[...] Als der Kieler Schriftsteller Feridun Zaimoglu an diesem Mittwochabend im ORF-Studio seine Klagenfurter Rede zur Literatur zu halten beginnt, gibt es hie und da im Publikum ein gewisses Erstaunen: Wie spricht der denn? Ist das jetzt eine Rede? ... Zaimoglu hält eine Rede, die mehr Literatur ist als Rede, Feridun-Zaimoglu-Literatur: die Erzählung von einem Mädchen, das um seinen Vater trauert, das selbst ein Klagelied anstimmt und konstatiert: „Wir sind geworden Gegangene, ein Gruß den Gebliebenen“. Und so wie dem Mädchen niemand zuhört, so verleiht ihm nun Zaimoglu eine Stimme, „es soll durch meinen Mund sprechen, was sich dem Lärm entzogen hat“. Und: „Ich trat die Heimkehr zu den Verlassenen an“.
... Zaimoglu hält [ ...] eine explizit politische Klagenfurter Rede, nur eben mit dem ihm eigenen literarischen Vermögen. Um genau mit diesem den Verlassenen, wie er sie nennt, zur Seite zu springen, den Armen, den Obdachlosen, den Geflüchteten und den Fremden, die sich in ein Land wie Deutschland vor den Bürgerkriegen in ihrer Heimat gerettet haben und nun „im Spuckeregen der Verachtung“ stehen. Und er stellt sich auch an die Seite der Frauen, „die in der größten Lüge des Mannes“ leben müssen, nämlich der, „dass es seine Beherrschung sei, zu führen, zu lenken und zu herrschen.“
Zaimoglu rechnet mit irregeleiteten Patrioten und den Rechten ab und bringt es auf den Punkt: „Wer die Eigenen gegen die Anderen ausspielt und hetzt, ist rechts“. Rechten gehe es um „Fremdenabwehr, die Vaterländerei ist ihre Phrase der Stunde.“ Und: „Der Moslem, der Morgenländer, der Einwanderer, der Flüchtling: Sie sind in ihren Augen Geschöpfe dritten Ranges.“ Das kann man so sagen, das muss man auch einmal genau so sagen.
Aber auch für die manchmal so arg gescholtenen Klagenfurter Bachmann-Preis-Seelen hält Zaimoglu tröstende wie kämpferische Worte bereit, als er damit beendet, dass Klagenfurt nicht nur ein „Ort der vielen Geschichten“ sei, sondern einer der „Beseelung“. Denn: „Wir schreiben, wir lesen, wir kämpfen. Wir stehen bei den Verlassenen.“ Schöner kann man es nicht sagen, ...
Aus: "Feridun Zaimoglu hält kämpferische Eröffnungsrede in Klagenfurt" Gerrit Bartels (05.07.2018)
Quelle:
https://www.tagesspiegel.de/kultur/ingeborg-bachmann-wettbewerb-feridun-zaimoglu-haelt-kaempferische-eroeffnungsrede-in-klagenfurt/22769676.html---
[...] Das Mädchen, das um den Vater trauerte, sang mit einem Faden Stimme, es sang leise ein islamisches Klagelied: Wir sind geworden Gegangene, ein Gruß den Gebliebenen. Ich lernte von dem Kind, das sich nicht allein zum Mund eines toten Mannes machte. Dies war der Gesang der Seelen, die mit der Zunge der Halbwaisen sprachen. Wer aus dem Leben der anderen scheidet, ungewollt und unfertig, muss nicht fürchten, dass er verstummt. Der Kummer des Mädchens war so groß wie seine Welt, es wollte aber mit der Stimme der gebannten Geister sprechen. Es würde später im Stillen den Vater beweinen, es würde heimlich riechen am Ärmel der Strickjacke des Vaters. Ich lernte: Es gibt kein Alleinsein, und nicht das Schweigen noch die Stille übertreffen die Worte. Die Anderen, die Abgekehrten, die Verschwundenen, die Gebannten, sie sollen klingen. Ich lernte: Es soll durch meinen Mund sprechen, was sich dem Lärm entzogen hat, und ich will auch den Mangel, den Makel, den Schwund und die schlechte Absonderlichkeit bezeichnen. Ich trat die Heimkehr zu den Verlassenen an.
Verlassen sind die Armen, verlassen sind die Frauen, verlassen sind die Fremden. Das böse Gerücht hat sie getötet. Sie, die wie die reife Gerste wuchsen, wurden mit der Sense gemäht.
Wer sagt denn, dass das Gerücht immer größer sei als die Wahrheit? Wer verkehrt die Verhältnisse, und wer beschimpft die Verkehrtheit? Wer glaubt, er wurzele in der Heimatscholle, und er sei für immer und ewig unentwurzelbar? Wer schwätzt von der Gegenwart als von einer Leere, und wer faucht und wispert böse Flüche in die Leere? Das ist der Armenhasser, das ist der Frauenhasser, das ist der Fremdenhasser. Sie fluchen, als ginge es darum, eine Sittenlockerung zu beschelten. Sie sagen: Wir geben acht auf unsere Hinterlassenschaft, auf unser großes Erbe! Sind ihre Ahnen Götzen? Und bringen sie den Götzen stumpfe Scherben als Opfer dar? Sie sagen: Im Namen der Ahnen und der Bräuche, die uns überliefert sind, wehren wir ab den Feind, der sich verhüllt. Uns ist jede fremde Art und jede neue Sitte Bedrohung! Sind die Alten, die sie preisen, kein wallender Nebel? Haben die Alten nicht Geschichte gemacht durch Mord und Gemetzel? Es sind doch fast nur steingewordene Männer, die sich auf Denkmalsockeln recken. Es ist nicht die Stunde, zu Füßen der toten Riesen Kranzgebinde abzulegen. Wer ist bestürzt, dass der Arme sich erfrecht, mit der Bettlerschale herumzugehen? Es sind die Gerüchtemacher, die die üble Botschaft bringen, dass alles verkauft und vermacht sei. Es sind die Herrenmänner, die uns einflüstern: Bald streunen wilde Hunde und wilde Hirten durch die Straßen unserer besetzten Städte. Wehrt euch gegen die invasiven Kräfte! Jeder Einflüsterer presst sich die Totenmaske seines Helden aufs Gesicht, er ist kein Zungenredner, er ist ein maskierter sprechender Schädel, und er spricht: Schluss mit den Artigkeiten, wir rüsten nun zum Rachekampf. Dem asiatischen Menschen, aber auch dem Slawen und dem Kaukasier, ihnen allen ist der Zugang zu unserem Kulturgut verwehrt. Wir bleiben auf ewig unverstanden, wir dulden es nicht länger. Wie oft habe ich das Gerücht vom Ende der Duldsamkeit gehört? Wie oft riefen die Tribunen nach einer strengen Ständeordnung, in der die Unteren als unterlegene Klasse gehalten werden sollen? Die Alten haben sich aber selber gerichtet, das Alte ist aber an Fäulnis eingegangen. Es träumt manch ein Schreiber, er möge erwachen in einer unverkeimten Gnadenwelt; er entwertet die Gegenwart als Ausdruck eines Lumpenregiments. Ich frage: Wer ist der Lump – der Schreiber oder sein Zeitgenosse? Ich frage: Soll ich mich von ihm anstiften lassen zum Gebrauch schadhafter Werkzeuge? Der Schreiber beseufzt das alte Blut, das die Neuen verdünnten. Der Dünkel macht ihn zum Reaktionär. Er wäre gerne groß, er würde gerne alle Zonen sprengen. Wer hindert ihn daran? Wer die Finger zwischen Tür und Angel steckt, der klemmt sich gern. Der schmerzgeplagte Reaktionär schreit Tür und Wände nieder, dann schreit er nach dem mächtigen Zimmermann, der grobe Klötze klieben soll. Er zieht, da ihm die Entrüstung wenig bringt, in die Einsiedelei: Dort steht sein Haus auf festem Grund; dort kann er die Fabel seiner Unbestechlichkeit fortschreiben. Der eingebildete Schreiber ist ein gebildeter Esel, denn er bläht sein Wissen auf zur Wissenschaft. Aus der Ferne besehen erscheinen ihm die Städter klein. Der moderne Zivilist gilt ihm geringer als eine huschende Fledermaus. Angespornt von den Knacklauten des Gebälks verfasst er Tränenheftchen. Er schreibt: Selig ist der treue Knecht, der die Mütze lüpft, wenn er des hohen Herrn ansichtig wird. Selig ist die Frau, die sich als Weib versteht und die niemals die Trennung vom Mann erwägt. Selig ist der ergebene Fremde, der uns sein Fleisch und seine Seele verkauft.
Es durchfährt den Schreiber eine Kraft, wenn er im Geiste die Schwächlinge niederknüppelt. Ich erkenne in seiner Klage keinen Schmerzensschrei, ich erkenne darin das Geschrei eines trotzigen Knaben. Der Schreiber geht in die Abgeschiedenheit, er nennt es Entrückung. Selten geschieht es, dass man ihn zu einem Auftritt bewegen kann. Denn nichts erzürnt ihn mehr als Widerspruch, als ein Gespräch unter Gleichen. Sitzt er denn vor Anverwandten, und erhofft er sich Beistand, ist der Reaktionär entflammt. Er spricht von dem Anfang der Wehen, als stünde eine Endzeitschlacht bevor. Er benennt die Missstände in seltsam verbrauchten Worten: Der Muttersprachler stammelt, er sprotzt ein unmögliches Deutsch, er stößt die falschen Laute der Missbilligung aus. Es muss alles nach seinem Willen gehen. Er bellt die Mängelrügen, er verbellt die Verräter, die er allüberall wirken sieht. Das Volk, ruft er, muss in einer schleunigen Erhebung alle Bande reißen. Das Volk, ruft er, soll die große Wende möglich machen. Der erboste Reaktionär begreift das Volk als meuternde Rotte. In der alten Welt, die er herbeisehnt, war er aber selten mehr als das Vieh, das man gefügig schlug. Was ist jedem rückschrittlichen Mann ein Gräuel? Die höfliche Anrede. Das Mitgefühl. Die gedankenvolle Ansprache. Ich will keinen Menschen eine Schwarzhaut nennen, weil er schwarzhäutig ist. Was ist damit gewonnen, dass ich mich als bleichen Weißen ausweise? Man kann seinem Wunsch, Mauldreck von sich zu geben, in einer Bierschänke entsprechen. Dann freuen sich die Gleichgesinnten wie die Affen im weißen Menschenkostüm. Der Prolet ist in allen Gesellschaftsschichten zu Hause. Er wallt auf in der vulgären Ausschreitung, er nennt sich mutig. Ich nenne ihn lumpig. Zeugt es von Mut, wenn ein Kerl auf zwei Beinen einen versehrten Mann als Krüppel beschimpft? Ein Lump, der wider die Weiberwirtschaft hetzt, wird nichts als nur seine eigene Gewöhnlichkeit belegen. Das Schandmaul triumphiert, wann immer es sich mit dem Mund verschnappt. Verlassen sind die Armen. Sie müssen nach vorne drängen, sie müssen allen Stolz vergessen, sie müssen sich ausweisen als Hungerleider, dass man ihnen den Kanten Brot und die Schüssel Erbsensuppe aufs Tablett stelle. Es leben viele Arme in meiner Straße und in den Nachbarstraßen. Die Witwe im letzten Haus am Rondell, noch vor den verbeulten Metallpollern, spricht vom Verlust ihrer Anstelligkeit: Dies ist ein Wort aus ihrer Zeit als junge Frau. Sie meint, dass sie nicht mehr geschickt darin sei, das Nötigste zu erschnappen. Sie geht hungrig zu Bett. Wäre es nicht gut und gerecht, der Dame ihr Los zu erleichtern? Vor dem Discounter, in einigem Abstand zum Eingang, kauern die Obdachlosen. Sie schwitzen im Sommer und sie frieren im Winter, sie haben das Wort Sozialromantik noch nie gehört, ihr Leid ist echt. Keiner von ihnen käme auf den Einfall, ihre Gleichheit im Elend zu rühmen. Würde man nicht das Böse von sich tun, hielte man sie nicht länger für Parasiten? Die sonderbare Russlanddeutsche, die im Kellerloch neben dem Altersheim haust, wird oft von Schülern mit Erdbrocken beworfen. Die bunt bedruckte Haarhülle knotet sie im Gehen am Nacken, den jungen Flegeln ist sie unheimlich. Sie putzt bei den Reichen: Sie hat noch kein Stuhlbein zerschrammt und keine einzige Vase zerschlagen. Wäre es von den Herren Spaziergängern zu viel verlangt, wenn sie sie freundlich grüßten?
Der alte Mann mit dem halben Gebiss geht die Bahnsteige nach Pfandflaschen ab, das bisschen Rente ist zur Monatsmitte aufgebraucht. Er nennt sich Überlebsel, ein lebendes Überbleibsel. In den Raucherzonen stehen die Kerle, die Bierbüchsen in vier Zügen leeren und sie in der Mitte mannhaft zerdrücken. Beim Anblick des alten Mannes erwacht in ihnen ein kranker Eifer, sie schlagen ihn mit ihrem Lärm in die Flucht. Ich lobe die Bürger, die zur Börse greifen und den Alten beschenken. Ist mein Hass auf die johlende Rotte eine ungesunde Regung? Die Armen erben den Besitz. Die Rechten verstehen sich als unbewaffnete Bürgerwehr. Sie möchten die Plätze säubern von unverträglichen Elementen in ihrer Idylle. Sie schützen ihren Besitz. Sie ertragen es nicht, dass die Niederen durch ihr Viertel streifen. Die Zähne werden ihnen vom Fluchen stumpf – sie fluchen: Man muss sie herausschaffen, man muss sie aus unserer Welt schaffen, die Herumtreiber, das arbeitsscheue Pack, das Gesindel. Jeder ist vom Glück begünstigt, jeder verdient den Wohlstand, den er hat. Wer nichts leistet, gehört ausgejätet, er gehört ausgemerzt! Wie oft hat man einen Obdachlosen zu Tode getreten und verbrannt? Wie lange sollen die Armen, die noch leben dürfen, die Demütigung erdulden und Demut zeigen? Wer den Armen sein Ohr verstopft, wer von lohnender Leistung schwätzt, hat kein Herz. Die Armen erben das Land. Der Reiche, der die Bettlerschale übersieht, der Lästerworte redet wider die Armen, ist verroht und verstockt. Auch wenn die Reichen viel auf Manieren und Etikette geben, eine feine Seele haben sie nicht. Verlassen sind die Frauen. Sie leben in der größten Lüge des Mannes, dass es seine Bestimmung sei, zu führen, zu lenken und zu herrschen. Im Krieg hat sie nicht von der Tugend zu weichen. In friedlichen Zeiten hat sie Zuversicht auszustrahlen. Ich kenne Frauen, die, geschürzt und geknebelt, dem dummen Orientalen hinterherlaufen. Ich kenne Mädchen, die sich den dummen Brüdern unterordnen. Ich kenne Frauen, die, gestöckelt und frisiert, für den dummen Europäer die Empfangsdame spielen. Ich kenne begabte Töchter, die sich dem Mittelmaß ergeben. Sie tun es, weil man sie dazu drängt. Sie werden belogen und gebrochen, sie werden belästigt und geschändet. Die Welt ist schlecht, weil die Männer nicht ohne Gewalt glauben leben zu können. Sie sind niederträchtig, weil sie die Schlechtigkeit im Fleisch der Frau vermuten. Ehre, Anstand, Vaterland, Moral: schmutzige Worte, des Mannes Machtbekundung, der wahre Dreck der Welt. Jede Tradition, die auf dem Vorrang des Mannes beharrt, ist verachtenswert. Die neuen alten Patrioten erzählen die neuen alten Märchen. Sie sprechen: Die Frau ist eine Meisterin der Betörung. Deshalb schützen wir sie vor Übergriffen! Sie sprechen: Unsere Frauen haben sich befreit. Sie machen sich nackt vor uns, das ist der schönste Aspekt der Befreiung. Es geht dann doch zu weit, wenn sie uns mit den Waffen ihrer Geschlechtlichkeit bekämpfen. Eine Frau als Kameradin schreckt uns nicht. Eine Frau als Furie hat die Natur nicht vorgesehen!
Der Jammer des Reaktionärs über die dreiste Frau findet seinen Niederschlag in tausenden Seiten Literatur. Es jammern die Potentaten und die Generäle, es jammern die alten Säcke in den Schreibstuben und die Peniskrieger in den Ghettos. Es jammert der Jüngling über das andere Geschlecht, es jammert der ganze Kerl auf der Baustelle. Sollte man ihnen allen Tränentüchlein reichen? Sollte man sich abwenden ob der elenden Heuchelei? Der romantische Mann, der gelobt werden will, weil er der Frau in den Mantel hilft; der aufgepumpte Rüpel, der den Benimm verrülpst; der wilde Mann, der in seinen Waldschratbart Locken dreht; der Bauer, dem in der Stadt die Verstädterung misslingt; der Städter, der nicht begreifen mag, dass seine Griffe und Kniffe untauglich geworden sind: Sie sind Barden einer falschen Bekümmerung. Insgeheim wünschen sie die Frau als folgsame Magd, als dienstbaren Geist. An der Seite der Patrioten kämpfen auch Frauen. Wollen sie beweisen, dass ihnen die Männlichkeit doppelt so gut gelingt wie einem Mann? Glaubte man daran, würde man sie der Puppenhaftigkeit beschuldigen. Sie wissen, was sie tun. Verlassen sind die Fremden. Sie müssen ertragen, dass man sie als Keimträger, als Wühler und Agenten, als unbrauchbaren Menschenmüll beschimpft. Die Rechten kennen keine Gnade, wenn es gilt, die Neuankömmlinge zu verfratzen. Sie rufen: Ihr gehört nicht zu uns, wir sind uns selbst genug, wir brauchen keine weitere Gesellschaft. Ihr seid hergeholt worden, um uns zu unterwandern. Fühlt euch hier bei uns nicht zu Hause, wir lassen euch niemals in Frieden!
In was für eine Welt sind die Fremden hineingeraten? In eine Welt ohne Tyrannen und Despoten, in den Frieden haben sie sich gerettet. Sie stehen aber plötzlich im Spuckeregen der Verachtung. Es hilft nichts, den Rechten edle Motive zu unterstellen, wie es mancher Feuilletonist tut. Es geht ihnen einzig und allein um die Fremdenabwehr, die Vaterländerei ist ihre Phrase der Stunde. Der Moslem, der Morgenländer, der Einwanderer, der Flüchtling: Sie sind in ihren Augen Geschöpfe dritten Ranges. Der Rechte ist kein Systemkritiker, kein Abweichler und kein Dissident, er ist vor allem kein besorgter Bürger. Wer die Eigenen gegen die Anderen ausspielt und hetzt, ist rechts. Punkt. Wer für das Recht der Armen streitet, ist ein Menschenfreund. Punkt. Es gibt keinen redlichen rechten Intellektuellen. Es gibt keinen redlichen rechten Schriftsteller. Mit wem reden? Die Patrioten können nur skandieren, als wären sie auf einer Kundgebung. In Deutschland, in Österreich, in der Schweiz haben sie sich in die Parlamente geblökt. Manch ein Schreiber oder Kulturredakteur, manch ein Bürgersohn mit einem reichen oder prominenten Vater, manch ein Philosoph und Jubeljahrbiograf sieht sich schon im Krieg als Frontberichterstatter. Sind sie erregt, weil sie über das Tamtam der unredlichen Empörer endlich von ihrer Langeweile wegkommen? Ich sage: Sie sollten die Spielchen lassen, sie sollten auf solche Sensationen wenig geben. Der wahre Skandal ist das Geschwätz vom großen Erwachen. Dies Wort hat keinen Wert. In diesem Wort verbirgt sich die böse Lust, Menschen Entartung anzudichten. Der Patriot ist ein wahnverstrickter Kleingeist mit einem auf- und niederwellenden Gemüt. Er ist ein Kraftprotz, der von einem Reich der Untertanen träumt. In diesem Traum herrschen Männer mit säuischer Natur. Aufgehoben wird dann sein das Erbarmen, aufgehoben der gute Friede, aufgehoben das Recht des Armen auf Salz und Brot. Die Ruhmesschlacht, von der die neuen alten Rechten träumen, bekommen sie nicht. Wir sind aus der Schrift geboren. Wir schreiben unsere kühnen, kühlen und wilden Geschichten. Wir lieben die leise Art und den lauten Hall. Niemals aber schreiben wir den Verzweifelten eine Abart zu. Diese Unterscheidung lässt sich nicht verwischen. Der feste Halt ist nicht das Volk, nicht die Sippschaft, nicht eine heilige Erde und nicht eine versunkene Welt. Ich finde festen Halt im Recht, dem Ausdruck des Gewissens. Daran glaube ich, davon rücke ich nicht ab. Auf den Glanz der Geschichte einer Nation gebe ich nichts. Es soll ein Menschengesicht glänzen. Klagenfurt ist ein Ort der vielen Geschichten. Es ist ein Ort der Beseelung. Wir schreiben, wir lesen, wir kämpfen. Wir stehen bei den Verlassenen. (Feridun Zaimoglu, 4.7.2018)
Aus: "Feridun Zaimoglu: Es gibt keinen redlichen rechten Intellektuellen" Feridun Zaimoglu (4. Juli 2018)
Quelle:
https://derstandard.at/2000082801180/Feridun-ZaimogluEs-gibt-keinen-redlichen-rechten-Intellektuellen---
[...] NZZ-Chefredaktor Eric Gujer hielt den folgenden Text als Rede an der Generalversammlung der AG für die Neue Zürcher Zeitung am 14. April 2018. Zur 150-jährigen Geschichte
Wir erleben eine extreme Polarisierung der Meinungen. Die Linke wittert überall Fremdenfeindlichkeit, die Rechte fühlt sich von Denkverboten umstellt. Wer das Falsche sagt, wird exkommuniziert. ...
Johannes R. Becher war ein Mann, der sich nicht beirren liess. Er war Kommunist, er lobhudelte Gedichte auf Stalin, verfasste den Text der DDR-Nationalhymne und wurde der erste Kulturminister des Arbeiter- und Bauernstaates. Ein dichtender Dogmatiker, selbstgewiss und unerschütterlich, wie gemacht für das 20. Jahrhundert mit seinen blutigen Ideologien, die umso «wahrer» wurden, je mehr Menschenleben sie forderten. Doch dann liess sich Becher beirren, wenigstens ein einziges Mal. Er schrieb das Gedicht «Der Turm von Babel», dessen letzte Strophe lautet:
«Das Wort wird zur Vokabel / Um sinnlos zu verhallen / Es wird der Turm zu Babel / Im Sturz zu nichts zerfallen».
Der biblische Turm stürzte bekanntlich nicht ein, er blieb nach der Sprachverwirrung einfach unvollendet. Bei Becher wurde der Turm jedoch zur Metapher des Zweifels an jeder Ideologie, die einen Alleinvertretungsanspruch auf die Wahrheit erhebt.
Mir scheint, als lebten auch wir wieder in Zeiten einer Sprachverwirrung babylonischen Ausmasses. Die grossen Ideologien sind verhallt. Bechers Kommunismus ist untergegangen, der Kapitalismus wurde gezähmt durch den Wohlfahrtsstaat. Und doch herrscht eine Sprachverwirrung oder, um es präziser auszudrücken: eine extreme Polarisierung der Meinungen.
Die Linke wittert überall «rechtes» Gedankengut: Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, völkische Gesinnung. Die Rechte sieht Political Correctness mit Denk- und Sprechtabus am Werk; ferner «Gutmenschentum», das bedenkenlos die Grenzen öffnet und so eine Verdrängung oder mindestens Bedrängung der Einheimischen provoziert.
Schienen nach dem Fall der Berliner Mauer die Begriffe «rechts» und «links» an Bedeutung zu verlieren, bilden sich nun an den Rändern neue Lager. Sie haben mit dem traditionellen Rechts-links-Schema wenig zu tun, auch wenn wir sie der Einfachheit halber so nennen.
Wie alle Kulturkämpfe wird auch dieser besonders erbittert geführt. Beide Lager operieren mit autoritären Sprach-Codes und verlieren die Fähigkeit zur Differenzierung. Kritik ist nicht mehr Kritik, sondern «Bashing». Schreit die eine Seite «Lügenpresse», schallt es zurück: «Nazi». Wer das Falsche sagt, wird aus der Gemeinschaft der Demokraten exkommuniziert, und man verweigert jede Diskussion. So wird die pluralistische Gesellschaft nicht nur ein Stück weniger pluralistisch. In diesem Überbietungswettbewerb verkommt jedes Argument zur Beleidigung, Denunziation oder Stigmatisierung.
Man muss nicht den Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp zum Antidemokraten erklären, nur weil er über die Grenzen der Willkommenskultur nachdenkt. Aber man sollte auch nicht den Untergang des Abendlandes heraufziehen sehen, nur weil eine Doktorandin der Universität Basel fordert, sogenannten «Rechten» den Zugang zu öffentlichen Verkehrsmitteln zu verwehren.
Exkommunikation und Exorzismus überlassen wir besser der Kirche, beides hat im republikanischen Diskurs nichts verloren. Auf diese Weise degeneriert die demokratische Debatte nämlich zum Glaubenskrieg, in dem jeder den anderen durch Lautstärke zu übertrumpfen versucht. Das Wort wird zur Vokabel, um sinnlos zu verhallen.
Warum es so weit gekommen ist, möchte ich mit drei Stichworten beleuchten. Sie lauten Globalisierung, Identität und Individualismus. Die üblichen Hauptverdächtigen – die digitale Filterblase und den neuen Beelzebub Mark Zuckerberg – klammere ich aus, weil das Internet den Effekt zwar verstärkt, hierfür aber nicht ursächlich ist.
Zur Globalisierung: Von 1988 bis 2008 hat die Mittelklasse in den asiatischen Schwellenländern, besonders in China, am meisten Wohlstand hinzugewonnen. Gut ging es auch den Wohlhabenden in der westlichen Welt. Die Einkommen der unteren Mittelklasse im Westen stagnierten hingegen. Die Mittelklasse ist die Verliererin der Globalisierung, auch wenn sich dieser Trend in einigen Ländern wie der Schweiz nicht beobachten lässt. Trumps Wähler aus der Arbeiterschaft fühlen sich zu Recht als Endmoräne der Industrialisierung.
Die globalisierte Welt stellt zugleich den Nationalstaat infrage, weil Kompetenzen an supranationale Körperschaften delegiert werden. Diese Zusammenschlüsse können vieles besser steuern als nationale Behörden, weil es zu spät ist für eine vorausschauende Politik, wenn afrikanische Migranten bei Chiasso gestrandet sind. Die Regulierung der Zuwanderung findet besser an der Aussengrenze Europas statt. So weit die Theorie, doch in der Praxis erleben die Bürger auch, wie sich das System durch mangelnden Informationsaustausch und nationale Egoismen schachmatt setzt.
Kein Wunder also, dass nicht nur die untere Mittelklasse die Globalisierung als Bedrohung ansieht. Mit ihr werden die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, Billigkonkurrenz und eine Zunahme der Einwanderung in Verbindung gebracht – kurzum das Verschwinden des Schutzraums, wie ihn der souveräne Nationalstaat einstmals markiert hat.
Damit einher geht das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Land zu verlieren. Nicht umsonst lautete das Motto der Brexit-Kampagne: «Take back control.» Rechtspopulisten haben das einst linke Thema Globalisierungskritik gekapert und gewinnen damit Wahlen. Die Gegenseite fühlt sich vom konservativen Zeitgeist provoziert und reagiert darauf mit Abwehrreflexen. So schaukelt man sich gegenseitig hoch.
Die Globalisierungsgegner befürchten nicht nur ein Fremdwerden im eigenen Land, sondern ebenso materielle Konkurrenz. In Wohlfahrtsstaaten bedeutet die Zuwanderung von niedrigqualifizierten Personen ohne Sprachkenntnisse eine längere Unterstützung durch die öffentliche Hand.
Die Wohlhabenderen mögen davon nicht viel verspüren. Alle anderen, für die staatliche Transferleistungen einen Teil des Lebensunterhalts bilden, sind sich des Wettbewerbs sehr wohl bewusst. Kommen dann noch Identität und Religion hinzu, ergibt dies einen explosiven Cocktail.
Der Soziologe Didier Eribon hat das am Beispiel seines eigenen Elternhauses, einer Arbeiterfamilie, beschrieben. Erst beklagten die französischen Arbeiter die Konkurrenz durch nordafrikanische Einwanderer am Arbeitsplatz, danach verdrängten die muslimischen Migranten die Einheimischen aus ihren angestammten Wohnquartieren. Spätestens dann schimpften die Arbeiter über die Islamisierung Frankreichs und wählten den Front national.
Dass die Eliten in Politik und Medien solche Zusammenhänge zunächst zu leugnen pflegen, verursacht zusätzliche Erbitterung. Diese löst sich irgendwann von der Migrationsfrage und mündet in eine allgemeine Elitenkritik – und zwar nicht wie 1968 von links, sondern von rechts. Die Meinungseliten, und das ist die Ironie dabei, die früher selbst die Systemfrage stellten und mit Jürgen Habermas die «Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus» beschworen, sehen sich nun ihrerseits durch Systemkritik herausgefordert.
Die Zurückweisung des Fremden, die Ablehnung der Institutionen und die Rückbesinnung auf eine verklärte Vergangenheit formieren sich zu einem veritablen Gegenmodell zu «1968».
Diese Bewegung ist weniger sprachgewaltig, ihre Protagonisten sind eher angegraute Wutbürger als aufrührerische Studenten. Aber sie formuliert genauso eine Unzufriedenheit wie jene vor fünfzig Jahren. Die Achtundsechziger verstanden sich als Revolutionäre, und jede Revolution gebiert nun einmal ihre Gegenrevolution.
Daher die wütende Kritik an Political Correctness und Denkverboten: In der Gegenrevolution geht es stets darum, die kulturelle Hegemonie der Eliten mit ihren Sprechweisen und Gesten der Überlegenheit zu erschüttern. Jede Gegenkultur versteht sich als Guerilla der Worte und Begriffe: Was früher das «Establishment» war, ist heute die «Lügenpresse».
Viele Journalisten reagieren darauf in einer Weise, die ihre Glaubwürdigkeit unterminiert. Sie machen sich mit ihren Gegnern gemein, indem sie ebenfalls mit Wortkeulen zuschlagen. Wenn sie nur lang genug eine hysterische Stimmung anheizen, sind die Medien irgendwann tatsächlich keine Organe der Aufklärung mehr, sondern Vehikel der Verdummung und Vernebelung.
Kulturkampf kann nicht Sache einer liberalen Zeitung sein. Dem Mummenschanz der selbsternannten Revolutionäre und Gegenrevolutionäre begegnet man am besten mit einer gehörigen Portion Gelassenheit. ...
Wie halten wir es mit der Identität? Das rechte Milieu hat Angst, seine Identität und den vertrauten gesellschaftlichen Zusammenhang, kurz: die Heimat, zu verlieren. Das linke Milieu erhebt den Anspruch auf eine Identität, mit der es sich selbst vom Rest der Gesellschaft abgrenzt. So wurde in den USA aus dem eingängigen Kürzel LGB für Lesben, Schwule und Bisexuelle der Zungenbrecher LGBTQQIAAP, um jeder geschlechtlichen Identität gerecht zu werden. Das Akronym bedeutet Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender, Queer, Questioning, Intersex, Asexual, Allies und Pansexual.
Lautete die Lieblingsvokabel der Linken früher Inklusion, also die Einbeziehung aller Benachteiligten in die Gesellschaft, so geht es heute um selbstbestimmte Exklusion: Man will in seiner Differenz anerkannt werden. Jeder will anders sein, und das ist das Gegenteil von Gesellschaft, denn diese lebt vom Gemeinsinn.
Die neue Lifestyle-Linke versteht sich nicht mehr als Anwalt der Unterprivilegierten, denn diese haben für die luxurierende Identitätspolitik des akademischen Überbaus wenig übrig. Lieber mokiert sich die Linke über die Rückständigkeit dieser Bevölkerungsschicht. Hillary Clinton nannte sie «deplorables», also Bemitleidenswerte.
Kein Wunder, dass in den USA, Italien, Deutschland oder Frankreich Mitte-links-Parteien Niederlagen kassierten. Sie haben keinen Bezug mehr zur Lebenswirklichkeit ihrer früheren Stammwähler, die in der Fabrik arbeiten und ihre Männlichkeitsrituale pflegen. Sie richten sich lieber an den Hipster, der für eine NGO arbeitet und zur knöchellangen Hose farbige Socken trägt. Der Niedergang der traditionellen staatstragenden Linken hat den Aufstieg der Populisten aller Couleur wesentlich erleichtert.
Die Identitätspolitik von rechts arbeitet ebenfalls mit Exklusion, schliesst aber nicht sich selbst aus, sondern andere: Migranten, Muslime, Mexikaner – und alle anderen von Donald Trump benutzten Stereotype. Betonten die Präsidenten vor ihm das Gemeinsame des Schmelztiegels USA, unterstreicht Trump das Trennende.
Die in Yale lehrende Professorin Amy Chua spricht von «tribalism»: Linke und Rechte bilden Stämme, die den anderen und seine Argumente nur deshalb ablehnen, weil er zu einem anderen Stamm gehört. Verständigung ist so nicht mehr möglich. Das Wort wird zur Vokabel, um sinnlos zu verhallen.
Ging es früher um Gleichheit, geht es heute um Ungleichheit. Das Trendwort in Unternehmen und an Universitäten lautet Diversität. Je mehr Vertreter unterschiedlicher Gruppen eine Institution umfasst, umso besser. Das klingt positiv, nach Toleranz und Vielfalt, hat aber einen Haken. Es kommt weniger darauf an, was wir können, als darauf, wer wir sind. Schwierig wird es dann, wenn man sich in der Mitte der Normalverteilungskurve befindet, also nichts Besonderes ist: etwa der sprichwörtliche weisse Mann aus der Babyboomer-Generation. Gehört er der Unterschicht in den USA an, muss er erleben, dass Förderprogramme die Position anderer Gruppen am Arbeitsmarkt verbesserten, sich an seiner Lage jedoch nichts ändert.
Auch die Ostdeutschen machten die Erfahrung, dass ihr DDR-Leben in den Augen vieler Westdeutscher überflüssig war, während der Westen definiert, was «richtiges» Leben ist. Wer keine ausgeprägte Identität besitzt, fürchtet umso stärker deren Verlust. Viele Ostdeutsche und weisse Amerikaner wählen deshalb die AfD und Trump.
Das Ideal der Aufklärung lautet, dass wir alle gleich sind und unsere Besonderheiten gerade nicht unseren Wert als Bürger bestimmen. Je weiter wir uns von diesem Ideal entfernen, umso tiefer werden die Gräben, umso mehr sitzt jeder in seiner Stammes-Ecke. Menschen sind immer versucht, andere Menschen einzuteilen in wir und sie, Freund und Feind. Das entspricht unserer Natur als Hordenwesen. Doch wir sollten der Natur nicht zu fest nachgeben. Eine pluralistische Gesellschaft ist keine steinzeitliche Horde.
Damit wären wir beim Individualismus. Er hat im 20. Jahrhundert einen Siegeszug erlebt, im Westen herrscht geradezu ein Kult der Selbstverwirklichung. Der Einzelne hat sich aus den Zwängen der Grossgruppen befreit. Weder Sippe und Grossfamilie noch deren moderne Surrogate hemmen die Entfaltung der Individuen, und diese machen von ihrer Freiheit weidlich Gebrauch: Gewerkschaften und Kirchen kämpfen mit Mitgliederschwund, während Fitness-Studios florieren.
Seine Selbstermächtigung bezahlt der Einzelne allerdings teuer. Im Reich der grenzenlosen Freiheit findet er keinen Halt und keine Stütze mehr. Die fraglose Zugehörigkeit zu einer Institution bot Entlastung. Jetzt sind wir für alles selbst verantwortlich.
Nicht einmal mehr die Makroideologien, denen sich Johannes Becher verschrieb, stiften noch Sinn. Rechtspopulisten polemisieren gegen die Marktwirtschaft, Linkspopulisten plädieren für eine restriktive Einwanderungspolitik. Alles verschwimmt, und es entsteht das Gefühl, dass alles immer schlimmer wird: Kriege und Handelskriege, Populismus und Polarisierung – nichts davon ist wirklich neu, dennoch glauben wir, wir befänden uns auf einer schiefen Ebene.
Stattdessen boomen die Mikroideologien rund um Gesundheit und Ernährung. Jeder wird zur Ich-AG der Selbstertüchtigung. ... Konnte man früher Karl Marx einen guten Mann sein lassen, Marxismus oder Kapitalismus über einem Feierabendbier vergessen, ist das mit den Mikroideologien schon schwerer. Zeigt das Armband eine zu geringe Schrittzahl an, meldet sich das schlechte Gewissen. Bei jeder Scheibe Brot droht die «Weizen-Wampe», wie der Titel eines Ernährungsratgebers lautet, der den Lesern erklärt, «warum Weizen krank und dick macht».
Mit den Ich-zentrierten Mikroideologien kreisen wir um uns selbst. Orientierung finden wir so nicht, es entsteht eher ein Klima der Gereiztheit. Nebenbei löst sich der Kitt der Gesellschaft auf. Sie atomisiert sich in Kleinstgruppen, weil «jetzt auch die bekennenden katholischen Nichtschwimmer mit einem Interesse an Hirschgeweihen ihre geschlossene Facebook-Gruppe gründen», wie der Medienforscher Bernhard Pörksen in einem Interview mit der NZZ spöttelte. Jedem sein Hirschgeweih, jedem seine weizenarme Diät.
Für Liberale ist Kritik am Individualismus ein heikles Geschäft, weil sich der Liberalismus die freie Entfaltung des Individuums zum Ziel gesetzt hat. Dennoch müssen wir uns fragen, ob wir mit der Selbstverwirklichung nicht übers Ziel hinausgeschossen sind und uns zu wenig dafür interessieren, was Gesellschaften zusammenhält.
Liberale als die vernünftige Mitte tun gut daran, die Gräben nicht noch zu vertiefen: etwa den zwischen Stadt und Land. Während in den Zentren die fortschrittliche Avantgarde regiert (oder das, was sich dafür hält), haben in der Peripherie die Volksversteher und echten Schweizer das Sagen (oder die, die sich dafür halten). Unser Land besteht aus sehr unterschiedlichen Biotopen, aber am Ende ist es immer eine Schweiz. Folglich muss man Politik für das ganze Land machen und nicht nur für Klientelgruppen, ob urbane Schickeria im Kreis 4 oder Bauern im Toggenburg.
In diesem Kontext muss eine liberale Zeitung wie die NZZ einen klaren Standpunkt vertreten, aber zugleich der Debatte eine Plattform bieten. Denn ohne den Meinungsstreit, in dem man dem Gegenüber mit Respekt begegnet, verkümmert die öffentliche Sache, die Res publica.
Wir lassen uns deshalb nicht einschüchtern von autoritären Sprach-Codes, dem «Rechtsrutsch»- oder «Lügenpresse»-Geschrei, das besonders laut wird, wenn wir einer pointierten Stimme aus einem der beiden Lager das Wort geben.
Für die Bibel ist der Turmbau zu Babel die Metapher für eine Gesellschaft, die Gott herausfordert. Man kann das Gleichnis aber auch ins Positive wenden. Jede moderne Gesellschaft ist ein Turm, der sich immer weiter gen Himmel schraubt; ein Bau, der nie stillsteht, und eine fragile Konstruktion, wie alles, was Menschenhand hervorbringt. Wo die Bauarbeiten aufhören, endet die Weiterentwicklung, und der Verfall beginnt.
«Es wird der Turm zu Babel / Im Sturz zu nichts zerfallen.»
Nimmt die Sprachverwirrung überhand, verhalten wir uns wie Horden, die glauben, jede andere Horde habe prinzipiell unrecht, dann werden die westlichen Demokratien zwar nicht einstürzen, aber ihre Dynamik und Attraktivität verlieren. Die liberale Demokratie hat viele Gegner. Doch der einzige Gegner, der ihr wirklich etwas anhaben kann, sind wir selbst, wenn wir ihre Grundlagen zerstören.
Deshalb müssen wir den Turm gemeinsam weiterbauen. Wir müssen zur Verständigung über Gräben hinweg fähig bleiben und die polarisierenden Kräfte mit ihren Feindbildern in die Schranken weisen.
Aus: "Kommentar: Der eine schreit «Lügenpresse», der andere «Nazi»" Eric Gujer (18.4.2018)
Quelle:
https://www.nzz.ch/meinung/der-eine-schreit-luegenpresse-der-andere-nazi-ld.1377703