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#21
Quote[...] Im vergangenen Jahr war laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) jede dritte deutsche Firma von Wirtschaftskriminalität betroffen gewesen. Die Quote von 34 Prozent sei die höchste seit 2014, teilte das Kölner Institut mit. Zunächst hatte die Rheinische Post davon berichtet. International seien es sogar 46 Prozent, zitierte das IW eine Studie der Wirtschaftsprüfergesellschaft PWC.

Grundlage der Zahlen ist eine repräsentative Umfrage, bei der das IW im vergangenen Jahr 1.001 deutsche Unternehmen befragt hatte. Untermauert wird der Befund von der Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) aus dem Vorjahr, die 2023 veröffentlicht wurde. Demnach stieg die Zahl polizeilich erfasster Wirtschaftsdelikte das dritte Jahr in Folge auf 73.114 Fälle. In den vergangenen fünf Jahren lag der Durchschnitt bei 52.916 Delikten pro Jahr. Seit 2019 stieg die Zahl der Fälle demnach um fast 82 Prozent. Dabei geht es nur um die bekannten Delikte, das IW geht von einer erheblichen Dunkelziffer aus.

Delikte wie Betrug, Korruption, verbotene Preisabsprachen, Steuerhinterziehung und Schwarzarbeit könnten einen jährlichen Schaden von knapp 2,1 Milliarden Euro verursachen, teilte das Institut mit. Anders als die Anzahl der Fälle sei diese Zahl rückläufig. Dennoch sei sie "nicht zu unterschätzen", teilte das IW mit.   

Betrug machte dem IW-Bericht zufolge mit mehr als 50.000 Fällen einen Großteil der Gesamtmenge aus und mit fast 900 Millionen Euro auch fast die Hälfte der erfassten Schäden. Fast ebenso hohe Schäden verursachten Insolvenzdelikte, obwohl es sich nur um wenige Tausend Fälle gehandelt habe. 

Unternehmensbefragungen, die das Dunkelfeld miteinbeziehen, zeigen dem IW zufolge, dass allein Korruption, Kartelle und Schwarzarbeit jährliche Umsatzeinbußen von 4,7 bis 7,1 Prozent verursachen. Wirtschaftskriminelle belasteten dabei nicht nur Unternehmensgewinne. Auch schädigten sie das Vertrauen in Unternehmen und die Integrität der Gesamtwirtschaft.

Die Aufklärungsquote bei den berücksichtigten Delikten war dem IW zufolge mit 91,8 im Jahr 2022 sehr hoch. "Wirtschaftskriminelle Tatverdächtige können oftmals durch die Anzeigenden benannt werden", zitierte das Institut das BKA. Das erleichtere die Aufklärung der registrierten Delikte.

Die Studienautoren werteten auch verfügbare Daten über die Täter aus. "Zusammengefasst ist der Wirtschaftskriminelle in Deutschland zumeist männlich, Ende 30 bis Mitte 40, weiß, meist deutscher Herkunft und weist ein hohes Bildungsniveau in Kombination mit einer mehrjährigen Berufserfahrung in einer Führungsposition auf", schrieben sie.   

Die Unternehmen selbst sehen sich trotz der steigenden Zahlen laut den Kölner Forschern meist nicht gefährdet. So schätzten 81 Prozent der befragten Firmen das generelle Risiko, Opfer eines Wirtschaftsdelikts zu werden, als hoch ein. Das Risiko für das jeweils eigene Unternehmen wurde demnach aber mit 34 Prozent vergleichsweise niedrig angegeben.


Aus: "Jedes dritte Unternehmen von Wirtschaftskriminalität betroffen" (2. April 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2024-04/unternehmen-wirtschaftskriminalitaet-betrug-korruption-schwarzarbeit-steuerhinterziehung

QuoteHarald_A

ja, der ehrbare Kaufmann :)


QuoteTapferes_Schneiderlein

Die armen Unternehmer!

Als eine Reparatur an meinem Haus durch einen ortsansässigen Spenglereibetrieb erheblich teurer wurde als geschätzt bot mir der Chef des Unternehmens an: "Wenn Sie keine Rechnung brauchen, dann ............" . Versicherte Schwarzarbeit!

Ich denke, diese Erfahrung habe nicht nur ich gemacht.


QuoteUlrich Wüsten

Interessante Wortwahl: Führungskräfte sind von Wirtschaftskriminalität ,,betroffen" ...


QuoteTergeste

Interessant.

Wie kann man eigentlich von Steuerhinterziehung und Sozialabgabenbetrug betroffen sein, ohne diese selbst aktiv herbeizuführen bzw. sich die zutreffende Anmeldung halt vom Subunternehmer nachweisen zu lassen (ganz fies, ich weiß)?

Meint man da ernsthaft, die lieben Arbeitnehmer arbeiten freiwillig und enthusiastisch zu einem Teilbetrag des gängigen Marktpreises genau für mich, weil ich so schöne blaue Augen habe?

Ach ja und dieser wunderbar billige Subunternehmer....

wie blöd, dass irgendwann bei einer der Kontrollen des Hauptzollamts herauskommt, dass diesem halt bei ein paar Arbeitnehmern leichte Verzögerungen/ Differenzen bei der Anmeldung unterlaufen sind...

Dass der dann irgendwie nicht mehr greifbar ist, ist aber auch fies.

Keiner außer der FDP - und natürlich noch viiiiiel stärker die AfD -
erkennt, wie hart und riskant das Brot des Unternehmers ist.
Aber die AfD ist ja im Aufwind.

Da freut sich der Unternehmer.
Inoffiziell, versteht sich.
Offiziell ist er natürlich ganz neutral.


...
#22
Quote[...] In der Welt unterhält sich Andrea Seibel mit dem Historiker Andreas Petersen über dessen neues Buch "Der Osten und das Unbewusste. Wie Freud im Kollektiv verschwand", das den Umgang mit der Tiefenpsychologie in den Gesellschaften Ost- und Westeuropas vor und nach den großen Diktaturen vergleicht. In Russland wurde "ab Ende der 1920er-Jahre durch Stalin alles Tiefenpsychologische ausgelöscht" und das hat Folgen bis heute, meint er. Ganz so weit scheint er mit seinem Buch nicht zu gehen: "Es sollte in Sachen Psyche erst einmal der historische Rahmen abgesteckt werden. Was ist in Ost und West überhaupt passiert, bis hinein in die Familien? Stichwort: gesellschaftlicher Sozialcharakter. Was bedeutet es, wenn langfristig Wissen über das Unbewusste aus der Gesellschaft draußen gehalten wird. Wir können noch lange über Renten und Erbe streiten, aber das immaterielle Erbe weiter ausblenden. Was also ist der missing link in dieser Frage zwischen Ost und West? Dabei geht es nicht um besser oder schlechter, schwarz oder weiß, sondern ums Klären der Differenzen."


Aus: "Buch in der Debatte" (2024)
Quelle: https://www.perlentaucher.de/9punkt/2024-03-19.html#a95864

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Quote[...] [Andreas Petersen ist Dozent für Zeitgeschichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Leiter der Geschichtsagentur zeit&zeugen in Zürich und Berlin. Soeben ist sein Buch "Der Osten und das Unbewusste – Wie Freud im Kollektiv verschwand" (Klett-Cotta) erschienen.] In der DDR war die Tiefenpsychologie verpönt. Das blockierte die Aufarbeitung der NS-Geschichte, sagt der Historiker Andreas Petersen.

[...]

Dr. Peter Neumann: [...] In Ihrem jüngst erschienenen Buch Der Osten und das Unbewusste geht es um die fehlende Vergangenheitsbewältigung nicht nur in der Sowjetunion und Osteuropa, sondern auch in Ostdeutschland. Und Sie machen dafür vor allem auch den Umgang mit der Tiefenpsychologie verantwortlich. Warum?

Andreas Petersen: Der erste Band mit Schriften von Sigmund Freud, dem Gründungsvater der Psychoanalyse, erschien 1982 in der DDR. Man muss sich klarmachen, was das heißt: kein Theodor W. Adorno, kein Max Horkheimer, kein Erich Fromm, keine Frankfurter Schule, keine Studien zum autoritären Charakter, keine echte Gesellschaftskritik. Ich bin in Nordrhein-Westfalen, in Köln sozialisiert worden. Dort war alles völlig durchtränkt von tiefenpsychologischen Therapieangeboten und von Faschismusaufarbeitung: Wer waren unsere Väter eigentlich? Was haben die in der Wehrmacht gemacht? Warum waren sie zu solchen unvorstellbaren Verbrechen fähig gewesen? Was ist Gehorsam? Da gab es Filme, Buchhandlungen, die WGs. Ein ganz zentraler Text für uns war Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt. Also die Frage: Was verbindet uns mit Adolf Eichmann, dem Mann, der die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Millionen Juden organisierte. Die Tiefenpsychologie war ungemein wichtig für den Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. 20 Millionen Zuschauer verfolgten 1969 im Fernsehen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der mit seiner Frau Margarete zwei Jahre zuvor eines der einflussreichsten Bücher der deutschen Nachkriegsgeschichte geschrieben hatte: Die Unfähigkeit zu trauern. Im Osten hingegen, so formulierte es der DDR-Regisseur Achim Freyer erst kürzlich, war die Seele das Kitschwort aus dem Westen.

[...]

Dr. Peter Neumann: Sie meinen, dass das aus den USA nach Westdeutschland zurückgekehrte psychoanalytische Denken die Gesellschaft wieder zu sich selbst zurückbrachte?

Andreas Petersen: Ohne Freud und die Tiefenpsychologie wäre diese Öffnung nicht zu denken gewesen. Und dann gab es mit den Achtundsechzigern eine Generation, die wirklich wissen wollte, was mit ihren Eltern im Faschismus war. Diese junge Generation hatte Lektüreangebote, man konnte sich belesen und informieren. Ich erinnere nur an das Buch des Psychoanalytikers Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, 1941 im amerikanischen Exil veröffentlicht. Fromm untersuchte, wie der Individualismus der Moderne auf unbewusste Weise zur Flucht ins Autoritäre, Destruktive und Konformistische geführt hatte.

Dr. Peter Neumann: Sie schreiben in Ihrem Buch aber auch, dass die therapeutische Nabelschau im Westen bald zu einer Art Mode wurde. Bewegungen wie das hinduistische Hare Krishna, der Zen-Buddhismus, Taoismus, Tai-Chi-Chuan und Tantra wurden populär. Plötzlich ging es nicht mehr um Faschismus und Aufarbeitung, sondern nur noch um persönliches Glück und Selbstoptimierung. Hat die Durchpsychologisierung der Gesellschaft auch zu einer Vereinzelung ihrer Individuen geführt?

Andreas Petersen: Heute ist vielfach das Argument zu hören: Für mich stimmt's, nach meinem Empfinden verhalten sich die Dinge so und so. Und das war's. Ich halte das in der Tat für eine völlige Fehlentwicklung. Wenn alle das eigene Befinden zum Maßstab erheben, ist das für eine Gesellschaft fatal, weil sie damit auseinanderfällt. Dann fragt sich: Was verbindet Gesellschaften überhaupt? Verbundenheit entsteht über gemeinsame Werte. Lange Zeit hat die Religion noch die Funktion übernommen, eine verlässliche Basis für viele zu schaffen. Aber dieser Wertekonsens ist heute aufgebrochen, was einerseits natürlich gut ist, weil es mit einer Pluralisierung der Lebensstile einhergeht. Gleichzeitig haben wir eben das Problem, dass wir im Zuge der Individualisierung nicht mehr genau wissen, was eine Gesellschaft noch zusammenhält. Und da hat diese Durchpsychologisierung eben zwei Seiten: Auf der einen Seite hat sie eine große Öffnung bewirkt, für die man dankbar sein kann. Auf der anderen Seite hat sie zu einer starken Singularisierung geführt, in der man vor allem auf sich selber fokussiert ist und nicht mehr auf die Gesellschaft als Ganzes.

Dr. Peter Neumann: Die Psychoanalyse fehlte im Osten nahezu vollständig. Freud galt als westlich, bourgeois, dekadent. So etwas wie das Unbewusste, Triebhafte durfte es im Sozialismus nicht geben. Man unterrichtete vielmehr den russischen Verhaltensforscher Iwan Pawlow, dessen Lehre von der klassischen Konditionierung besser ins Bild des neuen Sowjetmenschen passte. Wusste die DDR, wer sie war?

Andreas Petersen: Nicht nur die DDR, sondern alle osteuropäischen Gesellschaften wussten nicht, wer sie waren. Wenn bestimmte Sachen gesellschaftlich nicht verhandelt werden können, wenn sie nicht in der Zeitung, nicht im Feuilleton, nicht in der öffentlichen Diskussion vorkommen, höchstens im privaten Kreis, in Kirchen oder Kliniknischen auftauchen, dann gibt es darüber auch keine Verständigung in der Gesellschaft. Es bleibt eine Lücke in der Kommunikation. Man darf sich die Kerngruppe der Achtundsechziger gar nicht so groß vorstellen. Das sind 2.000 Leute, und dann gibt es noch einen Sympathisantenkreis mit ein paar Tausend Unterstützern. Mehr sind es nicht. Aber im hinterletzten bayerischen Dorf erzählen die Leute zwanzig Jahre später, dass sie Achtundsechziger gewesen sind. Die haben das medial mitbekommen, haben sich identifiziert, haben an dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung teilgenommen. Im Osten brauchte es schon sehr viel Energie, um solche Gespräche praktisch von Mensch zu Mensch, von Görlitz nach Leipzig zu transportieren.

Dr. Peter Neumann: Für die DDR war klar, woher das Unheil kam. Man lagerte das Problem einfach aus und zeigte mit dem Finger über die Mauer: Die Faschisten sitzen drüben im kapitalistischen Westen. Man selbst war das "bessere Deutschland". So blieb auch in den Familien die Aufarbeitung meist aus.

Andreas Petersen: Die Achtundsechziger haben letztlich ihre Vergangenheit nicht am Familientisch verhandelt. Sie haben nicht ihre Eltern befragt, das war zu heiß. Sie haben es gesellschaftlich verhandelt, das ist das Besondere. Es wäre zum Beispiel sehr einfach gewesen, über die Wehrmachtauskunftstelle an Informationen zu kommen: Man konnte einen Antrag stellen und wusste zwei Monate später alles über den eigenen Onkel oder Vater: Wo haben die gedient, welche Einheit, sind sie verwundet gewesen? Anders gesagt: Wenn man wissen wollte, was die Männer damals im Krieg gemacht haben, dann gab es dafür öffentliche Stellen. Diese Stellen gab es in der DDR nicht, aber vor allem gab es keine gesamtgesellschaftliche Fragestellung. Dass die Aufarbeitung auch im Westen nicht lückenlos verlief, sehen wir heute im Umgang mit dem Ukraine-Krieg, den "Bloodlands", jenem Gebiet zwischen Zentralpolen und Westrussland, wo die Wehrmacht damals ihre Verbrechen verübt hat, neue Verbrechen geschehen, aber die notwendige Unterstützung ausbleibt.

Dr. Peter Neumann: Wie meinen Sie das?

Andreas Petersen: Es gibt Sätze, die inzwischen zu Plattitüden geworden sind: Man sagt "Nie wieder", und man fragt sich, was heißt das, jetzt, hier, konkret in dieser Situation. Wenn man dieses "Nie wieder" ernst nehmen würde, müsste man jetzt Waffen an die Ukraine liefern. Es gab die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion, und einer der Hauptschauplätze war die Ukraine. Und wenn wir einen ehrlichen Umgang suchen, dann müssen wir auch eine Diskussion über die deutsche Schuld in der Ukraine führen.

Dr. Peter Neumann: Warum hat sich der Gefühlsstau nach 1989 im Osten nicht einfach entladen?

Andreas Petersen: Schon die Beschäftigung mit der NS-Diktatur im Westen war ja unheimlich schwierig. Und im Osten kam bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte nun noch die zweite Diktatur hinzu. Das wäre dann wirklich sehr viel gewesen. Das Ausbleiben einer nachholenden Bewegung nach 1989 hat aber auch mit der Entwicklung der Tiefenpsychologie selbst zu tun. Es sind nicht mehr die Siebziger-, Achtzigerjahre mit ihrem utopischen Aufbruchsgedanken. Es ist jetzt die integrierte Verhaltenstherapie, die Menschen im Burn-out auffängt. Die Fragen "Wer bin ich?", "Wer sind meine Eltern?", "Woher komme ich?", "Was bedeutet das für mein Leben?" rücken in den Hintergrund. Auch in den Therapien geht es jetzt vor allem um Effizienz und Selbstoptimierung. Es gibt heute nur noch zwei psychoanalytische Lehrstühle in Deutschland, alles andere ist Verhaltenstherapie.

Dr. Peter Neumann: Einerseits ist die deutsche Schuld heute so präsent wie lange nicht mehr. Nicht nur in der Ukraine, auch im Nahen Osten, wenn es um die deutsche Staatsräson und die Frage geht, wie viel deutsche Kritik an Israel zulässig ist. Andererseits gibt es gerade aus dem Globalen Süden Stimmen, die von dieser deutschen Schuld nichts wissen möchten. Die sie sogar verantwortlich machen für gegenwärtiges Unrecht in Gaza. Propalästinensische Aktivisten skandieren "Free Palestine from German Guilt" ("Befreit Palästina von deutscher Schuld"). Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Andreas Petersen: Zur Aufarbeitungsdiskussion gehört das Wissen darum, was war. Es geht am Ende um die Fakten. Das gilt auch für den Vernichtungskrieg der Deutschen. Wo waren diese Wehrmachtssoldaten eigentlich? Ich habe neulich eine Veranstaltung mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel gemacht, der sagte: Gehen Sie in Berlin in die Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, im Keller gibt es im Rahmen einer Ausstellung eine Landkarte für deutsche Soldaten in Stalingrad, darauf alles Städte, die heute wieder Kampfgebiet sind: Sumy, Kramatorsk, Charkiw, Orte, an denen auch Schlögels Vater war. Diese Art von harter Erkenntnis meine ich, wenn ich von Aufarbeitung spreche. Meine Hoffnung ist, dass wir eine gemeinsame Basis finden. Die Interpretationen können dann immer noch unterschiedlich sein, aber wir sollten mindestens davon ausgehen können, dass wir über dieselben Fakten sprechen.


Aus: ""Nimmt man 'Nie wieder!' ernst, müsste man der Ukraine Waffen liefern"" (1. April 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2024-03/andreas-petersen-osten-freud-psychologie-ukraine
#23
Quote[...] [Andreas Petersen ist Dozent für Zeitgeschichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Leiter der Geschichtsagentur zeit&zeugen in Zürich und Berlin. Soeben ist sein Buch "Der Osten und das Unbewusste – Wie Freud im Kollektiv verschwand" (Klett-Cotta) erschienen.] In der DDR war die Tiefenpsychologie verpönt. Das blockierte die Aufarbeitung der NS-Geschichte, sagt der Historiker Andreas Petersen.

[...]

Dr. Peter Neumann: [...] In Ihrem jüngst erschienenen Buch Der Osten und das Unbewusste geht es um die fehlende Vergangenheitsbewältigung nicht nur in der Sowjetunion und Osteuropa, sondern auch in Ostdeutschland. Und Sie machen dafür vor allem auch den Umgang mit der Tiefenpsychologie verantwortlich. Warum?

Andreas Petersen: Der erste Band mit Schriften von Sigmund Freud, dem Gründungsvater der Psychoanalyse, erschien 1982 in der DDR. Man muss sich klarmachen, was das heißt: kein Theodor W. Adorno, kein Max Horkheimer, kein Erich Fromm, keine Frankfurter Schule, keine Studien zum autoritären Charakter, keine echte Gesellschaftskritik. Ich bin in Nordrhein-Westfalen, in Köln sozialisiert worden. Dort war alles völlig durchtränkt von tiefenpsychologischen Therapieangeboten und von Faschismusaufarbeitung: Wer waren unsere Väter eigentlich? Was haben die in der Wehrmacht gemacht? Warum waren sie zu solchen unvorstellbaren Verbrechen fähig gewesen? Was ist Gehorsam? Da gab es Filme, Buchhandlungen, die WGs. Ein ganz zentraler Text für uns war Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt. Also die Frage: Was verbindet uns mit Adolf Eichmann, dem Mann, der die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Millionen Juden organisierte. Die Tiefenpsychologie war ungemein wichtig für den Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. 20 Millionen Zuschauer verfolgten 1969 im Fernsehen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der mit seiner Frau Margarete zwei Jahre zuvor eines der einflussreichsten Bücher der deutschen Nachkriegsgeschichte geschrieben hatte: Die Unfähigkeit zu trauern. Im Osten hingegen, so formulierte es der DDR-Regisseur Achim Freyer erst kürzlich, war die Seele das Kitschwort aus dem Westen.

[...]

Dr. Peter Neumann: Sie meinen, dass das aus den USA nach Westdeutschland zurückgekehrte psychoanalytische Denken die Gesellschaft wieder zu sich selbst zurückbrachte?

Andreas Petersen: Ohne Freud und die Tiefenpsychologie wäre diese Öffnung nicht zu denken gewesen. Und dann gab es mit den Achtundsechzigern eine Generation, die wirklich wissen wollte, was mit ihren Eltern im Faschismus war. Diese junge Generation hatte Lektüreangebote, man konnte sich belesen und informieren. Ich erinnere nur an das Buch des Psychoanalytikers Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, 1941 im amerikanischen Exil veröffentlicht. Fromm untersuchte, wie der Individualismus der Moderne auf unbewusste Weise zur Flucht ins Autoritäre, Destruktive und Konformistische geführt hatte.

Dr. Peter Neumann: Sie schreiben in Ihrem Buch aber auch, dass die therapeutische Nabelschau im Westen bald zu einer Art Mode wurde. Bewegungen wie das hinduistische Hare Krishna, der Zen-Buddhismus, Taoismus, Tai-Chi-Chuan und Tantra wurden populär. Plötzlich ging es nicht mehr um Faschismus und Aufarbeitung, sondern nur noch um persönliches Glück und Selbstoptimierung. Hat die Durchpsychologisierung der Gesellschaft auch zu einer Vereinzelung ihrer Individuen geführt?

Andreas Petersen: Heute ist vielfach das Argument zu hören: Für mich stimmt's, nach meinem Empfinden verhalten sich die Dinge so und so. Und das war's. Ich halte das in der Tat für eine völlige Fehlentwicklung. Wenn alle das eigene Befinden zum Maßstab erheben, ist das für eine Gesellschaft fatal, weil sie damit auseinanderfällt. Dann fragt sich: Was verbindet Gesellschaften überhaupt? Verbundenheit entsteht über gemeinsame Werte. Lange Zeit hat die Religion noch die Funktion übernommen, eine verlässliche Basis für viele zu schaffen. Aber dieser Wertekonsens ist heute aufgebrochen, was einerseits natürlich gut ist, weil es mit einer Pluralisierung der Lebensstile einhergeht. Gleichzeitig haben wir eben das Problem, dass wir im Zuge der Individualisierung nicht mehr genau wissen, was eine Gesellschaft noch zusammenhält. Und da hat diese Durchpsychologisierung eben zwei Seiten: Auf der einen Seite hat sie eine große Öffnung bewirkt, für die man dankbar sein kann. Auf der anderen Seite hat sie zu einer starken Singularisierung geführt, in der man vor allem auf sich selber fokussiert ist und nicht mehr auf die Gesellschaft als Ganzes.

Dr. Peter Neumann: Die Psychoanalyse fehlte im Osten nahezu vollständig. Freud galt als westlich, bourgeois, dekadent. So etwas wie das Unbewusste, Triebhafte durfte es im Sozialismus nicht geben. Man unterrichtete vielmehr den russischen Verhaltensforscher Iwan Pawlow, dessen Lehre von der klassischen Konditionierung besser ins Bild des neuen Sowjetmenschen passte. Wusste die DDR, wer sie war?

Andreas Petersen: Nicht nur die DDR, sondern alle osteuropäischen Gesellschaften wussten nicht, wer sie waren. Wenn bestimmte Sachen gesellschaftlich nicht verhandelt werden können, wenn sie nicht in der Zeitung, nicht im Feuilleton, nicht in der öffentlichen Diskussion vorkommen, höchstens im privaten Kreis, in Kirchen oder Kliniknischen auftauchen, dann gibt es darüber auch keine Verständigung in der Gesellschaft. Es bleibt eine Lücke in der Kommunikation. Man darf sich die Kerngruppe der Achtundsechziger gar nicht so groß vorstellen. Das sind 2.000 Leute, und dann gibt es noch einen Sympathisantenkreis mit ein paar Tausend Unterstützern. Mehr sind es nicht. Aber im hinterletzten bayerischen Dorf erzählen die Leute zwanzig Jahre später, dass sie Achtundsechziger gewesen sind. Die haben das medial mitbekommen, haben sich identifiziert, haben an dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung teilgenommen. Im Osten brauchte es schon sehr viel Energie, um solche Gespräche praktisch von Mensch zu Mensch, von Görlitz nach Leipzig zu transportieren.

Dr. Peter Neumann: Für die DDR war klar, woher das Unheil kam. Man lagerte das Problem einfach aus und zeigte mit dem Finger über die Mauer: Die Faschisten sitzen drüben im kapitalistischen Westen. Man selbst war das "bessere Deutschland". So blieb auch in den Familien die Aufarbeitung meist aus.

Andreas Petersen: Die Achtundsechziger haben letztlich ihre Vergangenheit nicht am Familientisch verhandelt. Sie haben nicht ihre Eltern befragt, das war zu heiß. Sie haben es gesellschaftlich verhandelt, das ist das Besondere. Es wäre zum Beispiel sehr einfach gewesen, über die Wehrmachtauskunftstelle an Informationen zu kommen: Man konnte einen Antrag stellen und wusste zwei Monate später alles über den eigenen Onkel oder Vater: Wo haben die gedient, welche Einheit, sind sie verwundet gewesen? Anders gesagt: Wenn man wissen wollte, was die Männer damals im Krieg gemacht haben, dann gab es dafür öffentliche Stellen. Diese Stellen gab es in der DDR nicht, aber vor allem gab es keine gesamtgesellschaftliche Fragestellung. Dass die Aufarbeitung auch im Westen nicht lückenlos verlief, sehen wir heute im Umgang mit dem Ukraine-Krieg, den "Bloodlands", jenem Gebiet zwischen Zentralpolen und Westrussland, wo die Wehrmacht damals ihre Verbrechen verübt hat, neue Verbrechen geschehen, aber die notwendige Unterstützung ausbleibt.

Dr. Peter Neumann: Wie meinen Sie das?

Andreas Petersen: Es gibt Sätze, die inzwischen zu Plattitüden geworden sind: Man sagt "Nie wieder", und man fragt sich, was heißt das, jetzt, hier, konkret in dieser Situation. Wenn man dieses "Nie wieder" ernst nehmen würde, müsste man jetzt Waffen an die Ukraine liefern. Es gab die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion, und einer der Hauptschauplätze war die Ukraine. Und wenn wir einen ehrlichen Umgang suchen, dann müssen wir auch eine Diskussion über die deutsche Schuld in der Ukraine führen.

Dr. Peter Neumann: Warum hat sich der Gefühlsstau nach 1989 im Osten nicht einfach entladen?

Andreas Petersen: Schon die Beschäftigung mit der NS-Diktatur im Westen war ja unheimlich schwierig. Und im Osten kam bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte nun noch die zweite Diktatur hinzu. Das wäre dann wirklich sehr viel gewesen. Das Ausbleiben einer nachholenden Bewegung nach 1989 hat aber auch mit der Entwicklung der Tiefenpsychologie selbst zu tun. Es sind nicht mehr die Siebziger-, Achtzigerjahre mit ihrem utopischen Aufbruchsgedanken. Es ist jetzt die integrierte Verhaltenstherapie, die Menschen im Burn-out auffängt. Die Fragen "Wer bin ich?", "Wer sind meine Eltern?", "Woher komme ich?", "Was bedeutet das für mein Leben?" rücken in den Hintergrund. Auch in den Therapien geht es jetzt vor allem um Effizienz und Selbstoptimierung. Es gibt heute nur noch zwei psychoanalytische Lehrstühle in Deutschland, alles andere ist Verhaltenstherapie.

Dr. Peter Neumann: Einerseits ist die deutsche Schuld heute so präsent wie lange nicht mehr. Nicht nur in der Ukraine, auch im Nahen Osten, wenn es um die deutsche Staatsräson und die Frage geht, wie viel deutsche Kritik an Israel zulässig ist. Andererseits gibt es gerade aus dem Globalen Süden Stimmen, die von dieser deutschen Schuld nichts wissen möchten. Die sie sogar verantwortlich machen für gegenwärtiges Unrecht in Gaza. Propalästinensische Aktivisten skandieren "Free Palestine from German Guilt" ("Befreit Palästina von deutscher Schuld"). Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Andreas Petersen: Zur Aufarbeitungsdiskussion gehört das Wissen darum, was war. Es geht am Ende um die Fakten. Das gilt auch für den Vernichtungskrieg der Deutschen. Wo waren diese Wehrmachtssoldaten eigentlich? Ich habe neulich eine Veranstaltung mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel gemacht, der sagte: Gehen Sie in Berlin in die Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, im Keller gibt es im Rahmen einer Ausstellung eine Landkarte für deutsche Soldaten in Stalingrad, darauf alles Städte, die heute wieder Kampfgebiet sind: Sumy, Kramatorsk, Charkiw, Orte, an denen auch Schlögels Vater war. Diese Art von harter Erkenntnis meine ich, wenn ich von Aufarbeitung spreche. Meine Hoffnung ist, dass wir eine gemeinsame Basis finden. Die Interpretationen können dann immer noch unterschiedlich sein, aber wir sollten mindestens davon ausgehen können, dass wir über dieselben Fakten sprechen.


Aus: ""Nimmt man 'Nie wieder!' ernst, müsste man der Ukraine Waffen liefern"" (1. April 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2024-03/andreas-petersen-osten-freud-psychologie-ukraine
#24
Quote[...] Nach einem Ransomware-Angriff auf die schottische Gesundheitsbehörde "NHS Dumfries and Galloway" haben die Cyberkriminellen erste Daten veröffentlicht.

Wieder einmal gibt es einen ernst zu nehmenden Cybersicherheitsvorfall im Gesundheitssystem des Vereinigten Königreichs. Diesmal in Schottland beim National Health Service (NHS) Dumfries and Galloway, wie bereits Mitte März bekannt wurde. Jetzt sind erste Daten öffentlich. Zu diesen gehören unter anderem vertrauliche Informationen wie psychologische Gutachten aus den Patientenakten. Die Betroffenen werden derzeit über den Vorfall informiert.

Hinter dem Ransomware-Vorfall steckt vermutlich die relativ junge Gruppierung "INC Ransom". Die Bande veröffentlichte am 26. März einen Eintrag auf ihrer Leaksite mit der Drohung, "bald" drei Terabyte an gestohlenen Daten zu veröffentlichen.

Es seien lediglich Daten von einer "kleinen Anzahl an Patienten" veröffentlicht worden, schreibt das NHS Dumfries and Galloway. Potenzielle Betroffene sind neben Erpressung auch maßgeschneiderten Phishing-Attacken ausgesetzt. Es könne allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass künftig weitere Daten "durchsickern".

Für alle, die im NHS Dumfries and Galloway registriert sind, haben die Verantwortlichen eine Informationsseite samt FAQ eingerichtet. Auf die Frage, ob die Patientendaten sicher sind, heißt es darin beispielsweise, dass der NHS "immer noch über die Originaldateien verfügt, die nicht geändert oder gelöscht wurden. Einige Informationen wurden kopiert und sind durchgesickert." Die Frage, ob Daten verloren gegangen sind, wird verneint: "Den Angreifern ist es gelungen, Daten aus unseren Systemen zu kopieren – aber die Originaldateien sind immer noch sicher und wurden nicht gelöscht oder verändert".

Die Versorgung sei zudem weiterhin gesichert. Behandlungstermine und ähnliches finden demnach weiterhin statt. Laut eigenen Angaben arbeitet die Gesundheitsbehörde weiterhin mit der schottischen Polizei, dem National Cyber Security Centre und der schottischen Regierung und anderen Behörden zusammen.



Aus: "Nach Cyberangriff auf schottische Gesundheitsbehörde erste Daten veröffentlicht" Marie-Claire Koch (31.03.2024)
Quelle: https://www.heise.de/news/Nach-Cyberangriff-auf-schottische-Gesundheitsbehoerde-erste-Daten-veroeffentlicht-9671652.html
#25
Quote[...] Nach einem Ransomware-Angriff auf die schottische Gesundheitsbehörde "NHS Dumfries and Galloway" haben die Cyberkriminellen erste Daten veröffentlicht.

Wieder einmal gibt es einen ernst zu nehmenden Cybersicherheitsvorfall im Gesundheitssystem des Vereinigten Königreichs. Diesmal in Schottland beim National Health Service (NHS) Dumfries and Galloway, wie bereits Mitte März bekannt wurde. Jetzt sind erste Daten öffentlich. Zu diesen gehören unter anderem vertrauliche Informationen wie psychologische Gutachten aus den Patientenakten. Die Betroffenen werden derzeit über den Vorfall informiert.

Hinter dem Ransomware-Vorfall steckt vermutlich die relativ junge Gruppierung "INC Ransom". Die Bande veröffentlichte am 26. März einen Eintrag auf ihrer Leaksite mit der Drohung, "bald" drei Terabyte an gestohlenen Daten zu veröffentlichen.

Es seien lediglich Daten von einer "kleinen Anzahl an Patienten" veröffentlicht worden, schreibt das NHS Dumfries and Galloway. Potenzielle Betroffene sind neben Erpressung auch maßgeschneiderten Phishing-Attacken ausgesetzt. Es könne allerdings nicht ausgeschlossen werden, dass künftig weitere Daten "durchsickern".

Für alle, die im NHS Dumfries and Galloway registriert sind, haben die Verantwortlichen eine Informationsseite samt FAQ eingerichtet. Auf die Frage, ob die Patientendaten sicher sind, heißt es darin beispielsweise, dass der NHS "immer noch über die Originaldateien verfügt, die nicht geändert oder gelöscht wurden. Einige Informationen wurden kopiert und sind durchgesickert." Die Frage, ob Daten verloren gegangen sind, wird verneint: "Den Angreifern ist es gelungen, Daten aus unseren Systemen zu kopieren – aber die Originaldateien sind immer noch sicher und wurden nicht gelöscht oder verändert".

Die Versorgung sei zudem weiterhin gesichert. Behandlungstermine und ähnliches finden demnach weiterhin statt. Laut eigenen Angaben arbeitet die Gesundheitsbehörde weiterhin mit der schottischen Polizei, dem National Cyber Security Centre und der schottischen Regierung und anderen Behörden zusammen.



Aus: "Nach Cyberangriff auf schottische Gesundheitsbehörde erste Daten veröffentlicht" Marie-Claire Koch (31.03.2024)
Quelle: https://www.heise.de/news/Nach-Cyberangriff-auf-schottische-Gesundheitsbehoerde-erste-Daten-veroeffentlicht-9671652.html
#26
Quote[...] In der Technischen Universität Berlin begann am 27. Januar 1978 der dreitägige TUNIX-Kongress mit etwa 15.000 TeilnehmerInnen. Dies war der Versuch verschiedener Basisinitiativen und unorganisierter Linken, die zerstreute neue Generation nach der 68er-Bewegung zu versammeln, die einen Gegenpol zum Politikverständnis der maoistischen K-Gruppen und der DDR-orientierten Organisationen bildeten.

Thematisch war der Kongress breit gefächert, so wie die Initiativen, die daran teilnahmen. So ging es nicht nur um die damals schon angesagte Themen wie Ökologie. Stadtzerstörung oder Neonazis, sondern auch um welche, für die es außerhalb der Linken kaum ein Bewusstsein gab. Themen wie Missbrauch der Psychiatrie, Aufbau einer eigenen Nahrungsmittelkette, alternative Energiegewinnung, Feminismus, der Kampf von Schwulen für ihre Rechte oder die Geschichte als Grundlage zur Einschätzung der eigenen Situation im Land.

In der Folge des Treffens begann bundesweit eine alternative Gründungswelle von Projekte, Gruppen und Kollektiven. Anders als bei der dogmatischen Linken ging es nicht mehr darum, die bestehende Gesellschaft umzustürzen oder sich nur auf den Widerstand gegen die Staatsmacht zu konzentrieren, sondern Alternativen zu schaffen.

Im Rahmen des TUNIX-Kongresses wurden auch zahlreiche Projekte vorgestellt, die es teilweise heute noch gibt. Zu nennen sind da vor allem die TAZ (die acht Monate später erstmals erschien) sowie das Konzept einer ökologischen Partei, aus der dann die Grünen wurden. Und auch die Frauen- sowie die Schwulenbewegung fanden hier den entscheidenden Aufschwung.


Aus: "Der TUNIX-Kongress" Aro Kuhrt (19. März 2024)
Quelle: https://www.berlinstreet.de/18858

Das Treffen in TUNIX fand vom 27. bis 29. Januar 1978 in der Technischen Universität (TU) in West-Berlin statt und war der kurzfristige Versuch einiger Initiativen von ,,Unorganisierten", die noch zerstreute neue Generation nach der 68er-Bewegung zu versammeln, die einen Gegenpol zum Politikverständnis der maoistischen K-Gruppen und der DDR-orientierten Organisationen wie der SEW bildeten. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Treffen_in_Tunix

#27
Quote[...] Nichts wird verschont. Krankenhäuser, Schulen, Moscheen, antike Denkmäler, Universitäten, Kirchen, Archive und Bibliotheken sind zerstört. Das kulturelle Gedächtnis, das angehäufte Wissen, die Träger:innen einer eigenständigen, selbstbestimmten Zukunft – alles zerbombt. Und jetzt droht die Bevölkerung in Gaza vor unser aller Augen dem Hungertod ausgeliefert zu werden. Die Menschen in Gaza, auch die überlebenden israelischen Geiseln, sind ohne Rettung, ohne Schutz. Und ein Ende ist nicht absehbar.

Seit kurzem fallen neben den Bomben auch Lebensmittelpakete vom Himmel, jetzt soll Hilfe auch auf dem Seeweg den abgeriegelten Streifen erreichen. Ein Hoffnungsschimmer? Kaum. Der Abwurf von Hilfe aus der Luft ist nicht nur aufwendig, teuer und ungenau. Unten angekommen, lässt sich ohne Strukturen zur Verteilung der Hilfe nicht sicherstellen, dass die Bedürftigsten etwas von den überlebensnotwendigen Gütern abbekommen. Im Gegenteil: Wer zu den Bedürftigsten gehört, zählt in der Regel nicht zu den Schnellen und Starken, die die Hilfe untereinander aufteilen. Etablierten humanitären Mindeststandards, die mühsam nach der Beschäftigung mit Fehlern in der humanitären Hilfe erarbeitet wurden, wird der Abwurf aus der Luft deshalb nicht annähernd gerecht. Hier wird nicht nach Bedürftigkeit verteilt, sondern nach der Macht des Stärkeren.

Diese Form der Hilfe ist nicht nur ziellos, sie ist entwürdigend und entmenschlichend. Die schrecklichen Szenen, wie ausgehungerte Menschen um die abgeworfenen Güter kämpfen, gehen um die Welt, und die Rollen sind klar verteilt: hier die braune, unzivilisierte Masse, dort die edlen Helfer und Herren modernster Technik. Auch die Bundeswehr beteiligt sich. Angesichts der Verzehnfachung der Rüstungsexporte aus Deutschland ist diese in den Krieg eingebettete Hilfe, die mehr schadet, als nützt, nichts anderes als eine Form der Legitimierung des Kriegs.

Während sich die Lastwagen mit lebensnotwendigen Gütern an den Grenzübergängen kilometerlang stauen und während die vorhandenen, wenn auch schwer beschädigten Strukturen noch immer in der Lage wären, die existentiell gefährdeten zwei Millionen Menschen im Gazastreifen zu versorgen, baut Israel mit seinen engsten Verbündeten Deutschland und USA ein neues System auf, das keine Rettung darstellt. Die vorhandenen internationalen und UN-Hilfsstrukturen werden gezielt umgangen, Hilfe wird nun von Militärs geleistet. Das unterstützt auch das israelische Ziel, die UN-Hilfsorganisation UNRWA mit ihren rund 13.000 palästinensischen Mitarbeiter:innen auszuschalten.

Für die Errichtung der Infrastruktur der Hilfe über den Seeweg von Zypern nach Gaza veranschlagen die USA 60 Tage. Bis dahin könnten Tausende Menschen verhungert sein. Und auch diese Hilfe soll nicht über die UNRWA laufen, die als einzige über die entsprechende Infrastruktur verfügt, um eine halbwegs gerechte und angemessene Verteilung gewährleisten zu können.

Die humanitäre Hilfe über den Seekorridor und aus der Luft ist auch deshalb im Interesse der israelischen Regierung, weil sie der lang angekündigten israelischen Offensive auf das vollkommen überfüllte Rafah im äußersten Süden des Gazastreifens den Boden bereiten könnte. Bombardiert wird dort schon seit Monaten, jetzt werden die Hilfesuchenden wieder ein paar Kilometer in Richtung Norden gelenkt. Fast müßig zu sagen, dass im Falle einer Bodenoffensive auch in Rafah noch mehr Tod und Verwüstung zu erwarten ist als ohnehin schon.

Palästinensisches Leben soll im Gazastreifen nur noch als nacktes, bloßes Leben existieren. In diese Hölle will die israelische Regierung sogar Kranke und Mütter mit kleinen Kindern zurückschicken, die zu medizinischen Behandlungen im besetzten Ost-Jerusalem und teilweise in Israel waren. Die israelischen medico-Partnerorganisationen Hamoked und Physicians for Human Rights konnten diesen Plan mit einem Eilantrag beim Obersten Gerichtshof in Israel zumindest vorläufig verhindern.

Der Gazastreifen, sagte EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, sei auch der Friedhof des humanitären Rechts. Die militärisch eingebettete Hilfe, wie sie jetzt in Gaza eingeübt wird, schafft die Unabhängigkeit der Hilfe ab. Bomben und Brot gleichzeitig abzuwerfen, ist Zynismus und eine Form der Kriegspropaganda.

Geschieht nichts, werden wir in den nächsten Tagen und Wochen eine drastische Verschärfung der rein menschengemachten humanitären Katastrophe in Gaza erleben, die noch weit über das hinausgeht, was bereits geschehen ist. Den Vereinten Nationen zufolge erlebt der Norden von Gaza bereits eine akute Hungersnot. Dass sich dies unter unseren Augen ereignet, macht uns zu Zuschauern, zu Mitwissern. Die schweigende Akzeptanz äußert sich nicht nur im ausbleibenden Protest angesichts einer inhumanen Kriegsführung, wie er im Fall der Ukraine selbstverständlich ist. Einmal zugelassen, ist das überall in der Welt wiederholbar. Damit ist die Selbsterzählung des Westens, im Schlechten immerhin die bessere, weil humanere Wahl zu sein, am Ende. Die israelische Regierung glaubt auf diese Weise, den umfassenden Sieg zu erlangen. Doch nach dem 7. Oktober markiert dieser Krieg eine weitere Zäsur in der israelischen Verfasstheit. Die Folgen für Israel selbst sind nicht zu ermessen. Ein Taumel in den Abgrund.

Ohne gleiche Rechte für alle, wird es keine Lösung geben, sagte der Philosoph Omri Boehm Mitte März 2024 in seiner Preisträgerrede auf der Leipziger Buchmesse. Dies zu verstehen, verlangt eine sofortige Umkehr, ein Ende des Kriegs, ein Ende der Idee vom Sieg einer Seite, die allein für sich Sicherheit beansprucht. Einzig Zeichen der Menschlichkeit können den Ausweg weisen.

medico international am 25. März 2024


Aus: "Gaza-Krieg: Taumel in den Abgrund" (25. März 2024)
Quelle: https://www.medico.de/taumel-in-den-abgrund-19436
#28
Quote[...] Ratten, Müllberge, Schimmel: Wenn Vermieter ihre Pflichten ignorieren, leiden die Mieter. Die Möglichkeiten, den Betroffenen zu helfen, sind nicht in allen Bundesländern gleich.

 Dass Niedersachsen ein Gesetz hat, das Mieter schützen soll, wenn ihr Vermieter sich aus der Verantwortung stiehlt, klingt erst einmal gut. Und doch scheitert auch das beste Gesetz, wenn es nicht zum Einsatz kommt.

So wie in Oldenburg, wo Mieterinnen und Mieter monatelang froren, sich der Müll stapelte und Ratten anlockte. Der Vermieter verlangte die volle Miete, aber zahlte Rechnungen zum Beispiel für Strom und Wasser nicht mehr. Es sind Häuser des inzwischen insolventen Münchner Immobilienkonzerns Omega AG, unter dem Mieter in ganz Deutschland leiden.

NDR und "Süddeutsche Zeitung" haben berichtet, wie sich die Verantwortlichen verspekulierten und wieso das Elend ihrer Mieter so groß werden konnte.

"Mieter in Not" (19.03.2024)
Marode Wohnungen, ausbleibende Reparaturen und ein Vermieter, der sich nicht kümmert: In ganz Deutschland leiden Mieter unter der Insolvenz der Immobilienfirma Omega AG. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf Immobilien-Spekulanten.

https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/immobilienpleite-omega-ag-100.html

 Der Fall Omega ist groß, aber kein Einzelfall. "Man glaubt es kaum, wie oft das vorkommt", sagt Beatrix Zurek von der SPD. Sie ist Vizepräsidentin des Deutschen Mieterschutzbundes. Sie wünscht sich Wohnungsaufsichtsgesetze in allen Bundesländern, die Kommunen verpflichten könnten, einzugreifen. "Damit die Kommunen wirkungsvoll und zielgerichtet einschreiten können", sagt Zurek.

Die Kommunen könnten dann beispielsweise Hauseigentümern unter Androhung von Zwangsgeldern vorschreiben, dass sie heruntergekommene Unterkünfte in Ordnung bringen müssen.

 Solche Wohnungsaufsichtsgesetze gibt es in acht Bundesländern: Hamburg, Berlin und Niedersachsen haben eines, außerdem Bremen, Hessen, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen. Schleswig-Holstein plant eines, die restlichen Bundesländer offenbar nicht. Der Staat stehle sich damit aus der Verantwortung statt seiner Fürsorgepflicht nachzukommen, findet Zurek.

Wie auch in Zureks Heimat. Denn Bayern hatte bis 2004 ein Wohnungsaufsichtsgesetz, das "im Wege der Deregulierung und Entbürokratisierung" aufgehoben wurde, wie es das bayerische Bauministerium auf Anfrage mitteilt. Eine Wiedereinführung sei "nicht notwendig".

Die Kommunen hätten genügend Rechte, um gegen Wohnungsmissstände vorzugehen, zudem sei das Mietrecht deutlich verbessert worden. Ähnlich sieht das die Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD). Ihr Ministerium teilt mit, dass betroffene Mieter ihre Rechte gegebenenfalls gerichtlich durchsetzen könnten.

 Mieterschützerin Zurek macht das wütend. Wenn Wohnraum verkomme, dann treffe das doch vor allem jene, "die sich am wenigsten wehren können", sagt sie. Also Familien mit wenig Einkommen, Alleinerziehende oder Arbeitskräfte, die aus dem Ausland kämen, "um nur einige zu nennen". Menschen, die sich keine andere Wohnung leisten könnten.

Und das sind auch meist die, die Sorge haben, gegen den Vermieter vorzugehen. Oder die sich fragen, wie man gegen einen Vermieter vorgehen soll, den man schlicht nicht mehr erreicht. Wie in Oldenburg. Mieterin Kathi A. hat dort wochenlang versucht, jemanden aus dem Omega-Unternehmen zu finden, der zuständig ist. Der endlich die seit November ausgefallene Heizung repariert.

"Wir wissen nach wie vor nicht, wer gerade wirklich für uns zuständig ist", erzählt sie bei einem Besuch Ende Januar. Draußen elf Grad, drinnen ist es kaum wärmer, trotz zwei Heizlüftern. Sie habe sogar einen Aufsichtsrat der Omega AG angerufen, erinnert sich Kathi A. - vergeblich.

 Die Stadt Oldenburg will nicht gewusst haben, wie schlimm es wirklich in den Omega-Häusern aussah, trotz Berichterstattung in der Lokalpresse über die Zustände. Im September habe die zuständige Abfallbehörde sich bemüht, die Omega zum Entsorgen des Mülls zu bringen, teilt ein Sprecher auf Anfrage von NDR und SZ mit. Im Dezember habe man dann den Müll auf eigene Kosten entsorgen lassen, per sogenannter Ersatzvornahme. Dass die Stadt das Geld dafür jemals wiedersehen wird, ist unwahrscheinlich.

Auch in anderen Orten in Niedersachsen wird das Wohnraumschutzgesetz nur schleppend eingesetzt, wie eine Befragung des niedersächsischen Wirtschaftsministeriums ergab. Von 138 befragten Kommunen haben bisher zehn das Gesetz angewendet, bei insgesamt 161 Objekten.

Diese zehn hätten sich aber zufrieden gezeigt, so das Ministerium. Oft hätte es schon gereicht, mit Verweis auf das Gesetz zur Beseitigung von Missständen aufzufordern.

 Wie gut ein Wohnungsaufsichtsgesetz helfen kann, zeigt Nordrhein-Westfalen. Bereits in den ersten zwei Jahren nach Einführung des Gesetzes 2014 seien die Behörden 6.200 Mal eingeschritten, berichtete das Bauministerium damals stolz. Es hat einen 152-seitigen Leitfaden vorgelegt, der alle möglichen Szenarien im Detail beschreibt, inklusive Musterverfügungen. Das macht es den Kommunen leicht, gegen Eigentümer vorzugehen.

Und doch stößt selbst das beste Gesetz an Grenzen, wie ein Bürgermeister aus Hessen zeigt. Claus Steinmetz kämpft im nordhessischen Wabern seit Jahren gegen Firmen aus einem Unternehmensgeflecht, das offenbar Wohnungen in einem halben Dutzend Städten und Gemeinden verkommen lässt.

 Seit er 2015 gewählt wurde, habe er ständig Ärger mit etwa 80 bis 90 Wohnungen, erzählt er NDR und SZ. "Das ist wirklich schlimm und da leiden die Menschen natürlich ganz extrem drunter, teilweise auch Familien mit Kindern."

Einigen konnte er helfen, ordnete schon mehrmals die Sanierung von Wohnungen an, erklärte andere für gänzlich unbewohnbar. Trotzdem sagt er: "Unsere Möglichkeiten sind so langsam ausgeschöpft." Steinmetz wünscht sich schärfere Gesetze. "Es kann nicht sein, dass Immobilien in Deutschland zu Spekulationsobjekten werden und dann einfach vergammeln."

 In Oldenburg kommt die Rettung schließlich von überraschender Seite: einer kleinen Volksbank. Die hatte einen Kredit für den Kauf der Häuser gegeben. Und offenbar keine Lust mehr, auf die ausstehenden Tilgungen zu warten: Während Kathi A. noch fror, beantragte die Bank eine Zwangsverwaltung beim Oldenburger Amtsgericht.

Anfang Februar begann der Zwangsverwalter die Arbeit und ließ als erstes die Heizung in Kathi A.s Haus ersetzen. Kathi A. war da aber schon ausgezogen. Sie hatte das ständige Frieren nicht mehr ausgehalten.


Aus: "Immobilienspekulation Warum Mieter oft lange auf Hilfe warten müssen" Katrin Kampling, NDR (26.03.2024)
Quelle: https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/immobilien-spekulation-wohnungsaufsichtsgesetz-100.html

#29
Quote[...] Fast 17 Prozent der Bevölkerung in Deutschland lebte 2022 in Armut. Das ist das Ergebnis des Paritätischen Armutsberichts. Demnach gelten mehr als 14 Millionen Menschen nach den jüngsten Daten als arm. Die Zahl stagniert damit seit Jahren erstmals – nur die Kinderarmut steigt weiter. Besonders betroffen seien zudem Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Menschen mit schlechten Bildungsabschlüssen oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit.

Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland ist dem Bericht zufolge von Armut betroffen. Der Wert von fast 22 Prozent ist demnach ein Allzeithoch. Unter Alleinerziehenden habe die Armutsquote zudem bei 43,2 Prozent gelegen, heißt es in dem Bericht.

"Die Armut in Deutschland ist auch in 2022 auf sehr hohem Niveau verblieben", sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Der Trend stetig wachsender Armut sei auf Bundesebene zwar auf den ersten Blick gestoppt, aber noch lange nicht gedreht. 2022 habe es fast eine halbe Million mehr Menschen geben, die von Armut betroffen sind, als noch 2019. Dabei führt Schneider auch die Corona-Pandemie, die Energiekrise und die hohe Inflation als mögliche Ursachen auf. Im Vergleich zu 2006 habe sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen in Deutschland sogar um 2,7 Millionen Menschen erhöht.

Die regionalen Unterschiede sind dem Bericht zufolge groß. In Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen und Hamburg sei jeder fünfte Mensch von Armut betroffen, in Bremen gar jeder dritte. In Bayern hingegen lebe jeder achte in Armut. Verschlechtert hat sich die Situation demnach in Hamburg, Schleswig-Holstein und im Saarland. In Berlin ist die Armut im Vergleich zum Vorjahr hingegen von 20,1 auf 17,4 Prozent gesunken.

Während die auch in den vergangenen Jahren bestplatzierten Länder Bayern, Baden-Württemberg und Brandenburg Armut weiter abbauen konnten, hätten die Länder am unteren Ende der Skala zugelegt. Die stärkste Zunahme habe es demnach in Nordrhein-Westfalen gegeben, sagte Schneider. Hier sei die Armutsquote seit 2006 doppelt so stark gewachsen wie in ganz Deutschland. 2022 betrug sie 42 Prozent.

"Ein Fünftel der Armen sind Kinder und Jugendliche. Fast zwei Drittel aller erwachsenen Armen gehen entweder einer Arbeit nach oder sind in Rente oder Pension", teilte Schneider mit. 70 Prozent von ihnen besitzen dem Bericht zufolge einen deutschen Pass, 60 Prozent zumal über mittlere oder höhere Bildungsabschlüsse. Zudem seien nur sechs Prozent der erwachsenen Armutsbevölkerung arbeitslos. 34 Prozent seien erwerbstätig – 30 Prozent Rentnerinnen und Rentner.

Der Verband fordert die Bundesregierung in seinem Bericht zu "einer entschlossenen Armutspolitik" auf. Dazu gehöre, den Mindestlohn auf 15 Euro anzuheben, Kinderbetreuung auszubauen sowie eine Kindergrundsicherung. Zudem solle es eine "solidarische Pflegeversicherung als Vollversicherung geben".

Der Bericht des Gesamtverbands Der Paritätische basiert auf dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamts.


Aus: "17 Prozent der Bevölkerung in Deutschland von Armut betroffen" David Rech (26. März 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2024-03/armut-deutschland-paritaetischer-armutsbericht-kinderarmut

#30
Quote[...] Fast 17 Prozent der Bevölkerung in Deutschland lebte 2022 in Armut. Das ist das Ergebnis des Paritätischen Armutsberichts. Demnach gelten mehr als 14 Millionen Menschen nach den jüngsten Daten als arm. Die Zahl stagniert damit seit Jahren erstmals – nur die Kinderarmut steigt weiter. Besonders betroffen seien zudem Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Menschen mit schlechten Bildungsabschlüssen oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit.

Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland ist dem Bericht zufolge von Armut betroffen. Der Wert von fast 22 Prozent ist demnach ein Allzeithoch. Unter Alleinerziehenden habe die Armutsquote zudem bei 43,2 Prozent gelegen, heißt es in dem Bericht.

"Die Armut in Deutschland ist auch in 2022 auf sehr hohem Niveau verblieben", sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Der Trend stetig wachsender Armut sei auf Bundesebene zwar auf den ersten Blick gestoppt, aber noch lange nicht gedreht. 2022 habe es fast eine halbe Million mehr Menschen geben, die von Armut betroffen sind, als noch 2019. Dabei führt Schneider auch die Corona-Pandemie, die Energiekrise und die hohe Inflation als mögliche Ursachen auf. Im Vergleich zu 2006 habe sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen in Deutschland sogar um 2,7 Millionen Menschen erhöht.

Die regionalen Unterschiede sind dem Bericht zufolge groß. In Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen und Hamburg sei jeder fünfte Mensch von Armut betroffen, in Bremen gar jeder dritte. In Bayern hingegen lebe jeder achte in Armut. Verschlechtert hat sich die Situation demnach in Hamburg, Schleswig-Holstein und im Saarland. In Berlin ist die Armut im Vergleich zum Vorjahr hingegen von 20,1 auf 17,4 Prozent gesunken.

Während die auch in den vergangenen Jahren bestplatzierten Länder Bayern, Baden-Württemberg und Brandenburg Armut weiter abbauen konnten, hätten die Länder am unteren Ende der Skala zugelegt. Die stärkste Zunahme habe es demnach in Nordrhein-Westfalen gegeben, sagte Schneider. Hier sei die Armutsquote seit 2006 doppelt so stark gewachsen wie in ganz Deutschland. 2022 betrug sie 42 Prozent.

"Ein Fünftel der Armen sind Kinder und Jugendliche. Fast zwei Drittel aller erwachsenen Armen gehen entweder einer Arbeit nach oder sind in Rente oder Pension", teilte Schneider mit. 70 Prozent von ihnen besitzen dem Bericht zufolge einen deutschen Pass, 60 Prozent zumal über mittlere oder höhere Bildungsabschlüsse. Zudem seien nur sechs Prozent der erwachsenen Armutsbevölkerung arbeitslos. 34 Prozent seien erwerbstätig – 30 Prozent Rentnerinnen und Rentner.

Der Verband fordert die Bundesregierung in seinem Bericht zu "einer entschlossenen Armutspolitik" auf. Dazu gehöre, den Mindestlohn auf 15 Euro anzuheben, Kinderbetreuung auszubauen sowie eine Kindergrundsicherung. Zudem solle es eine "solidarische Pflegeversicherung als Vollversicherung geben".

Der Bericht des Gesamtverbands Der Paritätische basiert auf dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamts.


Aus: "17 Prozent der Bevölkerung in Deutschland von Armut betroffen" David Rech (26. März 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2024-03/armut-deutschland-paritaetischer-armutsbericht-kinderarmut

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Quote[...] BERLIN dpa | Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) verlangt eine Überarbeitung des Bürgergelds. ,,Das Bürgergeld benötigt ein Update. Es ist kein bedingungsloses Grundeinkommen", sagte Lindner der Rheinischen Post (Mittwoch). ,,Wir müssen alles unternehmen, dass Menschen, die arbeiten können, auch tatsächlich arbeiten." Dazu gebe es viele Stellschrauben – von der Frage der Zumutbarkeit angebotener Arbeit über Sanktionen bis hin zu Arbeitsgelegenheiten wie den Ein-Euro-Jobs.

Lindner vertrat die Ansicht, das Bürgergeld werde von einer Mehrheit der Bevölkerung als ungerecht empfunden, weil es zu wenig Anreize zur Arbeitsaufnahme enthalte. ,,Es ist ein Beitrag zum sozialen Frieden, hier Fehlentwicklungen zu korrigieren", so der Finanzminister. ,,Das höre ich hinter vorgehaltener Hand auch von Führungskräften der Sozialdemokratie. Also let's do it."

Lindner verwahrte sich zugleich gegen Kritik von SPD und Grünen an den von ihm geplanten Steuerentlastungen. ,,Wenn Sozialleistungen an die Preisentwicklungen angepasst werden, dann muss das genauso bei der Steuer für die arbeitende Bevölkerung gelten", sagte er. ,,Es gibt bei unseren Koalitionspartnern kein Zögern bei der Erhöhung des Bürgergelds, aber schon der schlichte Inflationsausgleich für Fach- und Führungskräfte sowie für den Mittelstand wird bekämpft."

Der Bild (Mittwoch) sagte Lindner, ihm fehle bei den Koalitionspartnern der Respekt vor den Steuerzahlern. Fairness verdienten nicht nur Geringverdiener. ,,Auch die Leistung der Fach- und Führungskräfte sowie des Mittelstands muss anerkannt werden. Diese Menschen nur als Lastesel zu behandeln, nimmt ihnen die Lust auf Leistung."

Lindner will den Grundfreibetrag in der Lohn- und Einkommenssteuer rückwirkend zum 1. Januar 2024 erhöhen. Auch für 2025 und 2026 stellte er in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur Veränderungen bei der Einkommenssteuer in Aussicht. Dann müsse erneut die sogenannte kalte Progression ausgeglichen werden. Darunter versteht man die Auswirkung einer hohen Inflation auf die Einkommenssteuer, die im Endeffekt zu einer heimlichen Steuererhöhung führen würde.


Aus: "Lindner rüttelt am Bürgergeld" (3.4.2024)
Quelle: https://taz.de/Debatte-um-Einsparungen-im-Haushalt/!6002305/

QuoteMustardmaster

Lindner weiß was FDP-Wähler wollen. Dafür kann man Ihm eigentlich auch keinen Vorwurf machen. ...


Quotemarmotte27

Wenn es nicht schon am Abend der Bundestagswahl klar gewesen wäre, wohin es führt, ich wäre erschüttert über die Bodenlosigkeit dieses Herrn. Diese ist ja keine Überraschung, man kennt ihn ja schon seit langen Jahren, aber man fasst sich halt trotzdem jedesmal erneut an die Stirn.


QuoteDavid Kind

Lindner symbolisiert alles, was in der Politik falsch läuft: Unverholene Verachtung für Arme und Arbeitslose, gnadenlose Lobby- und Klientelpolitik, gepaart mit Lügen, Desinformationen und Ressentiments um diese asoziale Politik durchzusetzen. ...


QuoteFrank N. Stein

Der Mann bekommt (ob er es verdient ist eine andere Frage) zZt als Minister und Abgeordneter 319000€ im Jahr. Nach vier Jahren als Minister hat er einen Anspruch von 4600€ pro Monat. Dazu noch seine Nebeneinkünfte. ...


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