sein, allerdings offenbar auch ohne über die sonst geplanten Inhalte des Clips informiert worden zu sein – erhielten daraufhin hunderte Beleidigungen. Härter noch, sie waren auch mit der Ankündigung von Säureattentaten, Vergewaltigungs- und sogar Todesdrohungen konfrontiert. Mittlerweile haben die meisten Frauen deshalb ihre Social-Media-Profile gelöscht. Lindemann schweigt dazu.

Das große Schweigen herrschte diesbezüglich auch im Blätterwald. Dafür ist nun die Aufregung bezüglich eines Gedichts von Lindemann umso größer. Anfang März erschien beim renommierten Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch ein neuer Band des Nebenerwerbslyrikers Till Lindemann. Er trägt den Titel "100 Gedichte" und wurde immerhin von Alexander Gorkow, einem führenden Redakteur der "Süddeutschen Zeitung", herausgegeben.

Darin umkreist Deutschlands führender Brachialdichter mit seinem berühmten teutonisch-rollenden Rrr unter dem Schutzschirm einer dunklen deutschen Romantik in Form von Balladen, des Volkslieds und des Abzählreims seine großen Lebensthemen. Sie lauten laut Pressewaschzettel: "Die Natur. Der Körper. Die Einsamkeit. Die Gewalt. Die Liebe. Das Böse. Die Tiere. Der Schmerz. Die Schönheit. Die Sprache. Der Tod. Der Sex ..."

Nichts Neues unter der Sonne also von einem Mann, der mit Rammstein seit gut einem Vierteljahrhundert die Provokation zum Geschäftsmodell gemacht hat und abseits von Sadomaso, Kannibalismus, Flirts mit faschistischer Ästhetik – und zwischendurch einfach nur reiner Gewalt, Blut und Irrsinn – traditionell wenig auslässt. Man erinnere sich an Songs wie "Mein Teil" (über den "Kannibalen von Rothenburg"), an "Ausländer" oder zuletzt "Deutschland".

Im Rahmen seiner musikalischen Arbeit für eine Bühnenfassung des Märchens "Hänsel und Gretel" 2018 im Hamburger Thalia-Theater, die auch Eingang in sein Soloalbum "F + M" fand, geht es einmal mehr nicht nur darum, dass Lindemann als böse Latexhexe mit dem Fleischgewehr um- und der Menschenfresserei nachgeht. Das als Nebenstudie entstandene und in "100 Gedichte" veröffentlichte Poem "Wenn du schläfst" sorgt nun in Social Media mit einmonatiger Verspätung auch für einen Shitstorm gegenüber einem diesbezüglich bestens geeichten Meister des Wickelmachens.

Darin geht es um die Freuden des Fleischlichen: "Ich könnte dich vernaschen/ Du riechst und schmeckst so wunderbar/ Ach, ich könnt dich fressen/ Es wär nur schade/ Bist dann nicht mehr da."

Es geht allerdings auch um Vergewaltigungsfantasien: "Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst/ Wenn du dich überhaupt nicht regst/ Mund ist offen, Augen zu. Der ganze Körper ist in Ruhe/ Kann dich überall anfassen. Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst/ Und genau so soll das sein (so soll das sein, so macht es Spaß)/ Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas)/ Kannst dich gar nicht mehr bewegen. Und du schläfst, es ist ein Segen."

Lindemann schweigt dazu ebenso wie zu den skandalösen Folgen seines Pornovideos in Russland. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch wird richtigerweise nicht müde zu betonen, dass es sich bei dem Gedicht weder um eine Verherrlichung von sexualisierter Gewalt noch um die tatsächliche Meinung von Till Lindemann handelt. Dieser führe nur sein Autoren-Ich Gassi. Er habe den Text eher als Demaskierung toxischer Männlichkeit angelegt.

Das mag im Vergleich zu manchen deutschen Rappern, die gegenüber ihrer pubertären männlichen Zielgruppe in zahllosen frauenverachtenden Texten mindestens ebenso schwere Geschütze auffahren, richtig sein. Das muss man nicht ernst nehmen. Läuft auf RTL, nicht auf Arte. Und im Gegensatz zu den Ghettos von Offenbach und Berlin-Marzahn wird bei Lindemann im tiefen deutschen Wald wahrscheinlich auch eine höhere sittliche Festigung des Publikums unterstellt.

Allerdings verwundert die Tatsache doch erheblich, dass man unter Berufung auf läppische "U-Kultur" versus hehre "Hochkultur" (meine Güte!) ausgerechnet bei einem angesehenen deutschen Verlag mit einem Gedicht als unguided missile in die #MeToo-Debatte grätscht.

Geschäftlich gesehen zahlt sich diese unerwartete Werbung für einen Lyrikband jedenfalls aus. In einem weiteren Gedicht namens "Toilette" macht sich bei Lindemann eine Frau Sorgen, weil ihr Mann einen öffentlichen Abort benutzt. Schließen wir diesbezüglich mit einer guten alten Aufforderung. Gehst du, bitte?! Na also, geht doch!

P.S.: Ende März war Till Lindemann übrigens in ein Berliner Krankenhaus eingeliefert worden. Er musste eine Nacht auf der Intensivstation verbringen. Ein Test wegen Corona-Virusverdacht verlief negativ. Nähere Gründe für seinen Aufenthalt in Pflege sind bisher nicht bekannt. (Christian Schachinger, 6.4.2020)


Aus: "Rammstein-Sänger Lindemann: Pornovideo und Vergewaltigungsgedicht" (6. April 2020)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000116578600/rammstein-saenger-lindemann-pornovideo-und-vergewaltigungsgedicht

Quote
Komplexer Haufen

Wenn die betroffenen SchauspielerInnen Drohungen erhalten ist der, der droht, das Arschloch und nicht der Künstler, der das Video gedreht hat.

Generell wird es immer Diskussionen über Kunst geben, die einen moralischen Graubereich überschreitet. Gerade Rammstein finde ich, weil es relativ überzeichnet und so brachial ist (wie auch z.b. Tarantino in der Filmwelt), ...


Quote
LittleLui

Dass sich Lindemann in seinen Texten mit Verbrechen immer aus der Perspektive des Verbrechers beschäftigt und mit - ums mal plakativ zu sagen - Perversion immer aus der Sicht des Perversen, ist ja seit einem Vierteljahrhundert schon so.

Inwiefern sich gerade die - nicht nur im Kontext des Gesamtwerks - völlig harmlosen Texte von "Ausländer" und "Deutschland" als besondere Beispiele für "Sadomaso, Kannibalismus, Flirts mit faschistischer Ästhetik – und zwischendurch einfach nur reiner Gewalt, Blut und Irrsinn" eignen sollen, ist mir reichlich unklar.

Und dass Lindemann dafür verantwortlich ist, dass eine Bande von Incels Schauspielerinnen stalkt und bedroht, ist eine Einschätzung, die leider bar jeglichen Arguments daherkommt.


Quote
Herman M

Ein völlig entbehrlicher Beitrag, Hr. Schachinger. Sie mögen Rammstein/Lindemann nicht, was völlig in Ordnung ist, Geschmäcker sind verschieden. Aber Ihre Argumentation, Lindemann sei schuld an den Taten von vertrottelten, russischen Männergruppen, weil er ein Video mit pornographischem Inhalt gedreht hat, ist ungefähr auf dem gleichen Niveau wie zu sagen, Frauen in kurzen Röcken sind schuld dran, wenn Vergewaltiger geil auf sie werden.


Quote
Der Waehlerwille

Der Versuch mit "Ausländer" und "Deutschland" einen Drall nach Rechts zu unterstellen
offenbart einerseits die Unbelecktheit und andererseits den Framing/Manipulationsversuch des Autors deutlich.


Quote
Fabian_228

Sehr interessant wie hier versucht wird dem Lindemann Morddrohungen von Männern an Frauen in die Schuhe zu schieben.


Quote
a_couple_of_ducks

Die Herstellung von pornografischen Werken ist in Russland allerdings streng verboten
wissens das auf den diversen Pornoplattforen auch?


Quote
Dliner

Was bitte ist an "Ausländer" denn "Sadomaso, Kannibalismus, Flirts mit faschistischer Ästhetik – und zwischendurch einfach nur reiner Gewalt, Blut und Irrsinn"?!
Könnte hier mal bitte zur Abwechslung jemand über Rammstein schreiben, der/die zumindest die Lieder gehört hat?


Quote
veit.hell

Bin mir nie ganz sicher wer hier mehr provozieren möchte - der Hr. Lindemann oder der Hr. Schachinger ;-)


...

Quote[...] Zahlreiche Autorinnen und Autoren, allen voran Kathrin Weßling und Saša Stanišić, haben Kiepenheuer & Witsch für den Abdruck dieser Gedichte gerügt; der Verleger Helge Malchow wurde dazu aufgefordert, Lindemann zu feuern und sich zu entschuldigen; die Autorin Sibylle Berg wurde dazu gedrängt, sich seinetwegen einen anderen Verlag zu suchen.

Das kann man alles mal fordern. Aber wo waren all die Leute, die sich jetzt so erregen, eigentlich, als die letzten Rammstein-Alben erschienen? Haben sie davon nichts mitbekommen? Beschränkt sich ihre kulturelle Teilhabe auf das Lesen von Lyrikbändchen? Oder sind Vergewaltigungsfantasien, wenn sie in einem Buch abgedruckt werden, skandalöser, als wenn derselbe Künstler sie vor 80.000 Zuhörern im Berliner Olympiastadion brüllt? Übrigens musste sich noch kein Musikfirmenmanager dafür rechtfertigen, dass er eine Band wie Rammstein unter Vertrag hat; und noch niemals wurden Künstler, die beim selben Label, Universal, veröffentlichen (sagen wir mal: Helene Fischer), zur Kündigung gedrängt. Man sieht an diesem Beispiel also vor allem, wie ungleich verteilt die moralische Empfindlichkeit in den unterschiedlichen Teilen der kulturellen Öffentlichkeit ist: Zur Taubheit im Pop gegen moralische Fragen bildet die hypernervöse Dauererregung der twitternden Literaten das komplementäre Extrem. Es ist gut, dass Debatten wie diese geführt werden. Noch besser wäre es, sie entstünden nicht erst, wenn jemand wie Till Lindemann aus den weiten Feldern der Massenkultur in das enge Gehege des Literaturbetriebs stolpert.


Aus: "Vergewaltigung, mal ganz lyrisch" Jens Balzer (7. April 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/2020/16/till-lindemann-100-gedichte-veroeffentlichung-protest

Quoteichwillebessagendazu #7

Über den guten Schlingensief hat man sich auch aufgeregt, Jahre später war er dann der Künstler in Deutschland. Till Lindemann ist einfach Kult, Rammstein auch. Es gibt viel Perverses in dieser Gesellschaft, Vielleicht sind es einfach nur Männerfantasien. In einer perversen Männergesellschaft. Vielleicht hilft es auch, sich einfach wieder neu zu verorten.


Quote
Hainuo #8

Wir sollten alles unschöne am Menschsein aus der Kunst verbannen und uns nur noch in Idylle und eitel Sonnenschein suhlen. Daraus wird meist die ganz große Kunst gemacht, das Interesse an der Kunst des Biedermeiers mag davon Zeugnis ablegen. Wer interessiert sich schon für menschliche Abgründe, wenn man sie so einfach wegzensieren kann?


QuoteLouis_Cyphre #10

"Das kann man alles mal fordern."

Man kann aber auch mal seinen Tugendfuror stecken lassen.
In diesem Sinne, ein herzliches "Bück dich!".


Quotealice_42 #13

>> Das kann man alles mal fordern. Aber wo waren all die Leute, die sich jetzt so erregen, eigentlich, als die letzten Rammstein-Alben erschienen? <<

Ach, Rammstein und was weiß ich noch alles. Ich finde es ja in dem Fall auch Mist, frage mich aber zwischenzeitlich schon, ob man bald nur noch röhrenden Hirsch im Sonnenuntergang gucken soll.

Zur allgemeinen Erbauung beim Nachdenken über diese oder andere Fragen empfehle ich derweil das hier -> https://de.wikipedia.org/wiki/Judith_und_Holofernes_(Artemisia_Gentileschi)#/media/Datei:Judit_decapitando_a_Holofernes,_por_Artemisia_Gentileschi.jpg / https://de.wikipedia.org/wiki/Judith_und_Holofernes_(Artemisia_Gentileschi) Man beachte den konzentrierten Gesichtsausdruck der Dame rechts. Und natürlich das Licht. Grandios.


...

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Emmanuel Carrère ist einer der bekanntesten und wichtigsten französischen Schriftsteller. Seit seiner Ehe mit Hélène Devynck zerrüttet ist, will sie nicht mehr in seinen Büchern auftauchen. Draufhin habe Carrère ihr das Buch vorgelegt und sie gebeten, zu markieren, was sie herausgestrichen haben möchte.

Im Anschluss habe er dann wohl aber noch einige Passagen mehr gestrichen – nämlich auch die, in denen sie gut weggekommen wäre. ,,Von einer erzählerischen Ellipse ist in Frankreich die Rede", sagt Literaturredakteur Dirk Fuhrig. ,,Sie ist rausgeschnitten aus seinem Buch und letztlich aus seinem Leben."

... außerhalb Frankreichs hat Maxim Biller einen langen Streit um seinen Roman ,,Esra" mit seiner Ex-Frau geführt. ,,Literatur und Leben haben häufig eine schmerzhafte Beziehung miteinander", so Fuhrig.

...


Aus: "Die schmerzhafte Beziehung von Literatur und Leben" Dirk Fuhrig im Gespräch mit Gabi Wuttke (05.10.2020)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/streit-um-prix-goncourt-anwaerter-die-schmerzhafte.1013.de.html?dram:article_id=485290

Textaris(txt*bot)

Philip Guston ('ust' pronounced like "rust"), born Phillip Goldstein (June 27, 1913 – June 7, 1980), was a Canadian American painter, printmaker, muralist and draughtsman.
https://en.wikipedia.org/wiki/Philip_Guston

Quote[...] Es geht ein Aufschrei durch die Kunstwelt. Die Retrospektive des US-amerikanischen Malers Philip Guston (1913–1980) soll auf 2024 verschoben werden. Die Wanderausstellung hätte von der National Gallery in Washington nach Houston, an die Londoner Tate Modern und nach Boston weiterziehen sollen. Ausschlaggebend für die Absage sind seine cartoonesken Figuren, die mit ihren Kapuzen an Anhänger des Ku-Klux-Klans erinnern.

Die Museen möchten wegen des aktuellen politischen Klimas und der Proteste gegen rassistisch motivierte Gewalt einen Schritt zurücktreten. ... "Zensur" und "Feigheit" lauten die Vorwürfe gegen die Entscheidung der Museen. In den letzten Tagen gingen die Wogen hoch, mehr als 100 Vertreter der Kunstszene reagierten in einem offenen Brief – bis dato sind fast 2.000 Namen hinzugekommen. Die Schau soll wie geplant stattfinden, man dürfe sich nicht vor einem kontroversen Thema verstecken, so der Appell.

... Eine der hitzigsten Kontroversen erzeugte das 2017 auf der Whitney Biennale gezeigte Gemälde Open Casket von Dana Schutz. Dieses bezieht sich auf ein ikonisches Foto des 1955 gelynchten Emmett Till und zeigt die Leiche des schwarzen Jungen. Da die Künstlerin aber weiß ist, warf man ihr kulturelle Aneignung vor, sie bereichere sich an schwarzem Leid. Man forderte, es abzuhängen und zu zerstören.

Ähnlich erging es dem Künstler Sam Durant, als er ein Schafott auf der Documenta 13 in Kassel als Mahnmal aufstellte, es sollte an eine Massenexekution von Native Americans erinnern. "Nicht eure Geschichte", entgegneten Kritiker. Schließlich entschuldigte sich Durant und verbrannte sein Werk.

... Im Fall Guston scheint aber eine Debatte entflammt zu sein, die über die bisherigen Fälle der Cancel-Culture hinausgeht.

Einerseits kann ihm keinerlei "Aneignung" vorgeworfen werden, da es hier auch um sein eigenes Trauma geht: Als Sohn jüdischer Emigranten zog er 1919 in die USA, kam selbst mit Rassismus in Berührung und äußerte sich früh politisch in seinen Werken. Einige seiner Bilder sollen sogar von Klan-Anhängern zerschnitten worden sein.

Und andererseits geht die Löschung bei Guston – anders als bei den anderen Fällen, wo mit "Zensur von unten" versucht wurde, Werke auszuradieren – von den Kunstinstitutionen selbst aus. Zwar ist die "Zensur" des Werks nur eine temporäre, dennoch zieht man sich hier lieber vorab zurück, bevor es überhaupt erst zu einem ähnlichen Eklat kommen könnte.


Aus: "Keine Zeit für Kapuzen? Kritik an Verschiebung von Guston-Ausstellung" Katharina Rustler (5. Oktober 2020)
Quelle: https://www.derstandard.de/story/2000120501474/heftige-kritik-verschiebung-von-philip-guston-schau

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the odor

Wenn mir vor 20 Jahren jemand erzählt hätte, was heute so abgeht, ich hätte ihn für verrückt erklärt.


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Das Leben ist schön!

Das "Cultural Appropriation"- Gerede schießt übers Ziel hinaus. Wichtig ist doch, WIE man über Menschen schreibt, abfällig, neutral oder mit Sympathie. Demnach dürften "Weiße" nicht mehr über "Schwarze" reden oder schreiben, "Schwarze" auch nicht über "Weiße" und Männer nicht über Frauen und Frauen nicht über Männer.
Die Weltzensur hätte sich mit einem schein-liberalen Argument, das ins Völkische und Sexistische kippt, durchgesetzt.

Haarsträubend. ... Dieser Anti-"Appropriation"-Logik gemäß dürften Ärzte nicht mehr über kranke Menschen schreiben (forschen) und kein einziger Anwalt hätte mehr das Recht einen Klienten vor Gericht zu vertreten, weil der eben auch ein "Anderer" ist.


...

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Quote[...] Vier Direktoren großer Museen in Boston, Washington, Houston und London haben eine Ausstellung auf 2024 verschoben, weil sie dem Publikum den Umgang mit den Werken im Moment nicht zutrauen. Worum geht es? Um cartoonhafte Blätter mit Ku-Klux-Klan-Figuren, die der Maler Philip Guston in den Sechziger- und Siebzigerjahren gezeichnet hat.

In einer gemeinsamen Erklärung, unter anderem der Direktoren der Tate Modern in London und der National Gallery in Washington, hieß es, die Welt sei eine andere gewesen, als die Ausstellung ,,Philip Guston Now" vor fünf Jahren geplant worden sei. Die Ausstellung würde verschoben bis Gustons Botschaft für soziale Gerechtigkeit und gegen Rassismus, die im Zentrum seiner Arbeit steht, ,,klarer interpretiert" werden könne.

Aber wann sollte das sein? Nach der US-Wahl, wenn vielleicht, aber nur vielleicht wieder ein vernünftiger Mensch im Weißen Haus sitzt? Sobald weiße Menschen sich ihren bewussten und unbewussten Rassismus eingestehen? Sobald Museumsdirektoren zeigen können, was sie für gut und richtig halten ohne Beipackzettel mitzuliefern? Aber das können sie doch! Und das müssen sie auch. Grade in schwierigen Zeiten, grade wenn die Gesellschaft gespalten ist. Gerade jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um Philip Guston zu diskutieren. Die Gefahr sei nicht, sich Gustons Arbeiten anzuschauen, sie liege darin, sie sich nicht anzuschauen, schreibt seine Tochter Musa Mayer in der ,,New York Times".

... Dabei ist es doch, auch ohne lange Vorlaufzeit, machbar, den notwendigen Kontext zu Philip Guston (1913–1980) zu liefern. Guston, dessen jüdische Familie aus der Ukraine in die USA einwanderte, bewegte sich als junger Mann in einem sehr linken Umfeld, zunächst malte er abstrakt, dann gegenständlich, was ihm viel Kritik einbrachte, vor allem aus Kunstkreisen.

Eine seiner frühen Ausstellungen sei von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern zerstört worden, erzählte der Sammler und Guston-Kenner Harald Falckenberg in einem Interview. Einige Jahre lang, bis 1973, malte Guston Zeichnungen mit Ku-Klux-Klan-Figuren, um das Phänomen und auch die Anziehungskraft des Bösen zu untersuchen. Mal zeigte er die Figuren in banalen, alltäglichen Situationen, mal steckt der pinselschwingende Künstler selbst unter der Rassismus-Haube. Guston prüfte sich, als Künstler und als Weißer, klopfte sich auf unbewusste Einstellungen ab. Das sollten wir alle tun. Vor allem diese vier Museumsdirektoren müssen das tun. ...


Aus: "Warum es mehr Mut im Umgang mit kontroverser Kunst braucht" Birgit Rieger (06.10.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/augen-zu-hilft-nicht-warum-es-mehr-mut-im-umgang-mit-kontroverser-kunst-braucht/26250040.html

Textaris(txt*bot)

Quote[...] Renate Reinsve:: ... Es ist essenziell, dass Filme von Tabus, auch von der Hässlichkeit erzählen. Wir brauchen die Kunst, um wieder über gefährliche Dinge sprechen zu können. ...


Aus: "Renate Reinsve: "Es ist essenziell, dass Filme von Tabus erzählen"" (31. Mai 2022)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000136195207/renate-reinsve-es-ist-essenziell-dass-filme-von-tabus-erzaehlen

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Quote[...] Eine Zensur finde nicht statt, sagt die verantwortliche Kuratorin der Manchester Art Gallery, Clare Gannaway, aber das hat auch kein Beobachter behauptet. Wo es sich doch um einen Akt der Selbstzensur handelt, dass das Haus das Gemälde ,,Hylas und die Nymphen" des englischen Malers John William Waterhouse aus seinen öffentlichen Sammlungen entfernt hat.

Der Vorwurf lautet, es handele sich um eine ,,erotische Fantasie" aus viktorianischer Zeit, in der der weibliche Körper als ,,passiv-dekorativ" oder als ,,femme fatale" dargestellt werde. Allein das wäre ja ein Deutungsangebot, über das sich diskutieren ließe, und die Künste sind nun mal ein besonders opulentes Angebot an Interpretationsmöglichkeiten. Und schon wegen dieses immensen Reichtums muss man sie unbedingt schützen. Doch anstelle der ästhetischen Auseinandersetzung sagt man jetzt in Manchester: abhängen! Keine Gelegenheit soll mehr sein, sich mit dem Bild, 1896 entstanden, zu beschäftigen, und damit, nicht zuletzt, mit einem provozierenden Blick auf ein Thema der antiken Mythologie.

Soeben erst gab der Direktor des Städel Museums in Frankfurt, Philipp Demandt, zu bedenken: ,,Jeder Mensch hat das Recht, ein Kunstwerk zu mögen oder aber abzulehnen. Aber über all dem steht das Recht, sich eine eigene Meinung zu bilden. Und das kann der Betrachter nicht, wenn man ihm ein Kunstwerk vorenthält." Wie ernst man es in Manchester damit meint, ein Kunstwerk vorzuenthalten, lässt sich daran ersehen, dass auch die Postkarten aus dem Museumsshop entfernt wurden. Sollte es womöglich der nächste Schritt sein, dass die Sittenwächterperspektive nicht nur über die Geschichte von einem jungen Mann, der von nackten Nymphen in den Tod gelockt wird, ein Bilderverbot verhängt, sondern dass die Moralapostelperspektive sich anschickt, die Freiheit der Kunst überhaupt anzufechten? Demandt meinte in diesem Zusammenhang: ,,Erst hängen wir die Bilder ab, dann die Freiheit an den Nagel."

Nicht nur in Manchester wird die Kunst durch einen Akt aus dem Geist eines Neo-Viktorianismus bedrängt, der sich sittlich gibt, tatsächlich jedoch im Namen einer aufgeladenen und an dieser Stelle verqueren Sexismus-Debatte fatal dekorative Vorstellungen von der Kunst entwickelt. Das ästhetische Urteil wird zurückgedrängt. Wenn es so weitergeht, dürfte die Autonomie der Kunst leiden. In Manchester wurde jetzt ein Bild zum Opfer.


Aus: "Die Kunst als Opfer" Christian Thomas (Erstellt: 03.02.2018Aktualisiert: 04.01.2019)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/kunst/kunst-opfer-10977290.html

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Quote[...] Wer die jüngsten Nachrichten aus der Kunstwelt verfolgt hat, mag durchaus der Meinung sein, "dass man um die Kunstfreiheit fürchten muss", wie Hanno Rauterberg kürzlich in der ZEIT schrieb. Die meisten dieser Nachrichten kommen aus New York. Im Frühling veranlasste die Künstlerin Hannah Black einen Protest gegen die Ausstellung des Gemäldes Open Casket (2016) von Dana Schutz während der Whitney-Biennale. Es zeigt die verstümmelte Leiche von Emmett Till, eines schwarzen Jugendlichen, dessen grausamer Mord im Jahr 1955 zur Formierung der Bürgerrechtsbewegung beitrug. Black warf Schutz, einer weißen Malerin, vor, dass sie sich Inhalte afroamerikanischer Kultur zu eigen mache und schwarzes Leid ausbeute.

Im Sommer wurde dann das New Yorker Guggenheim-Museum zum Ziel von Protesten, weil es verschiedene Werke ausstellte, die Grausamkeit gegen Tiere enthalten. In Sun Yuans und Peng Yus Video Dogs That Cannot Touch Each Other (2003) sieht man acht zähnefletschende Pitbulls, die über entgegengesetzte Laufbänder aufeinander zu hetzen und sich zerfetzen wollen. Anfang Dezember schließlich forderte die New Yorker Unternehmerin Mia Merrill das Metropolitan Museum dazu auf, das Gemälde Thérèse Dreaming (1938) des französischen Malers Balthus aus seiner Dauerausstellung zu entfernen oder es zumindest mit einem neuen Begleittext zu versehen. Mehr als 11.000 Menschen unterzeichneten ihre Petition, in der sie behauptet, Balthus' Gemälde objektiviere Frauen und romantisiere die Sexualisierung von Kindern. Die Tatsache, dass das Museum das Gemälde zeige, ohne auf solche Probleme auch nur hinzuweisen, rechtfertige eine solche Sexualisierung, ja verherrliche sie sogar.

Seitdem wurden viele Stimmen laut, die solche Proteste verurteilen und die Museen dafür loben, sich von ihnen nicht beeinflussen zu lassen – oder sie, im Fall des Guggenheims, das die strittigen Hundevideos schließlich doch zurückzog, für ihre Nachgiebigkeit kritisieren. Aufrufen zur Zensur, ganz gleich, woher sie kommen, sollte man immer misstrauisch begegnen. Aber es lohnt sich, zu differenzieren. In den genannten Fällen ist der Ruf nach einer Beschränkung der Kunst nicht Ausdruck von Intoleranz, Hass oder Prüderie. Er wird von Protestierenden erhoben, die das Vermächtnis von Sexismus, Rassismus und andere Formen von Ungerechtigkeit in der Kunst thematisieren wollen. Dass ein solches Vermächtnis besteht, wird kaum jemand bestreiten können. Bisher hat die Kunstszene wenig dafür getan, es aufzuarbeiten oder die ihm zugrunde liegenden Ungerechtigkeiten zu korrigieren.

Genauso misstrauisch sollte man deshalb werden, wenn ein Aufruf zur Entfernung von Kunstwerken, der zugleich mehr Gerechtigkeit in der Kunstwelt einfordert, pauschal beiseite gewischt wird. Besonders gilt das, wenn er nicht aus einer institutionellen Machtposition vorgebracht wurde – von Regierungen, Museen oder einflussreichen Kritikern –, sondern aus der Perspektive der Opfer: In den drei genannten Fällen sind die Protestierenden entweder marginalisierte Gruppen (Frauen oder Nichtweiße) oder sie sprechen für jene, die nicht für sich selbst sprechen können (Tiere).

Mia Merrills Petition gegen Balthus' Gemälde – ein historisches, kein zeitgenössisches Kunstwerk – hat nun eine besonders heftige Reaktion hervorgerufen: "Erspart uns die moralische Hysterie, die ein neues Zeitalter der Zensur ankündigt", schrieb Rachel Cooke im Guardian. Sie kritisiert die Aufgebrachtheit der Protestierenden, doch beim ersten Blick auf ihren Artikel kann man die Überschrift auch genau umgekehrt deuten. Balthus' Gemälde ist nicht zensiert worden, das Metropolitan Museum hat die Petition mit ihren 11.000 Unterschriften rundheraus abgelehnt. Besteht die Hysterie also nicht viel eher in der Behauptung, dass einige wenige Stimmen von Minderheiten, die von Kunstinstitutionen im Großen und Ganzen ignoriert worden sind, im Begriff seien, einen kunstweltlichen Polizeistaat zu errichten? Die Medienreaktion auf Merrills Petition geben mehr Anlass zur Sorge als die vermeintliche Gefährdung des Gemäldes selbst.

Schauen wir uns den Balthus-Fall genauer an: Thérèse Blanchard, ein Lieblingsmodell des 1908 als Balthasar Klossowski geborenen französischen Künstlers, war zwölf oder dreizehn, als das Bild 1938 entstand. In Thérèse Dreaming, wie auch in anderen Gemälden und Fotografien, die Balthus von ihr anfertigte, wird das junge Mädchen als zugleich unschuldig und sexy porträtiert: Ihr Rock ist hochgerutscht, sie lehnt sich zurück, die Augen sind geschlossen und sie bemerkt, wie es scheint, den Streifen weißer Unterwäsche nicht, der zwischen ihren Beinen hervorlugt. Balthus hat bis zu seinem Tod im Jahr 2001 bestritten, dass diese und andere seiner Arbeiten etwas Sexuelles beinhalten. Nur lüsterne Betrachter könnten Derartiges in ihnen sehen, sagte er.

Für die Frage, unter welchen Umständen dieses Bild heute gezeigt werden sollte, sind Balthus' Selbstauskünfte allerdings irrelevant. Und auch die Reaktion der Betrachtenden ist für die heutige Bewertung nicht entscheidend. Zwar spricht Merrill in ihrer Petition von ihrem "Schock" beim Anblick des Gemäldes. Zentral ist für sie aber nicht das Unbehagen des Publikums, sondern die Ausbeutung des abgebildeten Mädchens selbst. Hier liegt der wichtigste Unterschied zwischen ihrer Zensurforderung und den Protesten gegen andere strittige Kunstwerke wie etwa Andres Serranos Fotografie Piss Christ (1987), die ein Plastikkruzifix in einem mit dem Urin des Künstlers gefüllten Glas zeigte, oder Robert Mapplethorpes X Portfolio (1978), in dem der Künstler Sexszenen aus der schwulen Subkultur darstellte. Auch von diesen Werken fühlten sich damals viele Menschen brüskiert. Allerdings kam bei ihrer Herstellung niemand zu Schaden. "Worauf es ankommt, ist, dass wir von einem Künstler sprechen, der sehr junge Mädchen aufforderte, in sein Atelier zu kommen und sich auszuziehen", sagte Merrill in einem Interview mit der New York Times zu ihrem Protest gegen Balthus. "Was macht das mit der Frage nach Einverständnis?"

Die Vehemenz der Reaktionen auf Merrills Petition erklärt sich sicherlich daraus, dass sich ihr Argument auf eine sehr große Zahl von Kunstwerken aus dem westlichen Kanon übertragen ließe. Balthus' pädophiler Blick ist ein Extrembeispiel einer sehr vertrauten Art von Machtmissbrauch: Eine mächtige Person (in diesem Fall ein bekannter Künstler, der wohlhabend und ein Mann ist) verwendet ihre Privilegien dazu, Menschen auszunutzen, die keine Kontrolle darüber haben, wie sie porträtiert werden oder was mit ihrem Körper geschieht. Wie viele von Männern hervorgebrachte Kunstwerke beruhen auf einer solchen Ausbeutung von Frauen? Wie viele Kunstwerke von Weißen zeigen eine solche Ausbeutung von Nichtweißen? Wenn die Antwort auch nicht "die große Mehrheit" lauten mag, so ist es doch sicherlich ein nicht unerheblicher Anteil.

In der Washington Post widerspricht Philip Kennicott dem Vorschlag von Merrill, dass das Met, wenn es das Gemälde nicht aus der öffentlichen Sammlung entfernen will, es doch mit einem neuen Bildtext rekontextualisieren könnte, der die problematischen Aspekte des Werks thematisiert. "Aber selbst das wäre bereits ein Zugeständnis zu viel", schreibt Kennicott: "Nach diesem Maßstab müsste das Museum Hunderte, wenn nicht Tausende von Warnhinweisen anbringen, und das nicht nur für Werke von heterosexuellen Männern mit einem erotischen Interesse an Mädchen." Und wenn wir damit anfangen zu fragen, ob man Balthus' Gemälde heute noch zeigen dürfe, schreibt Jerry Saltz im New York Magazine, dann müssten wir dieselbe Frage auch für Werke von Michelangelo, Carravaggio, Modigliani, Degas und Picasso und vielen anderen großen Künstlern beantworten.

Auch wenn sie es nicht ausdrücklich sagen, nehmen Kennicott, Saltz und viele andere Kritiker an, dass eine solche Hinterfragung des Kunstkanons unverhältnismäßig, gefährlich oder lächerlich, in jedem Fall aber ein schwerwiegender Fehler wäre. Solche Debatten laufen oft aus dem Ruder: Hannah Black wurde in der Kontroverse um Dana Schutz wiederholt mit Hitler oder Stalin verglichen, Jonathan Jones stellte Merrills Petition im Guardian auf eine Stufe mit dem Vorgegehen des Islamischen Staates gegen Kunstwerke.

In einer Sache haben diese Kritiker freilich recht: Was in der Debatte um Thérèse Dreaming infrage steht, ist nicht ein einzelnes Gemälde, sondern unser Verhältnis zum Kunstkanon insgesamt. Doch das Argument, das unweigerlich folgt, dass nämlich eine Neubewertung des Kanons völlig unverhältnismäßig wäre, ist fadenscheinig. Die Forderung an die Kunstwelt, Ausbeutung abzulehnen und sie nicht weiter unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit zu feiern, ist nicht einfach aus der Luft gegriffen. Sie bezieht sich auf eine Unterdrückungsgeschichte, die diese schönen, meisterhaften und wichtigen Kunstwerke begleitet und legitimiert hat und von ihnen im Gegenzug selbst legitimiert wurde. Ist es da wirklich zu viel verlangt, ein paar Bildunterschriften zu ändern? Oder auch ein paar Tausend Bildunterschriften?

Kuratoren steht es frei, eine solche Rekontextualisierung von Gemälden als Lösung der beklagten Probleme abzulehnen. Aber die beklagten Probleme verschwinden dadurch nicht. Wenn sie darauf bestehen wollen, Kunstwerke zu zeigen, die Ausbeutung nicht nur abbilden, sondern selbst auf Ausbeutung beruhen, dann müssen sie auch dafür sorgen, dass ihre Ausstellung die Ausbeutung nicht legitimiert oder normalisiert. Ganz gleich, ob man mit den Zielen der Protestierenden übereinstimmen möchte oder nicht, es ist doch schwer zu leugnen, dass Gewalt, die sich gegen Kunst wendet, im Vergleich zur Gewalt, die Menschen angetan wurde, verblasst.

Widerstand gegen Kunst – sei sie physisch, wie im Fall der konföderierten Denkmäler, die nun in den Südstaaten der USA abgebaut werden, oder intellektuell, wie im Fall der Aufrufe, Werke aus Museen zu entfernen oder sie mit kritischen Begleittexten zu versehen – sollte man nicht verharmlosen. Aber die Forderung, dass wir unser Verhältnis zum westlichen Kunstkanon ändern sollten, ist nicht weniger plausibel als die, dass Monumente des auf Sklaverei beruhenden Südstaatenregimes zerstört werden müssen: Solche Monumente repräsentieren nicht bloß eine vergangene Unterdrückung, ihre Präsenz im öffentlichen Raum legitimiert diese Unterdrückung auch in der Gegenwart.

Indem sich das Metropolitan Museum auf das Argument zurückzieht, Balthus' Gemälde stamme aus einer anderen, vergangenen Zeit, verkennt es eine solche Kontinuität von Geschichte. Das Werk mag aus einer anderen Zeit stammen, aber die sexuelle Ausbeutung, die es glorifiziert, gibt es noch heute. Deshalb verweist Merrills Petition auch auf die #MeToo-Bewegung.

Ein Sprecher des Museums, Kenneth Weine, sagte, dass "Denkmäler wie dieses uns eine Möglichkeit zur Diskussion geben; die bildende Kunst ist eines der bedeutendsten uns zur Verfügung stehenden Mittel, über die Vergangenheit und die Zukunft nachzudenken". Weines Aussage weist eine weitere Unzulänglichkeit auf: die unermüdliche Betonung von "Diskussion" und "Dialog" über strittige Kunst als Selbstzweck. Sie bedeutet nichts anderes, als dass man über Sexismus, Rassismus, Grausamkeit gegen Tiere und andere Formen von Ungerechtigkeit immerzu diskutieren sollte, es aber aber völlig inakzeptabel findet, wirklich etwas gegen sie zu tun. Soll Redefreiheit in Tatenlosigkeit münden?

Nach Hanno Rauterbergs Einschätzung in der ZEIT verkennen Petitionen wie die gegen Thérèse Dreaming das Wesen von Kunstwerken, das darin liegt, Idee und nicht Handlungsanweisung für das wirkliche Leben zu sein. "Diese Unterscheidung aber, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, geht verloren." Einem Betrachter wie Rauterberg, der die Herabsetzung und Entmündigung, die Frauen regelmäßig widerfährt, nie erlebt haben dürfte, kann ein Gemälde wie Thérèse Dreaming tatsächlich wie eine Fiktion, wie etwas rein Theoretisches erscheinen. Aber jene, die sich beim Anblick des Gemäldes mehr mit dem Modell als mit seinem Maler identifizieren, verstehen, dass die bloße Darstellung einer Handlung auch die Verherrlichung der Handlung selbst bedeuten kann.

Die wirklich wichtige Unterscheidungslinie verläuft deshalb nicht zwischen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, sondern vielmehr – wie Ginia Bellafante es in einem der wenigen Artikel formulierte, die der Kontroverse sachlich begegnen – "zwischen Kunst, die Ausbeutung imaginiert oder dokumentiert, und Kunst, die aktiv an Ausbeutung beteiligt ist". Dogs That Cannot Touch Each Other ist keine Darstellung von Grausamkeit – es ist Grausamkeit. Das Video auszustellen, das aus der Performance hervorging, heißt, diesen Missbrauch zu billigen und ihn somit fortzusetzen. Man kann argumentieren, dass auch Thérèse Dreaming ein Dokument der Ausbeutung ist – keiner körperlichen Ausbeutung eines Tieres, sondern der sexuellen Ausbeutung eines Kindes, das zu jung war, um zu verstehen, wozu es aufgefordert wurde, und zu weiblich, als dass seine Einwände, wenn es welche hatte, anerkannt worden wären.

Das Problem all der leidenschaftlichen Plädoyers für die Kunstfreiheit liegt nicht zuletzt darin, dass die Prinzipien, die sie verteidigen, immer nur das Vorrecht weniger Menschen gewesen sind. Nach westlichen Gesetzen steht es Künstlern frei, sich so auszudrücken, wie sie es für richtig halten. Aber was dieser rechtliche Schutz nicht anerkennt und auch nicht ungeschehen machen kann, ist, dass bis vor nicht allzu langer Zeit fast ausschließlich weiße Männer in den Genuss kamen, diesen Schutz überhaupt in Anspruch zu nehmen. Abstrakte Prinzipien nützen wenig, wenn man praktisch daran gehindert wird, sie zu nutzen. Solange Frauen und andere marginalisierte Gruppen keinen gleichberechtigten Zugang zur Kunstwelt haben, bleibt das abstrakte Ideal der Kunstfreiheit ein liberales Trugbild.

"Müssen Frauen nackt sein, um ins Metropolitan Museum zu kommen?", fragten die feministischen Kunstrebellinnen The Guerilla Girls 1989 und stellten fest, dass "weniger als fünf Prozent der Künstler in der Abteilung Moderne Kunst Frauen, aber 85 Prozent der Akte weiblich sind". 2011 aktualisierten sie ihre Statistik: weniger als 4 Prozent Künstlerinnen und immer noch 76 Prozent Akte. "Weniger Künstlerinnen, mehr männliche Nackte. Ist das Fortschritt?", fragten sie. "Wir können unsere Masken wohl noch nicht an den Nagel hängen." Von Frauen geschaffene Kunst erwirtschaftet auch heute noch viel geringere Einnahmen (im Schnitt verdienen Künstlerinnen einer jüngeren Studie zufolge fast 50 Prozent weniger), sie erhält weniger Aufmerksamkeit und nimmt in Museen deutlich weniger Raum ein.

Warum also erregen sich unsere Kunstkritiker so viel mehr über die potenzielle Einschränkung der Kunstfreiheit eines weißen männlichen Malers als über den sehr wirklichen Mangel an Kunstfreiheit, unter dem unzählige marginalisierte Kunstschaffende leiden? Ist die fortgesetzte Abwesenheit von Frauen – nicht nur nach #MeToo, sondern nach Jahrzehnten des feministischen Aktivismus – nicht ein viel skandalöserer Akt des Auschlusses als der von Merrill vorgeschlagene? Wenn diese Kritiker – zufällig überwiegend weiß und männlich – die Kunstfreiheit verteidigen, dann verteidigen sie in Wirklichkeit jenen Status Quo, nach dem diese Freiheit verteilt ist.

Die Welt, in der diese Kritiker zu leben glauben, wäre eine bessere: eine Welt, in der wir Kunstwerke abstrakt und objektiv diskutieren könnten, weil die repressiven Bedingungen ihrer Herstellung und Verteilung sowie die Unterdrückung der in ihr Dargestellten nur noch historische Artefakte sind. Leider lebt niemand von uns dort, und wir übersehen manchmal, dass unsere eigenen Erfahrungen eben nicht universell sind – und dass das, was der einen Person lediglich provokativ erscheint, einer anderen Erniedrigung und Repression ist. Solange die Ausbeutung, die Balthus' Gemälde zugrunde liegt, weiterhin eine alltägliche Wirklichkeit für Frauen ist, wird das Gemälde, all seiner Qualitäten ungeachtet, diese Wirklichkeit bekräftigen.

"Der schützende Rahmen des Museums ist keiner mehr", beklagt Hanno Rauterberg. Indem Museen Einwände wie diejenigen Merrills einfach ignorieren, behandeln sie kreative und intellektuelle Freiheit nicht als Anrecht aller, sondern als Vorrecht weniger. Die Reden von der Kunstfreiheit bleiben das, was sie immer gewesen sind: ein Mythos.



Aus: "Zensur-Debatte: Mythos Kunstfreiheit" Julia Pelta Feldman (2. Januar 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/kunst/2017-12/zensur-debatte-kunstfreiheit-sexismus-metropolitan-balthus/komplettansicht

Quotecollie4711 #3

Bilderstürmer gab es zu jeder Zeit:
Deutsches historisches Museum
Bildersturm und Reformation
http://www.dhm.de/blog/2017/08/08/bildersturm-und-reformation/


QuoteLiberale Stimme #3.1  —  2. Januar 2018, 22:35 Uhr

Bilderstürmerei ist ziemlich lange her - vor der Aufklärung!


Quotecollie4711 #3.5  —  3. Januar 2018, 18:36 Uhr

Vor 75 Jahren hieß es entartete Kunst. Das war nach der Aufklärung.


QuoteMasterBlaster #7

Kunst darf keinen Beschränkungen unterworfen sein. Wer setzt der Zensur, wenn sie einmal verhängt wird Grenzen, wer definiert deren Grenzen? Wer sich an den Inhalten von Kunst stört, kann eine gesellschaftliche Debatte beginnen, um seinen Standpunkt klar zu machen, zu keiner Zeit hat es dazu bessere Möglichkeiten gegeben als heute. Wer aber das Abhängen von Bildern fordert, ist vom Verdammen von Kunst als entartet nicht mehr weit entfernt.


QuoteAnna Kowalska #7.2  —  3. Januar 2018, 0:54 Uhr

"Kunst darf keinen Beschränkungen unterworfen sein."

Aber natürlich. Die Künstler müssen sich, wie alle andere Bürger auch, an die Gesetze des Landes in dem sie leben halten.


Quotemartinez1992 #8  —  2. Januar 2018, 21:12 Uhr

Die Kritiker eröffnen einen Nebenschauplatz. Sie nicht willig die korrupten Strukturen des internationalen Kunsthandels offenzulegen. Oder auch nur die Frage zu beantworten, warum es heute so viele bekannte Künstlerinnen gibt, deren Abeiten bedeutungslos sind.

Als junge emanzipierte Frau halte ich auch die Skulptur 'Frau' von Giacometti aus.

frau kann alles machen. Es sollte nur Qualität haben. Nur ein paar Bilder alla Informel malen oder ein paar Schaufensterpuppen ausstellen reicht gutgebildeten Menschen nicht.
Jetzt wäre wieder der Kunstkritiker gefragt: Warum schaffen es Kunsthistorikerinnen, die massenweise Belangloses ausstellen, immer in die Leitung von Museen?


QuoteDer Unterhörte #11

"Die aber ist ein liberales Trugbild."

Anhand solcher Aussagen sieht man: Der fortgeschrittene Liberalismus ist ein Trugbild. Kunstfreiheit ja, aber nur solange sich niemand beleidigt oder gekränkt fůhlt. Meinungsfreiheit ja aber nicht für "hass" und "hetze". Toleranz ja, Minderheiten kritisieren nein. Und als nächstes kommt wohl "Demokratie" ja, Regierungskritik nein. Der gesamte Liberalismus ist durchzogen von Trugbildern, Fehlinterpretationen auf Basis von Halb- und Unwahrheiten und täuscht auf verschiedene Weise den gesunden rationalen Menschenverstand. Für moderne Liberale ist Zensur absolut kein Problem, solange sie sich in ihrer Echokammer weder gestört noch angegriffen fühlen.


QuoteMehowSri #11.2  —  3. Januar 2018, 1:51 Uhr

Sehr schön auf den Punkt gebracht. Dieses Verhalten nennt man Heuchelei.


QuotePaul Freiburger #11.4  —  3. Januar 2018, 13:32 Uhr

Ich bin ganz klar gegen die von Frau Feldman geäußerte Ansicht und halte so etwas nicht mehr für liberal, sondern für einen Tugendwahn.


QuoteZizi Electrique #12  —  2. Januar 2018, 21:16 Uhr

Allein schon an dem Gedanken die Kunst zu zensieren zeigt sich, wie kleingeistig und unfrei der gesamte Diskurs geworden ist.


QuoteGanzImGlück #12.1  —  2. Januar 2018, 22:47 Uhr

Kunst darf alles (darstellen). Das sei Konsens, dachte ich. Aber es zeigt sich, dass die Moral- und Tugendwächter sich nur schlafend gestellt haben. Früher hieß die Begründung Gotteslästerung, heute ´Objektivierung der Frau´. Gleicher Geist, anderes Etikett.


QuoteTomBuilder #18  —  2. Januar 2018, 21:34 Uhr

Fällt Frau Feldman eigentlich auf, wie epochenabhängig die Kunst-Maßstäbe sind, die sie einfordert? Wer hätte vor 200 Jahren nach freiem Willen, nach Geschlechterproporz, nach Beachtung von Rassenschranken gefragt, wenn er/sie ein Kunstwerk betrachtet hat?

Welche Maßstäbe werden wir in 100 Jahren anlegen? Die klimaneutrale Herstellung des Bildes? Die nachgewiesen nicht-ausbeutende Quelle der Farben? Die Erstellung des Bildes passend zum Geschlechter- und Hautfarben-Proporz?

Ob jemandem Kunst gefällt, ob er sie gut findet, das darf jeder selbst entscheiden (bisher).

Wenn die großen Museen nur noch Werke erwerben, erhalten und ausstellen, die keine nennenswerte Kritik hervorrufen, dann werden die Magazine in 100 Jahren leer-bereinigt sein. Kritik rufen die leeren Magazine dann nicht mehr hervor, alles politisch korrekt und kantenlos.


Quoteintegrity #20  —  2. Januar 2018, 21:38 Uhr

In der Tat ist und was die Freiheit der Kunst ein Mythos - allerdings nur in dem Sinne, dass Kunst zu keiner Zeit in einem kontextfreien Raum entsteht/enstanden ist: Kunst existiert niemals nur für sich selbst, sondern ist immer in gesellschaftliche Prozesse und Zustände eingebunden.

Wenn wir also über Kunst ernsthaft diskutieren wollen, dann eben nicht zuerst in dem Sinne, ob und was diesem oder jenem (dieser oder jener) gefällt oder auch missfällt, sondern zunächst einmal, ob wir den Begriff FREIHEIT (innerhalb der Kunst) weiterhin hochhalten wollen - oder eben nicht.

Ich jedenfalls bin unbedingt dafür, weil es ansonsten KEINEN RAUM mehr für einen ebenso unentbehrlichen Begriff geben kann, der ebenfalls BISLANG zum Kanon der Modernen Kunst gehört: WAHRHEIT.

Wahrheit ist innerhalb der Kunst ein Begriff, der selbstverständlich auch die Irrtümer und Idiotien von Kunstwerken mit einschließt. Als FORMTAT ist Kunst in ALLEN Äußerungen darum für alle jene unverzichtbar, die das Leben UNGEFILTERT und AUTHENTISCH übersetzt wissen wollen. Denn: Orientierung hat NUR, wer seine Ideologien ÜBERWINDETund bereit ist, das ANDERE / DEN Anderen wahrzunehmen. HYSTERIE HILFT EDENFALLS NIEMANDEM WEITER - KUNST BIETET UNS DIE CHANCE ZUR BEWUSSTSEINSERWEITERUNG....und das sollten wir uns nicht nehmen lassen.


QuoteKlappeDie27ste #24  —  2. Januar 2018, 21:46 Uhr

Die Kunst wird wahrscheinlich nur überleben, wenn sie in den Untergrund geht, ins Darknet, wo sie sich dem Zugriff hypermoralisierender Bilderstürmerinnen entziehen kann.


Quotegender #37  —  2. Januar 2018, 22:14 Uhr

Sind die Besucher von Museen (nicht nur männliche natürlich) nicht in der Lage selber zu urteilen? Glauben wirklich immer noch genderbesorgte Pädagoginnen, dass es besonderer Aufklärung durch sie bedarf, damit das dumme Volk die Bilder der Welt aushält, ohne zum Rassisten, zum Antifeministen oder zu was eigentlich zu werden? Fallen sie doch mal über den "Dreck" im Fernsehen her, da werden wieder alte Nazifilme gezeigt, ewige Wiederholungen von Bondfilmen, als ob die nicht sexistisch sind, anstatt in so einer Art eine Kunstdebatte lostreten zu wollen, die unter dem Deckmantel man muss ja mal die Frage stellen, ob diese Bilder/Installationen etc. gezeigt werden dürfen anscheinend so objektiv ist. Abenteuerlich ist doch viel mehr ebenso wie bedenklich, undemokratisch und zutiefst autoritär die Frage nach der Legitimation von Bevormundung, Gängelung unter dem Verdikt von Bedenken. Mir graust vor dieser Debatte, weil sie keine ist, weil sie niemand braucht und weil es Zeit wird, dass sie mal die Frage stellen, ob der ungeübte Museumsbesucher wirklich erzogen und bevormundet werden muss, vielleicht ja auch der Theaterbesucher, der Opern- und Konzertbesucher, über die Bücher haben sich die Moralapostel ja schon vor Jahren hergemacht, deswegen wird jetzt in einem Deutsch geschrieben - mir graust davor!!! um es mit Goethe, auch gendermäßig nicht sauber, zu sagen!


QuoteMMMMCCCCMMMMCCCC #39  —  2. Januar 2018, 22:19 Uhr


Wer nicht verstehen will, dass es früher andere Paradigmen und gesellschaftlichen Normen gab und es so unglaublich schrecklich ist diese anzusehen (trigger warning) dem ist ein einem Kunstgeschichtsmuseum einfach nicht mehr zu helfen. ...


QuoteAmicus philosophiae #44  —  2. Januar 2018, 22:33 Uhr

Wer will, findet in ziemlich vielen Kunstwerken der Vergangenheit Darstellungen, die es so nicht gäbe, wäre es in jenen Zeiten (nach heutigen Maßstäben) politisch korrekt zugegangen, ganz zu schweigen davon, daß es manche Kunstwerke dann insgesamt nicht gäbe. Da müßten wir nicht erst bei Michelangelo anfangen, der von einer Institution bezahlt wurde, von deren Praktiken sich sogar ihre heutigen Vertreter distanzieren, und auch nicht bei Mozart aufhören.

Alleine heute mehrere, von mit Gutmenschlichkeit getarnter Illiberalität und hanebüchenen ,,Argumenten" nur so strotzenden Artikeln. Nur weil in den USA kleine Kinder nicht mehr nackt im häuslichen Hof herumtollen dürfen, muß man dies nicht auch für Deutschland übernehmen. Und nur weil man heute (zu Recht) keine Posingbilder von Kindern ins Museum oder Internet stellen würde, muß Thérèse 1938 nicht ,,ausgebeutet" worden sein. Andere Länder, andere Zeiten, andere Sitten, anderes Empfinden.

Mein guter Vorsatz für dieses Jahr: Weniger Zeit für die ,,ZEIT" und mehr für Kunst, Literatur und Wissenschaft.


QuoteGrandCru #46  —  2. Januar 2018, 22:47 Uhr

Die neue "Kanon"-Debatte ist spannend, weil fraglos berechtigt. Aber sie müsste innerhalb von Kunst und von Ausstellungen selbst reflektiert werden. Das Tor für Verbotsforderungen sollte man nicht aufmachen. Voriges Jahr in Leipzig empfanden Leute 3 senkrecht aufgestellte Busse als "Schande" und "Kacke".
Balthus ist schon lange im Fokus. 2013: "He also had an inordinate fixation on girls who'd just hit puberty. 'Little girls are the only creatures today who can be little Poussins,' Balthus said late in life, ... The Met, not imprudently, has put a plaque at the start of the show that reads: 'Some of the paintings in this exhibition may be disturbing to some visitors.'"
Ich meine, die Debatte sollte tiefer und dialektischer ins Werk gehen. Mir fällt bei Balthus z.B. seine generelle Vorliebe für überspannt konstruierte, verrenkte schmächtige Körper auf, auch bei Männerdarstellungen. Da muss schon etwas mehr Bildbetrachtung her, auch Historie (Lucas Cranach's Venus abhängen?). Das ist doch alles Reflexionsmaterial, anhand dessen sich Männer, Frauen und KunstkrtikerInnen (!) selbst über ihren gelenkten Blick auf Kunst aufklären können. Besser als Zensur sind Kontraste aus Gegenbildern, z.B. nicht auf Sexiness fixierte Darstellungen von Frauen in der Kunstgeschichte. Aber das Kunstgeschichte auch Herschaftsgeschichte ist, wusste schon Benjamin, ist natürlich bitter und bedarf der Bearbeitung.


QuoteTrueUp #48  —  2. Januar 2018, 22:53 Uhr

Ich verstehe den Punkt des Autors, eine berechtigte Fragestellung.

Jedoch - Otto Dix hatte einmal sinngemäß gesagt.

"Ich male das, was ich sehe"

Lassen wir es die Künstler doch weiter so halten.
Es gibt Dinge, die uns nicht gefallen. Dennoch existiert das Böse.

Alleine, wer soll bestimmen was
gemalt werden darf und was nicht?

Deshalb bin ich gegen Zensur. Ich würde eher auf Begleittexte setzen.


QuoteGladiola #53  —  2. Januar 2018, 23:06 Uhr

Der nächste logische Schritt wäre es, eine Bundeskulturkammer einzurichten, die rassistische, sexistische und sonstige entartete Kunst aus der Öffentlichkeit entfernt und den Künstlern Berufsverbot erteilt.


QuoteFrank-Werner #53.1  —  2. Januar 2018, 23:13 Uhr

Gibt es - in abgeschwächter Form - schon: nennt sich BPJM (Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien).
Wird ein Film oder Spiel indiziert, so hat dies wegen des defacto Vertriebsverbots das kommerzielle Aus zu Folge.
Weshalb an zahlreichen Filmen und Spielen vor der Veröffentlichung in Deutschland das Zensurmesser angesetzt wird. Dabei herauskommen dann Filme, welche trotz ihrer Freigabe "ab 18" zensiert sind.


QuoteChetemti-biti #54  —  2. Januar 2018, 23:07 Uhr

Es ist ein Hohn, im 21. Jahrhundert eine derartig hanebüchene Rechtfertigung von Zensur und Index lesen zu müssen.

Müssen wirklich alle Gefechte für die Freiheit immer wieder neu geführt werden? Werden die alten Religionen und Priesterschaften nur immer durch neue Organistionen in neuen Gewändern, aber im ewig alten Geist ersetzt? ...


QuoteR.Müller #58  —  2. Januar 2018, 23:19 Uhr

Wenn etwas zensiert werden soll, nur weil es sexistisch, rassistisch oder gewaltverherrlichend ist, dann müssten zu allerest Bibel und Koran verboten werden. Dagegen ist Balthus doch völlig harmlos. Warum also gerade bei ihm anfangen?


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Textaris(txt*bot)

Adbusting - Mit Geheimdienst, Polizei und Terrorabwehrzentrum gegen ein paar veränderte Plakate
Staatliche Behörden kriminalisieren zunehmend die Kunstform des Adbustings. Geheimdienste und Polizei stellen der Aktionskunst nach, sogar das Terrorabwehrzentrum befasste sich mit den Kommunikationsguerilleros. Verfassungsrechtlern geht der Eifer der Behörden zu weit.
20.06.2020 um 16:37 Uhr - Markus Reuter - in Kultur
Quotehttps://netzpolitik.org/2020/mit-geheimdienst-polizei-und-terrorabwehrzentrum-gegen-ein-paar-veraenderte-plakate/

QuoteN.N. sagt:
22. Juni 2020 um 13:31 Uhr

Was für ein unendlich kaputtes Wertesysten. Außenwerbung hat ein Ausmaß und eine Penetranz angenommen, bei dem ich wirklich Probleme habe, noch vor die Tür zu gehen.

Menschen gegen ihren Willen tagein, tagaus zum Zweck der Konsumsteigerung und Propaganda mit einem System von Werbeglotzen das Hirn zu vandalisieren wird aber offenbar nicht als problematisch angesehen, obwohl es sich eigentlich klar um Nötigung handelt und das Konzept des öffentlichen Raumes zu einer Lachnummer verkommt.

Ein Gegendarstellungsrecht für diese verlogene Form der Einweg-Kommunikation ist auch nicht vorgesehen und gleichzeitig werden diejenigen verfolgt, die dem Werbeterror und seinen Lügen kreativ etwas entgegensetzen. ...


QuoteSam sagt: 21. Juni 2020 um 15:46 Uhr

Das ist so krank das einem die Worte fehlen. Verhältnismäßig ist da garnichts. Wenn Kritik kriminalisiert wird, und Trojaner Staatlich werden, ...


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"Bundesverfassungsgericht pfeift Polizei zurück: Hausdurchsuchung wegen Adbusting illegal" (25.12.2023)
Großer Erfolg für Politische Plakatkünstler*innen: Wer Bundeswehrwerbung öffentlich umgestaltet, darf deswegen noch lange keine Hausdurchsuchung kassieren, so beschloss heute das Bundesverfassungsgericht (Aktenzeichen 2 BvR 1749/20). Das Gericht erklärte die vom LKA Berlin 2019 wegen antimilitaristisch verbesserter Bundeswehrwerbung durchgeführten Hausdurchsuchungen für illegal. Die Berliner Polizei begründete die Hausdurchsuchungen bei Adbusting-Aktivist*in Frida Henkel und ihrer Freundin damit, dass die Bundeswehr durch politisch veränderte Werbung (Adbusting) "gar lächerlich" gemacht werde. Dieses Vorgehen enstpreche "nicht dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit", so das Bundesverfassungsgericht: "Die Anordnung der Durchsuchung war unangemessen, da die Schwere des Eingriffs außer Verhältnis zu dem mit ihm verfolgten Zweck steht".  Adbuster*innen können sich über diese Entscheidung freuen, denn überzogene Repressionen bei Staatskritik stellten keine Seltenheit dar. ,,Dass Karlsruhe überhaupt darüber entscheiden musste, ob man wegen bundeswehrkritischen Postern Hausdurchsuchungen machen darf ist ein Skandal! Das zeigt bereits, das Kritik an Polizei und Bundeswehr dringend nötig ist!" sagt Frida. ...
https://de.indymedia.org/node/328508


"Unbequemes Adbusting ist grundrechtlich geschützt" (06 June 2020)
Als Adbusting werden Aktionsformen bezeichnet, die Werbeplakate durch satirisch-politische Botschaften ersetzen. Statt der Hochglanzreklame prangt dann an den Werbeträgern flugs eine politische Message à la ,,Nazis essen heimlich Falafel" oder ,,Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm, beim Nazi ist es andersrum". Mit diesem Busting von Ad-vertisment werden politische Anliegen verfolgt
https://verfassungsblog.de/adbusting-unbequem-aber-grundrechtlich-geschuetzt/

"Repressionen gegen Adbusting: Unzulässige Hausdurchsuchung" Christian Rath (21.12.2023)
Berliner Studentin hat Erfolg beim Bundesverfassungsgericht. Karlsruhe rüffelt bei der Gelegenheit das Amtsgericht Tiergarten.
https://taz.de/Repressionen-gegen-Adbusting/!5977965/

https://plakativ.blackblogs.org/2023/12/20/adusting-verfassungsgericht-entscheidet-ueber-durchsuchung/

Im Jahr 2019 veröffentlichte das Dokumentations-Kollektiv Berlin Busters Social Club (BBSC) das Buch ,,Unerhört! Adbusting gegen die Gesamtscheiße" im Selbstverlag. Damals gaben ein paar Mitglieder ein Exklusivinterview mit Reporterlegende  und Spiegel-Edelfeder Claas Relotios. Das haben wir hier archiviert, weil es sehr gut das Selbstverständnis des BBSC wiedergibt.
Anlässlich der Neuerscheinung von ,,Unerhört! Adbusting gegen die Gesamtscheiße" im Unrast Verlag 2020 haben Boris Buster und Adbustian Bustefka erneut ein Interview mit Einblicken in ihre Arbeit gegeben. Sie berichten, was sie im vergangenen Jahr erlebt haben und warum ihrer Meinung 2018 das Goldene Jahr des Adbustings war. ...
https://bbsc.blackblogs.org/ | https://bbsc.blackblogs.org/interview-relotius/

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