Didier Eribon (* 10. Juli 1953 in Reims) ist ein französischer Autor und Philosoph. Er unterrichtet als Professor für Soziologie an der Universität Amiens. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Didier_Eribon-
Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 23.07.2016: Christiane Müller-Lobeck kann nur den Kopf schütteln: Wie kann dieses virtuose Buch, das nicht nur bewegend den schwierigen Werdegang eines schwulen Fabrikarbeitersohnes zum bedeutenden französischen Intellektuellen schildert, sondern auch den Erfolg des Front National analysiert, erst sieben Jahre nach der französischen Veröffentlichung auf Deutsch erscheinen, fragt die Kritikerin. Mit Blick auf den Brexit und AfD-Erfolge bleibt das Buch dennoch ungebrochen aktuell, versichert die Rezensentin, die bei Eribon erfährt, dass möglicherweise der Dirigismus der französischen Kommunistischen Partei für den Zulauf von Linken zu den "autoritären" Versprechen der Rechtspopulisten verantwortlich ist. ...
https://www.perlentaucher.de/buch/didier-eribon/rueckkehr-nach-reims.html-
[...] Donald Trump, Front National oder AfD: Fast überall in der westlichen Welt sind Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Dabei verbindet sie vor allem eins: Sie stoßen besonders in den unteren Einkommensschichten auf Resonanz. Stellt sich die Frage: Warum? Genauer gesagt: Auch wenn die Arbeitermilieus historisch keine „natürliche“ Klientel der Linken bilden, da sie auch immer schon in konservativen Kreisen verankert waren, bleibt zu klären, warum linke Parteien nun so erschreckend eindeutig von rechtspopulistischen abgelöst werden.
Eine erste Antwort liefert Didier Eribon in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch Rückkehr nach Reims: „So widersprüchlich es klingen mag“, heißt es dort, „bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfalls eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten.“ ...
Denn in dem Moment, wo Teile der Linken den „Dritten Weg“ beschritten und plötzlich von Eigenverantwortung und Ich-AG sprachen, manifestierten sie ja nicht nur eine Dauerprekarisierung ganzer Milieus, sie zerstörten auch die letzten Reste eines Klassenbewusstseins. Das zeigt sich schon sprachlich. Aus Arbeitern wurden „Geringverdiener“, aus Proletariern „sozial Schwache“. Aus einem Kollektivsubjekt, das Rechte einforderte, wurde ein Sammelsurium von Opfern und Hilfsempfängern.
Welchen psychopolitischen Effekt das hatte, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass kommunistische und sozialdemokratische Parteien historisch nicht nur als nüchterne Interessenvertreter der Arbeiterschaft dienten, sondern immer auch proletarische Identitätsmaschinen bildeten. Mit einem Repertoire an Symbolen und Narrativen, von der roten Fahne bis zur Internationale, gaben sie ihren Anhängern zurück, was im Fabrikalltag verloren zu gehen drohte: Stolz und Würde.
Und das war nicht zuletzt deshalb möglich, weil der Marxismus, ob nun revolutionär oder reformistisch, das dialektische Versprechen barg, mit der „Philosophie des Elends“ Schluss zu machen: Aus dem Knecht sollte schließlich irgendwann der Herr werden. Fragt man sich also, warum Trump so viele blue-collar workers begeistert [Unter den Begriffen Blue Collar (worker) und White Collar (worker) versteht man die zumeist in einem Produktionsbetrieb beschäftigten Industriearbeiter und Handwerker einerseits, und die Büro-, Handels-, Dienstleistungs- und ähnliche Berufe andererseits, oder allgemeiner die eher nur im Deutschen verbreiteten Begriffe von Arbeitern und Angestellten.], 86 Prozent der Arbeiter bei der Stichwahl zum österreichischen Präsidenten für FPÖ-Kandidat Norbert Hofer votierten oder die AfD der Linkspartei Wähler abwirbt, besteht eine Antwort darin, dass die Rechtspopulisten schlicht eine Lücke füllen. Obschon deren ökonomische Programme den Interessen der unteren Schichten bisweilen sogar widersprechen, die AfD ist in dieser Hinsicht ja weitestgehend noch jene neoliberale Honoratiorenpartei, als die sie einst startete, geben sie sich als Repräsentanten der „kleinen Leute“. Und im Gegensatz zur Linken haben sie obendrauf vor allem noch ein Identitätsangebot: jenes völkische Phantasma, das Stolz bereits aus der Nationalität und Hautfarbe ableitet.
Und es ist ja nicht so, dass alle, die für Front National oder AfD stimmen, damit schlagartig rassistisch würden. Allein deshalb nicht, weil viele es schon vorher waren. Eribon beschreibt etwa eindrücklich, wie stark der Alltagsrassismus in seiner Familie bereits in jener Zeit war, als diese noch für die Parti Communiste votierte. „Mit der Entscheidung für linke Parteien wählte man gewissermaßen gegen seinen unmittelbaren rassistischen Reflex an, ja gegen einen Teil des eigenen Selbst, so stark waren diese rassistischen Empfindungen.“ Parlamentarisch übersetzt sich Fremdenfeindlichkeit also vollends erst dann, wenn der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit von der politischen Bühne verschwindet.
Neben der von Eribon aufgeworfenen Frage der Identität ließe sich aber noch ein weiterer Aspekt anbringen. Und zwar die Tatsache, dass linke Diskurse oft nur noch von dem bestimmt sind, was der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli „Opferideologie“ nennt. Nun muss man bei dem Wort Opferideologie erst einmal schlucken. Hört sich das doch zunächst nach einem jener Rülpser aus der Maskulinistenhölle an, wonach es gar keine Opfer von Rassismus, Sexismus oder Homophobie gebe, sondern es genau andersherum sei. „Gender-Ideologie“ und Political Correctness bildeten ideologische Waffen im Feldzug gegen den weißen Mann.
Es ist jener gleichermaßen reaktionäre wie perfide Ethos, den Clint Eastwood kürzlich im Interview mit Esquire auf den Punkt brachte, als er sich darüber mokierte, dass wir in einer „pussy generation“ leben, in der Menschen andere Menschen tatsächlich des Rassismus bezichtigen. „Als ich groß wurde“, sagte Eastwood, „hat man solche Sachen nicht rassistisch genannt.“
Im Gegensatz zu diesem reaktionären Diskurs, der sich ja deshalb wieder in die 50er Jahre wünscht, weil da Frauen, Schwarze und Homosexuelle eben noch die Schnauze zu halten hatten, geht es Giglioli in seinem Essay Die Opferfalle um etwas anderes.
Wenn die Formulierung einer Opferposition nicht mehr mit der Idee der Ermächtigung verbunden sei, drohe die Kultivierung von Passivität, schreibt Gigliolo. Das heißt: Wird das Ausstellen der eigenen Erniedrigungen zum Selbstzweck, bindet sich der Mensch an seine eigenen Verletzungen. Dann wird er zur bloßen Summe seiner Kränkungen. „Das Opfer ordnet das Sein hinter das Haben, reduziert das Subjekt auf einen Träger von Eigenschaften (und nicht etwa von Handlungen), verlangt von ihm auf schmerzhafte, aber stolze Weise das zu bleiben, was es ist.“
Die Kritik zielt also nicht darauf, dass Menschen kein Zeugnis von ihrem erlittenen Unrecht ablegen sollten. Sie zielt darauf, dass es ohne politisches Projekt in einer bloßen Ontologie des Mangels münden kann. Und das führt nicht nur dazu, dass der Konflikt immer öfter durch den Skandal, Politik durch Moral ersetzt wird, sondern auch, sagt Giglioli, zum „Verlust einer allgemeinen, positiven Idee des Guten“. ...
Was also tun? Ein bloßes Zurück zum alten Klassenkampf kann es freilich nicht sein. Schon deshalb, weil der klassische Marxismus historisch ja bewiesen hat, dass er jene emanzipatorischen Diskurse, ohne die eine offene Gesellschaft nicht zu denken ist, Feminismus oder den Kampf für die Rechte von Homosexuellen, nicht ausreichend integrieren konnte, ja ihnen bisweilen sogar widersprach. Eribon beschreibt zum Beispiel, wie sehr ihm bei seinem politischen Engagement immer wieder Homophobie entgegenschlug. Vielleicht wäre es aber ein Anfang, wenn die Linke jenes Bonmot von Karl Marx beherzt, wonach es zunächst nicht darum geht, alle gesellschaftlichen Widersprüche aufzuheben, sondern darum, ihnen eine Form zu geben, in der sie sich bewegen können. Die Rechtspopulisten tun das nämlich bereits.
fugetivo 13.08.2016 | 10:54
Gerne gelesen und als Ergänzung aus meinem Blogbeitrag:
Didier Eribon über "beschädigte" linke Sprache und Falschwörter: "Die linken Parteien mit ihren Partei- und Staatsintellektuellen dachten und sprachen fortan nicht mehr die Sprache der Regierten, sondern jene der Regierenden, sie sprachen nicht mehr im Namen von und gemeinsam mit den Regierten, sondern mit und für die Regierenden, sie nahmen gegenüber der Welt nunmehr einen Regierungsstandpunkt ein und wiesen den Standpunkt der Regierten verächtlich von sich, und zwar mit einer verbalen Gewalt, die von den Betroffenen durchaus als solche erkannt wurde. In den christsozialen oder philanthropischen Ausprägungen dieses neokonservativen Diskurses ließ man sich bestenfalls dazu herab, diejenigen, die gestern noch „unterdrückt“ oder „beherrscht“ gewesen waren und politisch „gekämpft“ hatten, als „Ausgeschlossene“ darzustellen, als „Opfer“ von „Armut, Prekarisierung und Ausgrenzung“ und somit als passive und stumme potentielle Empfänger technokratischer Hilfsmaßnahmen. ...
Wenn man „Klassen“ und Klassenverhältnisse einfach aus den Kategorien des Denkens und Begreifens und damit aus dem politischen Diskurs entfernt, verhindert man aber noch lange nicht, dass sich all jene kollektiv im Stich gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter diesen Wörtern objektiv zu tun haben. Im Gegenteil: Von den Verfechtern des „Zusammenhalts“, der „notwendigen“ Deregulierung und des „notwendigen“ Rückbaus sozialer Sicherungssysteme fühlen sie sich nicht länger repräsentiert. [3] Quelle: Blätter für deutsche und internationale Politk. Augustausgabe 2016, S. 57 f. ...
Reinhold Schramm 13.08.2016 | 10:27
Das gesamte Erziehungs- und Bildungssystem im Kapitalismus ist nachhaltig auf die Unterwerfung -insbesondere der Arbeiterklasse (einschließlich Familienangehörigen) - ausgerichtet. Die geistige Manipulation der Ausgebeuteten ist ein Wesensbestandteil der imperialitsichen Klassen- und Konsumgesellschaft.
JR's China Blog 13.08.2016 | 11:37
@Richard Zietz
Was Frankreich anbelangt, erschien bereits im letzten Jahr eine gute (wenn auch leider ziemlich untergegangene) Analyse: Wer ist Charlie? Die Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens von Emmanuel Todd. Todds Hauptbeobachtung: Der FN legte vor allem in den Hochburgen der früheren Arbeiterbewegungs-Linken deutlich zu – im nordfranzösischen Industrie- und Großlandwirtschaftsgürtel südlich der belgischen Grenze bis hin zum Elsass und an der Mittelmeerküste. Todds Ursachenanalyse: der aufgestiegene neue Mittelstand aus dem Reservoir der Linken und die konservativen Eliten des alten katholischen Frankreichs haben sich zwischenzeitlich amalgamiert zu einer Elite, die brutal Front macht gegen die Abgehängten. Diagnose auch hier: Abwendung von der sozialen Frage, Zuwendung zu postmateriellen Ideologiefragmenten inklusive der zu diesem Zweck neu aufgegleisten Diskursfragmente.
Todds Analyse fokussiert zwar auf Frankreich. Bezieht man landesspezifische Besonderheiten mit ein, findet der Klassenkampf zwischen Elite(n) und »Plebs« jedoch exakt nach dem im Artikel beschriebenen Muster statt – nicht nur europaweit, sondern überall dort, wo Gesellschaften genügend ausdifferenziert sind und eine passende »Sozialgenese« ausweisen. Dass die Linke mit dem seit den Neunzigern vollzogenen Umsatteln auf postmaterielle Problemstellungen besagten Prozess der Entfremdung aktiv mitbefördert hat, ist als Element so augenfällig, dass es eigentlich kaum noch einer besonderen Erwähnung bedarf.
Was würde helfen? Ich würde nicht so weit gehen wie im Artikelintro postuliert und eine andere Sprache fordern. Das Anstreben eines klassenübergreifenden Volksfront-Bündnisses hingegen gegen das Big Business von Multis, flottierendem Kapital, Militär und Politik (beziehungsweise einer Regenbogen-Koalition ähnlich der der US-Demokraten in ihren besten, »heroischsten« Zeiten) würde die richtigen Weichen stellen. Allerelementarste Voraussetzung eines solchen Bündnisses allerdings wäre die Umorientierung der die Breite der Gesellschaft bildenden Mittelschichten. Profan gesprochen: raus aus dem ideologischen Darmausgang der neoliberalen Eliten, Findung einer eigenen Klassenposition und im Anschluss daran: Formierung eines Bündnisses mit den Ausgegrenzten, Underdogs sowie den Resten der noch existenten Arbeiterklasse.
Also: Arbeiter, Prekäre, Frauen, Jugendliche und Migrant(inn)en – plus die im Hamsterrad (noch) mitlaufenden Teile der Mittelschichten. Nur so kommt genügend (kritische) Masse zusammen, um den neoliberalen Steuerern des Sytems Paroli zu bieten. Und sie – eventuell – in ihre Schranken zu verweisen.
Ohne eine wirkungsvolle Kommunikation ist der Teil der Bevölkerung, der sich von rechts angesprochen fühlt (es sind keineswegs nur "kleine Leute") tatsächlich nicht erreichbar. Ob das eine ganz andere Sprache sein muss, kann ich nicht beurteilen. Aber es fehlt nicht nur eine Idee des Guten - solche Ideen gibt es ja aus kirchlichen und politischen Quellen gar nicht wenige. Wenn sie aber nicht rauf und runter propagiert werden, werden sie auch nicht wahrnehmbar. Grundsätzlich fehlt die Bereitschaft, den Interessenkonflikt zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu sehen und ernst zu nehmen - nicht nur "von oben" oder "von unten", sondern auch medial, also im Zwischenbau und dem elektronischen Teil des öffentlichen Raums.
Ein Forist in der FC hat es am vor zwei Tagen so geschrieben:
"Frau Wagenknecht versucht (- so sehe ich das), den von (potentiellen) Links-Wählern gesehenen Konflikt zwischen ihren direkten sozialen Interessen und dieser Einreise-Welle aufzugreifen. Viele Wähler finden es nötig, zwischen Asyl Suchenden und Arbeit Suchenden zu unterscheiden, und zweifelhafte Gestalten eher abzuweisen. Jeder, der so redet, läuft Gefahr, als ausländerfeindlich und rechts attackiert zu werden. Aber auch linke Politiker müssten die Zielkonflikte erkennen, die sich beispielsweise zwischen höherem Mindestlohn und der Zunahme der Zahl gering Qualifizierter bestehen, oder welche das Umverteilungspotential im Rentensystem betreffen."
Auch das mag nicht jeder hören - ist aber wichtig.
Zack 13.08.2016 | 15:27
... Zwecklos zu erwähnen, dass der Klassenkampf von Oben kracht und gedeiht und mittlerweile die Erscheinungsformen eines globalen „Weltbürgerkrieges“ angenommen hat, der alle störenden staatlichen, institutionellen und „kulturellen“ Formationen dieses Globus mit Tod und Vernichtung überzieht.
schna´sel 13.08.2016 | 15:52
@schna´sel
Weil es zu dem Gesagten wirklich passt, wie der Vielzitierte auf den Eimer, hier noch der Link zu dem aktuellen Communtity Beitrag: "Links gegen Links" https://www.freitag.de/autoren/david-gutensohn/links-gegen-links (12.08.2016)
»Ausgerechnet die Regierung in Griechenland geht mit harter Hand gegen Hausbesetzungen und Wohnprojekte vor. Ein Bericht aus der linken Szene in Thessaloniki«
Ehemaliger Nutzer 13.08.2016 | 21:13
Die Linke denkt zu kompliziert. Wichtigstes Beispiel: Arbeitskräftefreizügigkeit und Migration sind schlicht und ergreifend nicht Interesse von "working class people". Diese working class people haben dadurch nur zu verlieren. Deswegen haben sie für den Brexit gestimmt. Es sind Interessen- und Verteilungskonflikte, es ist kein Rassismus, zumindest nicht in erster Linie.
Sikkimoto 17.08.2016 | 14:30
@Magda
>Sofort werden deren Probleme, als Luxus oder deren Vertreter gar als Parteigänger des Neoliberalismus angefeindet.<
Erst mal: Die Anfeindung läuft in den allermeisten Fällen umgekehrt. Man wird in der eigenen Partei beschimpft weil man Wahrheiten ausspricht, die jedem Menschen bei halbwegs klarem Verstand offensichtlich sind. Neuerdings weiss man, es geht selbst Fraktionsvorsitzenden so, nur wird es dort noch in alle Öffentlichkeit hinausposaunt. Ja, Mitlerweile gärt es. Weil die Lederers und co sehr weit davon entfernt sind, das durchschnittliche Milieu eines Linken-Anhängers zu repräsentieren. Viele hier im Westen waren zudem früher bei SPD oder Grünen oder zumindest in deren Umfeld. Die wissen wie es ist, wenn die eigene Partei von neoliberalem Pack gekapert wird und reagieren besonders giftig darauf.
Zweitens: Warum diese "Anfeindung"? Weil viele dieser Vertreter auch genau das sind: Parteigänger des Neoliberalismus. Um zu Differenzieren, muss man ins Konkrete gehen. Nehmen wir mal das Schlachtfeld Feminismus: Das "Eigentliche" (sie fragten ja) oder zumindest ein sehr wesentlicher Punkt ist hier die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit. Und zwar ein guter, kein prekärer Lohn. Wenn sie jetzt auf die Vertreter der Karrierefeministen achten, werden sie feststellen, dass hier alles mögliche an nachrangigem Schnickschnack gefordert wird, nur kaum etwas, was Frauen/Müttern in präkerer Lohnabhängigkeit oder Arbeitslosigkeit helfen würde.
Wir haben in diesem Land seit Jahren Hartz4, prekärste Beschäftigung, Kinderarmut. Wer dann anfängt seine kleinen Identitätskrisen zu politisieren weil er nicht weiß auf welches Klo er gerne möchte soll doch einfach woanders hingehen ...
Heutige Linksintellektuelle (echte oder vermeintliche) kommen ja gerne von den Sprachwissenschaften. Das führt mitunter dazu, dass Begrifflichkeiten völlig überbewertet werden. Das Wort wird zu einem Fetisch, mit quasi magischen Fähigkeiten: Spreche ich so und so, dann formt es mein Denken.
Tatsächlich läuft es in aller Regel andersherum: Das Denken macht die Sprache. Und auch hier irrt der Autor, wenn er meint, man habe es nur mit einem Kommunikationsproblem zu tun.
>Aus Arbeitern wurden „Geringverdiener“, aus Proletariern „sozial Schwache“. Aus einem Kollektivsubjekt, das Rechte einforderte, wurde ein Sammelsurium von Opfern und Hilfsempfängern.<
Hier will uns Markwardt die veränderte Sprache zeigen, er legt aber völlig treffend, die veränderte Realität dar. Das Kollektivsubjektiv gibt es nicht mehr. Wie viele Arbeitnehmer sind denn heute aktiv in Gewerkschaften organisiert? Wie viele, die unter der willkürlichen Gängelung durch das Jobcenter leiden, ziehen daraus die Konsequenz, etwas juristisch auszufechten oder sich politisch zu engagieren? Es sind immer Minderheiten. Die große Masse derer, die unsere Gesellschaft mit Füßen tritt ist völlig lethargisch. Das Bild vom Opfer ist nicht zugeschrieben, es wird gelebt.
Ohne Organisation und politische Arbeit wird es nicht besser.
...
Aus: "Wo bleibt der Stolz?" Nils Markwardt (13.08.2016)
Quelle:
https://www.freitag.de/autoren/nils-markwardt/wo-bleibt-der-stolz?