Markus Metz, Georg Seeßlen
Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld. Ein Pamphlet
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 496 Seiten
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[...] Der linkshegelianische Akzent soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Argumentation der Autoren schlüssig ist: "Kunst ist ein übler Trick, den Menschen die Trivialitäten ihres Begehrens teuer zu verkaufen." ...
Aus: "Selbstfeier des Geldes - Eine Streitschrift gegen eine Kunst, die nur noch Markt ist" Franz Schuh (DIE ZEIT Nº 42/2014)
Quelle:
http://www.zeit.de/2014/42/metz-seesslen-geld-frisst-kunst-pamphlet---
[...] Man darf sich von Metz’ und Seeßlens Buch “Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld” keine praktische Einführung in den Kunstmarkt versprechen. Das Autorenduo steht eher für geharnischte Fundamentalkritik zentraler Mechanismen der Kulturindustrie. 2011 ging es in dem ähnlich angelegten Band “Blödmaschinen. Die Produktion gesellschaftlicher Stupidität” um die Rolle der Massenmedien.
Ihr neues Werk heißt im Untertitel dankenswerterweise “Ein Pamphlet”. Und stellt einen philosophisch vertieften Aufschrei über die fantastischen Transfersummen von Inkunabeln der Kulturgeschichte dar, von denen regelmäßig die Kunstmarkt-Seiten der Tageszeitungen künden. Insofern lässt es sich als Kultur-Variante von Stéphane Hessels “Empört Euch!” lesen.
Man könnte es sich einfach machen mit dem etwas ausufernden Wälzer. Denn die zentralen Ideen, dass sich die Kunst in Lebensstil und Inszenierung auflöst, dass sie zum “Echoraum der Werbung” und – in erster Linie – zur “Emblematik der neuen Oligarchie” verkommen sei, sind nicht neu. Sie kommen als mit viel Empörung aufgeladenes Echo zeitkritischer Diskurse von Joseph Beuys bis Gilles Deleuze daher.
Seeßlen und Metz erweitern die penible Definitionschirurgie entlang solcher Begriffe wie Symbolwert und Marktwert, wie sie die Frankfurter Kunsttheoretikerin Isabelle Graw mit ihrem Band “Der große Preis. Kunst zwischen Markt und Celebrity” 2008 vorgelegt hat, ins Globalkapitalistische. Dabei scheut das Duo mitunter arg populistische Volten nicht. Vom Kunstbesitz sprechen sie einmal als dem “Schwanzvergleich der Herrschenden”.
... Der renommierte britische Kritiker und mehrfache Museumschef beschimpfte das System der zeitgenössischen Kunst als “glitzerndes Ornament der Amüsement- und Arkaden-Kultur”.
Post-Demokratie, Post-Bürger, Post-Kunst. So unhinterfragt, wie Seeßlen und Metz derlei politische Wasserstandsmeldungen benutzen, wähnt man sich in ein Zeitalter jenseits der bürgerlichen Demokratie parlamentarisch-repräsentativen Zuschnitts entführt, ohne es gemerkt zu haben. In dieser Gesellschaftsformation befinde sich “die Kunst” in der Geiselhaft der Superreichen – Banker, Oligarchen, Immobilienhaie – und ihrer willigen Agenten: Galeristen, Auktionshäuser, Art-Consultants.
... Zum einen definieren sie die Kunst selbst als “soziale Maschine, die nie wirklich frei, nie wirklich gerecht und nie wirklich ,solidarisch’” arbeite. Dazu kommt: Die irrwitzige Preisspirale ist in einem System imaginärer Werte nach oben prinzipiell offen. Kunst wird auf ewig immer noch teurer machen, dass sie ein Versprechen auf etwas Unbezahlbares ist.
... Kapitalisierung, Privatisierung, Fetischisierung, Eventisierung, Trivialisierung, “Schnickschnackisierung”. Auch wenn sich ihre Mängelliste mitunter zur kulturpessimistischen Apodiktik verdichtet: Mit “Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld” haben Markus Metz und Georg Seeßlen die überfällige Debatte darüber eröffnet, welchen neuen Höhepunkt die ewige Komplizenschaft zwischen Kunst und Markt inzwischen erreicht hat.
Ein Peak, der selbst seinen Akteuren Sorgen macht. Eine Kunstkonferenz der FAZ erörterte vor kurzem vorsichtig “Positionsverschiebungen” in der Kunst. Das Fachmagazin Artnet fragte nach der gerade beendeten Art Basel Miami alarmiert: “Have Art Fairs Destroyed Art?”
Ob sich “die Kunst” tatsächlich nach dem Vorbild von “Occupy Wall Street” aus den Gängen des Systems befreien ließe, wie es die Autoren fordern, bleibt dahingestellt. Dass es gesellschaftlicher Strategien gegen die “Machtverklumpungen” bedarf, ist offenkundig. Das “semiotische Projekt”, das sie vorschlagen, um die öffentliche Rede von und über Kunst von dem “Ökono-Sprech” des Marketings zu befreien, wäre schon mal ein Anfang. Die beste Versicherung gegen das – ohnehin obsolete – “Ende der Kunst” ist es immer, ihre ganz eigene Sprache freizulegen.
Ingo Arend in taz 12-01-2015
Aus: "Kunst in Geiselhaft - Markus Metz, Georg Seeßlen: Geld frisst Kunst. Kunst frisst Geld. – Eine Rezension von Ingo Arend" (12.01.2015)
Quelle:
http://www.getidan.de/gesellschaft/ingo_arend/66349/markus-metz-georg-seesslen-geld-frisst-kunst-kunst-frisst-geld-eine-rezension-von-ingo-arend---
[...] Seeßlen: In der Moderne hatte die Kunst für die Menschen eine ganz bestimmte Bedeutung, sie war Motor gesellschaftlicher Entwicklung - nicht im pädagogischen Sinne, sondern im Sinne eines lebendigen Dialogs, im Sinne des Subjektbildens, als Vorgriff von Freiheit. Heute haben viele das Gefühl, das könne nicht mehr "ihre" Kunst sein, von der sie sich mehr Freiheit, mehr Wahrnehmung, mehr Sensibilität erhofft haben, wenn diese eigentlich nur mehr ein Ausdruck für Geld ist. In Deutschland liefen Radiowerbespots, man solle doch in Kunst statt in Immobilien oder Aktien investieren. Das war durchaus an jüngere Leute, an Familienväter gerichtet. Dieses Denken, dass Kunst eigentlich eine Ware ist, mit der man ganz großartig spekulieren kann, weil sie sich offensichtlich ein bisschen antizyklisch zu den Krisen verhält, ist nicht mehr nur ein Spiel der Oligarchen, unheimlichen Hintermänner und Superreichen.
STANDARD: Aber wer weiß schon, welche Kunstaktie durch die Decke schießen wird. Kunst kann auch ein Hochrisiko-Investment sein.
Seeßlen: Bei Kunst gibt es ja gar keine Deckung mehr. Denn was ein Kunstwerk wert ist entscheidet ausschließlich derjenige, der damit handelt, oder der, der es haben möchte. Es ist ein rein virtueller Wert, den kann man natürlich auch grenzenlos manipulieren. Das ist einer der wesentlichsten Vorwürfe, die wir in unserem Buch machen. Dass der Kunstmarkt nicht einmal als Markt funktioniert, weil auf dem wird verhandelt, dort regelt Angebot und Nachfrage. Aber es gibt keinen Markt, der derart manipuliert ist – und drastisch ausgedrückt – auch so von krimineller Energie durchsetzt ist wie der Kunstmarkt.
STANDARD: Wie hat Geld die Definitionsmacht über Kunst erhalten?
Seeßlen: Ein Plot-Point dieser Geschichte war vielleicht Andy Warhol, als er seine Business Art ausgerufen hat. Er sagte, Geld verdienen an sich sei auch ein Kunstwerk. Eine geniale und auch ironische Aussage, die den Geist seiner Zeit gut ausgedrückt hat. Bloß: Offensichtlich haben das viele Leute zu wörtlich genommen. Den dialektischen Zusammenhang zwischen Geld und Kunst hat es zwar immer gegeben: Ohne Geld gibt es keine Kunst. Der Künstler braucht Geld, das Verteilen braucht Geld, usw. Aber in der dialektischen Beziehung hat das eine das andere nicht nur enthalten, sondern gleichzeitig auch irgendwie begrenzt. Das heißt, da wo Kunst ist, sollte zumindest nicht nur Geld sein. Die Kunst versuchte, auch einen ökonomiefreien Raum zu schaffen.
STANDARD: Das Museum war lange so ein Ort.
Seeßlen: Aber heute eben nicht mehr. Heute wird selbst in kleinen regionalen Museen, beim Kunstbetrachten hauptsächlich über den Preis geredet. Und vor allem wird im Museum der ökonomische Wert mitinszeniert. Ich erinnere mich an eine Schau, wo man den ökonomischen Wert eines Kunstwerks immer daran erkennen konnte, wie viel Wärter davor standen oder wie groß der Abstand war, den die Besucher einhalten mussten.
STANDARD: Ein schönes Bild. - Nicht nur Markt und Kunst verschmelzen immer mehr, auch privat und öffentlich wird austauschbar: gleichwertig: Private Sammler übernehmen öffentliche Aufgaben – und am besten auch (siehe Fall Essl) umgekehrt.
Seeßlen: Es ist nicht nur eine Gleichwertigkeit, die hergestellt wird, sondern ein Schauspiel der Übernahme von staatlichen, gesellschaftlichen Aufgaben durch Private, durch Oligarchen. Ich habe das Gefühl, es bewegt sich auf einen Normalfall hin: Man sammelt Kunst und wenn man soviel Kunst gesammelt hat, dass man es nimmer dapackt, dann muss der Staat eingreifen, soll aber auch noch dankbar sein. Das ist wie jemand, der sich eine Pyramide baut und dafür verlangt, dass die Sklaven, die sie errichtet haben, vor Dankbarkeit niederknien. Und da kann man sich eben vorstellen, dass ganz viele Leute, die Kunst eigentlich brauchen könnten, von ihr so abgestoßen sind, dass sie sie hassen.
... STANDARD: Der Londoner Kunsthändler Kenny Schachter hat 2012, basierend auf dem offenen Brief des frustrierten Bankers Greg Smith "Why I Am Leaving Goldmann Sachs", eine auf den Galeriebetrieb umgemünzte Satire verfasst: In dem hypothetischen Text eines Galeriemitarbeiters bei Gagosian klagt dieser, er habe die Schnauze voll davon, Leuten minderwertige Kunst zu verkaufen, oder Kunst, die nicht zu ihnen passt. Er kritisiert darin, dass Geldinteressen über die Interessen der Kunst gestellt würden. In der Realität fehlen leider solche "Mir reicht's! Ich mach da nicht mehr mit"-Bekundungen. Warum?
Seeßlen: Die gibt es zuhauf. Die Mehrzahl zieht sich jedoch resigniert vollkommen zurück. Das hat natürlich damit zu tun, wie dieses System funktioniert: mit gegenseitigen Abhängigkeiten, Verträgen, einem Durchsetztsein mit Juristen. Das ist ja ein Haifischbecken. Ganz wenige Dissidenten schaffen es auch noch, eine Öffentlichkeit zu finden. Das war eine unserer Urerfahrungen bei den Recherchen: dass es da ein Gesetz der Omertà (Schweigepflicht der Mafiamitglieder, Anm.) gibt. (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD, 9. 9.2014, Langfassung)
Aus: "Seeßlen: "Ein bisschen subversiv und ein bisschen angepasst"" Interview Anne Katrin Feßler (8. September 2014,)
Quelle:
http://derstandard.at/2000005313220/Seesslen-Ein-bisschen-subversiv-und-ein-bisschen-angepasst---
[...] Georg Seeßlen: Wenn einige Superreiche Lust haben, ihre Gemälde für immer noch ein paar Millionen Euro mehr hin und her zu schieben, ist das sicherlich nicht das Problem. Problematischer ist, dass der überhitzte Kunstmarkt die allgemeinen Vorstellungen vom Wert der Kunst verändert. Die Frage, was Kunst ist, wird immer häufiger nur in Dollarzeichen beantwortet. Das Geld hat sich eine Definitionsmacht über die Kunst geschaffen. Dadurch geht die Kunst ausgerechnet jenen Menschen verloren, die diese gut brauchen könnten, um ein wenig Glück zu erfahren.
ZEIT: Aber es besuchen doch immer mehr Menschen Kunstausstellungen?
Seeßlen: Mit den größeren Kunstausstellungen verhält es sich wie mit gewissen Alpentälern: Sie gehen kaputt, weil viel zu viele Leute mit viel zu vielen Apparaten sich unbedingt darin amüsieren wollen. Es ist lange her, dass ich in einer solchen Ausstellung das Gefühl hatte, der Kunst auf Augenhöhe, in einem freien Dialog zu begegnen und nicht in einer Art räumlicher TV-Dramaturgie.
ZEIT: Warum steigen die Preise für die ganz teure Kunst immer weiter?
Seeßlen: Wir haben bei der Recherche zu unserem Buch mit vielen Protagonisten des Kunstmarkts gesprochen, und wir bekamen zu dieser Frage eine Mischung aus vernünftigen und völlig irrationalen Gründen geliefert. Nur die Kunst sei eine Ressource, die ihren Wert vollkommen frei bestimmen könne, ohne Rückbindung an Arbeit oder aan demokratische Prozesse der Wertbestimmung, lautet eine Erklärung. Da werde Kapital durch Kunst einfach erfunden – und das ist schon immer der feuchte Traum dieses Finanzkapitalismus gewesen. Eine andere häufige Erklärung verweist auf die oligarchische Szene der Kunstsammler, die sich als Gruppe so verhalte wie Paviane auf dem Affenfelsen. Da würden Bilder nicht aus dem Gefallen am Werk gekauft, sondern als Beweis, dass man noch ein paar Millionen mehr dafür ausgeben könne. Ein drittes Erklärungsmuster sieht eine immer weiter um sich greifende Vernetzung von Interessen in diesem Feld, durch die einige Marktkategorien ausgehebelt werden. Das führe dann zuweilen auch zu Betrugsskandalen …
ZEIT: Wie etwa jüngst im Fall des wegen Betrugsverdacht in Untersuchungshaft sitzenden, seine Unschuld beteuernden Helge Achenbach.
Seeßlen: Wobei mir solche schillernden Figuren nicht ganz unsympathisch sind. Viel schlimmer sind die Strukturen, durch die auch die Künstler zu Betrogenen werden.
ZEIT: In welcher Hinsicht?
Seeßlen: Jeder Künstler hat eine bestimmte utopische Beziehung zu seinem Werk. Und unsere Hoffnung ist, dass die Künstler nicht nur reich werden wollen, sondern der Welt auch etwas zu sagen oder sogar zu schenken haben. Das Narrativ, dass die Kunst immer schon die Freiheit der nächsten Generation ausdrückt, verschwindet aber. Das neue Narrativ der Kunst – etwa in der Werbung von Banken für Kunstanleihen – ist die Riesenrendite.
ZEIT: Betrifft das nicht nur die globale Spitze des Kunstmarktes?
Seeßlen: Es gibt Galeristen, die man nur als Helden und Heldinnen bezeichnen könnte. Die mit Herzblut und Selbstausbeutung arbeiten, weil sie für die Sache der Kunst brennen. Das Normale dagegen ist der Kompromiss; man versucht, sich zu arrangieren, um eine ökonomische Basis für das zu bekommen, was man eigentlich will: neue Kunst zu entdecken und zu vermitteln. In einem geschlossenen, hegemonialen und intransparenten System sind Kompromisse allerdings vor allem Fallen, die sich oft genug als tödlich erweisen, entweder ökonomisch oder moralisch. Galeristen machen dieselbe Spaltung durch wie die Kunst: Der Graben zwischen den Gewinnern und der Masse des Prekariats wird immer tiefer.
... ZEIT: Die Auktionen seien heute oft Karikaturen des kriminellen Spiels des Finanzkapitalismus, schreiben Sie. Können Sie das belegen?
Seeßlen: Die Vorstellung etwa von der Auktion als offenem Bietgefecht stimmt nicht mehr. Vor den Auktionen werden die teuren Bilder per Garantieabsprachen bereits an Interessenten verkauft. Nur falls dann jemand noch mehr bietet, kommt es zu einem realen Bietgefecht. Dabei wird der Garantiegeber aber an dem Erlös über der Garantiesumme beteiligt, auch wenn er selbst schließlich der Meistbietende ist. Man kann als solcher Spieler nicht mehr verlieren, so als hätte man beim Roulette ein paar Nummern zugeklebt.
ZEIT: Was unterscheidet den Kunstmarkt strukturell vom Film- oder Buchmarkt?
Seeßlen: Das Buchgeschäft funktioniert genau andersherum, der Verleger muss sein Produkt möglichst massenhaft auf den Markt bringen. Alles Elitäre und Exklusive ist ein Zuschussgeschäft. Ähnlich verhält es sich mit dem Autorenfilm, der in den nationalen Kinematografien eigentlich nur künstlich am Leben gehalten wird. In den sechziger Jahren versuchte man auch auf dem Kunstmarkt, Barrieren abzubauen, ein breites Publikum zu finden. Das hat offensichtlich nicht funktioniert, stattdessen wurde die Kunst in der Folge vollkommen als Luxusobjekt fetischisiert.
ZEIT: Warum werden heute Millionensummen etwa für bestimmte Bilder von Richard Prince ausgegeben, die scheinbar völlig mühe- und gedankenlos entstanden sind?
Seeßlen: Sammler der alten Schule, die sich in ihre Salons Bilder der Symbolisten oder Expressionisten hängten, Kunst also, die sie vielleicht sogar anklagte – das waren mutige Menschen. Sie ähnelten Großwildjägern, die Elefantenköpfe sammelten, nach dem Motto: Ich habe mit der Gefahr gespielt und kontrolliere sie. Der traditionelle bürgerliche Sammler spürte die Energie, die in der gefährlichen Kunst steckte, und versuchte sie sich anzueignen. Die Harmlosigkeit der postwarholschen Oberflächenkunst, die, historisch gesehen, auch eine Provokation war, liegt in der Natur eines neuen Sammlertyps, der keine Gefahr mehr sehen möchte, der nur noch die vollständig unterworfene Kunst sammeln will. Kunst, die schon kapituliert hat, bevor er sie in Besitz genommen hat.
ZEIT: Die Reichen und Mächtigen wollen nicht mehr erniedrigt werden von den Künstlern?
Seeßlen: Die Phase, als sich reiche Unternehmer noch ein Bild von Kippenberger kauften anstatt zur Domina zu gehen, ist vorbei. Heute werden Punkte gejagt. Damien Hirst stellte 2012 in den weltweit elf Galeriefilialen von Larry Gagosian gleichzeitig seine Punktbilder aus. Die Sammler, die damals alle Filialen von New York bis Hongkong besuchten, bekamen ein Spot Painting als Gratisdruck. Das ist die völlig unterworfene Kunst.
... ZEIT: Wie könnte eine Revolte gegen die von Ihnen beschriebenen Missstände aussehen?
Seeßlen: Unter den Künstlern gibt es ganz viele Ansätze, das Spiel transparenter zu machen und zu verändern oder sogar woanders neu anzufangen. Sie sind nur fatalerweise, wie bei Künstlern üblich, sehr individualistisch. Sie führen zu einzelnen Überlebensprojekten, aber sie haben keine gesellschaftliche Relevanz. Das hängt damit zusammen, dass auch die Kritik ihre Rolle in diesem Spiel noch nicht ernst genug nimmt. Kritik ist ein Teil dessen, was Kunst in einer Gesellschaft bedeutet. Wenn die Künstler und die Menschen, die tatsächlich Kunst brauchen, wieder zusammenfinden, ist mir überhaupt nicht bange.
ZEIT: Und wer braucht die Kunst?
Seeßlen: Im utopischen Sinne: alle. Subjektiv gesehen: Menschen, die sich um das eigene Leben betrogen fühlen, die das Gefühl der Bremer Stadtmusikanten teilen: Etwas Schöneres und Besseres als das, was wir hier haben, das finden wir allemal. Und dann machen sie sich auf den Weg. Wohin, das weiß man nicht. Die Kunst kann die Menschen in Sackgassen und auf Irrwege führen. Sie kann in Tragödien enden. Aber etwas zu tun ist besser, als es so zu lassen, wie es ist.
ZEIT: Kaufen Sie eigentlich selbst Kunst?
Seeßlen: Nein. Aber ich bekomme sie manchmal geschenkt.
Aus: "Georg Seeßlen: Eine Revolte für die Kunst" Interview: Tobias Timm (DIE ZEIT Nº 35/2014)
Quelle:
http://www.zeit.de/2014/35/georg-seesslen-kunstmarkt