[...] Das Jahr 2016 war eine Warnung. Der Brexit, die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA: Was sich über lange Zeit zusammengebraut hatte, brach sich in diesem Jahr Bahn. Doch das politische, kulturelle und wirtschaftliche Establishment setzte weiter auf Ignoranz. In Frankreich sieht man die Folgen.
Seit Wochen dasselbe Bild: Menschen in Frankreich gehen auf die Straße, immer wieder kommt es zu Ausschreitungen. Was als Protest gegen Benzinpreiserhöhungen begann entwickelte sich schnell zu einer breiten Bewegung. Da geht es gegen die zunehmende Belastung durch Steuern und Mieten, zu niedrigen Löhnen, miserablen Nahverkehr und wohl auch immer wieder gegen Unsichtbarkeit großer Teile der Bevölkerung. Das Establishments, in Frankreich, wie in anderen westlichen Ländern, besteht aus einer mehr oder weniger informelle Koalition aus Ökologen, Identitätspolitikern und Neoliberalen, der eine gewisse Verachtung der Arbeiterklasse und der unteren Mittelschicht gemein ist. Sie passen weder Wirtschaftlich noch von ihrer Lebensart zu der gesellschaftlichen Vision einer ebenso weitgehend deindustrialisierten wie deregulierten Gesellschaft, die sich der Diversität und der Ökologie verpflichtet fühlt, aber gegenüber sozialen Fragen eher desinteressiert ist.
Hillary Clinton nannte im Präsidentschaftswahlkampf große Teile der potentiellen Wähler Trumps einen „Sack der Erbärmlichen“ – und ähnlich dürfte es auch das Establishment in Großbritannien, Frankreich und Deutschland sehen, auch wenn die Politik es nicht so deutlich ausdrückt. Da sind Menschen, die stören, die in den Zukunftsvisionen des Establishments keinen Platz haben. Vor wenigen Wochen fragte sich Adam Soboczynski, Feuilletonchef der Zeit in einem Artikel , warum die „Elite“ so unbeliebt sei und von allen Seiten kritisiert und verlacht werden, um wenige Zeilen später in einer mit nahezu dankenswerter Offenheit verfassten Beschreibung der Arbeiterklasse und der traditionellen Mittelschicht die Begründung für die seiner Schicht entgegenschlagenden Verachtung, ja Wut, zu liefern: „Es gibt sie natürlich nach wie vor, aber sie sind unsichtbar. Keine satisfaktionsfähige Serie zeigt ihren Alltag (eher kommt eine Krasse 4-Blocks-Unterschicht ins Bild). kein Werbespot würde sie zum Handlungsträger machen, niemand in meiner Akademikerschicht sind sie noch ein über die Dienstleitung hinausgehender Bezugspunkt oder gar ein Vorbild, nach dem man sein Leben ausrichtet. Sie sind nicht arm, sie sind nur unbedeutend und out.“
Dummerweise stellen sie nach wie vor einen großen Teil, wenn nicht die Mehrheit der Bevölkerung und seit 2016 ist klar, dass diese Menschen nicht der Ansicht sind, dass ihr Leben, ihre Jobs und ihre Probleme unbedeutend sind.
Darauf hätte das Establishment reagieren können, doch diese Reaktion blieb bislang aus.
Dass die Reaktionen dieser Klassen in Großbritannien, den USA und Frankreich bislang wesentlich heftiger als in Deutschland waren, hat viele Gründe. In Deutschland gibt es, im Gegensatz zu Großbritannien, den USA und Frankreich keine klassische Elite, auch wenn manche sich einreden, zu einer solchen zu gehören. Die wirtschaftliche und politische Führung ist hier heterogener. Es gibt in Deutschland weder Oxford noch Cambridge. Es gibt keine Ivy-League-Universitäten und keine Grande Écoles, auf denen die traditionellen Eliten dieser drei Länder ausgebildet werden. Und Berlin ist zwar eine Insel im Nichts, schon geografisch weit entfernt von den anderen Zentren des Landes, aber es ist nicht Paris oder London. Wirtschaftlich ist die Hauptstadt näher an Gelsenkirchen als an München oder Frankfurt.
Zudem ist die wirtschaftliche Lage hierzulande deutlich besser, die Arbeitslosigkeit geringer und die föderalen Strukturen erweisen sich ein weiteres Mal als Glücksfall.
Doch auch wenn der Begriff der Elite auf das Establishment hierzulande kaum anzuwenden ist, gibt es doch eine große Distanz zwischen ihm und großen Teilen der Bevölkerung.
Die steigenden Mieten fressen die mageren Lohnsteigerungen weg. Für den US-Ökonomen Richard Florida sind sie einer der Hauptgründe für die wirtschaftlichen Probleme vieler Menschen. Die sich abzeichnenden Dieselfahrverbote sind für Pendler eine existenzielle Bedrohung, von der faktischen Enteignung von Diesel-PKW einmal ganz abgesehen. Die Angst vor Altersarmut, der zum Teil miserable Zustand nicht nur der digitalen Infrastruktur, die steigenden Energiepreise, ausbleibende Investitionen in den Nah- und Fernverkehr, der Umgang mit Zuwanderung und ihren Folgen. Eigentlich sollte eine große Koalition in der Lage sein, die großen Probleme zu lösen, doch die politische Klasse kreist um sich selbst. Die Union ist gespalten, die SPD blickt in den Abgrund: Zwei angeschlagene Parteien regieren das Land längst ohne dafür noch eine Mehrheit zu haben und dass die meisten Alternativen wohl noch schlimmer wären, beruhigt angesichts einer sich abzeichnenden Rezession nicht.
Zwei Jahre hatte das Establishment in Frankreich Zeit, aus Trump und Brexit Lehren zu ziehen, dass die Menschen nicht bereit sind, immer mehr Druck zu ertragen, ohne für sich eine Perspektive zu sehen.
Auch die Politik in Deutschland, ja das ganze Establishment, zu dem auch große Teile der Medien und der Wirtschaft gehören, hat das nicht getan.
Klug ist das nicht und viel Zeit bleibt nicht mehr. Die angeblich „Unbedeutenden“ sind nicht bereit, sich in ihr Schicksal zu fügen. Der Donner des Gewitters in Frankreich ist deutlich, wenn auch noch leise, zu hören.
"Tage des Zorns" (Montag, 03. Dezember 2018)
Den französischen „Gelbwesten" ist der Kragen geplatzt.
Arnold Voss
9. Dezember 2018 um 12:57
Gesellschaften lernen immer zu spät. Aber sie lernen. ... Auf jeden Fall bricht sich die alte Klassengesellschaft in neuer Form wieder bahn, wie es sich die Berliebigkeitsapostel der Postmoderne nicht (mehr) vorstellen konnten. Ausbeutung und Gerechtigkeit werden wieder zu großen Themen während zugleich offenbar wird, dass die Menscheit mitnichten in der Lage ist, dem Klimawandel zu entkommen. Ein Jahrundert gnadenloser Auslese ist angebrochen, der sich die Oberschicht mit allen Mitteln zu entziehen sucht, während der Rest aufeinandergehetzt wird, bzw. sich aufeinander hetzen lässt.
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Die Forderungen der „Gelbwesten“ gehen nun offiziell über die bloße Frage der Treibstoffpreise hinaus. In einem langen, der Presse und den Abgeordneten übermittelten Kommuniqué, das in den französischen Medien breite Beachtung fand und das Rubikon hier abdruckt, listen sie eine Reihe von Forderungen auf, die sie erfüllt haben möchten. ...
https://www.rubikon.news/artikel/tage-des-zorns"Der Aufstand" (Samstag, 08. Dezember 2018)
Als Echo auf die Erklärungen des Präsidenten verurteilen Minister und Medien „die Gewalt“, die sich vor dem Hintergrund der Massenmobilisierung der Gelbwesten ausbreitet, und schieben die Verantwortung auf „gewalttätige Demonstranten“, die versuchen, Chaos auf den Straßen unserer Städte anzurichten. Jean Lévy, vier Jahrzehnte lang engagiert für die französische Gewerkschaft CGT, rückt dieses schiefe Bild zurecht. ...
https://www.rubikon.news/artikel/der-aufstand