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[Momentaufnahme... ]

Started by Thomasio, October 10, 2007, 07:36:02 PM

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Thomasio

 

  Meine Füße brennen vom Herumstehen und dem dauernden auf dem Beine sein. Wir müssen warten, bis der nächste Wagen geschoben wird. Da man nicht beim Nichtstun `erwischt` werden darf, mache ich sinnlose  Alibibewegungen, halte meinen Zollstock quer über die Wand, nimm den Akkuschrauber zur Hand, wenn ein Vorarbeiter (durch die rote Arbeitsjacke erkennbar) auftaucht, oder bohre mir so tief in der Nase, dass es ausseht, als müsste ich meinen nächsten Arbeitsschritt ganz genau überlegen. Olli geht es ähnlich. Mit den Daumen hinter den Hosenträgern seines Blaumannes blickt er genervt zur Uhr, von der wir annehmen, dass sie alle halbe Stunde zurück gedreht wird, und entlässt einen dieser tiefen Seufzer, in der die Kraft einer möglichen Revolution stecken könnte. Immer mehr Kollegen kommen in den Wagen, lehnen sich an die Wand, verstecken sich, blicken auf die Uhr, warten auf die nächste Schiebung. Wir machen seit Monaten dieselbe Arbeit und werden durch die Hypnose der ewiggleichen Routine langsam blöde. Bei einigen Gesichtern kann man den durch den Rhythmus (halb fünf aufstehen, sechs Uhr Arbeitsbeginn, zwei Stunden Autofahrt täglich, Überstunden, teilweise Samstagsarbeit, Fließbandarbeit, Stress durch Zeitdruck, trockene und staubige Luft...) entstehenden Frust einen äußerlichen Zerfall erkennen; blasse Haut, tiefe Augenringe, Falten, trüber Blick, ein müder, sich dahin schleppender Gang.
  Ich blicke aus dem Fenster und schweife durch die riesige Halle, in der über zweihundert Arbeiter wie Ameisen herum wühlen. Die Atmosphäre aus industrieller Massenanfertigung und menschlicher Unvollkommenheit mündet in dem Radio Nora – Dauerhit `The Wall` von Pink Floyd. Währenddessen macht ein verirrter Sonnenstrahl, der seinen Weg durch die geöffneten Dachluken findet, den tanzenden Gfk – Staub sichtbar. Unzählige kleine Glasfaserpartikelchen tanzen krebserregend durch die Luft und setzen sich in der Lunge fest.   
  In der Mitte des Wagens ragt ein Heizungsrohr aus dem Boden. Aus Spaß nehme ich einen zusammen gerollten Wasserschlauch in die Hand und werfe ihn quer durch den Wagen um das Heizungsrohr. Es erinnert an Hufeisenwerfen. Olli ist der Nächste. Er trifft drei von vier. Iwan aus Russland trifft alle hintereinander. Christian trifft nur einen. Das Spiel weckt plötzliches Leben und wir verwandeln uns zu Kindern, die in ihrem Eingesperrtsein ein neues Spiel ausprobieren. In der zweiten Disziplin muss man mit dem Gummihammer einen schwarzen, auf dem Boden liegenden Möbeleckverbinder in Kricketmanier durch einen als Tor geformten Gummischlauch schießen. Eine weitere Schwierigkeitsstufe besteht darin, den Möbeleckverbinder über Bande einzulochen, und wer das geschafft hatte, musste das Toronto – Ahorn – Dekorklebeband durch die offene Dachluke des Wohnmobils direkt in den Bugschrank treffen. Wer alle Disziplinen schaffte, musste mit seinem Zollstock innerhalb von einer Minute vier verschiedene Formen und Figuren basteln. In der Kategorie `Genialer Moment` gewann Iwan, der aus seinem Zollstock eine Grillzange zauberte.
  Als unser Vorarbeiter seinen Kopf durch die Tür steckt, blicken wir ihn in schuldiger Bedrücktheit an. Er wird rot im Gesicht, sucht mit bewegten Lippen nach den richtigen Worten, schüttelt vorerst nur den Kopf, zuckt selber zusammen, als die in die Magengrube gehende Klingel die Mittagspause ankündigt, und zögert zwischen `Müssen` und  `Nichtkönnen`, dreht sich schließlich um und geht, weiß nicht, was er denken soll über diese seltsame Olympiade, die uns für ein paar Minuten eine kleine Flucht schenkte.


Thomasio

#1
Der Kaffeeautomat ist kaputt. Trotzdem versucht jeder sein Glück und wirft sein passendes Kleingeld in den Münzschlitz, in der Hoffnung, dass der Automat vielleicht bei ihm eine Ausnahme macht. Während die ersten enttäuscht abziehen und sich in den Raucherbereich verdrücken, um ihre Zigarette trocken zu rauchen, zieht Stefan den Stecker, lacht triumphierend und schließt den Automaten wieder ans Netz an. Die `Klix` - Becher aus Plastik füllen sich wieder mit wässrigem Kaffee. Auf Plastikhockern lassen wir uns im Halbkreis vor dem Haupttor nieder. Der kalte Wind fegt uns um die Ohren und jagt den geschlossenen Teppich aus grauen Wolken über den Oktoberhimmel. Es ist so windig, dass die Zigaretten sich von alleine rauchen. Die ersten selbst geschmierten Butterbrote werden aus den Tupperbehältern herausgeholt und stumm in die zermalmenden Kiefer gedrückt. Wir haben fünfzehn Minuten Zeit, unsere Grundbedürfnisse zu stillen. Währenddessen fährt ein LKW nach dem anderen durch die Einfahrt und bringt das Material für die nächsten Tage. In der Halle selbst sitzen die Vorarbeiter mit der Chefetage im `Aquarium` (ein Glaskasten in der Mitte der Halle) und beraten darüber, wie es weiter gehen soll. Wir sind zu langsam und schaffen das vorgegebene Pensum nicht. Hundert Meter über das Gelände fliegt ein schwergewichtiges Bundeswehrflugzeug und erweckt den Eindruck, jeden Moment stehen zu bleiben, so langsam bewegt es sich über unsere Köpfe hinweg. Wir rauchen und schweigen. Ab und zu unterbricht ein mit Erkältungsschleim besetztes Husten die Stille. Die Gesichter sehen aus, als wäre gerade jemand gestorben. Aus dem Haupttor des Wohnwagenwerkes bringt inzwischen alle paar Minuten ein Traktor einen neuen, fabrikfrischen Wohnwagen heraus und stellt ihn zu den Unzähligen, die das offene Gelände füllen. Schnaufende Autotransporter laden sie sogleich auf und verschwinden auf die Autobahn. Jemand blickt auf die Uhr. Es ist so weit. Wortlos stehen wir auf und gehen wieder in die Fabrik.


Thomasio

#2
  Thorsten schraubt seit Jahren die Heckleiste an. Beim Fräsen schützt er sich vor dem Gfk – Staub mit seiner ABC – Maske, die noch aus seiner Bundeswehrzeit stammt. Er ist knapp zwei Meter groß und ist vor kurzem 43 geworden. In der Mittagspause kann man ihn auf seiner Trittleiter sitzen sehen, auf der er seine Mettbrötchen verschlingt und seine Computerzeitschriften und Waffenmagazine studiert. Einmal hat er seinen Kollegen ein paar Exemplare aus seiner Waffensammlung gezeigt und stolz herum gereicht. Er hat eine unglaublich laute Stimme, die, wenn er in Begeisterung oder in Rage gerät, selbst das schreckliche Kreischen der Oberfräse übertönt. Beim Einspritzen der Acrylmasse nimmt sein Gesicht ein Ausdruck von konzentrierter Anspannung an, und wenn er auf dem Boden liegt und die Schürze unter dem Wagen anschraubt, bekommt sein lächelndes Schweißperlengesicht eine beinahe embryonale Heiterkeit.
  Er hat ein starkes Mitteilungsbedürfnis, doch seine Themen kreisen ausschließlich um die Faszination von Handwerk und Waffen. Aufgrund seiner kindlichen und unerfahrenen Art wird er selten ernst genommen. Einige seiner Kollegen ziehen ihn gerne auf, und er lacht dabei, vergnügt über die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, ohne zu begreifen, dass sich alle über ihn lustig machen.
  Durch die zwangsläufige Hektik und Arbeitsbedingte Kettenreaktion eines Fließbandes kommt es unweigerlich zu Stauungen an den Positionen, an dem jeder um seinen Platz kämpft. Die Wagen werden regelmäßig zu einer bestimmten Zeit weiter geschoben. Bevor sie geschoben werden, wird lautstark `Wagen vor` gerufen, damit alle Bescheid wissen. Doch an Tagen, wo die Stückzahl der zu schiebenden Wagen erhöht wird und der Kampf gegen die Zeit den Leuten zu schaffen macht, wird ein Wagen auch einfach mal weiter geschoben, ohne Bescheid zu sagen. Thorsten, der mitunter unter dem Wagen liegt, wird dabei oft übersehen (einmal ist er sogar  unter dem Wagen auf seinem Rollbrett eingeschlafen). Dann kippt sein stilles Wesen augenblicklich in eine rasende Verletztheit über und er schlägt verbal um sich, wirft sein Werkzeug auf den Boden und verkriecht sich dann in seine geladene Einzelgängerrolle. Jeder grinst in sich hinein. Er wird nicht wirklich ernst genommen. Er ist das dicke Riesenbaby.         
  In einem kurzen Wortwechsel mit einem Kollegen hat er einmal erzählt, dass er noch zu Hause bei seinen Eltern wohnt.
  ,,Wie uncool!" lautete die Reaktion und seit diesem Tag wurde er von allen Kollegen nur noch Uncool genannt.
   Eines Tages kam er nicht zur Arbeit, ohne sich abzumelden. Am zweiten Tag hörte man immer noch nichts von ihm. Am dritten Tag rief sein Vater an und sagte dem Vorarbeiter, dass sein Sohn verschwunden sei. Nach fünf Tagen gaben sie eine polizeiliche Suchmeldung heraus. Zwei Wochen vergingen, ohne dass man von ihm hörte. Unter den Arbeitskollegen scherzte man bisweilen mit einer Art Wette, an welchem Tag er wohl in die Halle marschieren und den ganzen Laden zusammen schießen würde... 
  Nach drei Wochen rief Thorsten bei seinen Eltern an und sagte ihnen, dass er eine Auszeit bräuchte. Auf die Frage, wo er sei, schwieg er. Nachdem sich die neuesten Informationen herum gesprochen hatten, beschrifteten seine Kollegen von der Dach und Wand – Abteilung ein großes Transparent, welches sie auf dem Gerüst anbrachten. Darauf stand;
  ,,Auszeit! Wie uncool!"

Thomasio

#3
  Er wird ausschließlich `der Alte` genannt, aber nicht abwertend, sondern ehrfürchtig, und man spricht nicht nur von einer bedeutsamen Person, sondern von einer Instanz. Sein Wort bedeutet Macht. Wenn seine Erscheinung für einen Rundgang angekündigt wird, geht eine hysterische Aufgeregtheit durch die Gesichter. Anscheinend kannte ihn schon jeder. Ich hingegen hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
  Eines Tages lief ich, wie immer mit meiner Müdigkeit kämpfend, zur Toilette, als ich ihn schließlich das erste Mal zur Gesicht bekam. Ich trat gerade aus der Hallentür hinaus und wich rechtzeitig dem ausufernden Wischmob aus, der von der Putzfrau in gleichmäßigen Bewegungen rund um den Kaffeeautomaten geschwungen wurde, als ein älterer Mann in raschen Schritten um die Ecke bog. Ich erkannte ihn erst im letzten Moment, und das auch nur deshalb, weil sein großes Porträt in der Kantine hängt, unter dessen wohlwollend lächelndem Antlitz die erschöpften Arbeiter ihren Minutenschlaf auskosten. Er trug einen schwarzen, maßgeschneiderten Anzug und hatte weißes, gepflegtes Haar. Das kraftstrotzende und von lebenslanger Arbeit geprägte Gesicht spannte sich in einem Ausdruck energischer Entschlossenheit und sein rüstiger Körper bewegte sich in schnellen, abgehakten Bewegungen. Das Aufeinandertreffen dieser drei Personen (der Firmeninhaber, die Putzfrau und ich als Leiharbeiter) kreuzte sich auf engstem Raum und dauerte nicht länger als ein paar Sekunden, doch in diesen Sekunden offenbarte sich das strenge Machtgefälle.   
  ,,Mahlzeit." sagte er kurz und bündig in schneidender Stimme, mehr der Anstandshalber, und flitzte mit gequältem Blick zwischen uns Beiden durch und hinterließ auf den frisch gefeudelten Fliesen die Abdrücke seiner teuren Lederschuhe.
  ,,Guten Tag Herr...." erwiderte die Putzfrau mit angehaltenem Atem, hörte sofort auf zu wischen, und machte einen Knicks, mehr aus Reflex als aus einer bewussten Entscheidung heraus. Dabei senkte sie ihren Kopf demutsvoll zu Boden, als befürchte sie, für ihre Arbeit bestraft zu werden. Ihre freiwillige Demutsgeste erstarrte einen Moment lang in dem Windhauch seiner mächtigen Erscheinung und legte ihre nackte Angst um den Arbeitsplatz frei. Sein bloßes Auftreten als ein in Gedanken versunkener Firmenchef hatte die von ihm wahrscheinlich in diesem Moment unbeabsichtigte, aber bestimmt auch schmeichelnde Wirkung, dass die in der Firmenhierarchie ganz unten stehende Putzfrau sich selbst mit einem Knicks zu einer unterwürfigen Arbeitskraft machte.     



Thomasio

#4
Wenn die große, über den Ausgang angebrachte Uhr auf den erlösenden Feierabend zuschreitet, beginnt der Kampf um die letzten Minuten. Man darf auf keinen Fall zu früh mit dem Arbeiten aufhören, andererseits soll man aber rechtzeitig das Werkzeug einpacken, um die letzten Minuten mit dem Fegen zu verbringen. Kurz vor halb vier strömen die Rotjacken (die Vorarbeiter) aus, um das Saubermachen zu überwachen, da sich einige Leute gerne vor dem Fegen verdrücken und sich in den Wagen verstecken. Die Luft in diesen letzten Minuten ist so stickig und staubig, dass man manchmal Atembeschwerden bekommt. Bloß nicht herum stehen, bloß nicht dabei gesehen werden. Noch sind es fünf Minuten. Wer jetzt schon seine Jacke anzieht, wird angemacht. Das Werkzeug wird verstaut, die Schränke werden abgeschlossen. Die Stimmung löst sich, das Scherzen und Lachen wird wieder lauter. Der Vorarbeiter der Tischler stellt sich breitbeinig am Ende des Ganges auf und streckt seinen Giraffenhals aus, um etwaige Bewegungen zwischen den Hobelbänken und Regalen auszumachen. Drei Minuten vor. Die ersten Arbeiter ziehen sich an, schleichen zwischen den Wagen und Mittelgängen zu den besten Ausgangspositionen. Fünfhundert Leute teilen sich drei Stempeluhren. Gleich geht das Rennen los. Wer ist als Erstes an der Uhr, wer erreicht als Erstes sein Auto? In den nächsten Minuten werden aus allen Hallen über tausend Arbeiter zu den Parkplätzen hetzen und die Straßen verstopfen. Jeder will so schnell wie möglich nach Hause kommen. Der Vorarbeiter registriert ganz genau, wer zu früh los läuft, wer andere mitreißt oder nicht aufgeräumt hat. Er hat das Talent, einen lange und eindringlich anzusehen, als ob er einen mit seinem Blick das Gewissen erschweren wollte. Der Hallenmeister verfolgt die Szene kopfschüttelnd aus dem Aquarium heraus. Grinsend und feixend schleichen wir auf den Mittelgang zu. Noch zwei Minuten. Wer jetzt schon los läuft, fällt auf. Es ist wie im Kindergarten. Alle starren auf die Uhr, verfolgen den Sekundenzeiger. Es sind die längsten Minuten des Tages. Immer wieder machen die Mutigsten erste zögernde Schritte auf den Gang hinaus und blicken um sich, um zu sehen, ob sie die Kollegen mitreißen. Endlich stampft die erste Truppe von hinten heran und löst das kollektive Zögern auf. 
  ,,Ja, jetzt könnt ihr auf einmal Gas geben!" ruft der Vorarbeiter in halb scherzender Anklage und stemmt die Hände in die Hüften. ,,Wenn ihr das bloß mal den ganzen Tag machen würdet..."
  Lachend und sorglos ziehen wir an ihm vorbei, lassen ihn alleine in der Halle zurück. Wir sind nicht mehr zu halten. Im Nu bilden sich die langen Schlangen an den Stempeluhren, an dem das jeweilige Arbeitszeitkonto angezeigt wird. Einige haben über Hundertsechzig Überstunden. Die zweite Hürde führt durch den engen Ausgangsbereich, wo die Kaffeeautomaten stehen. Doch heute staut sich die Menge aus unerklärlichen Gründen. Es geht nicht vorwärts. Keiner weiß warum. Wir drängen uns wie nervöse, Gewahr witternde Tiere auf dem Flur zusammen. Gedrängel entsteht, einige reagieren gereizt, andere ertragen die Situation gelassen und abwartend, als seien sie schon Schlimmeres gewohnt. Schließlich erblicken die Längsten unter uns den Grund des Staus. Am Eingang stehen zwei Sicherheitsbeamte und kontrollieren die Taschen. Jeder Einzelne muss seinen Rucksack öffnen. Etwas dahinter steht jemand aus der Chefetage mit verschränkten Armen und beobachtet das Geschehen. Auf seinem Gesicht zeigt sich ein seltsames Lächeln, als freue er sich in kindischer Vorfreude darauf, wen sie gleich erwischen werden. Im Getuschel der Leute vernehme ich, dass in den letzten Wochen wiederholt Werkzeuge und Material mitgenommen wurde. Einige Leute scheren aus der Reihe aus und wollen zurück laufen, werden aber von den bereit stehenden Vorarbeitern abgefangen und zur Rede gestellt. Vor mir wirft einer rechtzeitig eine Packung Schrauben zwischen die Kaffeeautomaten und öffnet grinsend den Rucksack. Zwei Leute verschwinden auf Toilette und versuchen mitgenommene Wasserschläuche hinunter zu spülen. Ich öffne meinen Rucksack und lasse den grimmigen Blick des älteren Sicherheitsbeamten in die Tiefe tauchen. Aber dort findet er nichts außer meinen nicht angerührten `Sahne – Kefir – Joghurt`. Ich muss grinsen. Auf dem Joghurtdeckel steht der wichtige Hinweis; `natürliche Deckelwölbung.` Aber damit kann er nichts anfangen.
  Endlich Feierabend in Deutschland. 

Thomasio

#5
Seltsam, dass es mir bisher noch nie aufgefallen ist. Auf dem besagten Kaffeeautomaten steht folgender Spruch; `Harter Tag? Unser Alltag wird immer hektischer. Da ist es wichtig, auch mal Pausen zu machen. Also gönnen Sie sich ihr Lieblingsgetränk und genießen sie den Augenblick.`

Thomasio

#6
  Wenn E. in der Halle erscheint, geht ein ängstliches Zucken durch die Gesichter. Man warnt die Kollegen, nickt in seine Richtung, zuckt die Augenbrauchen oder flüstert seine Anwesenheit weiter. Seine hoch gewachsene und körpermächtige Gestalt von preußischer Natur, dazu sein ernstes, von äußerlicher Unantastbarkeit verhülltes Gesicht, die blank polierte Glatze und ein eiskalter Blick, durch den die ihm innewohnende Macht aufgrund seiner Position allgegenwärtig zu spüren ist, erzeugt jedes Mal dieselbe Art von duckmäuserischer Reaktion. Für viele gibt es anscheinend nichts Schlimmeres, als von ihm beim so genannten, kurzfristigen Nichtstun `erwischt` zu werden, das heißt in Momenten, in denen man keine offensichtliche Arbeitsbewegung macht. Dabei ist es manchmal unumgänglich, dass man einige Minuten warten muss, sei es, weil die Schränke noch nicht fertig sind, oder der Wagen noch nicht frei ist. Gegen sieben Uhr beginnt sein erster Rundgang und er erscheint mit seiner Arbeitstasche am Halleneingang. Dort stellt er sich breitbeinig auf und lässt den Blick minutenlang durch die Halle spähen. Irgendein Instinkt sagt ihm, dass hier etwas nicht stimmt. Ja, was sucht er denn, dachte ich immer, und begriff erst später, dass es die kleinsten Abweichungen sind, die nicht seiner durchstrukturierten Vorstellung von einer reibungslosen Arbeitsmaschine entsprechen. Wie zum Beispiel zwei Kollegen, die im Mittelgang miteinander reden. Selbst wenn er es aus der Entfernung gar nicht hören kann, worüber gerade geredet wird, geht eine sichtbare Fassungslosigkeit durch sein Gesicht. Abgesehen davon, dass jeder mit jedem sein persönliches Verhältnis hat und die kleinen zwischenmenschlichen Momente gerade jene Augenblicke sind, die einem kurz aus der Eintönigkeit heraus reißen, ist es auch unumgänglich, dass man sich auch über die Arbeit an sich unterhalten muss, da der Ablauf eines Fließbandes mehr denn je davon abhängt, wie konstruktiv die einzelnen Schritte ineinander greifen. Doch E. stemmt die Hände in die Hüften und beobachtet in ungläubigem Interesse, als könne er es nicht begreifen, dass sich dort zwei Arbeiter die Frechheit raus nehmen und in ihren bezahlten Stunden miteinander plaudern. Dann schaut er um sich, als wolle jeden in der Halle darauf aufmerksam machen, doch niemand erwidert seinen Blick, was ihn wiederum noch mehr erzürnt, da er anscheinend der Einzige ist, der sie beim Nichtstun entdeckt hat, und marschiert schließlich in langen, schweren Schritten auf jene Ahnungslosen zu, um sie zur Rede zu stellen.   
  Bisweilen sieht man ihn wie einen Jäger auf seiner Pirsch um die Autos schleichen, hier und da leise in die Wagen spähen und Ausschau halten, auf all diese `faulen Gesellen`, die es sich erlauben, sich auf ihren bezahlten Stunden auszuruhen. Jedes Mal gibt es eine verbale Anmache und Meldung an den Vorarbeiter, die, sichtlich müde dieser albernen Wiederholungen, seine Mahnungen an die Arbeiter weiter geben, und im Unterton mitschwingen lassen, was sie selbst davon halten. Doch seine selbst erteilten Mahnungen und Kündigungen haben schließlich das letzte Wort.
  Ich habe mir versucht vorzustellen, wie seine Vision von der Reduzierung eines Menschen in eine rein funktionierende Arbeitskraft wohl aussieht, und kann nicht umhin, mir `Klappen – Karsten` (hier bekommt jeder seinen Spitznamen) als Beispiel zu nehmen. Mittlerweile weit über fünfzig arbeitet er schon seit zwanzig Jahren in dieser Firma und macht seit Jahren nichts anderes als die Bohrungen der Topfbänder für die Schranktüren. Es erinnert ein wenig an das ewige Verlieren an dem Spielautomaten namens `Einarmigen Banditen` und ist in seiner grotesken Eintönigkeit kaum zu überbieten. Ich habe ihn einmal in seinem Klappen – Reich besucht, um mir Klappen für den Heckschrank zu besorgen. `Ob ich einige Klappen haben könnte?` Keine Reaktion. `Soll ich mir einfach welche nehmen?` Keine Reaktion. Manche sagen, dass er seit Jahren kaum ein Wort mehr spricht, und die verschlossene, griesgrämige Einsamkeit, die er sich in all der Zeit über ins Gesicht tätowiert hat, spricht für sich. Er fällt nicht auf. Er ist bis auf seine bloße Funktion auf einen ausführenden Arm reduziert und arbeitet wie eine Maschine. Ein Geschenk für jeden Arbeitgeber.   
  Vor einigen Tagen ließ sich E. ganze sieben Minuten  Zeit (wie er später, ich möchte fast meinen, zu Protokoll gab), um einen Lagerarbeiter ausgiebig zu beobachten, wie er während seiner Tätigkeit am Schalter (Material – und Werkzeugausgabe) in `wiederholtem Male` ausgiebig mit den Kollegen `scherzte und lachte`. Wie immer hatte er sich etwas abseits auf seine Beobachterposition verschanzt und ist erst eingeschritten, nachdem die `Tatverdächtigen` nicht von alleine damit aufhörten. Es gab seine obligatorische verbale Anmache, die sich darin äußerte, dass man hier schließlich nicht zum Spaß sei und letztendlich seine Arbeit zu machen hätte, die aber in all diesem `unaufhörlichen Scherzen` nicht einmal vernachlässigt wurde. Ja, er hatte es sogar mit einem Arbeiter zu tun, dessen `Führungszeugnis` bisher keinen Grund zum `Tadeln` gab. Selbst die Rechtfertigungsversuche, dass er doch Freude an der Arbeit hätte und ihm das Verhältnis zu seinen Kollegen am Herzen läge, änderte nichts daran, dass E. sich dieses `absonderliche Verhalten` streng notierte. Erst ein ausgiebiges Gespräch zwischen Arbeiter, Vorarbeiter und E. konnte die Wogen glätten...   
  Seit diesem Vorfall, welches mich an Schulzeiten erinnerte, wenn die Lehrer einem das Nachsitzen androhten, wenn man nicht sofort mit dem Herumalbern aufhören würde, begriff ich erst, dass wir es hier mit einem sehr humorlosen Menschen zu tun haben. Nicht ohne Grund sieht man ihn selbst niemals lachen. Nicht einmal ein
Lächeln verirrt sich auf seinem steinernen Gesicht. Dieser Mensch hat einfach nur ein großes Problem mit allen musischen Dingen, die das Leben zu bieten hat, und er erträgt es nicht, dass andere es mitunter zu genießen wissen. Was für ein lächerlicher Kampf war es doch, in dem er so viel Energie investierte, um sich selbst ständig darin zu bestätigen, dass das Leben eben kein `Zuckerschlecken` ist, sondern ausschließlich harte ehrliche Arbeit, mit dem man gutes Geld verdient.   

Thomasio

#7
  Aus allen Richtungen strömen sie herbei, vom Wochenbeginn wieder eingefangen. Kleine Gruppen sammeln sich um die Aschenbecher, die innerhalb weniger Minuten wie Schornsteine qualmen. Die letzten Momente vor dem Klingeln der Uhr. Kaffee und Zigaretten pumpen das Bewusstsein wach. Wortfetzen und Raucherhusten fliegen durch die Dunkelheit. Niemand hat Zeit für ganze Sätze. Im Halblicht der Müdigkeit erkennen sie sich wieder. Jedes Gesicht ist eine einzigartige Aussage, eine Geschichte, die kurz vor der Stempeluhr abgestreift wird. Jeder weiß, was ihn gleich erwartet. Auch an diesem Tag wird es keine neu zu erlernende Handbewegung geben. Auch an diesem Tag wird wieder das Fluchen und Schimpfen die Gesichter erfassen, das Lästern und Scherzen ein Minimum an Gruppengefühl stärken, ein Duckmäusern die Schikanen ertragen. Auch an diesem Abend werden sie spüren, was sie tagsüber geschafft haben – und sie werden wieder auf der Couch beim Fernsehen einschlafen.
  Und sie alle werden weiterhin so gut wie möglich ihre Arbeit machen und am nächsten Tag wieder kommen. Doch trotz ihrer revoltierenden Knochen und gähnenden Erschöpfung, trotz der ständigen Sorge um den Arbeitsplatz, die zu spürenden Rationalisierungen und das Geldverdienen müssen treibt sie noch eine andere, gemeinsame Motivation; ihr ständiger Arbeitsdrang und ihre Sehnsucht, gebraucht zu werden. 

Thomasio

#8
  Er ist ein eher ruhiger Charakter, macht seine Arbeit in einem gleichmäßigen Tempo, lässt sich durch keinerlei Hektik oder Chaos beeinflussen und ist schon so lange hier, dass er sich über nichts mehr aufregt. Es gibt Tage, da habe ich ihn wegen seiner Nerven beneidet. Selbst wenn das obligatorische Chaos beim Serienwechsel eintritt, ist er einer der Wenigen, der sich nicht aus dem Rhythmus bringen lässt.
  Doch heute brach es kurz nach zwei Uhr aus ihm heraus. Er montierte gerade die Heizungsrohre, als er ruckartig den Kopf hob und mit seinen dunklen Augen, in denen kurz eine leidenschaftliche Wut aufflackerte, an die Wand des Wohnmobils starrte und mit einer Stimme, die an Michel Piccolis Kampfschrei in `Themroc` erinnerte, ausrief; ,,Leck mich am Arsch! Stunde um Stunde dieselbe Scheiße!"
  Niemand im Wagen reagierte – doch er lächelte kurz über die Erleichterung des seelischen Druckausgleichs, bevor er wieder den Kopf senkte und stumm weiter arbeitete.   
  Wie phantastisch, dachte ich; so roh und primitiv die Welt des Handwerks auch ist, immerhin kann man hier für einen Moment seiner Wut freien Lauf lassen. 

Thomasio

#9
Ich glaube, ich blicke an einem Arbeitstag durchschnittlich zwanzig – bis dreißig Mal auf eine der großen Uhren, die an allen Seiten oben an den Wänden kleben und uns in stummer Diktatur bewusst machen, wie sehr unsere kostbare Lebenszeit in ihren Händen liegt. Sie sind die Wächter der Hallen und bestimmen die Dauer unseres Aufenthaltes. Es gibt vier Fixpunkte, die den Tag wie Etappen einteilen; sechs Uhr Arbeitsbeginn, neun Uhr Frühstückspause, zwölf Uhr fünfzehn Mittagspause, fünfzehn Uhr dreißig Feierabend. Es kostet jedes Mal eine große Anstrengung, die ersten Stunden dem Drang zu widerstehen, nicht auf die Uhr zu blicken – man wird nur enttäuscht den Blick zu Boden richten, erschlagen von der harten Realität, dass die subjektive Empfindung mal wieder von der klammheimlichen Hoffnung, es möge doch schon später sein, gesteuert wurde. Und so zieht sich der Tag in seinem scheinbar endlosen Schlendergang dahin, dehnt sich bis zur Zerreißprobe in seinen einzelnen Sekunden und erweckt den Eindruck, nicht die geringste Eile zu kennen. Aber was weiß der Minutenzeiger schon von unseren Ängsten und Hoffnungen, von der Gefangenschaft, in die wir uns Angesichts seiner ständigen Gegenwart begeben? Immer wieder glaubt man, dass er unbemerkt stehen bleibt oder nach zwei Schritten vorwärts wieder einen zurück macht, so sehr hat man bisweilen den Eindruck, dass er sich überhaupt nicht mehr bewegt. Und wie sehr wünscht man sich, dass es wenigstens schon neun Uhr ist, um endlich eine zu rauchen, oder viertel nach zwölf, um noch eine zu rauchen, oder halb vier, um endlich den Sonnenuntergang zu erleben. Aber nein; es sind noch Stunden.... und im Nachhinein fliegen die Tage und Wochen, die Monate und Jahre nur so dahin. Was für eine grausame Vorstellung, Jahre später immer noch dieselbe Arbeit zu machen, denselben Arbeitsweg zu fahren, denselben Chef gegenüber zu treten, dieselben Sprüche in den Pausen zu hören, denselben wässrigen Kaffee zu trinken und zwischendurch immer wieder auf dieselbe Uhr zu blicken! 
  Heute warf ich kurz nach dem Mittag mal wieder einen verstohlenen Blick auf die Uhr, und als hätten die Wächter der Zeit mein ewiges Gejammere satt, legte ich den Akkuschrauber andächtig zur Seite und blickte in verzückter Seligkeit auf einen Minutenzeiger, der in rasender Geschwindigkeit seine Runden drehte. Es war wie in einer Zeitrafferaufnahme, die den ganzen Tag in einem Schnelllauf vorüber ziehen ließ. Immer noch glaubte ich an das, was ich sah; es wurde ein Uhr, kurz nach eins, viertel nach eins, halb zwei, viertel vor zwei, zwei Uhr...  Gleich, dachte ich, ist die letzte Stunde vorbei, ehe ich mich umgedreht habe. Möge sie bloß um halb vier wieder ihre normale Geschwindigkeit annehmen! Doch als ich meinen Kopf streckte, erkannte ich die Hinterköpfe der Elektriker, die auf einer Hebebühne standen. Anscheinend hatten sie gerade die Uhr ausgetauscht und neu aufgezogen.

Thomasio

#10
  Marco schläft mit offenen Augen, während er sich, wahrscheinlich ohne es zu merken, mit der rechten Hand am Lampenkabel fest hält, um nicht umzukippen. Seine Augen – ein helles Blau in einem etwas blutigen Umfeld – sind dabei auf mich gerichtet, oder vielmehr, sie schauen durch mich hindurch. Noch hält unsere nonverbale Abmachung, dass wir uns bis zum Frühstück in Ruhe lassen. Dann wird geschoben. Sein Körper gerät  schwunghaft in Bewegung, aber zum Glück hält seine zarte Faust immer noch fest das Kabel in der Hand. Ein flüchtiges Babylächeln geht durch sein müdes Gesicht, als würde er sich über die embryonale Heierschaukel freuen. An manchen Tagen geraten wir aneinander, wenn wir mal wieder die Akkuschrauber verwechseln oder jeder dem Anderen seine Empfindlichkeiten vor Augen hält. Doch heute könnten wir Arm in Arm einschlafen, so sehr sind wir uns einig über die bleierne Lustlosigkeit am frühen Morgen...
  Die Schrankbauer hingegen, die an ihren Hobelbänken unser Material zusammen schrauben, scheinen ihren täglichen Rappel schon sehr früh zu bekommen. Während DJ Ötzi seinen Dauerhit `Einen Stern, der deinen Namen trägt` zum unzähligsten Male durch die Halle jault, beschießen sie sich gegenseitig mit ihren Hochdrucktackern und freuen sich wie Kinder, wenn die scharfen Geschosse dem Anderen zwischen die Beine
treffen...
  Etwas weiter ertönt in unregelmäßigen Abständen ein Lärm der ganz besonderen Art. Ein Kerl mit dem Körper eines Wallrosses und der Stimme eines Opernsängers schlägt wie von Sinnen mit dem Gummihammer auf die Softkante ein, während aus ihm das gequälte Gejaule einer sterbenden Kuh dröhnt. Vor einiger Zeit hatte er damit angefangen, doch nun steigert er sich mit jedem weiteren Tag. Die ersten Tage hatten noch alle darüber gelacht, jetzt nimmt man es kaum noch wahr. Beizeiten, wenn die von ihm mit Gewalt eingeforderte Aufmerksamkeit nach lässt, nimmt er zur Verstärkung ein Abluftrohr, um seiner Stimme mehr Klang und Raum zu geben. So steht er mitten in der Gfk – Wolke, schlägt irre auf die Softkante ein und jault in sein Rohr, als wolle er zur ultimativen Hetzjagd blasen. Immer wieder blickt er um sich, um zu sehen, ob alle lachen, aber seine großen aufgerissenen Augen erzählen von einer Verzweiflung, die eher traurig anzusehen ist.
  Martin unterhält sich währenddessen mit dem Bugschrank, der nicht so recht passen will, was Marco wiederum ein zweites Lächeln abgewinnt. Seine langen, schlaksigen Arme scheinen ihm nicht zu gehorchen. Wie die Kracken eines Tintenfisches wirbeln sie durch den engen Raum und versuchen mit letzter Gewalt, die Fugen an der Wand zu schließen.
  Wir fallen eine Station zurück, aber niemanden interessiert es.
  Der Hallenmeister kommt in den Wagen und wirbelt mit einem Zettel in der Hand und unentwegt Kaugummi kauend vor unseren Augen herum. Er scheint sehr aufgeregt zu sein, und versucht uns auch klar zu machen, worum es geht, aber sein Kaugummi, die Müdigkeit, die Hektik... Irgendwas ist auf jeden Fall `ziemlich toll` und irgendwas ist auf jeden Fall `ziemlich beschissen`, aber wir sollen das Niveau halten, das verstehe ich noch, bevor er wieder davon flattert wie ein nervöser Vogel in der Dämmerung....
  Marco lächelt ein drittes Mal und zuckt nur mit den Schultern.
  Einige Minuten später kommt Darek hinein gesprungen und bleibt lautlos lachend vor Martin stehen, der vor lauter Unsicherheit und Bugschrank – Wut rot angelaufen ist. Darek streichelt sich über die wohlernährte Wohlstandsplauze und grinst uns alle der Reihe nach an. Schließlich zeigt er auf die übrig gebliebene Fuge von einem halben Millimeter. 
,,Was ist das?" ruft er in seinem polnischen Akzent. ,,Da passt ja Fliege mit Rucksack durch!"
  Martin lacht unsicher.
  ,,Ja," erwidert er leise. ,,Ich glaube, das wird`n Montagsauto!" 


Thomasio

#11
  Um acht Uhr macht die Kantine auf. Dann können wir wie die hungrigen Tiere in die neu eröffnete und bargeldlose Kantine laufen und uns belegte Brötchen kaufen. Seit einigen Tagen gibt es auch Rührei mit Speck und Schokoladencroissants im Angebot. Innerhalb von Minuten hat sich eine lange Schlange gebildet und wer sich von der neuen Bezahlung per Chipkarte eine zügigere Abwicklung erhofft hat, muss sich eines Besseren belehren lassen. Es dauert genauso lange. Wir dürfen unsere Brötchen kaufen und eintüten, aber nicht anbeißen, geschweige denn aufessen – nicht vor neun Uhr. Denn dafür ist die fünfzehnminütige Frühstückspause vorgesehen.
  Oft schaffe ich es nicht, mir Morgens um halb fünf meine eigenen Klappstullen zu schmieren und sie in eine handliche Tupperdose zu stapeln, so dass ich bis acht Uhr nichts im Magen habe. Deshalb pfeife ich an diesem Morgen auf das `vor Neun Uhr Brötchenabbeißverbot` und schieb mir das mit sattem Fleischsalat versehene Brötchen zwischen die Kiefer. Bevor ich genüsslich die Augen schließe und in einem tranceartigen Kauzustand verschwinde, sehe ich noch im Augenwinkel, wie drei Kollegen hastig ihre Brötchen eintüten und sich panisch davon machen. Die Umgebung fängt an zu wabern, die Geräusche sind gedämpft, alles hört auf in diesem ersten großen Bissen, der sich den vor Hunger knurrendem Magen nähert, während meine Knie vor Müdigkeit ganz weich werden und mein Verstand in einem wollüstigen Sinnesgenuss betäubt wird. Als ich die Augen öffne, steht unser allseits gefürchteter E. wie eine in Blei gegossene Statur vor mir und mustert mich mit seinen eisigen Augen. Da er eineinhalb Köpfe größer ist als ich, beugt er sich eine Etage tiefer und neigt sich mit seinem nimmermüden und von Jagdinstinkten getriebenen Gesichtsausdruck ganz nah heran.
  ,,Haben wir denn schon Frühstück?" fragt er in seiner alarmierten Ruhe und seine kühle, tonlose Stimme verfolgt den breiigen Fleischsalat, der meinen Mund ausfüllt und mich am Sprechen hindert, weshalb ich nur ein halbes Kopfschütteln von mir gebe. ,,Ich glaube nicht, oder?"
  Ich erwiderte mit einem ebenso halbierten Nicken und kämpfe immer noch mit dem halben Brötchen, welches sich plötzlich quer legt und mich ganz in Anspruch nimmt. Schließlich erwidere ich, dass ich seit halb fünf nichts gegessen habe...
  ,,Das interessiert mich nicht." erwidert er knapp und stützt seine mächtige Erscheinung auf den Tisch ab, an dessen Ecke unsere unfreiwillige Begegnung stattfindet. ,,Ihr könnt euch ab acht eure Brötchen kaufen und geht dann sofort wieder ans Band zurück, ohne sie auch nur einmal anzusehen – damit das klar ist."
  Endlich kann ich den Brei hinunterschlucken, aber ich bin derart müde und kraftlos auf den Beinen, dass jegliche Schlagfertigkeit versagt und mich ganz hilflos zurück lässt. Ich werfe einen Blick auf die restlichen Brötchen, als würde sich etwas in mir fragen, was denn eigentlich los sei, und kann die Zusammenhänge nur vage verstehen. Doch sein gefühlskalter Blick, der sich auf seinem steinernen Antlitz eingenistet hat und mich in seiner konsequenten Weltanschauung zu durchbohren droht, erzählt von einer ganz bestimmten Situation an einem ganz bestimmten Ort, an dem gewisse Dinge, die ich für selbstverständlich halte, einfach nicht mehr gelten.
  ,,Wenn ich das noch einmal sehe, dann haben wir Beide ein Problem miteinander." beendet er seine Standpauke und befreit mich endlich aus seiner unheimlichen Gegenwart, die einen umfängt wie das ewig wache Gespenst einer grausamen Ordnung.
  Als er die Kantine mit seiner alltäglichen Genugtuung verlässt und sich unter all den Leuten, die er in seinem Werdegang schon zur Brust genommen hat, nun auch meine Wenigkeit hinzu zählt, beiße ich trotzig ein zweites Mal ab, doch mein Stolz bleibt gekränkt. Für diese morgendliche Konfrontation war ich einfach zu schwach auf den Beinen.

Thomasio

#12
  Ich bin wild entschlossen, den letzten entscheidenden Schritt zu unternehmen. So kann das nicht mehr weiter gehen. Jetzt werde ich mich an die richtige Adresse wenden; der Alte. Sollen doch alle Angst vor ihm haben, ich hab sie nicht.
  Noch in den Arbeitsklamotten steckend, stapfe ich vom Betriebsgelände und suche sein Anwesen auf; eine weiße Villa im Stil der Jahrhundertwende. Unterwegs lege ich mir die Sätze zu recht und versuche, meine Emotionen zu beherrschen. Ich nehme mir vor, mich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und meine Argumente sachlich und kompetent auf den Punkt zu bringen.
  Ich klopfe an der schwergewichtigen Eichentür und es dauert nicht lange, bis ein junger Diener aufmacht und mich mit einer ironisch überladenden Verbeugung ins Haus bittet. In seinem Gesicht steht ein lautloses Lachen, als käme er gerade aus einer amüsanten Abendgesellschaft, dessen letzte Poente noch in den Mundwinkeln kitzelt. 
  Dennoch bringe ich mit einer nicht zu unterdrückenden Aufregung meinen Ersuch dar.
  ,,Ich will zu Herrn..."
  ,,Ich weiß - man erwartet Sie schon." fügt er hinzu, als müsste er gleich laut los lachen.
  Ich werde ins Wohnzimmer geführt, in dem die festlich gekleidete Familie vor einem hell erleuchteten Tannenbaum sitzt und sich gegenseitig Geschenke überreicht. Eine stark geschminkte Frau um die Sechzig bittet mich mit lapidarer Geste, Platz zu nehmen, während sie ihr Geschenk öffnet und mit schlecht gespielter Freude hinein schaut.
  ,,Haben wir denn schon Weihnachten?" frage ich ganz verwirrt über den Anblick.
  Sie winkt müde ab und lächelt, als könnte ich die wahren Zusammenhänge niemals begreifen.
  ,,Nein," sagt sie in mütterlichem Ton und mit milder Nachsicht. ,,das machen wir öfters Mal..."
  Der Diener – erst jetzt kann ich sein knabenhaftes Milchgesicht erkennen – beugt sich dicht zu mir heran und flüstert, dass `der Alte` sich noch entschuldigen lässt, er wäre noch in einer Besprechung. Schließlich setze ich mich in den mir zugewiesenen Ohrensessel, in dem ich so tief versinke, dass ich das Gefühl habe, nur meine Beine schauen noch hervor. Ich betrachte die Kinder, die ihre Geschenke mit einer gewissen Spur von Überdruss auspacken und zur Seite legen, bevor sie das Nächste im Empfang nehmen. Es ist ganz still im Raum, man hört nur das Rascheln des Geschenkpapiers.   
  Lange sitze ich so da und vergesse fast, weswegen ich gekommen bin.
  Etwas später bemerke ich im Augenwinkel, wie der Alte schräg hinter mir steht und mit auf den Rücken verschränkten Armen die Ölgemälde an der Wand betrachtet. Er trägt einen schwarzen Anzug und eine Lesebrille. Er sieht gelangweilt aus.
  Ich kämpfe mich aus dem Sessel und erinnere mich wieder, weswegen ich hier bin.
  ,,Sie haben doch sicherlich von unserer Unterschriftenaktion im November erfahren..." beginne ich etwas kleinlaut. ,,in der wir auf die Luftsituation in der Halle C angesprochen haben."
  ,,Mmmh." gibt er geistesabwesend von sich, ohne sich umzudrehen. 
  ,,Wir haben darauf aufmerksam gemacht, dass der krebserregende Gfk – Staub ohne Absaugung gefräst wird und frei in der Luft herum wirbelt. Viele Arbeiter beklagen sich seit Monaten über Kopfschmerzen, Atembeschwerden und Hautausschläge. Unter anderem wiesen wir auch daraufhin, dass es in der ganzen Halle keine Absaugeinrichtung gibt und dass sich zudem die Fenster nicht öffnen lassen."
  ,,Aha..."
  ,,Es geht das Gerücht herum, dass die Halle eigentlich als Lagerhalle gebaut wurde, so dass gewisse Auflagen der Arbeitssicherheit nicht erfüllt werden mussten..."
  ,,Ja, ich hab davon gehört..." erwidert er ruhig und geht zum nächsten Bild, die Arme immer noch hinterm Rücken verschränkt.
  ,,Und bis heute haben wir keine Stellungnahme dazu erhalten."   
  Jetzt dreht er sich herum und nimmt seine Brille ab. Er wirkt viel kleiner und älter, als ich ihn in Erinnerung habe, auch fehlt es diesmal an seiner autoritären Ausstrahlung.
  ,,Interessant." sagt er und wiegt abschätzend mit dem Kopf, bevor er den Rundgang an seiner Ahnengalerie fortsetzt.