[...] Rainer Bock: Es gibt kaum einen hierarchischer strukturierten Apparat als das Theater. Das ist vergleichbar mit dem Aufbau eines Klinikums von Chefarzt, Oberarzt und so weiter bis hin zur Putzhilfe. ... (Zur Person: Rainer Bock, 1954 in Kiel geboren, war nach dem Schauspielstudium mehr als dreißig Jahre lang an renommierten Bühnen wie dem Bayerischen Staatsschauspiel in München engagiert. Sein Kinodebut hatte er 2009 in Michael Hanekes Film „Das weiße Band“. Danach folgten Auftritte in „Inglourious Basterds“, „A Most Wanted Man“ sowie in Serien wie „Better Call Saul“ und dem TV-Film „Der Überläufer“). ...
Aus: "„Ich finde es toll, wenn mir Vorurteile um die Ohren gehauen werden“" Interview: Christina Bylow (23.08.2020)
Quelle:
https://www.fr.de/panorama/rainer-bock-ich-finde-es-toll-wenn-mir-vorurteile-um-die-ohren-gehauen-werden-90028941.html-
[...] Theaterbesucher, die während der Vorstellung ihren Unmut bekunden und Türen schlagend den Saal verlassen, sind seltener geworden. Woran liegt das?
[Doris Kolesch, Professorin für Theaterwissenschaft]: ... Die wildeste Zeit im Theater war definitiv im 17. und 18. Jahrhundert: Da wurde gegessen und getrunken während der Vorstellung, und Prostituierte boten ihre Dienste an. ... Verglichen mit den Theaterskandalen im 18. Jahrhundert geht es heute absolut bieder und langweilig zu. Provokationen gab und gibt es aber immer wieder. Das zeigt, wir stark Theater sozial codiert ist: Relativ strenge Codes regeln, wie wir uns im Saal zu verhalten haben. ... Das Publikum wurde etwa dazu erzogen, erst am Schluss zu klatschen und nicht ständig zwischen den Szenen. Das Theater ist zudem ein öffentlicher Ort, das heisst, ich zeige mich dort und interagiere mit anderen. Und diese Interaktion ist hochgradig trainiert. Eine soziale Disziplinierung, die in Bezug auf den Bildungsstand ausgrenzend wirkte. Das hatte zur Folge, dass das Theater bis heute primär ein bildungsnahes und finanziell gut situiertes Publikum anzieht.
...
Aus: "«Ein netter Abend ist absolut legitim»" Lena Rittmeyer (20.05.2017)
Quelle:
https://www.derbund.ch/kultur/theater/ein-netter-abend-ist-absolut-legitim/story/23057835-
... Aus einem Gespräch mit Francis Seeck und Julischka Stengele über Klassismus in der Kunst .... Stengele: Laut einer Studie kommen nur neun Prozent aller Bewerberinnen und Bewerber für die Wiener Akademie der bildenden Künste aus einkommensschwachen Schichten, Menschen, die in Jugendeinrichtungen aufgewachsen sind, machen nur ein Prozent aus. ...
Aus: "Bildungsbürger unter sich?" (25.04.2021)
Quelle:
https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/kultur/buehne/2101585-Welche-Folgen-hat-der-bildungsbuergerliche-Habitus-in-Kultureinrichtungen.html-
[...] Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Und da könne jeder alles werden. Wenn er sich nur genug anstrenge. Leistung werde belohnt. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. In der Mittelklasse gehen Ängste vor dem Abstieg um. Und die Kluft zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander.
Und das erleben Millionen Menschen in der Bundesrepublik als Alltag. Bzw.: Sie erleben es nicht. Vom wachsenden Reichtum bekommen sie nichts mit. Sie kämpfen sich mit mies bezahlten Jobs durchs Leben. Und haben nicht mal eine Chance, auch nur eine Stufe des Wohlstands nach oben zu steigen.
Sie leben in „Problemvierteln“, halten in Dienstleistungsjobs den Laden am Laufen und haben in der Corona-Zeit mal wieder erlebt, dass sie nicht zählen, wenn die Abgeordneten der Wohlhabenden Förderprogramme auflegen.
Sie gehören zur Klasse der Armen, Niedriglöhner, Billigjobber, der „working poor“, gelten als „bildungsfern“ und „sozial schwach“. In ihren Vierteln patrouilliert die Polizei. Aber oft finden sie nur noch in solchen Vierteln am Stadtrand überhaupt eine Wohnung.
Arbeitslosigkeit und drohende Wohnungskündigung sind bei ihnen als Schatten immer präsent. Sie müssen ihre Kinder auf „Problemschulen“ schicken und wissen schon bei der Einschulung, dass die Chance, dass die Kinder mal eine Gymnasialempfehlung bekommen, viermal geringer ist als bei Kindern aus Akademikerhaushalten.
An der Stelle holen wir kurz Luft. Denn seit zehn Jahren tut sich etwas, nehmen auch Hochschulen wieder wahr, dass etwas nicht stimmt in unserer Gesellschaft. Ökonomen beschäftigen sich auf einmal wieder mit Aufstiegschancen, Vermögensverteilung und manifester Armut.
Auch Politologen sind ganz leicht nervös, denn nicht ganz grundlos verlieren die Volksparteien ihre Wähler, zeigen sich tiefe Risse in der Gesellschaft. Risse, vor denen die großen Medien mit manifester Ratlosigkeit stehen.
... Männer merken oft nicht, wie selbstverständlich sie Frauen abwerten und kleinhalten. Und dasselbe trifft auf den Blick der Wohlhabenden und Reichen auf die Armen zu. Denn einer ihrer Glaubenssprüche lautet nun einmal: Erfolg muss man sich verdienen. Und jeder kann erfolgreich sein. Er muss es nur wollen.
... [N]atürlich ist die Klimakrise genauso wie der Raubbau an der Natur Folge dieser Unersättlichkeit. Es sind nicht die Armen, die die Welt zerstören. Sie leiden nur als erste darunter, wenn die Mietkosten explodieren, die Preise im Supermarkt steigen und die Fahrt zur Arbeit teurer wird. Das Lebensnotwendige macht praktisch 100 Prozent ihres Einkommens aus. Sie haben kein Geld, das sie in Aktien investieren können, in Rentenvorsorge oder in ein größeres Auto.
... Und sie leiden unter der Gewalt, die diese Ausgrenzung zur Folge hat. Von den gesundheitlichen Folgen ganz zu schweigen. Und ein gewaltiges Problem ist entstanden, seit ausgerechnet linke Parteien wie die SPD mit ihrer Politik die Verachtung für die da unten manifestiert haben: „Das Thema soziale Gerechtigkeit wird aktuell allerdings von rechts vereinnahmt“, wie Seeck betont.
Und zwar von ganz rechts. Der sogenannte „Populismus“ kommt nicht aus dem Nichts. Er hat seine Ursachen genau in dieser Politik der Verachtung der Habenden gegenüber den Habenichtsen – auch wenn letztere, wenn man es genau betrachtet, die Hälfte unsere Gesellschaft ausmachen.
Nur zählen sich viele Deutsche nicht zu den „working poor“, obwohl sie mit ihren Kröten geradeso über die Runden kommen. Sie rechnen sich in Umfragen lieber zum Mittelstand. Denn das hat auch mit Würde und Selbstachtung zu tun (noch so ein ostdeutsches Thema). Denn wenn in der Gesellschaft die Armut auch noch als Schande und selbstverschuldet betrachtet wird, dann schämt man sich seiner Armut. Und versucht, diese zu verstecken, so gut es geht.
... Wer nicht beginnt, auch Klassismus als eine fest in unserer Gesellschaft verwurzelte Diskriminierung zu begreifen, wird niemals auch nur im Ansatz soziale Gerechtigkeit herstellen. Das Buch [Francis Seeck: Zugang verwehrt, Atrium Verlag, Zürich 2022] ist ein kleiner Muntermacher, was dieses Thema betrifft.
...
Aus: "Zugang verwehrt: Höchste Zeit, über Klassismus in Deutschland zu reden" Ralf Julke (13. März 2022)
Quelle:
https://www.l-iz.de/bildung/buecher/2022/03/zugang-verwehrt-hoechste-zeit-ueber-klassismus-in-deutschland-zu-reden-438482-
[...] Francis Seeck, 1987 in Ost-Berlin geboren, ist Kulturanthropolog*in und Antidiskriminierungstrainer*in. Als Kind einer alleinerziehenden, erwerbslosen Mutter setzte sich Seeck schon früh mit den Auswirkungen der Klassengesellschaft auseinander. ... Klassismus ist eine Diskriminierungsform, die soziale Ungleichheiten aufrechterhalten soll. Die Kluft zwischen Armen und Reichen wächst stetig, die acht reichsten Menschen der Welt haben inzwischen ein Gesamtvermögen, das dem der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung entspricht. Das ist krass, daran muss sich etwas ändern. Wir könnten Reichtum stärker besteuern oder den Mindestlohn drastisch anheben. Stattdessen legitimieren wir diese Ungleichheit, indem wir uns gegenseitig weismachen: Wer arm ist, ist selbst schuld. Dieses Herabschauen auf eine große und sehr heterogene Gruppe in der Gesellschaft, das ist Klassismus. ...
Aus: "Wer arm ist, ist selbst schuld?" (09.04.2022)
Quelle:
https://www.spiegel.de/psychologie/klassismus-wer-arm-ist-ist-selbst-schuld-soziale-herkunft-und-ihre-folgen-a-e287983d-c678-4cc4-8332-fc140d7d76be-
[...] Dass ausgerechnet jetzt immer häufiger von Klassismus die Rede ist, hat einerseits mit der Rückkehr des Sozialrealismus in Literatur und Kino zu tun. Viel wichtiger dürften aber die Erfahrungen mit der Pandemie seit 2020 sein. Hier sind soziale Unterschiede sogar jenen ersichtlich geworden, die bis dahin vehement das Ausmaß von Elend und Armut in diesem reichen Land leugneten. Während der Lockdowns machte es einen Unterschied, ob man die sonnigen Tage im Eigenheim mit Garten im Homeoffice verbrachte und die Kinder mit je eigenen Laptops und Zimmern via Internet die gymnasiale Schulbildung genießen ließ, oder ob man als alleinerziehende Reinigungskraft in Zwangskurzarbeit in der Zweizimmerwohnung ohne Balkon bei gesperrten Spielplätzen und mit technisch schlecht ausgestatteten Schulkindern verbringen musste.
... Millionen Menschen in Deutschland müssen ihr Einkommen mit Hartz IV aufstocken, obwohl sie nicht arbeitslos sind. Die Steuern wurden in den vergangenen drei Jahrzehnten für das obere Drittel der Einkommen gesenkt, für die untere Hälfte stark erhöht. Nur etwa 20 Prozent aller Arbeiterkinder studieren, aber mehr als 70 Prozent der Akademikerkinder. All das ist bekannt, und doch bleiben Zahlen oft abstrakt. Es gibt kaum Studien, die sich der subjektiven Seite der Armut nähern.
Dabei wäre gerade das wichtig. Ein zentraler Grund, warum literarische Erzählungen über das Aufwachsen in Armut aus erster Hand derzeit so viel gelesen werden, liegt genau darin: Offenbar treibt viele Menschen die Frage um, wie es sich „anfühlt“, wenn am Ende des Geldes noch zu viel Monat übrig ist und kein dauerhaft gutes Leben möglich ist. Man kann das als Voyeurismus abtun – oder sich freuen, dass ein Bewusstsein dafür entsteht, wie brutal sich ungerechte soziale Verhältnisse auf Lebenschancen auswirken. Das Klassenhafte an der Mittelklasse lag jahrzehntelang gerade darin, dass sie die Existenz der Klassengesellschaft leugnete. Diese ideologische Gewissheit ist ins Wanken geraten. Ein richtig konzipierter Begriff des Klassismus könnte sich in dieser Gemengelage als Diskursbeschleuniger erweisen, weil er die Gewalt der Klassengesellschaft aus der Perspektive von unten erfahrbar macht.
Aus: "Scholz und Vorurteil" Christian Baron (25.04.2022)
Quelle:
https://www.freitag.de/autoren/cbaron/christian-baron-ueber-klassismus-scholz-und-vorurteildunkelreaktion | Community
So wünschenswert es ist, dass Kinder der abgehängten Klasse bei entsprechender Begabung studieren sollen, so kurzsichtig erscheint mir die Ausrichtung vor allem auf einen akademischen Abschluss.
Gerade auch in dem Corona-Krise genannten Maßnahmen-Wahnsinn wurde deutlich, was die wirklich systemrelevanten Berufe sind und das waren nicht die akademischen oder all die Bullshit-Jobs für akademische Absolventen. Eine Gesellschaft wird getragen von den mit Händen und Körpern Arbeitenden.
Die weitgehende Gleichstellung von akademischen und handwerklichen, sozialen, dienstleistenden und sozial ähnlich aufgestellten Berufen sollte das Ziel sein.
Christian Brecht | Community
@ dunkelreaktion
Zitat: "Gerade auch in dem Corona-Krise genannten Maßnahmen-Wahnsinn wurde deutlich, was die wirklich systemrelevanten Berufe sind und das waren nicht die akademischen oder all die Bullshit-Jobs für akademische Absolventen."
Da haben sie durchaus recht. Aber viele akademische Quaksalber und Scharlatane verdienen eben wesentlich mehr als zum Beispiel eine ausgebildete Pflegekraft im Krankenhaus oder Altenheim.
Wir leben in einer kapitalistischen Marktwirtschaft. In einer kapitalistischen Marktwirtschaft entscheidet das Kapital darüber, was wichtig bzw. systemrelevant ist und was weniger wichtig ist, weil es keinen Gewinn bringt.
Deshalb heißt der Kapitalismus auch Kapitalismus, weil das Kapital bestimmt, was effektiv und effizient ist, weil gewinnbringend, und wo es in der Demokratie lang geht.
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[...] Klasse und Kampf: Ein herzhaftes Manifest über die feinen Unterschiede, die unsere Gesellschaft in Oben und Unten spalten
... Es soll kein Manifest sein und ist dennoch eines. ... Was Privilegien bedeuten, das wissen nur die, die keine haben. ... In Deutschland wird nicht nur der Reichtum vererbt, sondern auch die Beziehungen und damit der Zugang zu den Stellen, wo entschieden wird. Wo dann auch nur das Bild geschaffen wird, das die Deutschen von sich haben sollen – in den sogenannten Leitmedien, wo Armut bestenfalls mal als „reality show“ auftaucht, aber nicht als gelebter Alltag von Millionen Menschen, die bei Umfragen mit gutem Recht sagen: „Ich habe keinen Einfluss.“ Nicht auf die Politik, nicht auf die Wirtschaft, auf nichts. Und: „Ich habe keine Stimme.“
Denn sie tauchen nicht in der Politik auf. Dafür haben sie überhaupt keine Zeit und keine Kraft. Wer jeden Monat mit seiner Familie am finanziellen Limit ist, der hat keine Zeit für Ehrenamt, Politik, Wahlkonferenzen und den Kampf gegen Leute, die das Reden an der Uni gelernt haben und schon von Haus aus wissen, wie man sich präsentiert und „Eindruck schindet“.
Die Autor/-innen erzählen von dieser Welt da unten, zu der weit mehr Menschen gehören, als sie in den üblichen Armutsgefährdungsberichten auftauchen. Doch erzählen können nur die, die es geschafft haben, die Klassenschranken überwunden zu haben – wenigstens für gewisse Zeit. Autor/-innen wie Christian Baron, der 2020 mit „Ein Mann seiner Klasse“ einen Bestseller landete, oder Clemens Meyer, der seine Jugend im Leipziger Osten in „Als wir träumten“ zum Bestseller machte.
Oder Anke Stelling, die mit ihrem realistischen Buch über das Leben einer Schriftstellerin in Berlin in „Schäfchen im Trockenen“ ihre Freunde und Bekannten so tief verärgerte, dass es zu einem kleinen Berliner Skandal wurde. Denn sie merken es nicht.
Sie begreifen es auch nicht, was es für einen Unterschied macht, ob man von seinen Eltern gleich mal das komplette Startkapital für Studium und eigene Wohnung mitbekommt und die Visitenkarte zu den begehrtesten Arbeitgebern, oder ob man von zu Hause nichts mitbekommt als die Erfahrung, dass man sich allein durchbeißen muss und niemand einem etwas schenkt. Schon gar keine Wohnung. Eher flattern die Kündigungsdrohungen ins Haus, wenn man die Miete nicht pünktlich überweisen kann.
In unseren Leitmedien redet fast niemand mehr über Klasse. Aber alle, wie sie hier versammelt sind, können aus ihrem Alltag berichten, wie der Klassizismus trotzdem in den Köpfen steckt. Er ist systemimmanent. Das beginnt schon im Kindergarten, wo die Schmuddelkinder ganz selbstverständlich gemieden werden und seltsame Erfahrungen machen, wenn sie mal die Kinder der reicheren Eltern besuchen.
Das geht in der Schule weiter, wenn Lehrer/-innen den Kindern aus den „bildungsfernen“ Schichten von Anfang an schlechtere Noten geben und ihnen Faulheit unterstellen. Diese Kinder bekommen seltener eine Bildungsempfehlung fürs Gymnasium. Und wenn sie in der zehnten Klasse im Jobcenter sagen, dass sie Abitur machen wollen, wird ihnen trotzdem der Vermittlungsbogen vorgelegt. „Wir vermitteln dich lieber sofort in einen Job“, zitiert Francis Seeck, was sie selbst erlebt hat. Sie weiß, wie eng Klassizismus und Rassismus miteinander verwandt sind.
Slavoj Žižek hat recht: Identitätspolitik lenkt vom Grundproblem ab, denn die Abwertung von Hautfarbe, Herkunft und Geschlecht gehört zum Grundbestandteil bürgerlicher Verachtung für „die da unten“. Die es immer noch gibt, trotz Günther Wallraff. Wer aus einer Familie kommt, in der das Geld nie reicht, um auch nur einen Puffer für unvorhersehbare Notfälle anzusparen, der weiß, wie das ist, wenn man immer nur Zweite Wahl ist, wenn andere smarter sind, weil sie die Codes ihrer Klasse kennen, wenn man in der Warteschleife befristeter Verträge feststeckt und die angestrebten Posten dann doch mit Leuten besetzt werden, die besser vernetzt, verschwippt und verschwägert sind. Oder einfach die smartere Show abliefern.
Da kann man sich – wie Anke Stellung in „Schäfchen im Trockenen“ erzählt – mit diesen freundlichen und coolen Bekannten im Kindergarten, im Café und auch in gemütlicher Runde nach Feierabend treffen. Aber spätestens, wenn sie in ihre eigenen Wohnungen ziehen und sich wundern, dass die Heldin immer noch in ihrer alten Wohnung vor sich hinrotiert und auf keinen grünen Zweig kommt, schleicht sich die stille Verachtung ein. Ist die zu doof, was aus sich zu machen?
Sie merken es wirklich nicht mehr, was es bedeutet, wenn man das Kind einer wirklichen Mittelstandsfamilie ist, wo immer genug Geld da ist, mehr als genug. Letztlich so viel, dass die Zeitungen dieser Klasse mittlerweile sogar berichten, welche Not diese ach so cleveren jungen Anwälte, Jungunternehmerinnen und Ingenieure haben, ihr Geld irgendwo anzulegen „und für sich arbeiten zu lassen“. Sie decken sich ja auch in Leipzig mit Häusern und Wohnungen ein. Spätestens da merken die Erbelosen, wie ihre Altersgefährten an ihnen vorbeigezogen sind und ihnen jetzt die Miete abknöpfen.
Manche Geschichten in diesem Buch lesen sich wie kleine Manifeste, manche sind einfach – wie bei Anke Stelling, Arno Frank oder Christian Baron – Geschichten aus ihrem eigenen Leben. Denn Barankow und Baron erwähnen zu Recht, dass so ein Buch ein Seiltanz ist. Denn die Erfahrung sagt, dass auch und gerade diese nüchterne Wahrheit gegen einen ausgelegt wird. Arm zu sein ist ein Makel in Deutschland.
Deswegen sieht man die Armut kaum noch. Denn auch die Armen verstecken sich, bleiben lieber unterm Radar. Denn seit die Großmäuler unserer bürgerlichen Politik den auf Hilfe Angewiesenen Hängemattenmentalität, Faulenzerei und Schmarotzertum unterstellen, wirkt es geradezu kriminell, irgendwo um Geld zu betteln, weil das Billigjobeinkommen nicht reicht für die Miete oder den Storm oder die Kinder.
Und sie erzählen trotzdem, schildern ihre eigene Kindheit und wie es dazu kam, dass ihre Familie immer arm war oder in Armut geriet und nie aus den Schulden herauskam, so wie die Eltern von Martin Becker. Irgendwann versteht man, wie das funktioniert mit den smarten Herren von der Sparkasse und ihrer Hilfsbereitschaft, wenn der Überziehungskredit überzogen ist. Am Ende ist das so lange abbezahlte kleine Häuschen trotzdem weg, der Kredit nicht abbezahlt, auch wenn man die dreifache Summe überwiesen hat im Lauf der Zeit.
Wer arm ist, zahlt drauf. Auch das ist eine Grunderfahrung in Deutschland.
Und erstaunlich viele erzählen vom Sterben. Denn wer an der Kante lebt, der lebt ungesund. Der macht die ungesunden Jobs, der hat auch kein Geld, sich gesund zu ernähren oder sich um seine „Fitness“ zu kümmern. Der malocht, um über die Runden zu kommen. Und vor allem: Er oder sie lassen sich nichts anmerken. Denn Schwäche zeigen darf man da unten nicht. Nicht den „Arbeitgebern“ gegenüber, die einen feuern können nach Lust und Laune, weil man in diesen Jobs keine Gewerkschaft hat, aber auch nicht den Kindern gegenüber.
Denn wer sich so durchschlagen muss, der weiß, wie schnell man untergeht, wenn man nicht Stärke zeigt und sich alles abverlangt. Und untergehen kann man hier schnell, verdammt schnell – mit Alkohol, ohne Wohnung, ohne Job. Wer von der Hand in den Mund lebt, der denkt nicht nach über die systematische Benachteiligung in einem Land, in dem sich eine überbezahlte Klasse darauf verlässt, dass die zur mies bezahlten Arbeit Gezwungenen rotieren und all die Arbeiten verrichten, ohne die der Laden nicht laufen würde.
Wer sich aus dieser Mühle herausarbeiten will, der muss sich doppelt und dreifach anstrengen, erst recht, wenn er auch noch People of Color ist oder sie sich als Frau gegen die Deutungshoheit weißer Männer in Führungspositionen durchsetzen muss.
Deswegen sind Erfolgsgeschichten solcher Klassenaufsteiger/-innen immer noch eine Sensation und bringen selbst die Cleverles zum Staunen, die gar nicht wissen, wie leicht sie zu ihrer Position gekommen sind und dass ihre Bezahlung für ein Drittel der Erwerbstätigen nicht die Norm ist, sondern eine Vollversorgung aus einer anderen Welt.
Man taucht manchmal tief hinein in die Welten, die die hier versammelten Autor/-innen öffnen, manche mit nur zu begreiflichem Trotz, denn irgendwann hört man auf, den Erfolg als Gnade zu betrachten, da schaut man genauer hin und merkt, dass der Erfolg stets die Ausnahme ist. Spätestens 2020 merkten es dann auch viele am eigenen Leib, wie das läuft in Deutschland, wenn die Hilfsmilliarden verteilt werden.
Wer so dumm war, als Musiker/-in oder Schriftsteller/-in den Erfolg zu suchen, merkte ganz schnell, dass die Hilfsprogramme wieder von cleveren weißen Männern gemacht wurden, die sehr wohl wissen, wie sie ihren Kumpels was Gutes tun können, die aber nicht die mindeste Ahnung davon haben, wie man als Solo-Selbstständiger ums Überleben kämpfen muss.
Oder als alleinerziehende Mutter, die zwei Jobs braucht, um ihre Kinder durchzubringen. Meist ohne helfende Oma oder Eltern, die noch die Kraft haben, sich um die Kleinen zu kümmern.
Es kommt sehr viel Sterben vor in diesem Buch. Denn wer in Deutschland arm ist, stirbt früher, im Schnitt zehn Jahre früher als die Gutversorgten im Mittelstand. Und da ist es schon ein Glück, wenn es ein Sterben in Würde ist und die Kinder dabei sein können.
Und immer wieder bekommt man ja in den Leitmedien erklärt, was für eine Gnade es sei, dass die einen den anderen Arbeit „geben“, man also für miese Löhne arbeiten darf. Aber es ist keine Gnade. „Neun Prozent aller Erwerbstätigen leben unterhalb der Armutsgrenze, weil Deutschland einen der größten Niedriglohnsektoren Europas hat“, schreiben Barankow und Baron.
Der Reichtum der einen ist auf der Ausbeutung der anderen aufgebaut. Und Deutschland war wohl noch nie so zerrissen, noch nie waren die Gegensätze zwischen Reichen, die nicht mehr wissen, wohin mit ihrem Geld, und den Malochern, die mit dem Verdienst nicht über den Monat kommen, so groß wie heute.
Das können gerade die jüngeren Autor/-innen in diesem Band sehr anschaulich erzählen. Sie wissen, wie es sich so lebt und dass es nicht die Schuld derer ist, die so leben müssen. Nur haben sie fast nie eine Stimme. Sie sitzen nicht in Parlamenten und nicht in den Entscheidungsgremien. Es wird über sie hinwegregiert, ohne ihre Sorgen tatsächlich ernst zu nehmen. Die sich dann auch als die Sorgen von Studierenden herausstellen, die ohne Nebenjob ihr Studium abbrechen müssen, weil sie keine Reserven haben.
Als die Sorgen ewiger Doktoranden auf befristeten und schlecht bezahlten Stellen, die immer das Nachsehen haben, wenn die festen Stellen vergeben werden. Denn die Welt der Armen ist heterogen. Wenn die Bundesagentur für Arbeit ehrliche Statistiken veröffentlichen würde, würde man auch all die Akademiker/-innen sehen, die nach dem Studium aus dem Rennen geflogen sind, weil ihnen die Codes und die Beziehungen fehlten, um tatsächlich Karriere machen zu dürfen.
Das Buch macht traurig, trotzig und wütend. Weil all das zwar systemimmanent ist, aber weder notwendig noch gerecht. Nur: Wer da unten die Zähne zusammenbeißt und sich durchkämpft, weiß, dass es nicht gerecht zugeht und dass man sich auf nichts und niemanden verlassen kann, bestenfalls auf die eigene Familie, wenn da noch Kraft ist und nicht der Krebs oder der Suff schon zugeschlagen haben.
Und dabei ist das Ethos von Fleiß, Stolz und Ehrlichkeit da unten viel stärker ausgeprägt als in den oberen Etagen unserer Gesellschaft, wo Gutversorgte ganz selbstverständlich davon ausgehen, dass sie auf alles den ersten Zugriff haben. Sie glauben tatsächlich, sie hätten es sich verdient, hart erarbeitet, wie sie gern sagen. Sie sehen nicht mehr, wer für sie eigentlich arbeitet und immer das kleinste Stück vom Kuchen bekommt, eigentlich eher nur die Krümel.
Deutschland ist kein gerechtes Land. Wer da unten war, weiß das. Selbstgerecht aber ist es bis zum Platzen. Höchste Zeit für so ein Buch. Auch wenn die Autor/-innen sich sicher sind, dass ihnen das wieder schaden kann in einer Gesellschaft, in der die Amtsinhaber auf eines den allergrößten Wert legen: den schönen, falschen Schein.
Christian Baron; Maria Barankow Klasse und Kampf, Claassen, Berlin 2021
Aus: "Klasse und Kampf: Ein herzhaftes Manifest über die feinen Unterschiede, die unsere Gesellschaft in Oben und Unten spalten" Ralf Julke (8. April 2021)
Quelle:
https://www.l-iz.de/bildung/buecher/2021/04/klasse-und-kampf-ein-herzhaftes-manifest-ueber-die-feien-unterschiede-die-unsere-gesellschaft-in-oben-und-unten-spalten-383565