COMMUNICATIONS LASER #17

Laser#17 - Fraktal Text Akkumulation => Global-Politix und Micro-Welt, Randnotizen und Fussnoten => Topic started by: Textaris(txt*bot) on June 23, 2016, 01:46:37 PM

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 23, 2016, 01:46:37 PM
Quote[...] Sieben nackte Frauen und Männer, die der Kamera den Hintern zeigen – das Foto hat das Image der ,,Kommune 1" geprägt. Dokument einer bewegten Generation, ein Fanal der Veränderung in einer Bundesrepublik, die noch zwischen verdrängter Nazi-Geschichte und dröger Adenauer-Spießigkeit hing. Vor 50 Jahren, am 12. Januar 1967, wurde die Kommune gegründet – in einer Dachwohnung in der Niedstraße in Friedenau richteten die Kommunarden Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans, Ulrich Enzensberger, Fritz Teufel sowie Dagmar Seehuber und Dorothea Ridder ihr Matratzenlager ein.

Ein erster Tabubruch: Die Wohnung gehört dem ahnungslosen Schriftsteller Uwe Johnson, der in den USA ist. Die Wohngemeinschaft verordnete sich erst einmal ein Psychomarathon, um mit schonungslosen Beichten auf dem Weg zum revolutionären Subjekt voranzukommen.

Weniger als drei Jahre existierte die Kommune 1, doch ihre gesellschaftliche Wirkung war ungeheuer. Die ,,Kommune 1" war der Turbogenerator für eine Politisierung einer Generation. Anarchistisches Politiktheater und Provokation, Gewaltverherrlichung und sexuelle Befreiung – in einer Zeit, als Studenten noch mehrheitlich mit Krawatte und Anzug zur Vorlesung gingen, Papa am Sonntag an der Straßenpumpe den eisern ersparten ,,Käfer" wienerte und die ,,Frontstadt" West-Berlin in ständiger Sorge vor den ,,Sowjets" lebte.

Die ,,Kommune 1", in der das Privateigentum abgeschafft war und die Klotüren ausgehängt, damit sich keine kleinbürgerliche Zurückgezogenheit entwickeln konnte, war ständige Provokation in einer total prüden Gesellschaft. Schon das Zusammenleben Unverheirateter galt damals als Kuppelei und brachte der Kommune deswegen eine Anklage ein.

Den Staat und seine Autoritäten lächerlich machen, das war die Waffe der ,,Kommune 1". Sie lebte aus der Reibung mit dem ,,Staatsapparat". Und der charismatische Rainer Langhans, der mit Ringellocken und Nickelbrille die Popstar-Rolle kultivierte, der manipulatorisch begabte Dieter Kunzelmann und der hingebungsvolle Clown Fritz Teufel waren Meister darin, die Behörden zu provozieren. Keine Idee schräg genug, sie nicht umzusetzen – und jedes Foto ihrer Aktionen mehrte ihren Ruhm als Ikonen der antiautoritären Bewegung. Dieter Kunzelmann, der während einer Gedenkveranstaltung aus einem Sarg heraus Flugblätter in die Menge wirft.

... Zur Kehrseite gehört auch der Antisemitismus Kunzelmanns, der sich im Sechs-Tage-Krieg die Vernichtung Israels wünschte und damit eine Mitbewohnerin aus jüdischer Familie erst zum Weinen und dann zum Auszug brachte. Es passt dazu, dass Kunzelmann später als Mitglied der Terrorgruppe ,,Tupamaros" an einem Anschlagsversuch auf das jüdische Gemeindehaus beteiligt gewesen sein soll, wie 2005 ein Buch enthüllte.

... ,,Das Private ist politisch" war die stete Kampfparole der Kommune. ,,Blah, Blah, das galt nur für die Männer", erinnert sich von Doetinchem, die später als Lehrerin Berufsverbot erhielt, dann Hebamme wurde und in Berlin die ambulante Geburt im Krankenhaus etablierte. Das Leben in der Kommune war chaotisch, die zwei kleinen Kinder blieben weitgehend sich selbst überlassen und schliefen im sogenannten ,,Müllzimmer". Nur die Frauen kümmerten sich um die Küche und wuschen Wäsche. ,,Frauen wurden nicht ernst genommen", sagt Dagmar von Doetinchem über eine Zeit, als die Frauenbewegung noch nicht den Kampf gegen die ,,Eminenzen" ausgerufen hatte.

... Die Zeit der Leichtigkeit der antiautoritären Bewegung war vorbei, als am 2. Juni 1967 bei den Protesten gegen den Schah-Besuch der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Ein Wendepunkt, an dem sich viele Protestler radikalisierten, während die ,,Kommune 1" weiterhin ihr dadaistisches Spaßkonzept verfolgte und ihre Bewohner sich als linke Popstars sahen. In der zweiten Phase der ,,Kommune 1", als in einer Fabriketage im Wedding das völlig unpolitische Modell Uschi Obermaier als Geliebte von Langhans einzog, ging es hauptsächlich um Sex und Drogen.

Prominenz wie der Musiker Jimi Hendrix schauen vorbei und Illustrierte zahlen enorme Honorare für Nacktfotos von Obermaier. Der sich als ,,Patriarch" aufspielende Kunzelmann versackt dagegen im Heroin und wird rausgeschmissen. Das Ende kommt, als im November 1969 Rocker die Wohnung in der Stephanstraße überfallen. Die Zeit und die Bewegung sind über die ,,K1" hinweggegangen.

... Die Räume übernimmt das ,,Sozialistische Zentrum". Ex-Kommunarden ziehen für kommunistische Splittergruppen in den Betriebskampf oder in den Untergrund – der 2010 gestorbene Teufel wird Mitglied der Terrorgruppe ,,2. Juni", Kunzelmann Kopf der ,,Tupamaros". Und Langhans tingelt bis heute durch die Medien bis ins ,,Dschungelcamp".


Aus: "Gründung der "Kommune 1" vor 50 Jahren Die nackte Provokation" Gerd Nowakowski (12.01.2017)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/gruendung-der-kommune-1-vor-50-jahren-die-nackte-provokation/19240982.html (https://www.tagesspiegel.de/berlin/gruendung-der-kommune-1-vor-50-jahren-die-nackte-provokation/19240982.html)

Quotecarnet 12.01.2017, 16:46 Uhr
"Kommune 1"... es war mit der Anfang vom Ende der Bevormundung durch Eltern, Schule und Lehrlingsausbildern. Nicht das wir das der Kommune 1 zu verdanken hätten, aber die Studentenunruhen haben ein Neues Deutschland geprägt. Davon hatten gerade die jugendlichen einen ungeheuerlichen Rückhalt. Frauen wie Männer wurden jetzt wahrgenommen. Die Emanzipation nahm seinen Lauf. "Neger" Musik , wie  die Kriegsgeneration es nannte, wurde nun populär. Die Nachkriegsgeneration und die Grünen von heute fühlten sich endlich von Zwängen befreit.


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Quote[...] Auf einmal stellte jemand die Frage: Kann man das noch so machen, einfach nur ein schönes Lied singen? Müsste es nicht politischer sein? "1968 fand eine Überpolitisierung statt", sagt der Liedermacher Hannes Wader. ... 1968 aber war auch hier das Wendejahr. In der Schlagerparade sang Heintje seiner "Mama" hinterher. In Vietnam war immer noch Krieg. Martin Luther King: erschossen. Rudi Dutschke: bei einem Anschlag schwer verletzt. Man wähnte sich im Kampf. Wolf Biermann schrieb über das Dutschke-Attentat ein Lied und hatte es, weil er aus Ost-Berlin natürlich nicht auf die Burg Wadeck kommen konnte, Walter Mossmann am Telefon beigebracht. "3 Kugeln auf Rudi Dutschke". ...

... Das erste Mal spielte Zappa in Deutschland. Kaum einer begriff seinen beißenden Witz. Und er verstand nicht, was das ganze Gequatsche sollte. Und fasste in einem Interview damals unbewusst zusammen, was das zerrissene Popmusikjahr 1968 in Deutschland ausmachte: "Die Leute scheinen lieber über Musik zu reden, als ihr zuzuhören."

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Aus: "1968: Auch in der Musik ein Jahr der Umbrüche" Ocke Bandixen (21.03.2018)
Quelle: https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/1968-Auch-in-der-Musik-ein-Jahr-der-Umbrueche,achtundsechzig110.html (https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/1968-Auch-in-der-Musik-ein-Jahr-der-Umbrueche,achtundsechzig110.html)

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Quote[...] Die verschiedenen weltweiten Strömungen, welche seit Mitte der 60er Jahre gegen die überkommenen politischen, kulturellen und sozialen Verhältnisse und Normen protestierten, werden heute allgemein unter dem Begriff der "68er-Bewegung" zusammengefasst ... Drei grundlegende Kritiken waren es, die den Kanon an neugewonnenen Überzeugungen bestimmten: der Antikapitalismus, der Antifaschismus und der Antiimperialismus. Die erste Kritik richtete sich gegen eine auf Ausbeutung und sozialer Ungerechtigkeit basierende Wirtschaftsordnung, die zweite gegen die Nichtauseinander-setzung mit der NS-Vergangenheit und die dritte gegen die Unterjochung der Länder der Dritten Welt durch die der Ersten und Zweiten. ...

Aus: "Deutsche Geschichten" (Stand 06/2016)
http://www.deutschegeschichten.de/zeitraum/themaindex.asp?KategorieID=1005&InhaltID=1646 (http://www.deutschegeschichten.de/zeitraum/themaindex.asp?KategorieID=1005&InhaltID=1646)
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Quote[...] The protests of 1968 comprised a worldwide escalation of social conflicts, predominantly characterized by popular rebellions against military and bureaucratic elites, who responded with an escalation of political repression.
In capitalist countries, these protests marked a turning point for the civil rights movement in the United States, which produced revolutionary movements ... The German student movements were largely a reaction against the perceived authoritarianism and hypocrisy of the German government and other Western governments, particularly in relation to the poor living conditions of students. Students in 108 German universities protested for recognition of East Germany, the removal of government officials with Nazi pasts and for the rights of students. In February, protests by professors at the German University of Bonn demanded the resignation of the university's president because of his involvement in the building of concentration camps during the war. ...

https://en.wikipedia.org/wiki/Protests_of_1968 (https://en.wikipedia.org/wiki/Protests_of_1968) (28 May 2016)
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Quote[...] Keimzellen der Studentenbewegung in Westdeutschland waren an zahlreichen Universitäten bemerkbar, auffällig war die 1962 gegründete Gruppe Subversive Aktion oder die Kommune I. Ab 1966/1967 entstand, verursacht durch die Restauration der Nachkriegs-Fünfziger Jahre und die Große Koalition (ohne eine einflussreiche Opposition innerhalb des Bundestages), unter der Führung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) die außerparlamentarische Opposition (APO).

Ein entscheidender, große Teile der Studentenschaft mobilisierender Faktor für die außerparlamentarische Opposition war die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien (Mohammad Reza Pahlavi), der sich auf Staatsbesuch in Berlin befand. Die Boulevardpresse, vor allem die Bild-Zeitung, verschärfte die Gegensätze durch eine polarisierende Berichterstattung.

Am 11. April 1968 wurde der Studentenführer Rudi Dutschke bei einem Attentat lebensgefährlich verletzt. Daraufhin fanden in zahlreichen westdeutschen Städten Protestdemonstrationen statt, die sich teilweise zu bürgerkriegsähnlichen Straßenschlachten mit der Polizei entwickelten. Bei diesen Osterunruhen wurden zwei Menschen in München getötet und bundesweit etwa 400 Menschen verletzt. Das Attentat auf Dutschke und die Ereignisse des Pariser Mai verstärkten die beginnende Radikalisierung der Bewegung, die sich gleichzeitig immer mehr aufsplitterte.

Als eine Folge der 68er-Bewegung gründete sich um Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof die terroristische Rote Armee Fraktion (RAF). Große Teile der Bewegung wandten sich dagegen der SPD unter Willy Brandt zu. Auch Die Grünen und weitere Bürgerrechtsbewegungen wie die Schwulenbewegung können als späte Folge der 68er-Bewegung gedeutet werden (vgl. auch Neue soziale Bewegungen). Dabei verfügen jedoch der Umweltschutz, der Tierschutz, die Frauenbewegung und andere gesellschaftliche Tendenzen über Traditionen, die teilweise weit in das Kaiserreich hineinreichen und somit keine originären Beiträge der Sechziger Jahre sind....

Weltweit wurde nun gegen das sogenannte ,,Establishment" protestiert, gegen Konformismus, gegen die Generation der Eltern und ihre Fortschrittsgläubigkeit, gegen das, was man als Scheinheiligkeit empfand, unter anderem etwa die Politik des damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson und ab 1969 Richard Nixon in den USA, so wie in Westdeutschland die der großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU).

Der Protest wurde auch selbst zum kulturellen Phänomen, wenn Stars wie Joan Baez bei Demonstrationen des Free Speech Movement sangen, oder Regisseure wie Michelangelo Antonioni der Studentenrevolte filmisch ein Denkmal setzten (Zabriskie Point)....

Während lange als Konsens anerkannt war, dass die internationale Bewegung von 1968 sowohl politisch (etwa Hochschulreformen, Die Grünen, Bürgerinitiativen, Ökologie) als auch im Bereich der Alltagskultur (Rock, Pop, lockerere Bekleidungs-Konventionen und Liberalisierung der Sexualität) positive Neuerungen gebracht hat, war immer schon eine kritische Sicht zu vernehmen, die vor allem von Konservativen vertreten wird.

Demnach haben ,,Die 68er" mit ihren Utopien und Experimenten eine ,,heile" Gesellschaft (z. B. Familie) der 1950er zerstört, Sekundärtugenden seien dadurch in Vergessenheit geraten, weshalb Helmut Kohl bei seinem Amtsantritt auch eine geistig-moralische Wende hin zu konservativen Werten und Moralvorstellungen ausrief.

Gegenkritik von Seiten der 68er ist, dass die scheinbar heile Gesellschaft in Wirklichkeit die Unwahrheiten der Tätergeneration (der Zeit des Nationalsozialismus) durch ein von den großen Kirchen unterstütztes Prinzip des Need-To-Know verheimlicht habe. Die ,,moralische Wende" habe keine Wirkung gezeigt, weil sie letztendlich durch das Verhalten der Verantwortlichen selbst ad absurdum geführt worden sei. Eine weitere These ist, dass die sogenannten Volksparteien die damaligen Vorgänge bis heute nicht begriffen, geschweige denn aufgearbeitet hätten. ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Westdeutsche_Studentenbewegung_der_1960er_Jahre (https://de.wikipedia.org/wiki/Westdeutsche_Studentenbewegung_der_1960er_Jahre) (1. Februar 2016)

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Quote[...] Der 1930 geborene Verleger Klaus Wagenbach beschreibt die Ursachen der 68er-Bewegung aus seiner eigenen Erfahrung: ,,1954, als sie in Bern Fußballweltmeister wurden, habe ich in Frankfurt gehört, wie nach der Deutschlandhymne wie früher das Horst-Wessel-Lied gebrüllt wurde. Das Gebrüll des Dritten Reichs konnte man in den Wochenschauen hören, und im Rundfunk wurde wie früher gebellt. Wenn einer laut Gitarre spielte, kam sofort der Polizeiknüppel. Das waren die Schwabinger Krawalle. Sie machten sich strafbar, wenn Sie Geschlechtsverkehr hatten, ohne verheiratet zu sein. Wenn Hildegard Knef eine halbe Brust heraushängen ließ, wurde die Aktion Saubere Leinwand aktiv."

Das Ende der 1940er Jahre einsetzende Wirtschaftswunder und die antikommunistisch geprägte Westorientierung der Politik Konrad Adenauers bewirkte schnelle gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen. Die 1949 erfolgte Gründung des sozialistischen Staates der DDR verstärkte diesen Wandel. In dieser Zeit entwickelten sich zwischen der Generation, die den Krieg erlebt hat, und den Nachgeborenen Spannungen. Hinzu kam die gesellschaftliche Aufgabe der Eingliederung von acht Millionen Vertriebenen, sowie von eineinhalb Millionen Zuwanderern aus der sowjetischen Besatzungszone beziehungsweise der DDR.

1945 gab es in der sowjetischen Besatzungszone und ab 1949 in der DDR Widerstand gegen die SED. Am stärksten lehnten sich die ostdeutschen Sozialdemokraten auf. Sie sprachen sich zu Tausenden gegen die Vereinigung ihrer Partei mit der KPD aus. Die sowjetische Militäradministration inhaftierte 6000 ihrer Mitglieder. 1949 wurde der Student Wolfgang Natonek wegen seines Engagements für die Meinungsfreiheit zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Er verbüßte sieben Jahre. 1950 verurteilten die Gerichte der DDR 78.000 Angeklagte wegen politischer Delikte. Unter diesen Bedingungen war politischer Widerstand nur verdeckt möglich. Nach Stalins Tod im März 1953 stand die reformorientierte Kritik am Sozialismus der DDR im Mittelpunkt der politischen Opposition. Allerdings war klar, dass sich in der SED kein neuer Kurs durchsetzen würde. Am 17. Juni 1953 eskalierte die Situation in einem Volksaufstand, den sowjetische Truppen blutig niederschlugen.[16] Die anschließend einsetzende Abwanderung von DDR-Bürgern, vor allem in die Bundesrepublik, führte in der DDR zu ökonomischen Problemen. Zwischen 1949 und dem Bau der Mauer 1961 waren knapp 2,7 Millionen Menschen nach Westdeutschland geflohen.

... 1961 wurde die Berliner Mauer gebaut und 1962 in der DDR die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Zunächst gab es keine Regelung, die eine Verweigerung des Wehrdienstes erlaubt hätte.[50] Als Kompromiss führte die DDR den Bausoldatendienst in der Nationalen Volksarmee ein. Wer diese Form der Ableistung seiner Wehrpflicht antrat, musste noch nach der Dienstzeit mit persönlichen Nachteilen rechnen. Die Bausoldatenbewegung war ein wichtiger Ausgangspunkt der Oppositionsgeschichte der DDR.

Besonders im Kontext zum Prager Frühling und zunehmender Proteste von Heranwachsenden wurde die Protestjugend ein wichtiges politisches Thema. Die Jugendlichen gewannen Einfluss auf die Demokratiebewegung.[53] Laut Bernd Gehrke entstanden ,,1967/68 neue oppositionelle Milieus, deren Kontinuität trotz mancherlei Veränderungen bis 1989 reichte" und zum ,,Träger immer wieder neuer und sich verändernder politischer Aktivitäten oder Gruppenbildungen" führten. Diese Opposition ging aus der ,,Vernetzung und partiellen Überlappung von Milieus der kritisch-marxistischen und christlichen Intelligenz sowie der subkulturellen Jugendbewegung hervor".[53] In der DDR hofften viele Menschen auf ein Gelingen des Prager Frühlings. Nach seinem Scheitern kam es zu Protesten und Verhaftungen. Der Glaube an die Reformierbarkeit des realen Sozialismus schwand.

... Die 68er-Bewegung war ein internationales Phänomen. Als erstes wichtiges Ereignis gilt der Sieg der kubanischen Revolution am 1. Januar 1959.[84]

In der Bundesrepublik unterschieden sich die einzelnen Bewegungen deutlich voneinander. Häufige Themen waren der Protest gegen den laufenden Vietnamkrieg (Ostermarsch- und Friedensbewegung), der Kampf gegen Autorität (insbesondere in Bildung: ,,Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren"), die Ablehnung der Großen Koalition von Dezember 1966 bis Oktober 1969 im Kabinett Kiesinger (der die sozialliberale Koalition im Kabinett Brandt folgte) und Erziehung (Jugendbewegung) und für die Gleichstellung von Minderheiten sowie der Einsatz für mehr sexuelle Freiheiten (Frauenbewegung, Sexuelle Revolution: ,,Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment", Schwulenbewegung, Flowerpower- und Hippie-Bewegung). Außer den Studenten waren Schüler ab etwa 15 Jahren beteiligt, was mit den Demonstrationen gegen Fahrpreiserhöhungen in Bremen und Niedersachsen sowie der Neuorganisation der Schülermitverwaltungen zusammenhing, die ebenfalls in diese Zeit fielen.[85] So kam es beispielsweise zu den Bremer Straßenbahnunruhen 1968.

Das zentrale Thema der DDR war das Scheitern des Prager Frühlings. Es wurde eine Demokratisierung des Sozialismus angestrebt. Es wird die Meinung vertreten, dass ohne diese Generation, die die Niederschlagung des Prager Frühlings erlebt hatte, die friedliche Revolution von 1989 nicht denkbar ist. ... Die meisten DDR-Bürger waren über die westdeutsche 68er-Bewegung gut informiert. Die Tumulte an westdeutschen Universitäten lösten Befremden aus. Angela Merkel sagte über diese Zeit: ,,Mir erschienen die Bundesrepublik, die D-Mark, die Soziale Marktwirtschaft, die Westbindung und die sozialen Sicherungssysteme als ein gut funktionierendes, plurales Gebilde, ein demokratisches, freiheitliches Land. Man musste dieses Land und seine Systeme nicht bekämpfen, schon gar nicht mit Gewalt". In dieser Zeit begann sich die Blueserszene in der DDR zu entwickeln, die Ende der 1970er Jahre auf ihrem Höhepunkt war.

Quote[...] Die Blueserszene [blu:zəʳˈstse:nə] oder Kundenszene, auch Post-Hippies war eine DDR-spezifische Jugendkultur bzw. eine Gegenströmung zur ,,offiziellen" Jugendkultur in der DDR. Zum Ende der 1970er Jahre erreichte sie ihren Höhepunkt und bildete als signifikante Bewegung eine Gegenkultur zum vorgezeichneten DDR-Alltag. Ihre Anhänger bezeichneten sich selbst als Blueser, Kunden oder Tramper. Innerhalb der Szene wurde nicht ausschließlich Blues gehört und gespielt.

Ihr Leitsatz waren die Ideale aus der westlichen Hippie-Bewegung wie Freiheit, Authentizität und Nonkonformismus. Sie zeichnete sich durch gemeinsame Verhaltensmuster und musikalische Vorlieben sowie ,,ihr" spezielles Outfit aus, das ein Wir-Gefühl erzeugte. Die überwiegende Mehrzahl der Blueser nahm eine betont antimilitaristische Geisteshaltung ein, viele engagierten sich in der Friedensbewegung in der DDR. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Blueserszene (https://de.wikipedia.org/wiki/Blueserszene) (30. Mai 2016)

... Der Journalist und Chefkommentator der Tageszeitung Die Welt,[87] Torsten Krauel, bewertete 2001 die 68er-Bewegung so: Das Auftreten ,,dezidierte[r] Jugendrevolutionäre, die das Establishment verjagen wollten", das Bedienen ,,antibürgerlicher, antireligiöser, antifamiliärer Reflexe" und der ,,antikulturelle Zertrümmerungsfeldzug" hätten viele Parallelen zu den Ereignissen gegen Ende der Weimarer Republik und zu den Strategien der damaligen rechts- und linksextremen Bewegungen aufgewiesen. Auch die ,,Aufpeitschung von Leidenschaften und die Hingabe an sie" sei bereits ,,konstitutiv für das NS-Regime gewesen". Dies habe gerade in Deutschland zu einer besonders heftigen Konfrontation zwischen Kriegs- und Nachkriegsgeneration geführt, wobei beide auf ihre Weise geglaubt hätten, ,,im antifaschistischen Recht zu sein".[88] Besonders drastisch wurden diese angeblichen Parallelen im Gedankengut und in der politischen Aktionsform vom Politologen Götz Aly in seinem Werk Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück dargestellt.

... Heftige Konflikte entstanden zwischen den Veteranen der Studentenbewegung und konservativen Politikern und Publizisten. Die einen meinten, dass die Ereignisse jener Zeit das obrigkeitsstaatlich geprägte Land geistig im Westen verankert hätten und erst eine Vergangenheitsbewältigung ermöglichten. Die anderen wiesen auf die Sympathie der Studentenführer für kommunistische Diktatoren hin. Zu ihren Idolen zählten Ho Chi Minh und Mao Tse-Tung. Außerdem sprachen sie von einem Abgleiten eines Teils der Bewegung in Gewalt und Terrorismus. Die Konservativen behaupteten, die gesellschaftliche Erneuerung habe seit Mitte der 1960er Jahre ohnehin stattgefunden, ebenso eine intensivere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Dies hätten die Auschwitz-Prozesse gezeigt.

In Deutschland wurde in den 1990er Jahren diskutiert, ob der beginnende Vandalismus im öffentlichen Raum, Graffitisprayer, Gewalt in den Schulen und ähnliche Tendenzen auf die Ideen der 68er-Bewegung zurückzuführen waren. Weltweit hatten Jugendliche für Selbstbestimmung und Freiheitsrechte demonstriert. Dabei nahmen sie sich Mao Tsetung, Ho Chi Minh und Che Guevara zum Vorbild, obwohl sie als Stalinisten galten. Diese Paradoxie gehöre zu den ,,dunkelsten Aspekten von 1968".

... Die 68er-Bewegung führte zu sozialen Veränderungen und bewirkte eine neue politische Kultur. Dazu gehörten die zunehmende Teilhabe von Minderheiten am öffentlichen Leben, sich verändernde Geschlechterrollen, sowie öffentliche Bekenntnisse zur Homosexualität. In Frankreich, Italien, der Bundesrepublik Deutschland und in den Vereinigten Staaten bildete sich eine außerparlamentarische Opposition. Diese politischen Gegenbewegungen mit ihren eigenen Flugblättern, alternativen Radiostationen und neuen Publikationsformen schufen neue Zugänge zu Informationen. Möglicherweise war dies ein Wegbereiter für die Internetkultur der Gegenwart. Für die internationalen Verbreitung der 68er-Bewegung waren Pressebilder und das Fernsehen wichtig, also die für die damalige Zeit neuen Medien. Weltweit gab es eine fortschreitende Demokratisierung und die Gründung von Nichtregierungsorganisationen. Diese Politisierung der Privatsphäre wird den Protesten der 1968er Jahre zugeschrieben.


https://de.wikipedia.org/wiki/68er-Bewegung (https://de.wikipedia.org/wiki/68er-Bewegung) (Stand: 19. Juni 2016)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 23, 2016, 02:26:18 PM
Quote[...] POTSDAM - ,,Die Schwarzer hatte doch sowieso nur Sex im Kopf, um wirkliche Befreiung ging es der doch nie", empört sich Katharina Rutschky, Pädagogin, freie Autorin und ,,Alt-68erin" auf die Frage hin, welche Widersprüche sie in der Frauenbewegung gesehen habe. Rutschky zählte neben der Historikerin Kristina Schulz, der Bestseller-Autorin und Journalistin Katja Kullmann und der Sängerin und freien Journalistin Christiane Rösinger zu den vier geladenen Expertinnen, die unter der Leitung der taz-Redakteurin Ines Kappert am Freitagabend im Berliner Amerika-Haus über den Erfolg der Frauenbewegung seit 1968 diskutieren sollten.

Einigkeit herrschte unter den Expertinnen selten. Während Kristina Schulz nüchtern und sachlich Kapperts Fragen nach deutsch-französischen Vergleichen beantwortete und sich als ruhender Pol in der bisweilen angeregten und emotionalen Diskussion gab, gewährte Christiane Rösinger Einblicke in die ,,rückständigste aller Szenen" – die Rockmusik. Ihre Erfahrungen in dieser Männerdomäne hätten sie eine Feministin werden lassen, und im Übrigen, so Rösinger, müsse heute doch eigentlich ,,jede intelligente Frau Feministin sein". Rutschky dagegen sah nicht ein, warum sich Frauen solidarisieren sollten, um eine Gleichstellung – die sowieso keine Befreiung bringe – zu erreichen. Jede Frau habe doch ,,ihren eigenen Kopf und ihre eigenen Probleme". Kullmann hingegen plädierte für eine stärkere Vernetzung der Frauen, gerade im Berufsleben, wo sich die Benachteiligungen und Probleme auftäten. Für sie sind der durch die 68er-Bewegung losgetretene neue Individualisierungsschub und das fehlende klare Feindbild das eigentliche Dilemma der Frauen von heute.

Erst spät am Abend endete die Diskussion in Zwietracht. Man kam nicht auf einen Nenner. War die Bewegung erfolgreich? Was muss noch getan werden? Beendet ist für die meisten das Thema noch lange nicht.


Aus: "Eine Debatte über 1968 und Feminismus" Von Anica Jahning (03.03.2008)
Quelle: http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/11148353/492531/Eine_Debatte_ueber_und_Feminismus_Frauenbewegung.html (http://www.maerkischeallgemeine.de/cms/beitrag/11148353/492531/Eine_Debatte_ueber_und_Feminismus_Frauenbewegung.html)

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QuoteAus: "Politisches Engagement: "Junge Linke haben Bezug zur Unterschicht verloren"" (22. Juni 2016)
http://www.zeit.de/campus/2016-06/politisches-engagement-junge-linke-studenten-parteizugehoerigkeit (http://www.zeit.de/campus/2016-06/politisches-engagement-junge-linke-studenten-parteizugehoerigkeit)

[Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.]

... Wolfgang Merkel: In der Tat hat sich die Form des politischen Engagements junger linker Menschen deutlich verändert. Die Großorganisationen, zu denen man sich gewissermaßen ein Leben lang zugehörig fühlt, haben rasant an Bedeutung verloren. Parteien sind unter jungen Intellektuellen wirklich out, ein langfristiges Engagement wünschen sich ohnehin nur die Wenigsten. Die Tendenz geht dagegen zur kurzfristigen und aktiven Beteiligung in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International, Attac oder in Umweltinitiativen. Auch im Netz gibt es durchaus Formen einer digitalen Zivilgesellschaft, in der sich junge Linke bisweilen engagieren.

Robert Pausch: Und inhaltlich?

Merkel: Auch da lässt sich eine ganz spannende Entwicklung beobachten – und die geht weg von der Verteilungspolitik. Die Frage danach, wie sich gesellschaftlicher Wohlstand gerecht verteilen lässt, war ja seit jeher der Wesenskern linker Politik. Und der ist unter jungen Linken heute fast gänzlich in den Hintergrund getreten. Stattdessen dominieren kulturelle und identitätspolitische Themen, über die sich junges Linkssein heute definiert. Das zentrale progressive Anliegen ist mittlerweile die unbedingte Gleichstellung von Minderheiten. Das können ethnische, religiöse oder sexuelle Minderheiten sein.

Gerade im Fall der Religion hat dies jedoch hochproblematische Konsequenzen: Denn die junge Linke neigt dazu – entgegen einer aufklärerischen oder marxistischen Tradition der Religionskritik – Religion unter Immunitätsschutz zu stellen und Kritik am Islam unmittelbar als "rechts" oder als "Phobie" zu brandmarken. Linke Religionskritik gerät dann in Vergessenheit, kritische Diskurse werden schlicht nicht mehr geführt – und das ist ein großes Problem.

...


Quelle: http://www.zeit.de/campus/2016-06/politisches-engagement-junge-linke-studenten-parteizugehoerigkeit?sort=desc#comments (http://www.zeit.de/campus/2016-06/politisches-engagement-junge-linke-studenten-parteizugehoerigkeit?sort=desc#comments) (Stand 23.06.2016)

QuoteXepio #8

Wenn es droht kompliziert zu werden,werfe ich Torten oder erkläre mich zum Kosmopoliten und wende mich ab von den Niederungen.

QuoteRaymond Luxury Yacht #5

"Stattdessen geht es um globale Zusammenhänge, der Nationalstaat wird dagegen als überholt und gestrig betrachtet."

Links zu sein bedeutete für mich in Jungendtagen immer für eine solidarischere Gesellschat einzutreten und Krieg sowie Gewalt als Mittel zur Interessendurchsetzung abzulehnen. Das waren die Kernthesen.

In meiner Wahrnehmung ist die heutige Generation, die man offensichtlich unbedingt unter dem Begriff Generation Y zusammenfassen möchte, nahezu unpolitisch. Ein bisschen vegan sein, ein bisschen auf Ökosiegel achten und auf jeden Fall irgendwas mit Flüchtlingen machen... aber nur, solange es den prekären Freelancerjob nicht einschränkt.

Deutschland wird aktuell massiv militarisiert, Privatsphäre wird praktisch abgeschafft, ich gebe meine Daten und Haltung unkritisch an "soziale" Netzwerke.

Musik als eigentlich immer wichtigen Ausdrucksform von Protest ist unglaublich beliebig. Einen theoretischen Unterbau oder irgendetwas Aufsehenerregendes sehe ich nicht.

Eine Revolution ist wohl nicht zu befürchten...

Quote
Kelhim #5.1

Keiner der "jungen Linken" ist doch gegen eine solidarischere Gesellschaft oder für den "Krieg sowie Gewalt als Mittel zur Interessendurchsetzung". Vegane Lebensweise, die Orientierung des Kaufverhaltens an ökologischen und sozialen Werten oder das Engagement für Schutzsuchende ist auch nicht unbedingt etwas, was es verdient hätte, verächtlich gemacht zu werden.

Sicherlich fand eine Schwerpunktverschiebung statt. Diese Analyse teile ich vollkommen. Ich kann das in meiner Familie auch ganz klar und geradezu handbuchartig an den Generationen ablesen. Trotzdem sehe ich diese Entwicklung nicht nur negativ. Vielleicht sind "junge, intellektuelle Linke" heute zu unkritisch gegenüber neuen Medien und Geschäftsmodellen. Meiner Meinung nach pflegen sie auch ein zu simples, unemptahisches, weil distanziertes Politikverständnis. Mir sind sie auch zu unbeständig und ungebunden. Andererseits muss der alte Uniform-Pazifismus der "Soldaten sind Mörder, es sei denn, sie tragen russische Abzeichen"-Schule wirklich nicht fortbestehen, verfolgungswürdige Interessen können auch die Rechte Unterdrückter in anderen Ländern sein, und die Globalisierung stoppt nicht an deutschen Grenzen. Eine Revolution muss hierzulande zum Glück niemand anstreben. Die Generation Y hat Potential.


QuoteRuelan #5.2

"Deutschland wird aktuell massiv militarisiert"

Diesen Unsinn glauben Linke wirklich. Sollte man wissen.

QuoteRaymond Luxury Yacht #5.7

"Diesen Unsinn glauben Linke wirklich. Sollte man wissen."

Oh, bitte! Sie nennen es "größere Verantwortung tragen" und das schlichte Gemüt ist begeistert...

Und größere Verantwortung trägt die Bundeswehr aktuell im Kosovo, im Libanon, in Syrien, im Irak, in Afghanistan, in der Westsahara, in Mali, im Sudan, im Südsudan, in Dschibuti, in Somalia, am Horn von Afrika und übernimt die Führung für den NATO-Verband in Litauen. Alles super, diese linken Spinner!






QuoteGarfield1 #1 

Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass sich die junge Linke heute ganz eindeutig kosmopolitisch orientiert. Das heißt, Gerechtigkeitsfragen werden nicht mehr im nationalen Kontext, etwa anhand von sozial- oder lohnpolitischen Auseinandersetzungen, verhandelt. Stattdessen geht es um globale Zusammenhänge

Au verflixt. Und dabei dachte ich immer, das uralte Lied der Linken hieße "Die INTERnationale". Und die Losung "Proletarier ALLER LÄNDER, vereinigt Euch!" ...


QuoteRaymond Aron #3

Merkel hat es doch schön auf den Punkt gebracht: Linke, und zwar nicht nur die "junge", nimmt man heute doch eher als Instanz von Denk- und Sprechverboten wahr, die alles und jedes in die triefende Tunke der reinen Gesinnungsethik steckt.


Quote

Aikansa Kutakin #1.1

... Jugend, Jugendkultur in der modernen Welt war schon immer links, intellektuell, infantil und naiv. Daran hat sich über die Jahrzehnte nichts geändert. Die alten 68iger mit ihren HoChiMinh-Rufen und MaoBibeln waren mindest so peinlich wie die heutige open-borders-Fraktion.

Was sich geändert hat: der konservative Gegenentwurf ist weggefallen. Die 68iger konnten ihren Schwachsinn (wobei ja nicht alles Unsinn war) in die Welt hinausposaunen, ohne Gefahr zu laufen, die Zeche dafür zu zahlen, weil da ein konservatives Moment in der Gesellschaft war, was das Ganze reaktiv abgefedert hat. So entstand durch diese Antihesen eine allmählicher Wadel in der Gesellscahft.

Heute sitzen aber die 68iger selber an den Schaltzentralen der Macht, ein Herr Barroso war früher Maoist, Kretschmann auch, viele in den vergangenen EU- Kommissionen waren früher eingefleischte Kommunisten. Das reaktive Moment und Gegengewicht ist weggefallen. ...


QuoteUnermüdlich #1.2

++ der konservative Gegenentwurf ist weggefallen. Die 68iger konnten ihren Schwachsinn (wobei ja nicht alles Unsinn war) in die Welt hinausposaunen, ohne Gefahr zu laufen, die Zeche dafür zu zahlen, weil da ein konservatives Moment in der Gesellschaft war, ... Heute sitzen aber die 68iger selber an den Schaltzentralen der Macht, ein Herr Barroso war früher Maoist, ... . ++

1. Verherrlichen Sie hier den Konservativismus der Vor-68er-Ära.

Wir erinnern uns:
Frau am Herd, wenns essen nicht schmeckte gab ganz legal eine Tracht Prügel, Vergewaltigung in der Ehe war nicht strafbar, eigenes Konto ohne Erlaubnis des Ehemanns gabs auch nicht, schon die Ermöglichung außerehelichen Sex war strafbar. Im Parlament saßen überwiegend alte Männer, ein Großteil Mitläufer in Hitlers Diktatur.
Die Ex-Nazis waren in allen Gesellschaftsebenen vorhanden, innerhalb des Rechtsstaates behinderten sie die Ahndung der eigenen Verbrechen in der Nazidiktatur, während sie Homosexuelle mit großem Eifer in die Gefägnisse oder gleich den Suizid trieben, Kriegsgeger wurden polizeilich zusammengeschlagen, während die US Armee in Vietnam alles massakrierte, was nicht schnell genug in Deckung gehen konnte.
Ich weiss echt nicht, was man daran - und das waren die Hauptgründe für die 68er-Revolte - lobens- oder erhaltenswert finden kann.

2. Barroso, Kretschmann und viele andere 68er die Karriere gemacht haben, sind heute stockkonservative, reaktionäre Bonzen, linker Ziele oder Visionen komplett unverdächtig.


Quote
Aikansa Kutakin #1.4

Sie verstehen den Ansatz nicht. Es geht nicht um richtig oder falsch, gut oder böse, sondern um faktische Gegebenheiten und gesellschaftliche Dynamiken und Prozesse.
Exakt das, was sie da grade machen, ist ja grade der Fehler der Linken, nur in diesen "moralischen" Bahnen zu denken und von der Moral her Dinge zu bewerten.
Selbstverständlich war es Ende der 60iger an der Zeit, die Gesellschaft zu ändern und längst überfälliges über Bord zu werfen, Verkrustungen aufzubrechen, mit Altem zu brechen und eine neue freie Gesellschaft zu formen. Das wurde teilweise von den 68igern auch hervorragend gemacht (insbesondere grade von denen, die damals belächelt wurden und gar nicht mal sooo politisch waren).

Ich persönlich war sogar ein Fan von Dutschke - trotz seiner Intelligenz und Kraft war er aber - streng politisch gesehen - ein kleingeistiger Vollpfosten. Wer gegen die Nachkriegsgesellschaft Deutschlands mobil macht , dabei aber die Mao-Bibel hochhält, d.h. von einem Mann, der fast genausoviel Tote auf dem Gewissen hat, als der ganze 2te Weltkrieg zusammen gebracht hat , ist nunmal in der Irre. http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/mao-tse-tung-45-millionen-tote-14038.html (http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/mao-tse-tung-45-millionen-tote-14038.html)

Die 68iger sind aber auch nicht das Thema. Thema ist die heutige Linke und das Wegbrechen der Dialektik einer Gesellschaft. Ohne diese Balance können sie keine gesunde Gesellschaft haben. Diese Balance ist aufgehoben.


QuoteUnermüdlich #1.5

++ Die 68iger sind aber auch nicht das Thema. Thema ist die heutige Linke und das Wegbrechen der Dialektik einer Gesellschaft. Ohne diese Balance können sie keine gesunde Gesellschaft haben. Diese Balance ist aufgehoben. ++

Die "Balance" war und ist immer dann aufgehoben, wenn die Rechten die Deutungshoheit verloren...
Das zeigt sich exemplarisch an den Debatten, sobald Widerspruch zu teils dümmlichsten NPD-Parolen kommen, geht das Geheule von wegen fehlender Meinungsfreiheit, Gesinnungsdiktatur und ähnlichem Quatsch los.
Und es ist gut so, dass die Rechten die Deutungshoheit verlieren!

Kritik an (v.a.) linken Spießern und Selbstreflexion ist natürlich wichtig, nur brauche ich die nicht von Leuten rechts der Mitte die noch reaktionärer und selbtsgefälliger als die Kritisierten sind.

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Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 29, 2016, 11:00:17 PM
Quote[...] Wie sehen Sie die Zeiten heute und das, was von der Emanzipation übrig ist? Haben Sie das Gefühl, nachhaltig etwas verändern zu können?

Jutta Winkelmann: Da hat sich enorm viel verändert. Auf der ganzen Welt ist es menschlicher geworden seit den 68ern. Natürlich gibt es auch Rückschläge, durch Bush zum Beispiel. Der hat viel kaputt gemacht. Aber ich denke, dass es auch im Untergrund sicher weiter geht.

Gisela Getty: Vieles ist ja heute selbstverständlich, wofür wir damals gekämpft haben. 1972 durften Frauen noch kein eigenes Konto eröffnen und ihre Männer durften für sie den Job kündigen. Homosexualität war kriminell. Es ist wunderbar, dass diese Dinge heute selbstverständlich sind.

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Aus: ""Wir wollten einfach intensiv leben"" (28.04.2010)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/interview-wir-wollten-einfach-intensiv-leben/1810342.html (http://www.tagesspiegel.de/kultur/interview-wir-wollten-einfach-intensiv-leben/1810342.html)

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Quote[...] Etwas hat sich verändert. Es ist der Ton. Die Bücher zum 40. Geburtstag der 68er sind zu großen Teilen kritisch, selbstkritisch gehalten. Ihre Autoren, die meist auch Akteure der wilden Jahre in der Bundesrepublik waren, begeben sich meist nicht nur auf eine Suche nach den Wurzeln des Aufbegehrens, sie suchen, neben ihren inzwischen landauf und landab gewürdigten positiven Folgen, auch die Ursprünge ihrer problematischen Seiten zu ergründen.

Im Kern findet – und das ist nicht nur bei den hier vorgestellten Büchern von Wolfgang Kraushaar, Reinhard Mohr und Peter Schneider der Fall – eine neue Rezeption der in den wilden Jahren häufig vehement zurückgewiesenen Kritiken an der Studentenbewegung und ihrer Autoren statt. Richard Löwenthal etwa hatte den Studenten in verschiedenen Referaten und Aufsätzen (,,Romantischer Rückfall") bereits am Ende der 60er Jahre zugerufen, es sei ein großer Unterschied, von wo aus man die Demokratie kritisiere und Veränderungen einfordere. Wolle man die demokratischen Rechte verteidigen und erweitern sowie die Institutionen der Demokratie verbessern, dann sei das zu begrüßen. Attackiere man jedoch die Demokratie lediglich als eine leere Form, die mehr und mehr mit dem Inhalt eines sich faschisierenden Polizeistaats ausgefüllt werde und zerstört werden müsse, dann sähe er große Gefahren heraufziehen.

Jürgen Habermas hatte mit seinem gegenüber Dutschke erhobenen Vorwurf des ,,Linksfaschismus" in eine ähnliche Richtung gezielt. In seinen bereits am Ende der 60er publizierten Aufsätzen mit Titeln wie ,,Die Scheinrevolution und ihre Kinder" unterschied er, ganz ähnlich wie Löwenthal, zwischen einer Strategie des zivilen Ungehorsams, die sich auf Aufklärung und die Verbesserung der Demokratie auf der Grundlage ihrer eigenen Werte richte, und einer illusionären und gefährlichen gewaltförmigen Strategie der Revolution, die nicht auf die Verbesserung sondern auf die Zerstörung der Demokratie gerichtet sei.

Unter den 68er-Gedenkautoren ist besonders Wolfgang Kraushaar hervorzuheben. Ihm gelingt es in einem großen Bogen die internationalen – insbesondere amerikanischen – Wurzeln der 68er-Revolte zu charakterisieren und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem deutschen Fall plastisch vor Augen zu führen. Die von Richard Löwenthal und anderen häufig nur am deutschen Fall wahrgenommenen romantischen Züge der Studentenbewegung macht er dabei als Teil ihrer Gemeinsamkeiten in allen westeuropäischen Ländern aus.

Ihren Ausgangspunkt deutet er einleuchtend als die schillernde ,,Woodstock Nation", die Vorstellung einer vollkommen befreiten neuen Welt und insbesondere eines sich selbst genießenden Individuums, hier und jetzt und sofort, die insbesondere bei den amerikanischen 68ern eine große Rolle spielte, jedoch weit über den Atlantik hinaus ihre große Fangemeinde fand. Kraushaar skizziert die fließenden Übergänge zwischen nur allzu verständlicher Rebellion gegen überkommene Strukturen und Lebensweisen, utopisch-fantastischen Spielereien und antidemokratischen bis totalitären Experimenten.

Peter Schneider glänzt nicht mit einem großen theoretischen Wurf, ihm ist jedoch das ehrlichste Buch zu 68 gelungen. Schneider hat sein altes Tagebuch aus der Schublade gezogen und diskutiert am eigenen Fall die fließenden Übergänge zwischen moralischer Rebellion, spielerisch-ästhetischen Experimenten und dem Größenwahn antidemokratischer politischer Projekte. Er fasst sein mit vielen bislang nicht erzählten Details aus der Führungsriege des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) gespicktes Buch so zusammen: ,,Meinen Kindern sage ich: Es ist nötig ..., gegen selbst ernannte Herren der Welt und eine feige oder übergeschnappte Obrigkeit zu rebellieren. Aber noch mehr Mut gehört dazu, gegen die Führer in der eigenen Gruppe aufzustehen und zu sagen: Ihr spinnt! Ihr seid verrückt geworden! – wenn ebendies der Fall ist."

Reinhard Mohr, im Unterschied zu Kraushaar und Schneider kein Zeitzeuge der 68er, legt die Bilanz eines Nachgeborenen vor. Wie viele andere geriet er fasziniert und überfordert zugleich in die Nachwehen der großen Revolte und musste seinen Weg finden, mit ihren Ansprüchen umzugehen. Seine Bilanz lautet trotzdem ganz ähnlich wie die von Schneider und Kraushaar. Über ein Jahrzehnt lang hätten die 68er verzweifelt versucht, das historisch gültige revolutionäre Subjekt zu finden. Sie hätten dabei in rascher Abfolge auf die Arbeiterklasse, die Dritte Welt, Randgruppen und am Ende auch auf die Natur gesetzt. ,,In Wirklichkeit", so schließt Mohr sein Buch, ,,war es ganz einfach. Sie hätten nur sich selbst genauer betrachten sollen. Das revolutionäre Subjekt war – das Subjekt. Vielleicht aber haben sie ja geahnt, dass mit der Freiheit des Einzelnen die Probleme erst richtig anfangen."

So kritisch und selbstkritisch die hier vorgestellten Bücher sind, ein wesentliches Thema behandeln sie meist stiefmütterlich. Das besondere Charakteristikum der deutschen 68er, die Rebellion der NS-Täterkinder, berühren die Autoren eher am Rande. Das verschlungene Ineinander und Durcheinander von Abnabelung und Kontinuität gegenüber der Eltern- und Großelterngeneration wird im Detail nicht abgehandelt. Wolfgang Kraushaar hat sich hier mit seinen schon älteren Beiträgen zu den nationalen und antizionistischen Ambitionen der 68er, die er in seine Bilanz eingeflochten hat, bislang am weitesten vorgewagt. Im Kern kann man sagen, dass die Geburtstagsreden zu 68 eher auf die Kritiken der 68er zurückgreifen, die ihre pro- und antidemokratischen Motive diskutierten. Die Kritiken der deutschen 68er von Dan Diner, Andrei Markovits oder Martin Kloke, die zusätzlich den Antiamerikanismus, sekundären Antisemitismus und verwandte Phänomene unterstreichen, sind in den diesjährigen Geburtstagsreden noch nicht recht angekommen.

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz. Propyläen Verlag, Berlin 2008. 333 Seiten

Reinhard Mohr: Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern. Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2008. 238 Seiten

Peter Schneider: Rebellion und Wahn. Mein 68. Eine autobiographische Erzählung. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 365 Seiten


Aus: "Literatur: Im Rausch der Rebellion" Martin Jander (07.07.2008)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/im-rausch-der-rebellion/1273644.html (https://www.tagesspiegel.de/kultur/literatur/im-rausch-der-rebellion/1273644.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 29, 2016, 11:05:44 PM
Quote[...] Vielleicht war das ja die Aufgabe dieser, wie Jutta sie später nannte, "zerbröselnden Altengruppe", uns allen noch einmal vor Augen zu führen, wie lange vorbei diese Hippiewelt ist, und wie sie doch möglich ist, diese poetische, ja kindliche Weigerung, ein Leben als eindimensionaler Mensch zu führen.

Dabei geht es doch genau darum: die Pubertät wachzuhalten, immer im Bewusstsein, dass es noch eine andere Wirklichkeit gibt, eine Gegenwelt. Ein anderes Leben: als neugierige Selbstund Welterfinder, auch noch mit 65, und wenn die Reise zu einer Bude lustiger Scharlatane nach Indien führt. ...

Und nun also sind sie 65, die Hippies, und die Pubertät geht für manche weiter, Jutta betet viel, sagt sie am Telefon, sie knüpft derzeit an die Kindheit an, in der sie ständig mit Gisela gebetet habe. "Wir waren viel frömmer als unsere Eltern", sagt Jutta lachend am Telefon. "Wir haben nächtelang gebetet, für praktisch jeden auf der Welt." Irgendwann, in frühen Jahren, dämmerte Jutta die Erkenntnis, dass das Kiffen "nicht ihr Weg war". Immerhin hatte es den Rang einer Lebensoption, und es ist wahrscheinlich nicht die schlechteste. ...

QuoteHarry Anslinger (2015)

Und das vom Matussek, in der Welt... wer hätte das gedacht. ...



Aus: "Haschisch, ein Qualm für Götter" Matthias Matussek (Artikel vom 04.01.2015)
Quelle: http://www.welt.de/print/wams/kultur/article135978094/Haschisch-ein-Qualm-fuer-Goetter.html (http://www.welt.de/print/wams/kultur/article135978094/Haschisch-ein-Qualm-fuer-Goetter.html)

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Jutta Winkelmann, die ihre Krebserkrankung öffentlich gemacht hat, nimmt gegen ihre Schmerzen Haschisch-Öl. Und sie sagt, die sollten sich mal zur Legalisierung durchringen .....
Quelle: https://klausbaum.wordpress.com/2016/06/22/cannabis-als-medizinprodukt-schmerzpatient-baut-an/ (https://klausbaum.wordpress.com/2016/06/22/cannabis-als-medizinprodukt-schmerzpatient-baut-an/)


Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 04, 2016, 02:01:44 PM
Quote[...] Eribon: ... Zum Erbe von 1968 gehört, dass sich heute in jeder Sphäre Menschen in verschiedenen Konstellationen zusammenschließen können, um für ihre Rechte zu kämpfen. Die Idee des allgemeinen Volksinteresses denunziert diese Freiheit als neoliberal. Das ist verrückt. Was 1968 definiert hat, war gerade, dass sich dort so viele politische Subjektivitäten entwickelt und geäußert haben. Foucault hat das immer wieder betont. Das ist nicht neoliberal, das ist politisch. Man kann den Homosexuellen, den Frauen, den Ökos und so weiter nicht sagen, dass sie jetzt die Klappe halten sollen, weil ihre Subjektivität eine Erfindung des Kapitalismus ist.

... ZEIT ONLINE: Was aber könnte das Gemeinsame dann sein, nach dem sich offenbar so viele sehnen?

Eribon: Ich kann mich jedenfalls nicht mit Leuten zusammenschließen, mit denen ich rein gar nichts gemeinsam habe: mit Leuten, die für den Front National stimmen, die fremdenfeindlich sind, die homophob sind. Ich bin auf ihrer Seite, wenn es gegen die Verwüstungen geht, die die neoliberale Politik unserer Regierungen in unserem Staatswesen anrichtet, aber ich muss sie bekämpfen, wenn sie für den FN stimmen, was sie tun werden. 25 Prozent der Franzosen werden nächstes Jahr im ersten Wahlgang für Marine Le Pen stimmen. Meine Mutter, meine Brüder, viele ihrer Bekannten werden voraussichtlich für den FN stimmen. Wenn man sie fragt, warum, sagen sie, dass es schlimmer nicht werden kann und dass sie nichts zu verlieren haben.

ZEIT ONLINE: Was, wie gesagt, nicht stimmt.

Eribon: Aber sie sind so verzweifelt, dass es ihnen so vorkommt. Sie sehen, wie die EU das Leben der Menschen in Griechenland zerstört hat und sie fürchten, sie könnten die nächsten sein.

ZEIT ONLINE: Dem Kampf der LGBT-Community oder der Schwarzen in den USA wird von Linken oft vorgeworfen, sie seien zu sehr ästhetisiert und zu sehr mit der kommerziellen Entertainmentgesellschaft kompatibel. An den wirtschaftlichen Realitäten würden sie deshalb nichts ändern.

Eribon: Die Bewegung Black Lives Matter in den USA ist vielleicht auch eine wirtschaftliche Initiative, aber nicht nur. Es ist eine ethnische Bewegung, eine soziale Bewegung, eine Minderheitenbewegung. Man kann den Schwarzen in den USA nicht erzählen, dass ihr Widerstand gegen die Polizeigewalt weniger gilt, nur weil er auch kommerziell funktioniert. Es geht in vielen Fällen ganz konkret um ihr Leben. Auch Abtreibungen sind mit dem Neoliberalismus kompatibel. Sollen die Frauen deshalb aufhören, für das Recht zu kämpfen, über ihre Körper und ihr Leben selbst entscheiden zu dürfen? Was wäre denn eigentlich nicht irgendwie kompatibel mit dem Neoliberalismus? Es ist ein idiotisches Argument. Und es ist erschreckend, wie populär es in der europäischen Linken gerade ist. Dieser Rechtsruck der Linken ist nicht mitanzusehen.

...


Aus: "Didier Eribon: "Ihr könnt nicht glauben, ihr wärt das Volk"" Interview: Felix Stephan, Paris (4. Juli 2016)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/2016-07/didier-eribon-linke-angela-merkel-brexit-frankreich-front-national-afd-interview (http://www.zeit.de/kultur/2016-07/didier-eribon-linke-angela-merkel-brexit-frankreich-front-national-afd-interview)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 21, 2016, 10:16:58 AM
Quote[...] Er trank Weißwein und erzählte mir zwei Tage lang seine Geschichte. Dabei sprach er mit einem Akzent, wie man ihn nur auf den Straßen Berlins lernt. Und er hatte einen wunderbaren Humor, der human und zynisch zugleich war. Sein Fazit war allerdings traurig: ,,Es gibt kein Happy End in Deutschland."

Sein Vater war Nazi gewesen, angeblich hatte er dem Berliner Gauleiter Joseph Goebbels die erste schwarze Lederjacke gekauft. Seine Mutter war eher unpolitisch, eine Berliner Kleinbürgerin; Michael Baumann wurde am 25. August 1947 in Berlin-Lichtenberg im sowjetischen Sektor Berlins geboren. Als er zwölf war, wechselte die Familie in den britischen Sektor über.

Bommi, wie er seit Schulzeiten hieß, gehörte zu den ersten ,,Gammlern", die auf den Stufen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in der Westberliner City die Lambrusco-Flaschen kreisen ließen und Captagon oder Romilar nahmen, bald folgten die ersten Joints. Er hatte Betonbauer gelernt, doch er liebte Rock ' n ' Roll und wollte ,,kein nützliches Mitglied dieser Gesellschaft werden".

... Wie für die meisten Achtundsechziger war der 2. Juni 1967, der Tag an dem der Kriminalpolizist Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg erschoss, ein Wendepunkt. Aus anti­autoritären Happenings war blutiger Ernst geworden.

Als an Ostern 1968, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke, aufgewühlte Demonstranten das Hochhaus des Springer-Verlags in Berlin belagerten, warf Bommi Steine. Und er war nicht der Einzige. Bommi war oft in der Kommune I und gehörte zu den Gründern einer Gruppe, die sich – als ironischer Kommentar zu den Namen studentischer Gruppen – ,,Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen" nannte.

... ,,Wie alles anfing" war das Buch einer Generation. Authentisch, wie es kein theoretischer Text jemals vermocht hätte, beschrieb Baumann darin seinen Weg zum bewaffneten Kampf und seinen Ausstieg aus dem Terrorismus. Er sei – so Baumanns Message – aus ,,Furcht vor der Liebe" in die ,,absolute Gewalt" geflüchtet.

,,Wie alles anfing" zeigte, dass die Revolte von 1968 kein rein studentisches Abenteuer war, sondern eine klassenübergreifende Jugendbewegung. Von dem schmalen Band wurden an die 100.000 Exemplare verkauft. Es wurde in sieben Sprachen übersetzt und in New York als Theaterstück inszeniert.

Zunächst war allerdings ein Polizeikommando beim Münchner Trikont-Verlag eingefallen und hatte alle vorgefundenen Exemplare beschlagnahmt. Heinrich Böll und andere Linksliberale gaben es nach einem Verbot neu heraus. Dieses Buch zu unterdrücken, schrieb Böll, ,,ist der falscheste Weg, den man einschlagen kann".

Der Sprachartist Peter Hand­ke, der sich auch gegen das Verbot engagierte, war gleichzeitig angewidert von der ,,angeberischen, leeren Milieu und Szenesprache, die eigentlich nur noch aus paar Geräuschen besteht". Gudrun Ensslin, Kopf der ersten RAF-Generation, schrieb unter einem Pseudonym eine Rezension, in der sie das Buch als ,,faschistisches Pamphlet" geißelte.

Im Januar 1998 veröffentlichte der Spiegel Akten des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, nach denen Baumann im Jahr 1973 einen 125-seitigen Bericht über insgesamt 94 Personen des bewaffneten Kampfs in Westdeutschland verfasst hatte: Darin hieß es über Enss­lin: ,,Lenkender Geist der RAF, sehr kalt, aber mutig, fanatisch, unfraulich und lustfeindlich."

Die Stasi hatte Baumann beim Transit verhaftet. Er rechtfertigte seine präzisen Aussagen damit, dass die Stasioffiziere gedroht hatten, ihn in den Westen abzuschieben, wenn er nicht auspacke. Die meisten Genossen der ,,Bewegung 2. Juni", die Baumann immer schon als ,,Großmaul" kritisiert hatten, wandten sich nach dem Bekanntwerden der Stasi-Aussagen von ihm ab. Der einstige ,,2. Juni"-Kader und spätere taz-Redakteur und Stasi-IM Till Meyer allerdings und einige alte Freunde von den ,,Haschrebellen" hielten zu ihm.

Weniger als ein Jahr nach dem Treffen in Rom verhaftete Scotland Yard Baumann im Februar 1981 in einem besetzten Haus in Ostlondon in Hackney. Ein halbes Jahr später verurteilte das Landgericht Berlin ihn wegen zwei Banküberfällen und einem Bombenanschlag auf das Berliner Landeskriminalamt zu fünf Jahren und zwei Monaten Haft.

Bommi Baumann hat insgesamt sechs Jahre im Gefängnis gesessen und dort vor allem gelesen. Nun saß er in seiner Wohnung in der Landsberger Allee und las; in Büchern, in Zeitungen und im Internet. Die Geschichte des britischen Empire kannte er bis in kleinste Details. Geheimdienste faszinierten ihn.

Bis auf Zigaretten nahm er lange keine Drogen mehr, doch als seine Frau mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung im Krankenhaus lag, griff er wieder zu Opiaten. Als der Richter Baumann im Prozess gegen Verena Becker wegen des Mordes an Generalbundesanwalt Siegfried Buback als Zeugen fragte, warum er nach fünfzehn Jahren wieder mit Opiaten angefangen habe, antwortete Bommi: ,,Na irgend­ein Hobby hat doch jeder."

Opiate sind mehr als ein Hobby, sie höhlen Menschen aus. Sie verwandeln sie in auf sich und die Droge bezogene Narzissten. Im Jahr 2009 veröffentlichte er sein drittes und letztes, teils autobiografisches Buch ,,Rausch und Terror. Ein politischer Erlebnisbericht". Darin beschrieb er nicht nur mit seltener Präzision die Mechanismen der Opiatsucht, sondern gab entscheidende Hinweise zur Kulturgeschichte der Drogen in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren.

,,Meine Kumpels könnten einen Friedhof füllen", sagte er in einem Interview: Von den ,,Haschrebellen" der sechziger Jahre waren viele schon tot. Bommi Baumanns Freunde sagten, es gleiche einem Wunder, dass er mit seinem Lifestyle noch am Leben sei.

Er wurde 68 Jahre alt und starb am frühen Dienstagmorgen friedlich in seiner Wohnung in Berlin-Friedrichshain.


Aus: "Nachruf auf Bommi Baumann: Wie alles endete" Michael Sontheimer (20. 7. 2016)
Quelle: https://www.taz.de/Nachruf-auf-Bommi-Baumann/!5320956/ (https://www.taz.de/Nachruf-auf-Bommi-Baumann/!5320956/)

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Quote[...] Am Anfang hing der 1947 geborene ,,Bommi" an der Gedächtniskirche herum und war Mitglied der ,,umherschweifenden Haschrebellen". Der Tod von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 prägte ihn entscheidend. Die anfangs friedfertige Szene radikalisierte sich im Verlauf der Studentenbewegung zunehmend. Bommi Baumann, Georg von Rauch und Thomas Weisbecker, die in der sogenannten ,,Wielandkommune" zusammenlebten, taten sich zusammen, um als "Stadtguerilla" aktiv zu sein.

Ihr Vorbild waren die Tupamaros in Uruguay. Nach Brandanschlägen der ,,Tupamaros West-Berlin" gegen eine britische Fluggesellschaft saß Baumann 1970 einige Monate im Gefängnis. Sein Weg zu einer zentralen Figur der gewaltbereiten Szene in West-Berlin beschleunigte sich, als Ende 1971 sein Freund Georg von Rauch von der Polizei erschossen wurde. Zusammen hatten sie ein Auto stehlen wollen.

Für den gelernten Betonbauer Baumann begann damit der Weg in den terroristischen Untergrund. Wenige Monate später war er Mitbegründer der terroristischen ,,Bewegung 2. Juni", die auch im eigenen Verständnis durchaus mit der RAF konkurrierte. Er sah sich als ,,Proletarier", der anders als die studentisch und intellektuell geprägten Mitglieder der RAF praktische Berufserfahrung hatte.

Im Februar 1972 starb bei einem Bombenanschlag auf den britischen Yachtclub in Berlin ein Bootsbauer – der zufällig die Bombe fand, die eigentlich nur Sachschaden anrichten sollte. Baumann, der an der Bombe mitgebaut hatte, löste sich daraufhin von der ,,Bewegung 2. Juni" und tauchte ab. An der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz war Baumann, der über viele Jahre schwer drogenabhängig war, war nicht mehr beteiligt. Vielmehr appellierte er schon 1974 in einem Interview unter dem Titel ,,Freunde, schmeißt die Knarre weg" an seine ,,Genossen", den bewaffneten Kampf zu beenden.

Nach sechsjähriger Flucht durch verschiedene Länder wurde er 1981 in London gefasst und saß wegen Bankraubes und der Sprengstoffanschläge fünf Jahre in Haft. Noch auf der Flucht schrieb er das Buch ,,Wie alles anfing" und rechnete dabei mit der ,,Bewegung 2. Juni" und ihrem Irrweg ab. Zehn Jahre nach dem Ende der DDR wurde bekannt, dass Baumann für die Staatssicherheit ein Dossier über die Mitglieder von RAF und ,,Bewegung 2. Juni" gefertigt hatte, nachdem er auf der Flucht in der DDR verhaftet worden war. Baumann lebte zuletzt in Berlin und betätigte sich als Publizist und Vortragender, vor allem zu den Themen Terrorismus und Drogen.


Aus: "Zum Tod von Michael "Bommi" Baumann: Der Terrorist, der Reue zeigte" (20.07.2016)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/berlin/zum-tod-von-michael-bommi-baumann-der-terrorist-der-reue-zeigte/13905546.html (http://www.tagesspiegel.de/berlin/zum-tod-von-michael-bommi-baumann-der-terrorist-der-reue-zeigte/13905546.html)

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Quote[....] Baumann vertrat später bestimmte Thesen zu den Ursprüngen des deutschen Terrorismus der 1970er und 1980er Jahre. Dabei ging er vor allem von der bis heute ungeklärten Rolle des Verfassungsschutz-V-Manns Peter Urbach aus, der Ende der 1960er Jahre erwiesenermaßen als Agent provocateur zahlreiche Bomben und Waffen an die Studenten- und Anarchoszene in West-Berlin lieferte, darunter an Baumann selbst sowie an Gründungsmitglieder der Rote Armee Fraktion wie Horst Mahler und Andreas Baader. Baumann war der Ansicht, dass er und andere linke Untergrundkämpfer von der Bewegung 2. Juni und der RAF, obwohl damals vermeintlich selbständig und unabhängig agierend, unwissentlich ,,Marionetten ganz anderer Interessen" in einer ,,übergeordneten Strategie" gewesen seien. Diese habe vor allem darin bestanden, die aufkommende 68er-Bewegung durch Förderung ihrer gewaltbereiten Elemente und der folgenden Kriminalisierung als gesellschaftlich verändernde, relevante Kraft zu diskreditieren – mit ,,Irren, die wahllos Bomben schmeißen", hätte sich dann niemand mehr solidarisieren wollen. Gleichzeitig hätte der so geförderte Terrorismus den Anlass für den massiven Ausbau des Sicherheitsapparats der 1970er Jahre geboten, was den Einstieg in den Überwachungsstaat ermöglicht habe. Nach Baumanns Aussage gibt es mehrere deutsche Ex-Terroristen, die zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie er gekommen seien. Da ähnliche Vorgänge für den gleichen Zeitraum in Italien ausführlich dokumentiert seien, könne man solche Überlegungen nicht einfach als ,,Verschwörungstheorie" abtun:

    ,,Wir haben gedacht, wir handeln autonom. Der Gedanke ist unheimlich, dass man irgendwo auf dem Schachbrett hin- und hergeschoben worden ist, oder zwar über das Schachbrett rennen durfte, aber immer noch eine Figur war."

... Baumann war ab dem Jahr 2010 Zeuge im Strafverfahren gegen Verena Becker wegen der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback 1977. Dabei kam er während des Prozesses auch mit dem Nebenkläger Michael Buback in Kontakt, der durch sein Buch Der zweite Tod meines Vaters das Verfahren mit seinen veröffentlichten Nachforschungen erst angestoßen hatte. Buback verdächtigt deutsche Geheimdienste, an der Ermordung seines Vaters, des damaligen Generalbundesanwalts Siegfried Buback im Jahr 1977 beteiligt gewesen oder darüber zumindest vorher informiert gewesen zu sein – und dass die Bundesanwaltschaft in Verbindung mit deutschen Geheimdiensten den wahren Mörder gedeckt haben könnte, wobei laut Buback sehr vieles auf Becker hindeute. Baumann sagte in dem Prozess mehrfach aus, im Umfeld kam es im Rahmen eines Fernsehinterviews auch zu längeren Gesprächen mit Buback, mit dem er in mehreren Aspekten bezüglich der Einschätzung des Falles übereinstimmt und mit dem er ein Interesse an der Aufklärung der damaligen Ereignisse teilt – laut Baumann seien ,,diese Geheimniskrämereien demokratiezersetzend" ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Bommi_Baumann (https://de.wikipedia.org/wiki/Bommi_Baumann) (Stand 21.07.2016)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 27, 2016, 09:49:31 AM
Quote[...] Allein zu seinen Auftritten im Audimax der FU Berlin kamen Tausende. Selbst wenn zu den jungen Zuhörern meist nur Schlagwörter wie ,,totale Manipulation des Individuums" oder ,,Gesellschaft ohne Opposition" durchdrangen, lauschten sie gebannt. Marcuse war dichter an den aktionistischen Bedürfnissen der Studentenbewegung als Adorno.

...  Erst in den Schlussbetrachtungen seines Buches taucht das zentrale Schlagwort der ,,Großen Verweigerung" auf. Bei seinem Appell zu einer ,,Negation in der politisch ohnmächtigen Form der ,absoluten Weigerung'" stützt Marcuse sich explizit auf den französischen Autor und Literaturtheoretiker Maurice Blanchot. Er bemüht ihn aber nicht im postrukturalistischen Kontext, sondern als Mitglied der Résistance und Initiator eines Manifestes, das französische Soldaten zur Gehorsamsverweigerung im Algerienkrieg aufrief. Marcuse zitiert aus Blanchots Aufsatz ,,Le refus", der 1958 erschien: ,,Was wir ablehnen, ist nicht ohne Wert oder Bedeutung. Eben deshalb bedarf es der Weigerung. Es gibt eine Vernunft, die wir nicht mehr akzeptieren; es gibt eine Erscheinung von Weisheit, die uns in Schrecken versetzt; es gibt die Aufforderung zuzustimmen und sich zu versöhnen. Ein Bruch ist eingetreten. Wir sind zu einer Freimütigkeit angehalten, die das Mittun nicht mehr duldet."

Zum 50. Geburtstag des ,,eindimensionalen Menschen" hat Peter-Erwin Jansen bei zu Klampen eine Neuausgabe des Buches ediert. Im Nachwort berücksichtigt er auch die Erkenntnisse eines Seminars der Universität Heidelberg. In der Analyse der modernen digitalen Welt geht es den Studenten nicht nur um die ,,Entlarvung" der Eindimensionalität von Facebook-Funktionen und Smartphone-Apps, sondern generell um die Freisetzung einer neuen Suchbewegung: ,,Wie kann Technik heute die Fesseln lösen, den Menschen aus eindimensionaler Arbeit und Freizeit zu entlassen? Wie können in freier Zeit seine wahren Bedürfnisse gefördert werden? Gibt es Opposition außerhalb der Eindimensionalität?"

...


Aus: "Vor 50 Jahren erschien Herbert Marcuses "Der eindimensionale Mensch"" Willi Jasper (16.12.2014)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/subversives-jubilaeum-vor-50-jahren-erschien-herbert-marcuses-der-eindimensionale-mensch/11128588.html (http://www.tagesspiegel.de/kultur/subversives-jubilaeum-vor-50-jahren-erschien-herbert-marcuses-der-eindimensionale-mensch/11128588.html)

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QuoteDoppelemm, 19.12.2014

... Es ging darum, dass der »Kampf gegen die Befreiung« mit materieller Bedürfnisbefriedigung erstickt wird;
dass die Medien die Menschen für »langjährig präparierte Empfänger« von Losungen und Parolen halten, die gar nicht mehr objektiv zwischen »dem Gegebenen und dem Möglichen« unterscheiden könnten, weil medial eine »Einebnung des Gegensatzes (oder Konflikts)« stattfinde.
Alternativlosigkeit nennt man das heute.

Das wiederum führe zur klassenlosen Gesellschaft, die natürlich nicht wirklich die Aufhebung der Klassen bedeute, sondern lediglich darauf hindeute, dass »die unterworfene Bevölkerung [nur soweit] an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, [dass sie zur] Erhaltung des Bestehenden« dient. ...

Es gab noch so viel mehr einschlägige Passagen, die das ganze Dilemma unserer postdemokratischen Identität (oder besser: unserer demokratischen Identitätslosigkeit) auf den Punkt brachten und vorwegnahmen.

Folgendes könnte zum Beispiel direkt nach der Betrachtung der amtierenden Ukraine-Berichterstattung der »Tagesthemen« niedergeschrieben worden sein:

»Das eindimensionale Denken wird von den Technikern der Politik und ihren Lieferanten von Masseninformationen systematisch gefördert.

Ihr sprachliches Universum ist voller Hypothesen, die sich selbst bestätigen und die, unaufhörlich und monopolistisch wiederholt, zu hypnotischen Definitionen oder Diktaten werden.«

Geschrieben wurde es aber 1964. Drei Jahre später wurde es ins Deutsche übersetzt. ..."


...

Quote[...] Wolfgang Kraushaar, geboren 1948, hat sich als Chronist der 68er-Bewegung längst einen Namen gemacht. Selbst Aktivist in der Frankfurter Sponti-Szene Anfang der Siebzigerjahre, hat ihn der gesellschaftliche Umbruchcharakter jener Studentenrebellion immer beschäftigt – nicht zuletzt aus Gründen autobiografischer Aufarbeitung.
Zwar ist sein Image als einer der intensivsten Kenner der Zeit um 1968 unbestritten, doch er hat zuletzt durchaus auch Kritik auf sich gezogen. Seine Thesenschriften über den Antisemitismus der Linken und über die RAF-Terroristin Verena Becker, der er eine bereits frühe Tätigkeit für den Verfassungsschutz nachzuweisen versuchte, bewegten sich nah am Rande von Verschwörungstheorien.

Der Journalist Willi Winkler diagnostizierte eine fast paradigmatische persönliche Entwicklung bei dem einst radikalen Wortführer Kraushaar – angesichts dessen, dass dieser zuletzt sehr prononciert antisemitische Grundzüge bei den 68ern freizulegen versuchte:

,,Was für seine Generation zuvor der Imperialismus war, der altböse Feind, wird neuerdings durch den Antisemitismus-Vorwurf ersetzt, der mit einem vollkommenen Ablass für etwaige eigene Sünden verbunden ist."

Da ist es interessant, dass sich Kraushaar jetzt, im runden 68er-Jubiläumsjahr 2018, wieder auf seine Kernkompetenzen besonnen hat. Man muss die Gattungsbezeichnung ,,illustrierte Chronik" sehr ernst nehmen: Kraushaar listet chronologisch geordnet oft auch entlegene Ereignisse auf, die im Vor- und Umfeld der 68er-Bewegung stattgefunden haben, mit dem konkreten Datum und detaillierten Vorgangsbeschreibungen – ohne allzu subjektive Schwerpunktbildung.

Die vier umfangreichen Bände, die auch durch ihr das Zeitgefühl suggestiv transportierende Bildmaterial bestechen, sind auf auffällige Weise gegliedert. Der erste Band gilt der Vorgeschichte von 1960 bis 1966, der zweite und der dritte Band widmen sich der Kernzeit, den Jahren 1967 und 1968, und der vierte Band schließlich dem Jahr 1969, mit nur sehr kleinen Exkursionen am Schluss über 1970, 1979 und 1980 (die Pointe dabei ist der parallele Tod Rudi Dutschkes mit dem Selbstmord des Axel-Springer-Sohns Sven Simon).

Kraushaar legt also großen Wert auf die Vorgeschichte und greift dabei auch weit über die US-amerikanische Hippiebewegung hinaus, der er vor zehn Jahren in einem ersten ,,Bilanz"-Buch über 1968 immerhin bereits eine wesentliche Bedeutung zugemessen hatte.

Die soziokulturelle Dimension von 1968 wird so zum ersten Mal von ihm angemessen berücksichtigt. Außerdem verstärkt er die internationale Perspektive: ,,1968" war beileibe nicht nur ein deutsches Phänomen.

Die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner in den USA, der Widerstand in Südafrika gegen die Apartheid, vor allem natürlich auch die radikale Linke in Frankreich seit dem Protest gegen den Algerienkrieg – das tritt in diesem Panorama neben die bundesdeutsche ,,Subversive Aktion" oder die Gruppe ,,Spur", und es ist kein Zufall, dass das erste Konzert der ,,Beatles" in Liverpool (im ,,Cavern Club") gleichberechtigt neben den ersten Aktionen des SDS in Westberlin steht (Verhaftungen wegen Flugblattverteilung).
Die umfassende Kenntnis des vorhandenen Archivmaterials ist Kraushaars eigentliches Potenzial, und durch den nüchternen Nachrichtenstil dieser Chronik hat er auch die richtige Form gefunden, es auszuschöpfen.

Wolfgang Kraushaar: Die 68er-Bewegung. Eine illustrierte Chronik 1960-1969
Klett-Cotta, Stuttgart 2018
Vier Bände mit ingesamt 1960 Seiten ...





Aus: "Wolfgang Kraushaar: ,,Die 68er-Bewegung" - Chronik einer Revolution" Helmut Böttiger (15.11.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/wolfgang-kraushaar-die-68er-bewegung-chronik-einer-100.html (https://www.deutschlandfunkkultur.de/wolfgang-kraushaar-die-68er-bewegung-chronik-einer-100.html)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 27, 2016, 03:39:41 PM
Quote[....] Was ich an den Ur-68ern und ihren Siebziger-Jahre-Lehrlingen aber wirklich hasste, waren ihr totalitärer, undemokratischer Idealismus, ihre 110-Dezibel-Besserwisserei, ihre offenbar fast schon genetisch bedingte Unfähigkeit, ein Argument zu analysieren und dann selbst ein Gegenargument zu entwickeln, um so der Lösung eines real existierenden Problems ganz pragmatisch ein wenig näher zu kommen.

... Als mir dann aber eines Nachts, es war bestimmt schon nach drei Uhr, im Münchner Park-Café einer von meinen gut angezogenen Achtziger-Jahre-Freunden nach seinem dritten Tequila erzählte, wie genial der Kriegsfetischist und Menschenverächter Ernst Jünger sei, den müsse ich auch unbedingt lesen, als er dabei auch noch diesen prophylaktisch beleidigten Das-wird-man-doch-wohl-denken-dürfen-Gesichtsausdruck aufsetzte, weil er meine Reaktion schon ahnte, da wurde mir zum zweiten Mal im Leben klar, wie wenig die ahnungslose, naive, bisher von jeder Katastrophe verschonte und darum nach echten Katastrophen und nach ewiger Jugend gierende Westjugend und ich miteinander gemeinsam hatten.

...


Aus: "Moral und Politik: Die "neue" Linke" Maxim Biller (27. Juli 2016)
Quelle: http://www.zeit.de/2016/30/moral-politik-bernie-sanders-sahra-wagenknecht-maxim-biller/komplettansicht (http://www.zeit.de/2016/30/moral-politik-bernie-sanders-sahra-wagenknecht-maxim-biller/komplettansicht)

QuoteBest Friend Tabitha #3.5

Wie es der Autor bloß bei dieser Medien - und Volkskontrolle bloß geschafft hat, den Artikel unter ihren (alt68er) stalinistisch verklärten Augen und multikultibefleckten Griffeln vorbei mitten ins Herz des Linksgrünversifften Medienungetüms zu schmuggeln? ...


Quoterudolf s #4.3

Ja, ist wohl so. Unser täglich 68er-Bashing gib uns heute. Ich habe in dieser Zeit nicht gelebt, bin 31 Jahre alt und sicherlich gibt es auch einiges an der Naivität der 68-Generation zu kritisieren, aber dieses damals jungen Leute haben in Deutschland ganz massiv zu einem Demokratisierungsprozess innerhalb der Post-Nationalsozialistischen Gesellschaft beigetragen und dafür bin ich ihnen dankbar, trotz aller maoistischen Verirrungen und Verwirrungen.
Zum Glück gab es einen Adorno und ähnliche Intellektuelle die sich dazu bereit erklärt haben, Deutschland in diesem Prozess zu helfen.

Die nächste Generation hat also über Warhol diskutiert und flog nach New York? Ja, ist doch wunderbar das die nächste Generation auf die eroberten gesellschaftlichen Freiheiten der 68er aufbauen konnte. Für den Autor gab es anscheinend nur 68 und davor nichts, also kein 1944, kein 1945, keine 50er Jahre die davon geprägt waren....
Ziemlich arm und A-Historisch das ganze....


QuoteGourmet #6

Maxim Biller, haha. Wir 68er haben uns schon genug blamiert? Jüngelchen, wir 68er haben die Nachkriegszeit beendet, ohne uns hättest Du Deine Comics immer noch unter der Bettdecke lesen müssen.
Die Geschichtsfälschung ist in vollem Gang.


QuoteTeilzeitsarkast #6.1

Was ist das? Opa erzählt vom Krieg?
Es ist richtig, dass die 68er-Bewegung dieses Land erst bewohnbar gemacht hat. Allerdings ist dies vor allem den liberalen Anteilen dieser Bewegung zuzurechnen.
Die dogmatischen Anteile waren schon immer eine Zumutung.


QuoteW_DFQ #6.3

"die Nachkriegszeit beendet" - genau das ist der fatale Denkfehler dieser Generation. Sie glaubt, mit ihrem Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Geplärre und ihrer blinden, religiös-fanatischen Vergötzung eines Massenmörders (Mao Zedong) die Welt vollkommen verändert zu haben. Sie mag ein paar Stellschrauben verdreht haben. Das System verändert hat sie nicht. Wie auch, wenn man aus heimeligen Wärme eines gediegenen Wirtschaftswachstums agiert. Keiner musste gegen brutale Diktatoren vorgehen oder unter autoritären Regimes leiden. Die 68er waren zu abgehoben, als das sie die entscheidenden Massen, die Arbeiter, hätten mitnehmen können. Und genau mit der Argumentation "wenn wir nicht gewesen wären..." macht sie sich heute lächerlich und offenbart nur eins: Sie sind heute diejenigen, die sie vor 40, 50 Jahren "bekämpft" haben.


QuoteKapaster #10

Mir ist beim Lesen etwas die Übersicht verloren gegangen, deshalb die Nachfrage:
Wurde irgendein Ressentiment ausgelassen, blieb irgendein Klischee unerwähnt?


QuoteWosel3 #16 (Redaktionsempfehlung)

Danke Herr Biller. Wenn das ein Kommentar hier gewesen wäre, wäre er vermutlich mindestens als "unsachlich" gelöscht worden. Die hervorstechendste Eigenschaft der westeuropäischen Linken und insbesondere der deutschen war von jeher, dass sie aus dem Schlaraffenland heraus anderen die Welt erklären zu müssen meinte. Aus einem Wohlstand heraus, der gerade von ihren erklärten Feindbildern gebaut, erhalten und gepflegt wurde und wird. Darum eben auch die (wäre zum Lachen, wenn's nicht zum Heulen wäre) überrascht-gekränkte Erkenntnis manches 70er-80er-Linksintellektuellen, dass die wirklichen, echten Arbeiter ihnen eher mal auf's Maul hauten als ihnen ihren Gargel abzukaufen. Diese wirklichen, echten Arbeiter (nicht diese abstrakte, marx-engelssche Rechengröße) waren und blieben den Linken immer seltsam, unverständlich, fremd. Auch heute noch, weil's aus dem Lehrer-Sozpäd-Elfenbeinturm gar nicht so einfach ist, anderen etwas über "Arbeit" zu predigen. Und weil es immer unglaubwürdig ist, gegen ein System zu sein, das einen ständig hinten und vorne pampert und alimentiert. Das zeigt sich ganz besonders in diesen 'autonomen Zentren', wo der teils unverschämte Hedonismus einiger durch jede Menge Steuergeld der Städte (die sich ihren Privatzoo leisten mögen, weil man dann hach! so bunt und tolerant ist) und damit jedem anderen Bürger zwangsweise abgenommenem Geld finanziert werden muss.

QuoteSineFine #16.1

"Die hervorstechendste Eigenschaft der westeuropäischen Linken und insbesondere der deutschen war von jeher, dass sie aus dem Schlaraffenland heraus anderen die Welt erklären zu müssen meinte."

Die Linken? "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen", war von linken?



Quotearcanist #20

Ist es nicht ironisch, einerseits von unverstandenen und ungelesenen Suhrkamp-Bänden zu sprechen und dann angeblichen Mangel an analytischem Vermögen und herkömmlichem Intellekt bei "den Linken" anzuprangern?
Darüber hinaus: Dass der Autor Žižek einerseits im Kollektivurteil unterstellt, er wolle halte sich für einen Liberalen und dann noch nachlegt, er wolle einen leninistischen Staat aufbauen, beweist damit, dass die Bücher wirklich ungelesen blieben und der Autor selbst auch nicht viel mehr weiß, als die Geschichte mit dem Model.
Sich mit dieser sophistischen Vorgehensweise als den letzten Nüchternen zu inszenieren ist, kommt mir schon verwirrt vor.


Quote
Illairen #26

Was mir in diesem "Linken-Bashing" Text fehlt, ist eine fundierte Kritik der linken Analyse und der linken Lösungsvorschläge [Die Linken von heute kritisieren vor allem die Auswirkungen eines in großen Teilen ungezügelten Kapitalismus.]. Man kann die Linken durchaus in einigen Punkten kritisieren, aber letzteres fast gänzlich auszulassen und die eigene Abneigung mit Anekdoten und dem Vorwurf des "irrationalen Jugendwahns" zu begründen, ist zu wenig. Da argumentiert selbst ein Jan Fleischhauer stringenter. ...


Quotedifflook #38

Ich hab ja eher ein Problem, mit den ganzen Rest- und Neu-33ern.


Quote

Jordanes #50

... Irgendwer nannte die 68 diejenigen die nie Erwachsen werden wollten und die heutigen Aktivisten sind Kinder von Kindern. ...


Quotearam62 #57

Eine gut geschriebene Polemik von einem, der sich immer noch an seinem 68er-Jugendtrauma abarbeitet.


QuoteLinksundFrei #60

Als Altlinker musste ich doch von Seite zu Seite oft zustimmend den Kopf senken. Teilweise amüsiert, teilweise trauernd. Der Artikel sprach mir aus dem Herzen. Die neuen jungen Linken haben mit unseren alten Wertvorstellungen nichts mehr am Hut. Sie fröhnen lieber einem neuen Paganismus und lesen eher Eckhard Tolles "Neue Erde", oder die ganz Entrückten die Lehren von Jiddu Krishnamurti, anstatt den guten alten Marx. Disktutieren darüber ist schwierig. Ich kann diesem Artikel schon in vielem zustimmen. Leider.


QuoteRaymond Luxury Yacht #65

Finde ich gut! Warum sollte sich Maxim Biller nicht einfach mal ordentlich auskotzen.
Nur, worin sich der Autor mit seinem abstruse Habitus des Erwachsenen unter den links-liberalen Kindern, sich wesentlich von den Kritisierten unterscheidet, vermag ich nicht zu erkennen.
Der Text ist unterhaltsam. Mehr leider nicht...


QuoteDer Ruthene #79

Biller hat wie immer für jeden einen mehr oder weniger passenden Pejorativ parat.
Das macht populär, so kann jeder Leser etwas für sich finden. ...


Quotemusulo #85 (Redaktionsempfehlung)

OK, vergessen wir die Gewerkschaften, den Sozialstaat, die Krankenkassen, die Arbeiterbewegungen gegen Ausbeutung, die Abschaffung der Kinderarbeit, und den Mutterschutz, vergessen wir den passiven Widerstand gegen das Kapital und die Befreiungsbewegungen in Südamerika, Asien, Afrika selbst in Teilen von Europa. Vergessen wir den Kampf der bösen Sozialisten für Bildung und den Widerstand gegen die Faschisten. Lieber etwas Frust ohne zu erwähnen wie bitter heute noch das Kapital um seine Vorteil kämpft.

Jetzt wo wir alle Freiheiten in einem Sozialstaat genießen incl. der Freiheit zu sagen was man denkt, wer ist da schon Bernie Sanders der 40 Jahre alleine versucht gegen ein Staat von Milliardären anzugehen?

Der Artikel ist ähnlich trotzig wie die langhaarigen 68er, Hauptsache Contra. Aber ist vollkommen OK wir sind ja für die Meinungsvielfalt. Und kontroverse Themen verkaufen sich auch viel besser.


QuoteHoratio Caine #88

Dem - ansonsten recht inhaltslosen Kommentar - kann ich insoweit zustimmen, dass so mancher Alt86er, der in seiner Jugend mal meinte links zu sein (und es dabei bis zur Stilblütenerzeugung übertrieb), genau dann seine Ideale verriet, als es - nachdem man es persönlich geschafft hatte - darauf ankam. Ein Bezug zu real existierenden Personen sieht, ist selbstverständlich rein zufällig und nicht beabsichtigt..


QuoteThür #89

Die meisten urspringlich linken 68er sind doch inzwischen angekommen in ihrem bürgerlichem Eigenheim, mit einen deutschen Mittelklasseauto, Kreuzfahrtreisen und Aktienkursen. Getreu dem linken Motto: das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die meisten, aber zum Glück nicht alle.


QuoteVollzitat #90

wo Biller recht hat hat er recht. Wer kenn sie nicht, die Leute die einem sagen was man zu tun oder zu lassen hat und dann aber ihren eigenen Rat nie befolgen. ...


QuoteJaLoWe #106

Viel Holzschnitt. Viele Beleidigungen. Keine Perspektive. Maxim "Esra" Biller scheint in einer Schaffenskrise zu stecken. Möge ihm sein therapeutisches Geschreibsel Hilfe sein. Inhaltlich ist seine Wutschrift Stammtischgepoltere aus dem Grill Royal, wobei die spannendste Frage die ist, nach wievielen Drinks der Damm brach.


Quotetitanicus #108

Oje, der Chef-Polemiker Maxim Biller hat mit Vogleschrot geschossen, um möglichst viel zu treffen. Jedoch: Wer alles treffen will, trifft gar nichts. Nur ein Beispiel. Auch Biller erhöht die 68er-Protestbewegung zu einem legendenumwobenen Phänomen. Diese grandiose Überschätzung stilisiert "die Bewegung" geradezu zu einer entscheidenden Antriebskraft. An dieser Überhöhung ist nichts richtig. Einen Zäsurcharakter hatte das Jahr 1968 nie.

Eine neuartige kritische Öffentlichkeit war bereits nach 1958 vorgedrungen und stellt kein Produkt der "68er" dar. Schon vor diesem Jahr setzten die Fischer-Kontroverse, Hochhuths "Stellvertreter" oder die "Spiegel-Affäre" die Öffentlichkeit so in Bewegung, wie das der Eichmann- und der Auschwitz-Prozess taten. Auch der auffällige Schub an Reformgesetzen war längst vor 1968 in Gang gesetzt worden. Eine "Zweite Stunde null" bedeutete das Jahr 1968 bestimmt nicht.

Mag sein, dass die "68er-Bewegung" dazu beitrug, Restbestände einer obrigkeitsstaatlichen Mentalität weiter abzubauen, vielleicht stieß sie auch den zivilgesellschaftlichen Willen zur Partizipation an. Übersehen wird zudem ein Widerspruch: Man muss den "68er"" einen antikapitalistischen Impetus attestieren, zugleich wurden sie durch ihren Individualismus zur unfreiwilligen Avantgarde der kapitalistisch organisierten Konsumgesellschaft.

Das alles berücksichtigt Biller in seinem Furor nicht. (Im Fach Polemik ist der Autor allerdings ein Großer.)


QuoteKapaster #113

Das Besondere an narzisstischen Kränkungen ist, dass man dem Betroffenen eigentlich immer gerne auf die Schulter klopfen möchte, ihm eine freundliche Geste der Beruhigung spenden.
Erkennt man doch den Bruder in ihm, denn: Wer hätte diese Kränkung nicht schon selbst bitter erfahren und durchlebt.
Also, lieber Maxim, das wird schon wieder!


QuoteHingeguckt #117

Womit haben sich denn die 68er plamiert?

QuoteBli-Bla-Blubb #117.1

Mit mieser Rechtschreibung.



QuoteDolian #121

Herr Biller,da haben Sie uns aber eine Suppe serviert. Und den Teller auch noch bis zum Rand vollgehauen.


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Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 12, 2016, 01:24:10 PM
Quote[...]    "Tom Wolfe über "The Electric Kool-Aid Acid Test" "Ich trat immer mit Anzug und Krawatte auf""
Acid-Tests und Verfolgungsjagden: 1964 reiste Schriftsteller Tom Wolfe mit der Hippie-Keimzelle Merry Pranksters durch die USA. ...


einestages: ... Wie reagierte Kesey auf Ihren Besuch?

Wolfe: Er war erstaunlich gelassen. Wirklich privat war unser Gespräch nicht, es gab zentimeterdicke Scheiben, man musste in ein Mikrophon sprechen. Aber draußen vor dem Gebäude saßen seine Anhänger, junge Leute in Overalls, geschneidert aus der US-Flagge. Sie wollten nicht fortgehen, so lange Kesey eingesperrt war. Das waren die Merry Pranksters.

einestages: Ihre erste Begegnung mit Hippies?

Wolfe: Die Presse nannte sie damals noch "Acid Heads", eine ziemlich furchterregende Bezeichnung. "Newsweek" führte den Begriff Hippie ein - das fröhliche Gegenstück zum Hipster, der ja eher markenbewusst auftrat. Es gab auch den Hippie-Dippy mit Rauschebart und langen Haaren, der mystische Erfahrungen suchte. In diese Richtung entwickelten sich auch die Merry Pranksters ...

einestages: Wenn die Merry Pranksters mit ihrem Vehikel, einem bunt angemalten Schulbus, auftauchten, waren die Menschen geschockt. Wäre es heute noch möglich, Bürger so in Aufruhr zu versetzen?

Wolfe: Es hat sich viel geändert seit den Sechzigerjahren, vor allem, was Sex und Drogen angeht. Marihuana kann man heute in vielen Staaten legal erwerben, damals wurde man dafür verhaftet. Es gibt Prostituierte, die sich halbnackt hinter Fenstern räkeln. Auch wenn Sie hören, wie manche Frauen sich heute ausdrücken - damals völlig undenkbar. Das letzte Tabu in unserer Gesellschaft ist die Gewalt.

einestages: Der Pranksters-Trip durch die USA, den Sie im Buch schildern, spielte sich im Schatten der Präsidentschaftswahl 1964 ab. 2016 wirkt Präsidentschaftskandidat Donald Trump selbst so, als wäre er einem üblen Horrortrip entstiegen. Leben wir in surrealen Zeiten?

Wolfe: Political Correctness fängt in den USA schon im Kleinen an. Wenn Sie zu einer Gruppe von Frauen und Männern sagen: "Hey Jungs" ("Hey guys"), dann ist das genaugenommen eine Mikroaggression, denn Sie übergehen das Geschlecht der Frauen. Trump schert sich nicht um solche Kleinigkeiten. All diese politischen Unkorrektheiten, die er ausspricht, fallen auf fruchtbaren Boden. Was er zu Beginn der Kampagne über Mexikaner und Muslime gesagt hat - viele Menschen denken wirklich so. Trump erfindet diese Stimmungen nicht, er bildet sie nur sehr sorgfältig ab. Schauen Sie, wie weit es ihn gebracht hat.

einestages: Die Merry Pranksters waren auf der Suche nach einem "Kool Place", einem coolen Ort, wie es im Untertitel ihres Buchs heißt. Haben sie ihn je gefunden?

Wolfe: Die Pranksters waren eine quasi-religiöse, fast sektenartige Gruppe, ihre Suche war mystischer Natur. Sie hatten diese seltsame Idee von einem Ort ohne Regeln und Gesetze, wo Gedanken frei fließen konnten. Viele haben diesen Ort für sich selbst gefunden. So haben sich die Merry Pranksters in ihren eigenen Leben aufgelöst. ...


Aus: ""Ich trat immer mit Anzug und Krawatte auf"" Ein Interview von Airen (12.10.2016)
Quelle: http://www.spiegel.de/einestages/tom-wolfe-ueber-the-electric-kool-aid-acid-test-und-merry-pranksters-a-1116043.html (http://www.spiegel.de/einestages/tom-wolfe-ueber-the-electric-kool-aid-acid-test-und-merry-pranksters-a-1116043.html)

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Quote[...] Aber am LSD-Konsum und an all diesen ungezügelten sexuellen Aktivitäten, da müssen Sie konsequenterweise ja auch teilgenommen haben.

Ich erinnere mich noch an den Moment, als Kesey zu mir kam und sagte: «Tom, warum legst du deinen Notizblock nicht mal zur Seite und bist einfach hier.» Ich habe schon verstanden, was er damit meinte: Sich der Gruppe anschliessen, die Drogen nimmt, «do whatever» – und erst nachher darüber schreiben. Ich dachte über den Vorschlag nach – für ungefähr 15 Sekunden. Und am nächsten Tag war ich wieder da, Notizblock in der Hand und Kugelschreiber gezückt. Das war meine Antwort. Ein Journalist aus Los Angeles hat es anders gemacht. Und es endete nicht gut mit ihm.

Sie haben also tatsächlich kein einziges Mal LSD genommen?

O nein. Alles, was ich darüber geschrieben habe, ist das, was mir die Leute davon erzählten. LSD selber zu nehmen, hat mich keinen Moment lang gereizt. Es war wirklich gefährlich. Nichts war damals getestet, niemand wusste, was er nahm, das meiste wurde in irgendwelchen privaten Kellerlabors produziert. Aber was mir die Leute über ihre LSD-Erlebnisse erzählten, fand ich schon sehr erstaunlich, und es überstieg alles, was ich mir hätte vorstellen können. ... Nun, ich versuchte die Stimmung der Pranksters möglichst authentisch wiederzugeben. Daher ist auch der Ton ein anderer als in meinen späteren Büchern. Und die Pranksters waren natürlich vollkommen davon überzeugt, dass sie am Anfang einer besseren Welt stünden. Jeder, der irgendwas mit der Kultur der psychedelischen Drogen zu tun hatte, war gut. Sie sagten dann: «He is good people», aus irgendeinem unerfindlichen Grund immer im Plural. Aber ich glaubte niemals an LSD. Insbesondere das mit dem «Türenaufstossen» ist doch kompletter Blödsinn. Diese Drogen öffnen nicht das Bewusstsein, sie verschliessen es. Die Halluzinationen sind ja das Ergebnis davon, dass das blockierte Gehirn versucht, sich zusammenzureimen, was dort draussen wirklich passiert. Die Leute glaubten, sich durch LSD in irgendwas Wunderbares verwandelt zu haben, aber sie verwandelten sich in überhaupt nichts. Das wurde immer auch dann klar, wenn sie ausserhalb ihrer Gruppe waren. Dann mutierten sie sofort wieder zu ganz normalen Leuten. Zeugnisse davon, dass LSD-Erlebnisse über die Trips hinaus zu einer tieferen Einsicht in die Welt oder gar zu mehr Weisheit führen würden, sind mir auf jeden Fall nicht bekannt. ...  das Motiv des Statuskampfes ist im «Acid Test» weniger präsent als in dem, was ich später geschrieben habe. Aber rückblickend würde ich sagen, dass es den Leuten schon damals natürlich auch um den Status ging und darum, was die anderen Leute über sie dachten. Die Statussymbole waren andere und kosteten vielleicht weniger Geld. Statusdenken war aber nicht weniger verbreitet. Die Pranksters hatten diese Haltung: «Du bist entweder im Bus, oder du bist draussen.» Auf jeden, der nicht Teil ihrer Gruppe war, schauten sie insgeheim herab, weil diese Leute nicht sehen konnten, was sie sahen.

... Aber jetzt wollen wir doch mal ein Urteil. Die Langzeitfolgen der gesellschaftlichen Revolution der sechziger Jahre – sind sie gut oder schlecht?

Die sechziger Jahre haben viele soziale Schranken beseitigt, aber auch das gute Benehmen und die Höflichkeit. Höflichkeit ohne Absicht ist ein soziales Konzept, das man heute überhaupt nicht mehr kennt. Auch Pflichtbewusstsein ist weitgehend verschwunden. Ich erinnere mich an meine Anfangszeiten als Zeitungsreporter hier in New York. Ich war jung, ich musste oft eine der unbeliebtesten Aufgaben übernehmen, die Strassenumfrage. Die Leute gaben nicht gerne Auskunft. Aber dann kam ich auf einen Trick. Ich fragte nicht einfach: «Was halten Sie von dem und dem?» Ich machte ihnen zuerst einmal lang und breit die Wichtigkeit ihrer Auskunft klar, redete von der offiziellen Tagesumfrage der grossen, wichtigen «Herald Tribune» usw. Das gab den Leuten das Gefühl von Aufgabe und Pflicht. Ich glaube nicht, dass dieser Trick heute noch funktionieren würde. Heute würden die Leute vermutlich Geld für ihre Auskunft wollen. Und der Zusammenbruch aller Förmlichkeit im sozialen Umgang ist natürlich auch eine Folge der Sechziger. Ein Professor, der sich noch fünf Jahre vorher als James Miller vorgestellt hat, sagt bei der Begrüssung plötzlich nur noch: «Just call me Jim.» Und dann die ganze Veränderung der Sexualmoral und erst recht der Kleidervorschriften. Vor den Sechzigern sahen die Türsteher eines Apartmenthauses an der Park Avenue so aus wie Offiziere eines österreichischen Garderegiments aus dem 19. Jahrhundert. Heute trifft man selbst an Adressen, an denen die Wohnungen Dutzende von Millionen kosten, Türsteher mit zerschlissenen Jeans und T-Shirt. Nun, ich tendiere dazu zu sagen: Die Folgen der sechziger Jahre sind eher nicht so gut.

Wie hat dieser gesellschaftliche Wandel den Kampf um Status verändert?

Kleider funktionieren kaum mehr als Statussymbol. Jemanden aufgrund seines modischen Auftretens einer gesellschaftlichen Schicht zuzuordnen, ist sehr schwierig geworden. Jeder kann heute aussehen wie ein Multimillionär, und viele Multimillionäre ziehen es vor, wie Obdachlose auszusehen. Die Pioniere des bewussten «Dressing-down» waren übrigens die Rolling Stones. Heute sind materielle Statussymbole generell rar. Umso wichtiger wurde das, was ich geistige Statussymbole nennen würde.

Meinen Sie das im Sinne von «radical chic», dem Begriff, den Sie in den siebziger Jahren prägten und der damals das modische Engagement der Kulturelite für die Sache der Schwarzen benannte?

Ja, das begann in den progressiven Kreisen schon damals. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Ideen getragen werden wie Modeartikel. Ich glaube, auch die ganze Debatte um die sogenannte Political Correctness hat sehr viel mehr mit Statuskampf zu tun als gemeinhin angenommen.

... Haben Sie eine Theorie, warum die Political Correctness so mächtig werden konnte?

Ich denke, es ist das christliche Schuldbewusstsein. In der Bibel steht: «Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.» Seit der römische Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erhob, sind die Schuldgefühle wegen weltlichen Reichtums und das schlechte Gewissen gegenüber den Armen Teil des Bewusstseins der christlichen Welt. Wir können die Schuld verdrängen, aber sie geht nicht weg. Auch der Marxismus stand in dieser Tradition. Und seit der Marxismus aus der Mode ist, wurde er durch die Political Correctness ersetzt. PC ist der neue «radical chic», das Bekenntnis für die Armen, Randständigen und Mitglieder von Minoritäten. Mit Moral hat das sehr oft weniger zu tun als mit Geltungsbedürfnis. Der kanadische Philosoph Marshall McLuhan hat es so gesagt: «Moralische Empörung ist die Standardstrategie der Idioten, um sich Würde zu verleihen.»

... Tom Wolfe, 85, ist einer der bekanntesten Journalisten und Schriftsteller der USA. Zusammen mit Truman Capote und Norman Mailer gilt er als Begründer des «New Journalism», einer Bewegung, die in den sechziger Jahren den Stil des fiktiven Erzählens mit der Reportage verband.



Aus: "Interview mit Tom Wolfe: «Die Folgen der Sechziger sind eher nicht so gut»" Christoph Zürcher (3.10.2016)
Quelle: http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/interview-mit-tom-wolfe-die-folgen-der-sechziger-sind-eher-nicht-so-gut-ld.119976 (http://www.nzz.ch/nzzas/nzz-am-sonntag/interview-mit-tom-wolfe-die-folgen-der-sechziger-sind-eher-nicht-so-gut-ld.119976)

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Kenneth Elton ,,Ken" Kesey (* 17. September 1935 in La Junta, Colorado; † 10. November 2001 in Eugene, Oregon) war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Aktionskünstler. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Ken_Kesey (https://de.wikipedia.org/wiki/Ken_Kesey)

https://de.wikipedia.org/wiki/The_Merry_Pranksters (https://de.wikipedia.org/wiki/The_Merry_Pranksters)

https://de.wikipedia.org/wiki/Psychedelic_Rock (https://de.wikipedia.org/wiki/Psychedelic_Rock)

https://en.wikipedia.org/wiki/Psychedelic_era (https://en.wikipedia.org/wiki/Psychedelic_era)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 13, 2016, 09:38:43 AM
Jochen Bittner (* 1973 in Frankenberg (Eder))
https://de.wikipedia.org/wiki/Jochen_Bittner (https://de.wikipedia.org/wiki/Jochen_Bittner)

Quote[...] [Jochen Bittner] Bei allem Übel, das man Amerika und der Nato anlasten kann und muss – der Westen und Russland unterscheiden sich kategorial in der Beachtung sowohl des ius ad bellum (dem Recht zum Krieg) wie des ius in bello (dem Recht im Krieg). Es ist diese wesentliche Differenz, die offenbar vielen Deutschen immer noch nicht klar ist. Warum sonst hat es noch keine Großdemo vor der russischen Botschaft in Berlin gegeben?
Vielleicht auch deshalb, weil es noch immer zu viele matschbirnige Putin-Apologeten gibt, die aus antiwestlichen Selbsthass-Reflexen heraus die russische Propaganda-These weiterstreuen, wer mit Putin sei, stehe endlich auf der richtigen Seite der Geschichte. ...


Aus: "Ja, wir Journalisten haben Russland unfair behandelt" Eine Kolumne von Jochen Bittner (13. Oktober 2016)
Quelle: http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-10/wladimir-putin-russland-journalisten-kriegsverbrechen-5vor8 (http://www.zeit.de/politik/ausland/2016-10/wladimir-putin-russland-journalisten-kriegsverbrechen-5vor8)

Quotefabricius3591 #3

Die Ungleichbehandlung Russlands und der USA zu Lasten der USA ist mE immer noch eine Folge der 68er Generation, die 40 Jahre lang insbesondere die Schaltstellen in unseren Medien beherrscht hat. Und da gehört zu jedem halbwegs redlichen Intellektuellen eine gehörige Portion Antiamerikanismus einfach zum Selbstverständnis dazu.


QuoteEin ahnungsloser Konsument #3.2

Wollen Sie damit sagen, unsere Medien seien durchweg antiamerikanistisch geprägt? Was für ein guter Witz Fabricius, dankeschön, jeden Morgen finde ich irgendeinen Post von Ihnen der mich zum Lachen bringt.


QuoteDenk Panzer #3.8

Ja, die Redaktion in den Springer Medien ist bestimmt voll mit Alt 68ern.


QuoteGegenGewalt #3.6

" ... immer noch eine Folge der 68er Generation"

Sie stellen eine interessante Vermutung auf, die sich nicht belegen läßt. Selbst dann nicht wenn sich zehn Leute vorne hinstellen und sagen: Ja, ich gehöre zur 68er Generation.

Wie denn auch? Jedes gemeinsame Identitätsmerkmal wurde mehrfach gedreht und gewendet bis auch der allerletzte 68er nur noch ein Restbild dessen besitzt wie es war ein 68er zu sein. ...



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Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 25, 2016, 10:29:53 AM
Quote[...] In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich in Westeuropa ein Modell herausgebildet, das man frei nach Rousseau als ,,Gesellschaftsvertrag" bezeichnen könnte. In einem überschaubaren ökonomischen Umfeld wurden ökonomische Verteilungskämpfe, aber auch religiöse, kulturelle oder lebensanschauliche Konflikte durch einigermaßen funktionierende Aushandlungsmechanismen sozusagen zivilisiert. Man lebte zwar keineswegs im Paradies, aber eben doch in einem einigermaßen verlässlichen, berechenbaren Umfeld. Und die Eruption des Protests von 1968 fügte nicht nur eine ordentliche Portion Liberalität und Toleranz hinzu. Sie besiegelte – jedenfalls in der Bundesrepublik – auch das historisch begründete Tabu, das Hass und Gewalt gegen Minderheiten zumindest im offiziellen und öffentlichen Diskurs verbot. ...


Aus: "Kapitalismus: Der geformte Mensch" Stephan Hebel (21. Oktober 2016)
Quelle: http://www.fr-online.de/fr-serie--auf-die-fresse-/kapitalismus-der-geformte-mensch,34810614,34874314.html (http://www.fr-online.de/fr-serie--auf-die-fresse-/kapitalismus-der-geformte-mensch,34810614,34874314.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 03, 2016, 10:02:29 AM
Quote[...] Das Londoner Victoria and Albert Museum lädt zur Anbetung der 1960er-Jahre ein. ... "Wie haben die vollendeten und unvollendeten Revolutionen der späten 1960er-Jahre unser heutiges Leben und unser Nachdenken über die Zukunft beeinflusst?" Die selbstgestellte Frage beantworten die Ausstellungsmacher ganz uneingeschränkt positiv. Eigentlich war doch alles toll an jener Zeit, lautet die Botschaft, ganz explizit: Die Ausstellung will "den Idealismus der späten 1960er-Jahre" widerspiegeln und zu "einfallsreichem Optimismus" aufrufen.

"Nostalgie ohne Erinnerung" nennt der Beatles-Biograf Philip Norman das Phänomen der nachgeborenen Anbeter. Der 73-Jährige schwelgt in einem langen Observer-Essay selbst in den glamourösen Aspekten jener Zeit, weist aber nachdrücklich auch auf die dunklen Seiten hin. Großbritannien etwa fiel von einer Finanzkrise in die andere, Amerika wurde erschüttert von den politischen Morden an Martin Luther King und Robert Kennedy, durch Prag rollten die Panzer des Warschauer Paktes. Die Entkolonialisierung ging vielerorts mit blutigen Bürgerkriegen einher. Und über der Welt hing die nukleare Dauerbedrohung im Ost-West-Konflikt. Kurzum: eine blutige und unruhige Zeit. "Flower power" reimt sich natürlich herrlich, aber auch damals herrschten eher Bomben als Blumen. ...


Aus: ""You Say You Want a Revolution?": Das Psychodrama der Babyboomer" Sebastian Borger aus London (2. November 2016)
Quelle: http://derstandard.at/2000046850578/You-Say-You-Want-a-Revolution-Das-Psychodrama-der-Babyboomer (http://derstandard.at/2000046850578/You-Say-You-Want-a-Revolution-Das-Psychodrama-der-Babyboomer)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 03, 2017, 10:56:33 AM
Quote[...] Der Soziologe Ralf Dahrendorf findet, Dutschke sei ,,konfus" gewesen. Tatsächlich war er einer von denen, die das Neue der Revolte zu benennen wussten. Wir haben es gehört: Er sprach von der Notwendigkeit einer Kulturrevolution, deren Beteiligte sich mit dem eigenen Selbst befassen sollten. Dutschke betonte dabei die Fixierung des Selbst auf überkommene Autoritäten und suchte nach einer revolutionären Praxis, in der es sich davon befreien konnte. Andere sprachen mehr von der Befreiung des Selbst, wie es war – des weiblichen Selbst vor allem, aber auch des männlich-homosexuellen –, und das war kein Widerspruch. Das Selbst litt ja nicht nur unter der Herrschaft äußerer Autoritäten, sondern hatte diese auch zum eigenen Über-Ich verinnerlicht. ...


Aus: "1966: Das Neue der Revolte" Michael Jäger (Ausgabe 5016 | 28.12.2016)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/1966-das-neue-der-revolte (https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/1966-das-neue-der-revolte)

QuoteJoachim Petrick 28.12.2016 | 18:55

Rudi Dutschke hat bei all seinen politischen Abhandlungen, Handlungen, Einlassungen stets das sportativ Bewegliche gegen das verkrustet Starre in der bipolaren Welt des Kalten Krieges gelebt und im Blick gehabt.
Wenn Rudolf Augstein in seinem Nachruf auf Rudi Dutschke zum Jahreswechsel 1979/1980 schreibt
"....eine Geistesgröße war er nicht"
wird deutlich, wie wenig bis heute selbst bei Alpha-Journalisten die Wirkung Rudi Dutschles verstanden wird, unterbelichtet bleibt, nämlich das sportliche Element in die politische Debatte, Diskurse "Learning by Doing" einzuführen. ...


QuoteCosta Esmeralda 28.12.2016 | 19:43

Ich will hier nur kurz etwas anmerken, da ich mich auch der 68er Generation zugehörig fühle, allerdings für mich persönlich die APO erst am 2. Juni 1967, Erschiessung von Benno Ohnesorg, begann, parallel mit dem "Marsch durch die Institutionen" (eben auch durch den Bundestag und die in ihm vertretenen Parteien).

Was Rudi Dutschke, die 68er insgesamt, meine Wenigkeit eingeschlossen, wollten, war eine grundlegende Revolution der Gesellschaft in Richtung auf Herrschaftsabbau, Selbstverwirklichung und Solidarität unter Menschen mit gleichen Rechten, weltweit. Zählbares Ergebnis bis heute ist die Emanzipationsbewegung der Frauen, für mich tatsächlich Revolution weltweit, wenn auch längst nicht abgeschlossen. Diese Revolution fand innerhalb und ausserhalb von Parlamenten statt, angetrieben aber immer von ausserhalb. Sonst hätten Parlamente und politische wie wirtschaftliche kapitalistische Eliten keinen Deut Emanzipation zugelassen.

Für das Jahr 2017, wenn auch nicht unbedingt der 2. Juni, d. h. 50 Jahre nach 1967, wünsche ich mir, dass jetzt ein "Zeitalter der Emanzipation des Bürgers" beginnt und APO-mässig wie auch parlamentarisch so erfolgreich geführt wird, wie das Frauen weltweit vorgemacht haben. Ein solcher Emanzipations-Kampf bzw. Revolution des "Bürgers" (als Souverän) gegen das herrschende kapitalistische System kann nur, wie sich wohl auch R. Dutschke das stets vorgestellt hat, als ein "trial and error"-Prozess (Versuch und Irrtum) verlaufen, der allen daran Beteiligten Phantasie, Kreativität und vor allem Solidarität unter Gleichen abverlangt. ...


QuoteRichard Zietz 02.01.2017 | 12:13

... Ohne an der Stelle zu sehr ins Detail zu gehen, kann ich für mich persönlich sagen, dass die 68 ff. etablierte »Denke« ein Super-Rüstzeug war, um gesellschaftliche Entwicklungen in fast jeder Hinsicht zu analysieren. Leider hat die politische Linke sich seit den Neunzigern zunehmend von diesen »Roots« entfernt – mit der Folge, dass sie, am Ende dieses Anpassungsprozesses angekommen, selbst die Spießer, Hausmeister, Gesellschaftsformierer und Talarmuff-Repräsentanten repräsentiert, die sie damals bekämpft hat.

Mit welchen Mitteln man es schafft, aus dieser Nummer wieder rauszukommen (ohne in den Ökonomismus pur der alten, traditionellen Linken zurückzufallen), weiß ich nicht.

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 27, 2017, 01:05:42 PM
Quote[...] 2008 sprachen Gisela Getty und Jutta Winkelmann im Interview mit dieser Zeitung, vor deren Werkstor sie mal kommunistische Flugblätter verteilt hatten, über ihre ungeheuer dichte, teils fast märchen- und dann wieder alptraumhafte Lebensbeschreibung. ,,Wir sind die Kinder Hitlers", sagten sie damals und dass das die antreibende Kraft war, sich ein neues, liebevolles Leben zu erfinden. Es war so etwas wie eine lichtdurchflutete Vision von Schönheit für unseren Planeten, die sie, die sich als ,,Götterkinder", als ,,Engel einer hellen Zukunft" empfanden, zu leben versuchten - verbunden auch mit viel Blumenkinder-Naivität und -Leichtfertigkeit.

Im Gespräch waren ihre Stimmen kaum zu unterscheiden - die Zwillinge selbst mussten später die abgetippten Passagen zuordnen. Als ,,unverbrüchliche Doppelexistenz" empfanden sie ihre symbiotische Beziehung, die Segen und Fluch war. Gisela nennt ihre Schwester ,,die liebste Person auf der Welt", doch hätten sich beide nach Individualität gesehnt. Mit ihrem Krebstod gehe Jutta konsequent ihren eigenen Weg: ,,Sie schmeißt mich auf mich zurück. Das ist jetzt die große Trennung."


Aus: "Kommune, Geiselnahme und Symbiose: Zum Tod von Jutta Winkelmann" (24.02.2017)
Quelle: https://www.hna.de/kultur/ikone-68er-7431383.html (https://www.hna.de/kultur/ikone-68er-7431383.html)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 22, 2017, 10:20:53 AM
Quote[...] [Berlin, Hamburg, Frankfurt, Köln und Zürich in den 1970er Jahren, hier und nicht nur hier tobte der Häuserkampf. Bassist Kai Sichtermann, Gründungsmitglied von Ton Steine Scherben, war damals mittendrin. Gemeinsam mit seiner Schwester, der Publizistin Barbara Sichtermann, besuchte er nun die Protagonisten von einst. Sie erzählen davon, wie alles anfing und welcher Geist sie trug – nicht zuletzt weil sich die Frage, wem die Stadt gehört, heute noch stellt. Das ist unser Haus heißt ihr Buch. (Das ist unser Haus Barbara Sichtermann, Kai Sichtermann Aufbau 2017, 300 S.)]

... Florian Schmid: In einigen Texten wird auf den Zusammenhang der 68er, der Studentenbewegung und der Hausbesetzer verwiesen. Waren das die Erben dieser Bewegung?

Barbara Sichtermann: Ja, 1970 ging das ja los mit den Hausbesetzungen. Die Ehre des ersten besetzten Hauses fällt auf die Eppsteinerstraße 47 in Frankfurt am Main. Das war die ersehnte Praxis, die mal hinausgehen sollte über die Proklamationen, Demonstrationen, viel Geschrei und heiße Luft. Man wollte ja wirklich etwas ändern. Okay, es gab auch die Kinderladenbewegung und an den Universitäten ging es um Mitsprache von unten. Zu diesen Impulsen, die Gesellschaft tatsächlich mit mehr Partizipation im antiautoritären Sinn umzugestalten, da gehört die Hausbesetzerbewegung natürlich dazu. ... Es war genauso in der Studentenberwegung, dass es Kulturrevolutionäre gab, die anders leben wollten, anders studieren, anders arbeiten. Und es gab die von unseren Gesprächspartnern oft ,,Ideologen" genannten Besetzer, denen es darum ging, das mobilisierte Potenzial der Unzufriedenen zu bündeln und es irgendwie politisch zu einer Kraft zu machen, die dann eine Partei sein wollte. Die Grünen sind daraus hervorgegangen. Und dann gab es noch die Sex-Drugs-Rock-'n'-Roll-Fraktion, die vor allem anders leben wollte. Es gab Theoretiker, die Gegenmodelle entwerfen und schon mal mit dem anderen Leben anfangen wollten. Es waren unterschiedliche Nah- und Fernziele, die sich hart im Raum gestoßen haben. Im glücklichsten Fall war alles da, und man kam miteinander aus.

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Florian Schmid: Die Militanz, mit der zwischen 1970 und 1990 um Häuser gekämpft wurde, ist heute nur noch schwer vorstellbar. Vielleicht war sie aber Teil des Erfolgs der Bewegung. Wie stehen Sie zur jahrzehntelang debattierten Militanzfrage?

Barbara Sichtermann: Die Ausgangslage war, dass die unverhältnismäßige Gewalt der Polizei, die mit der Erschießung von Benno Ohnesorg begonnen hatte, irgendwie beantwortet werden musste. Damals hatte man bei der Polizei noch nicht gelernt, mit Aufrührern mal ein paar Worte zu wechseln oder Kompromisse zu suchen. Die Linie war allermeistens: draufschlagen, einsperren, fertigmachen. Die jungen Menschen seinerzeit fühlten sich im Recht. Es gab immer noch viele alte Nazis. Es gab keine Selbstbestimmung, alles war verregelt, alles wurde von oben kontrolliert. Die Jugendlichen wollten sich das einfach nicht mehr bieten lassen. Ob das ein Erfolgsrezept war, ist schwierig zu beantworten. In Frankfurt war es umgekehrt. Da hat die enorme Militanz den Rückhalt der Hausbesetzer in der Bevölkerung beendet. Manchmal hat es auch was gebracht. Man muss das immer im Kontext sehen.

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Aus: ",,Hart im Raum"" Florian Schmid (Ausgabe 0917, 15.03.2017)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/florian-schmid/hart-im-raum (https://www.freitag.de/autoren/florian-schmid/hart-im-raum)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 16, 2017, 09:17:35 AM
Quote[...] Berittene Polizei jagt die Menschen auf den Bürgersteigen. Ein Beamter reitet direkt auf die Kamera zu. Polizisten klettern über die Absperrungen, stürzen sich auf friedliche Demonstranten. Szenen aus West-Berlin, Ende der 1960er Jahre. Schwarz-weiße Bilder, gedreht aus der Hand, manchmal im Laufschritt, verwackelt, unruhig wie die Zeiten, in denen sie entstanden. Am 2. Juni jährt sich der Tod Benno Ohnesorgs zum 50. Mal. Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras hatte den Studenten in Berlin am Rande einer Demonstration gegen den Schah-Besuch erschossen, gezielt, wie man heute weiß, nicht aus Notwehr, wie es bei seinem Freispruch hieß. Ohnesorgs Tod entfachte Wut, verschärfte die Konfrontation zwischen Staat und aufbegehrender Jugend.

Simone Jungs Dokumentation schildert diesen Tag, der die Republik veränderte, und sein zeitliches Umfeld vor allem mit einer eindrucksvollen Fülle historischer Filmsequenzen, darunter aus der ,,Abendschau", und Fotografien. Die zum Teil bekannten Bilder sind, neu zusammengesetzt, mal ein rockiges Zeitporträt mit Szenen aus dem Berliner Alltagsleben, mal der Versuch einer exakten Rekonstruktion der Ereignisse. Jung verwendete auch Ausschnitte aus dem Film ,,Berlin, 2. Juni 67", den der damalige Filmstudent Thomas Giefer gedreht hatte. Giefer, heute 72 und ein mit dem Grimme-Preis dekorierter Dokumentarfilmer, nennt seine Kamera ,,die subjektive Sicht der Revolte, eine ganz kleine Waffe gegen diese große Macht der Medien". Als Hauptgegner galt die Springer-Presse, insbesondere die ,,Bild", die mit Schlagzeilen wie ,,Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt" die Stimmung anheizte. Wenn man etwas in Jungs Film vermisst, dann dass hier niemand aus deren Reihen zu Wort kommt.

Mit Martin Textor ist ein prominenter Ex-Polizist unter den Zeitzeugen. Textor, der später zum Chef der Spezialeinheiten aufstieg, erinnert sich kritisch an den Geist, der in der Berliner Polizei in den 1960er Jahren herrschte. Mit den Bürgern solle kein unnötiges Wort gewechselt werden, habe eine Dienstanweisung gelautet. ,,Was wir getan haben, war Drill und Krieg", sagt Textor. In der ,,Frontstadt" Berlin verstand sich die Polizei offenbar als eine Art militärischer Vorhut, zudem hatten viele schon in der Nazizeit ihren Dienst versehen. Die beliebten Polizeischauen im voll besetzten Olympiastadion, ein Fackel-Aufmarsch eingeschlossen, wirken heute gespenstisch.

Auf Statements von Historikern oder anderen Experten verzichtet die Autorin, auch mit eigenen Kommentaren geht Simone Jung sparsam um. Dafür hat sie neben Augenzeugen wie dem Fotografen Bernard Larsson und der Historikerin Friederike Hausmann, die sich auf dem zur Bild-Ikone gewordenen Foto über den sterbenden Ohnesorg beugt, noch weitere Protagonisten der damaligen Zeit vor die Kamera geholt. Etwa Ralf Reinders, Mitbegründer der ,,Bewegung 2. Juni", oder den späteren Bundesinnenminister Otto Schily, der als junger Anwalt Nebenkläger im Kurras-Prozess war. Und mit Uwe Soukup tritt ein Journalist und Buchautor in Erscheinung, der die Umstände des Todes Ohnesorgs akribisch recherchiert hat. ,,Eine Frage wird offenbleiben", erklärt Soukup. ,,Warum hat der Mann geschossen?" Der verstorbene Kurras hatte, wie sich später herausstellte, auch für die Stasi gearbeitet. Belege für eine direkte Verstrickung der DDR fanden sich nicht.

,,Benno Ohnesorg – Sein Tod und unser Leben", Arte (2017)


Aus: "Der Tod des Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967" Thomas Gehringer (15.05.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/medien/doku-zum-50-jahrestag-der-tod-des-benno-ohnesorg-am-2-juni-1967/19806344.html (http://www.tagesspiegel.de/medien/doku-zum-50-jahrestag-der-tod-des-benno-ohnesorg-am-2-juni-1967/19806344.html)

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Quote[...] Benno Ohnesorg, Romanistik- und Germanistikstudent an der Freien Universität Berlin, starb im Alter von 26 Jahren durch einen Kopfschuss. Karl-Heinz Kurras, der Kriminalbeamte, der ihn am 2. Juni 1967 während einer Demonstration gegen den Staatsbesuch des persischen Kaiserpaares mit seiner Dienstwaffe niederstreckte, behauptete, in Notwehr gehandelt zu haben. Für diese Behauptung gibt es bis heute keine Beweise. Im Gegenteil: Zahlreiche Aussagen von Augenzeugen legten nahe, dass Kurras ohne Not geschossen hatte. Trotzdem wurde der Beamte vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Wegen der schweren polizeilichen und politischen Fehler, die ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss im Sommer 1967 aufdeckte und wegen der anhaltenden Studentenproteste, mussten nacheinander der Polizeipräsident, der Innensenator und der Regierende Bürgermeister Berlins zurücktreten.

Bereits unmittelbar nach Ohnesorgs Tod begannen sich zahlreiche Verschwörungstheorien um die Geschehnisse zu ranken, die allerdings alle in einem Punkt übereinstimmten: In der Anschuldigung, Benno Ohnesorg sei dem faschistisch-autoritären Polizeiapparat West-Berlins zum Opfer gefallen.

Am Abend des 2. Juni 1967 platzte die spätere RAF-Terroristin Gudrun Ensslin aufgeregt in das SDS-Zentrum am Kurfürstendamm. Dort fand eine Beratung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes statt. Ensslin erklärte, jetzt müsse man sich Waffen beschaffen, um gegen ,,die Faschisten" gewappnet zu sein. ,,Das postfaschistische System in der BRD ist zu einem präfaschistischen geworden", schrieb der SDS-Bundesvorstand in einer am 9. Juni 1967 verbreiteten Erklärung zu Ohnesorgs Tod. Der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas warnte am selben Tag vor den mehr als 7000 Studierenden, die zu Ohnesorgs Begräbnis nach Hannover angereist waren, vor der ,,Fortsetzung einer systematisch betriebenen Provokationsstrategie gegenüber dem Staat" . Die Bundesrepublik sei eine leidlich funktionierende Demokratie mit restaurativen Tendenzen, der ,,legale Terror" durch die West-Berliner Polizei bedeute eine manifeste Einschränkung der Demokratie. Dagegen zu protestieren, sei legitim, sagte Habermas. Die Fortsetzung der ,,Provokationsstrategie" aber sei ein ,,Spiel mit dem Terror mit faschistischen Implikationen". Habermas bezeichnete das unter dem Protest der versammelten Studenten als ,,linken Faschismus".

Nicht in ihren schwärzesten Albträumen wäre den engagierten jungen Linken im Juni 1967 der ,,Studentenmörder" Karl-Heinz Kurras als das erschienen, was er nach den im Jahr 2009 aufgefundenen Stasiunterlagen tatsächlich war: ein verdeckter Ermittler des DDR-Staatssicherheitsdienstes und außerdem Mitglied in Walter Ulbrichts SED. Der Mann also, der mit seinen tödlichen Schüssen auf den Student Benno Ohnesorg eine bis dahin in der Bundesrepublik unvorstellbare Gewaltspirale in Bewegung gesetzt hatte, war nicht eine ,,Charaktermaske" des ,,Präfaschismus", wie die linken Studenten meinten, sondern ein gläubiger DDR-Sozialist mit SED-Parteibuch.

Die Frage, ob Kurras auf Anweisung der Stasi gehandelt hat, wird abschließend nie beantwortet werden können. Verbürgt aber ist, dass die SED-Führung und namentlich Walter Ulbricht die durch den 2. Juni 1967 in Westdeutschland hervorgerufenen Unruhen mit großer Genugtuung verfolgte.

Der Schriftsteller Uwe Timm, mit dem Benno Ohnesorg befreundet war, setzte dem getöteten Studenten 2007 mit seinem Buch ,,Der Freund und der Fremde" ein literarisches Denkmal. Die beiden hatten gemeinsam Albert Camus, Jean-Paul Sartre, Samuel Beckett, Ernst Bloch und Friedrich Nietzsche gelesen. Benno Ohnesorg hatte Gedichte geschrieben und wollte eigentlich an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste studieren. Als er dort abgelehnt wurde, bewarb er sich erfolgreich an der Freien Universität Berlin für ein Romanistik- und Germanistikstudium. Er gehörte der Evangelischen Studentengemeinde und dem marxistischen ,,Argument-Club" an. Benno Ohnesorg, ein überzeugter Pazifist, starb im Alter von 26 Jahren. Er hinterließ seine schwangere Frau Christa, die im November 1967 den gemeinsamen Sohn Lukas Ohnesorg zur Welt brachte.

Bis heute ist der 2. Juni 1967 ein Schlüsseldatum in den Erinnerungswelten der Achtundsechziger-Generation. Mit diesem Tag begann die antiautoritäre Studentenrevolte. Mit diesem Tag begann aber auch die Eskalation der Gewalt. Die Erschießung des friedfertigen Studenten Benno Ohnesorg durch Karl-Heinz Kurras rechtfertigt für viele Alt-Achtundsechziger bis heute die damalige Bereitschaft zur politischen Gewaltanwendung als Notwehr und ,,Gegengewalt". Auch wenn die 2009 bekannt gewordene SED-Mitgliedschaft von Kurras und seine Agententätigkeit für den DDR-Staatssicherheitsdienst so ganz und gar nicht in diese Geschichtserzählung passten, konnte sich das Establishment jener Zeit in Ost und West auf einen gemeinsamen Nenner einigen: Man mochte weder in der DDR noch in der Bundesrepublik aufmüpfige junge Leute, die die herrschenden Verhältnisse infrage stellten.




Aus: "1967 und die Folgen: Als die Gewalt begann" Jochen Staadt (09.04.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/themen/freie-universitaet-berlin/1967-und-die-folgen-als-die-gewalt-begann/19627014.html (http://www.tagesspiegel.de/themen/freie-universitaet-berlin/1967-und-die-folgen-als-die-gewalt-begann/19627014.html)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 13, 2017, 10:07:24 AM
Quote[...] ZEIT: Die siebziger Jahre in Westdeutschland gelten als ein Jahrzehnt des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Befreiung, besonders in Schulen und an Universitäten.

Maxim Biller: Die siebziger Jahre waren eine bleierne, eine ganz dunkle Zeit. Die Meinungsführer, die in der Nach-68er-Zeit in Schulen und Hochschulen auftraten, waren blind propalästinensisch und wüst antiisraelisch. Und wenn man sich heute fragt, woher die inzwischen völlig akzeptierte Israel-Feindschaft in deutschen Mitte-links-Kreisen stammt, dann muss man sagen: Sie kommt aus der Zeit nach 1968, als die PLO das Goldene Kalb der deutschen Täterkinder war. Das alles fiel mir sofort auf, zum Beispiel auf Anti-Atomkraft-Demonstrationen in Brokdorf, bei denen ich als Teenager ein paarmal dabei war. Wer nicht nach Brokdorf mitfuhr, der gehörte schon nicht mehr dazu. Es gab auch diesen Hass auf Amerika und diese absurde Humorlosigkeit der Linken. Und diese endlosen Zweiergespräche über Beziehungen, das war ganz schlimm.

ZEIT: Noch schlimmer als der Antizionismus?

Biller: Ja, das war das Schlimmste. Man durfte ein Mädchen nicht einfach küssen, man musste vorher stundenlang über seelische Dinge sprechen. Es war alles so unglaublich anstrengend.

...

ZEIT: Gab es in der Zeit nach 1968 denn nichts, was Sie genossen haben?

Biller: Nein, ich habe das alles nur verachtet. Man muss auch mal von der RAF reden, der Roten Armee Fraktion, dem linken Terror, der Brutalität und der Menschenverachtung. Die RAF-Leute waren Idole einer ganzen Jugend. In keinem Land der Welt gibt es so wenige Unterschiede zwischen Linksextremen und Rechtsextremen wie in Deutschland. Ich habe in meinen Kolumnen so viel angeschrieben gegen diese verschwommene Grenze zwischen Links und Rechts. Ich habe über den deutschen Nationalismus geschrieben und über den Antisemitismus. Aber heute, Jahrzehnte später, gibt es viel mehr von diesen Leuten und nicht weniger. Ich komme mir manchmal vor wie Kurt Tucholsky, der nach dem Ersten Weltkrieg gegen den Militarismus anschrieb, aber es wuchsen immer mehr Militaristen heran.

ZEIT: In der Zeit um 1968 gab es beides zugleich, das extrem Brutale und das extrem Intellektuelle. Ulrike Meinhof, die Terroristin, war mal Kolumnistin der Zeitschrift konkret.

Biller: Über Ulrike Meinhof wird inzwischen wie über eine Heilige geschrieben. Zu Meinhof gibt es aber kein einziges positives Wort zu sagen, auch nicht zu ihrer konkret-Zeit. Sie war eine widerwärtige Dogmatikerin, die sich nicht für den Einzelnen interessierte und später an Verbrechen beteiligt war. Wie kann es sein, dass sie in dieser Gesellschaft inzwischen als eine interessante Kolumnistin gilt? Hoffentlich leben wir nicht in einem Land, in dem in dreißig Jahren über Beate Zschäpe wie über eine Heilige geschrieben wird.

...


Aus: "68er-Bewegung: "Eine graue, gesichtslose Armee"" Interview: Stefan Willeke (7. Juni 2017)
Quelle: http://www.zeit.de/2017/24/68er-bewegung-maxim-biller-ausrichtung-kritik (http://www.zeit.de/2017/24/68er-bewegung-maxim-biller-ausrichtung-kritik)

Quote
CantHappenHere #1.3

Er reitet ellenlang auf dem einen, gleichen, überhaupt nicht neuen Klischee herum, antiautoritäre 68er seien auf ihre Art autoritär.

Das ist retrospektiv sehr leicht gesagt, weil es sich nach einer vermeintlich mutigen Neubewertung der Geschichte anhört. Ob es wirklich so war, dass Diskutanten damals "absurd autoritär" waren, lässt sich gar nicht ergründen.

Insofern lässt mich das Interview eher schulterzuckend zurück. Dass sich eine gesellschaftliche Strömung dann, wenn sie demographisch stark ist, von ihren ursprünglich liberalen und offenen Prinzipien teilweise entfernt und dogmatisch wird - big f'in news! Wenn ich mir die Gesellschaft der 50er angucke und dann die der 70er, bin ich dennoch gottfroh über das progressive Element 68er.


Quote
Michael Drews #1.17

... Ich finde das Interview interessant, denn der Herr Biller berichtet von seiner Wahrnehmung über diese Zeit. 1967 war ich 9 Jahre alt, also 3 Jahre älter als dieser Biller. Ich habe diese Zeit in Bremen erlebt und finde heute das diese Zeit die Zeit des Umbruchs war. Das ist meine Wahrnehmung dieser Zeit. Diese Wahrnehmungen sind subjektiv und andere Menschen haben diese Zeit vielleicht völlig anders erlebt. Das ist okay und nichts objektives. Die Wahrheit über verschiedene Wahrnehmungen gibt es nicht, weil diese individuell verschieden sind. Lassen sie doch einfach andere Meinungen stehen, ich habe damit kein Problem solange diese sachlich sind.


Quotejaakobus12 #7

Maxim Biller hat für sich die Rolle des Provokateurs gewählt. Immer Nachdenkens wert, dann und wann überspitzt und überzogen. Die durchgehende Dominanz des "Mitte-Links-Konsenses", der sich mit seiner speziellen Deutung der 68er-Geschehnisse zu legitimieren versucht, ändert nichts an der Tatsache, dass die Themen der linken Schickeria die Arbeitnehmer genauso wenig erreicht, wie die Flugblätter des KBW in den 70 Jahren. Was haben wir gewonnen, wenn die normative Bevormundung unserer Jugendjahre und die dogmatische Bevormundung der marxistischen Linken heute durch die hochmoralische Bevormundung der politisch Korrekten ersetzt wird.
In allen drei Fällen haben sich die Philister über die normalen Menschen erhoben und ihre jeweilige Begrenztheit zum neuen Ideal erkoren.
Die Karawane der Menschen zieht an ihnen vorbei und lebt ihr eigenes Leben.


Quotekeats #19

Maxim Biller gefällt sich im Gestus des Anders-Sein. Auch im Literarischen Quartett, aus dem er mittlerweile ausgestiegen ist, hat er sich so gebährdet. Es ist die Attitüde eines in die Jahre gekommen Rebellen, dessen Freiheitsbegriff Gleichgültigkeit gegenüber anderen beinhaltet. Der eigene Lebenslauf wird erzählt als der eines Menschen, der es nicht leicht hatte und es geschafft hat. Und diese romantische Selbstüberhöhung verlangt es, andere abzuwerten.


Quotechagall1985 #20

... Die Radikalität der 68'er, der Dogmatismus als Stützpfeiler und die teil absurde Gleichschaltung von Sprache und Verhalten kamen nicht aus dem Nichts!
Es war eine Gegenbewegung gegen die Normalität des Verdrängens.
Es war eine Provokation des Systems um sein wahres Gesicht zu zeigen.
Das wahre Gesicht aus autoritärem Obrigkeitsdenkens und erstickender Norm.

...


Quotetitanicus #21

Maxim Biller schießt mal wieder mit Vogelschrot, damit er wenigstens etwas trifft. Ein sauberer Blattschuss ist nicht sein Ding. DIE 68er har es nicht gegeben, Herr Biller. 1968 war nicht das Zäsurjahr, als das es dargestellt wird. Ihm war einiges vorausgegangen: Spiegel-Affäre, Auschwitz-Prozess, Hochhuths Stellvertreter oder Fischer-Kontroverse, Themen, welche schon lange vor 1968 den Virus der heilsamen Unruhe verbreitet hatten. Das war notwendig, denn die Parteigänger des überlappenden NS-Regimes hatten in allen Bereichen weiterhin die Finger im Spiel. Es war ein langwieriger Prozess, das Dritte Reich wenigstens zu beenden. Von Überwindung konnte in den 1960er Jahren noch keine Rede sein. Erstaunlich, dass Maxim Biller das trotz seiner bemerkenswerten Frühreife nicht erkennen konnte und bis heute nicht erkennen kann oder will.

Das Handwerk des Provokateurs beherrscht Biller jedoch perfekt. Es stimmt: Gäbe es ihn nicht, müsste er erfunden werden. Sein Dandytum hat was. Dumm nur, dass er sich so philisterhaft in die ominösen 68er verbeißen muss.


QuoteKarl Lauer #26

Wenn Biller mal wieder loslegt vom "linken Konsens" frage ich mich immer, ob ich irgendwelche massiven Verstaatlichungen verpasst habe..
Ich sehe keine linke Politik, beim besten Willen.


Quotescrambled Ex #32

Als fast-noch-68er fand ich diese Bewegung dereinst auch noch toll. Aber je mehr man die heutige Zeit und ihre Probleme ansieht, desto mehr ist die 68er-Bewegung als eines der Grundübel daran zu erkennen; eine zwar primär gut gemeinte Ideologie, aber darin zu verbohrt und vor allem zu kurzsichtig im Hinblick darauf, wie die Welt wirklich tickt. Schön, dass sich inzwischen einige Intellektuelle wie Biller trauen, die Patina der 68er-Verklärung zu beseitigen.


QuotepanchoVilladelacasa #33

Meine Fresse, diese Mini Revolte der Zu-Spät Geborenen. Natürlich müssen sie die übermächtige 68-Hegemonie konstruieren, um ihre reaktionäre Gestrigkeit als ach so *shocking* wagemutige Provokation verwursten zu können. Gipfelt dann gerne in das mimimi über Zensur ihrer Meinung, welches dann in Hunderttausender Auflage an die Massen gelangt.
Ich bin Jahrgang 61, meine Pauker waren fast durchweg in den 50igern Hängengebliebene und vereinzelt so reaktionär, dass wir SBZ statt DDR sagen mussten.
Backpfeifen gabs auch mal.
Diese Biller, Mattusseks, Fleischhauers und wie sie alle heissen sind, wie würden die Jungen sagen, "lame". Schlimmstenfalls ein Fall für Profis, wenn es denn in echte Paranoia ausartet.


QuoteBlues Man #34

'Das Autoritäre, gegen das die 68er gekämpft hatten, kehrte bereits in den Siebzigern zurück.'

In den Siebzigern und Achtzigern habe ich als Post-68er eine fast anarchische Freiheit erlebt. Wir waren Kumpels aus allen möglichen K-Gruppen und wer es vom Partei-Establishment wagte, uns als Sektierer oder wegen unserer Vorliebe für Rock 'n Roll, Blues oder Jazz als Kulturimperialisten zu bezeichnen, musste das Echo ertragen können. Und auch das war Freiheit, die örtlichen Parteibonzen, der Lächerlichkeit preiszugeben.
Wie unterschiedlich die Wahrnehmung doch sein kann!

Quoteazetge #34.1

Sorry, ganz so harmonisch war es leider nicht.
Ich habe erlebt, wie die maoistischen Stalinisten der KPD (vormals KPD-AO) auf einer Veranstaltung der trotzkistischen GIM (Gruppe Internationale Marxisten - Sektion der IV. Internationale) in der TU-Berlin diese sprengten, indem sie auf die trotzkistischen Genossen mit Zaunlatten und Dreizacks vom Straßenbau einprügelten.
Nie ein nachträgliches Wort der Selbstkritik, nachdem sie dann bei den Grünen an ihrer Karriere bastelten und ihre Vergangenheit vergessen machen wollten.



QuoteSt.Expeditus #38

Jean-Luc Godards Film "La Chinoise" kritisiert die 68er Bewegung als "Indianerspiel" angeblich revolutionärer Studenten, die maoistische Texte zitieren, aber sich von einer Komilitonin bedienen lassen. Die 68er waren nur Nachahmer der chinesischen Kulturrevolution, die in Europa lange Zeit verherrlicht wurde, in Wirklichkeit aber Millionen das Leben kostete.
Und wenn noch heute die Antivietnam-Bewegung gefeiert wird, zeigt die andere Seite der Medaille, dass auch 50 Jahre nach dem Ende des Krieges, die Menschen in Vietnam immer noch eine kommunistische Diktatur ertragen müssen, die hundertausende in Umerziehungslagern ermordet hat. ...


Quotewoherwohinwarum #39

Da hat sich einer aber ausgekotzt. Aber es stimmt ja: Dogmatismus und Gleichmacherei waren die Mission der 68er. Da sie gleichzeitig schelcht angezogen waren, Hasch rauchten und herumvögelten, hielt man es für Freiheit.

Das ist auch heute noch das Rezept - geblieben: der äußere Schein einer Verhaltensfreizügigkeit mit gleichzeitig rigiden Vorgaben, was gesprochen werden darf.

Der Unterschied zum Konservativen? Die Konservativen haben sich mit Gegnern auseinandergesetzt, sie - je - bekämpft und in ihrer gegenerschaft ernst genommen. Der eingeschlichene 68er-Sozialismus tut das nicht mehr: jeder kann (fast) alles sagen - es ist eh wurscht. Es bewegt nichts. Absolut nichts. Anstatt des gesellschaftlichen Diskurses gibt es nur noch ein Unschädlichmachen des unerwünschten. Das Individuum ist der Statistik gewichen. Die inhaltliche Auseinandersetzung dem formalen Spiel.


QuoteBellizistensohn #41

Es ist doch ein Trauerspiel mit den Bürgerlichen, wo man hinhört, verfallen sie immer wieder aufs Neue in diesen verheulten Tonfall, dass die bösen Linken alles kaputt machen und alles bestimmen. Da schwingt immer ein bisschen diese FDP-Attitüde mit; wer es wagt, moralisch zu werden, wünscht sich insgeheim Denkverbote und ist überhaupt ein Feind der Freiheit.
In welcher Welt leben diese Menschen eigentlich? Wie viele Artikel sind alleine in der Zeit erschienen, die sich mit dem Thema von vermeintlich übermäßig mächtigen und autoritären Linken beschäftigen? Rückt eure Wahrnehmung mal zurecht.


QuoteR. Reinert #42

Ich habe selten ein Interview von einem Menschen gelesen, der so grob pauschalierend, vorurteilsbeladen und aufgeblasen, garniert mit ein bisschen name dropping daher redet wie Biller. Als Superknabe (wer ohne ein Wort deutsch zu könne, gleich eine Klasse auf dem Gymnasium überspringen darf, hat selbstverständlich immer Recht!) hat er mit acht Jahren offenbar schon die ganze böse pseudolinke Mischpoke der 68er durchschaut. Herzlichen Glückwunsch, Biller sollte Weltkaiser werden!

Noch besser wäre es allerdings, wenn er sich mal ernsthaft mit den Zuständen im Deutschland der 50er und 60er Jahre befassen würde, als hier frei schwebend über Themen zu schwadronieren, über die er ganz offensichtlich nicht nachgedacht hat. ...


QuoteU. Hermes #52

Wieso interviewt man Biller zu den 68ern? Welche besondere Expertise oder Erfahrung legitimiert ihn? Hat sich niemand anderes gefunden (was ich nicht glauben kann - es gibt ja wohl sachlich ausgewiesene Kritiker, nehme ich mal an)?
Ich empfinde dieses Beballern mit Biller zu jedem x-beliebigen Thema als unangenehm - Biller im Interview zu seinem Buch, Biller als Berlin-Mitte-Kolumnist, Biller als Modehüpfer, Biller zu den 68ern. Seine Argumente sind schwach und pauschalierend, er argumentiert inkonsistent und interessegeleitet. Sein sprachliches Talent ist mittel; zu sprachlicher Brillanz würde gehören, dass man Aspekte der Wirklichkeit eindrücklich und ungewöhnlich wiedergibt; das gelingt ihm manchmal, aber nur bezogen auf einen extrem engen Wirklichkeitshorizont. Alles, was über sein eigenes Erleben hinausgeht, wird abgewertet, anders kommt er nicht zurecht. Es fällt ihm sehr schwer, sich in andere Perspektiven zu versetzen. Alles, was nicht er selbst ist oder ihm ähnlich, erscheint ihm sofort grau in grau. Das ist für einen Schriftsteller ein echtes Handicap und jeden Publizisten.
Ich würde es auch besser finden, wenn die Zeit nicht derartig seinen Anspruch auf jüdische Deutungshoheit bedienen würde. Man sollte durchaus mal andere Stimmen zu Wort kommen lassen. Bei Billers nationalistischen Tönen finde ich fatal, dass sie so harmlos unkommentiert stehen bleiben. Es ist ja eine Art Rassentheorie, das finde ich stigmatisierend und schwer erträglich.


QuoteAristippos von Kyrene #53

Jemand, der so krampfhaft versucht aufzufallen und sich als enfant terrible zu inszenieren wie Herr Biller, entlockt mir nur ein müdes Gähnen.


QuoteContendo #55

Klasse Artikel. Viele interessante Kommentare. Danke. Es macht richtig Laune, wenn ein provokanter Autor auf ein gescheites Forum trifft. Wenn ich Foristen jeweils zustimmen kann, die konträre Positionen zueinander vertreten, weil einfach beide Ansichten gut begründet und anschaulich dargestellt werden, ist es wirklich unterhaltsam und lehrreich.


QuotepanchoVilladelacasa #57

Boah, in den 80igern chic angezogen im Cafe gesessen als Protest gegen die hegemoniale Linke? Das muss man sich erst einmal zurecht spinnen können. Da er Jahrgang 1961 ist, dürfte meine Schätzung akkurat sein. Die 80iger waren Punk, New Wave und in weiten Teilen, zumindest was das klassische Links-Rechts Schema anging, unpolitisch. Und ein Maxim Biller wird mit seinen Klamotten vor allem erst einmal als "Popper" durchgegangen sein. Ablehnung, sehr gut möglich, aber politisch begründet?
Gleichzeitig kündigte sich ein Rechtsruck an. Maggie Thatcher, lähmende Kohl Jahre und bis in die Neuzeit, nachdem auch noch die "Sozialisten" Schröder und Blair marktliberale Politik machten, die sich nicht einmal ein Kohl getraut hätte, hat es (noch) keine Korrektur dessen gegeben. Soziale Marktwirtschaft eines L. Erhard würde doch heutzutage als Kommunismus verunglimpft.
Pädagogisch durchlebte unsere Generation ( Jahrgang 61 ) in den späten 70igern und frühen 80igern das Auflehnen gegen eben die 68er als Vorgänger Generation. Einige sind da leider hängengeblieben und jammern auf hohem Niveau.
Heidegger statt Adorno, darunter liesse es sich philosophisch subsummieren. Nur muß man sich entscheiden? Vielleicht haben wir deswegen nur noch Pop Philosophen, nur Sloterdijks, haben andere Länder die Führung übernommen.


Quote
Tordenskjold #58

"Man durfte die Mädchen nicht einfach küssen..."

Und wenn es beim Kindergeburtstag geregnet hat, dann waren auch die 68er schuld.
Schon komisch, wenn sich jemand selbst als Individualist und Rebell stilisiert und gleichzeitig mit den 68ern "abrechnet".
Ob wohl das miefig spießige Adenauer-Deutschland für ihn ein besseres Biotop gewesen wäre? Wahrscheinlich. Und genau deshalb ist sein Rebellengehabe und Möchtegernindividualismus ziemlich albern.


...
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 19, 2017, 09:28:07 AM
Quote[...] Kai Hermann - Geboren 1938, arbeitete Hermann von 1963 bis 1968 als Redakteur und Autor der ZEIT. Danach ging er als Korrespondent zum Spiegel, leitete das Magazin twen und wechselte 1972 zum stern. Bekannt wurde er 1978 mit dem Buch Wir Kinder vom Bahnhof Zoo, das er zusammen mit Horst Rieck recherchierte hatte.

Hermann: In Berlin herrschte ein unglaublich reaktionäres Klima. Da brauchte man kein Kommunist zu sein: Man lief schon Gefahr, verprügelt zu werden, wenn man bei Rot über die Straße ging.

ZEIT: Dagegen rebellierten auch Gestalten wie Dieter Kunzelmann und Rainer Langhans von der Kommune 1. Kannten Sie die?

Hermann: Ja, aber damals konnte ich mit ihrer Eitelkeit und ihrem Drang zur Selbstdarstellung nicht viel anfangen. Ich war wohl zu spießig. Tatsächlich war ihr Spaß am Lächerlichmachen falscher Autorität ziemlich wichtig.

ZEIT: Wie konnten die Studenten eigentlich zu einem solchen Hassobjekt werden? "Durchgreifen", "abschieben", "ausmerzen", skandierten die Springer-Blätter. Ein Artikel forderte "Polizeihiebe auf Krawallköpfe, um den möglicherweise doch vorhandenen Grips lockerzumachen".

Hermann: Und man muss sich vor Augen führen, wie die meisten Studenten damals aussahen! 1967, beim Schah-Besuch, kamen 80 Prozent der Männer mit Schlips zur Demo. Aber das postfaschistische Establishment der frühen Bundesrepublik hat sich bedroht gefühlt, dazu kam der Ost-West-Konflikt. Im Februar 1968, das werde ich nicht vergessen, gab es eine Gegendemonstration des "anständigen Berlin" am Schöneberger Rathaus. Da machten die braven Bürger Jagd auf angebliche Rudi Dutschkes, von der Springer-Presse aufgehetzt. Was die damals an Fake-News produziert hat, ist wirklich einmalig.

ZEIT: Sie haben über die Springer-Hetze einen Artikel geschrieben, der einen Prozess gegen die ZEIT ausgelöst hat. Überschrift: Goebbels' Nachfahren.

Hermann: Ich war auch selbst betroffen von einer Falschmeldung. Ich bin als Reporter auf einer Demo ernsthaft verletzt worden, weil ich versucht hatte, einen angeblichen Dutschke, in Wahrheit ein junger Beamter, vor Arbeiterfäusten zu schützen. In der Welt hieß es dann, ich hätte provoziert.

ZEIT: Wie ist die Sache ausgegangen?

Hermann: Springer hat verloren. An der Berichterstattung hat das allerdings nichts geändert.

ZEIT: In der ZEIT ist auch eine Reportage von Ihnen über den 2. Juni 1967 und den Mord an Benno Ohnesorg erschienen. Hat Sie die Polizeibrutalität überrascht?

Hermann: Nicht wirklich, ich hatte schon zuvor darüber berichtet, dass die Berliner Polizeiführung zu einem nicht geringen Teil aus SS-Leuten bestand.  ... Für die Flakhelfer-Generation, die im Nationalsozialismus groß geworden ist, war wohl schon eine Demonstration an sich etwas Unerhörtes. Eine harmlose Anti-Springer-Demo beschrieb ein Kollege Anfang 1968 als Abstieg zum Mob. Die Älteren, die ein bisschen Weimar miterlebt hatten, dachten anders. Ich habe damals Rudi Dutschke mit Gerd Bucerius zusammengebracht. Zum Schluss sagte er: Rudi, ich find dich toll. Aber lass das mit dem Sozialismus sein!

ZEIT: Ein Hauptvorwurf gegen die 68er lautete, sie seien antiamerikanisch gewesen. Waren sie das?

Hermann: Ach was! Wir hörten amerikanische Musik, trugen amerikanische Hosen und lasen amerikanische Literatur. Aber Vietnam ging nun mal jedem, der nicht völlig washingtonhörig war, unter die Haut. Die 68er waren kulturell pro Amerika, aber gegen die damalige US-Politik. Die Flakhelfer-Generation, die sich nach dem Krieg den USA verschrieben hat, war politisch bedingungslos proamerikanisch. Das war der Konflikt.

ZEIT: Wurde in der ZEIT damals viel diskutiert?

Hermann: Nein. Meine Artikel wurden immer stärker zensiert. Nach dem Attentat auf Dutschke und dem Sturm aufs Springer-Haus wurde ich nach Hamburg zitiert. So gehe es mit meiner Berichterstattung nicht weiter. Kai, sagte die Gräfin, Sie haben das Handwerk ja nie richtig gelernt. Sie betreuen jetzt die Leserbriefe. Das war, nachdem ich die Carl von Ossietzky Medaille für meine Artikel über die Studentenbewegung gekriegt hatte. Da hab ich gekündigt.

ZEIT: War Ihnen 1968 eigentlich klar, welche Tragweite die Proteste haben würden?

Hermann: Man hat gemerkt, dass Deutschland danach nicht mehr so sein würde, wie es vorher war.

...


Aus: "Kai Hermann: "Ich galt als liberaler Scheißer" ("68 ist aus und vorbei")" Interview: Christian Staas (13. Juni 2017)
Quelle: http://www.zeit.de/2017/25/68-interview-kai-hermann (http://www.zeit.de/2017/25/68-interview-kai-hermann)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 21, 2017, 09:02:58 AM
Quote[...] Der Sommer der Liebe in San Francisco war der Höhepunkt der Hippiebewegung. 50 Jahre ist es her. Was ist davon in der Stadt an der amerikanischen Westküste noch zu spüren?

Isaiah Wolfe, genannt Orange, verbringt seine Nächte unter einem Busch ausserhalb des Golden Gate Park und seine Tage unweit davon an der Kreuzung von Haight und Ashbury Street, wo er die Liebe geniesst. Die Liebe seiner Freundin, seiner Hunde, seiner Kumpel und aller anderen, die diesen Teil von San Francisco ihr Zuhause nennen. «Wir sind hierhergekommen, um die Liebe zu erleben, die dieser Ort ausstrahlt», sagt Orange, ein Zwanzigjähriger mit Bart, Piercings und buntem Pullover. «Ich habe gehört, dass der Sommer der Liebe das Beste war, was jemals geschehen ist.»

Es geschah im Jahre 1967, aber Orange aus dem Gliedstaat Minnesota, der seit drei Jahren kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten reist und im Freien schläft, kann das Glühen auch 50 Jahre später noch spüren. «Die Leute hier behandeln einen wirklich als Menschen – anders als irgendwo sonst im Land.»

... Wer nach San Francisco reist, kann ruhig Blumen im Haar tragen. Wichtiger sind aber die Kreditkarte und die Bereitschaft zu akzeptieren, dass der Sommer der Liebe Geschichte ist. Der Beat-Dichter Allen Ginsberg, der Punk-Rocker Ken Kesey und The Merry Pranksters, die im angemalten Schulbus für die Bewusstseinserweiterung durch LSD warben, vermittelten damals eine Aufbruchstimmung. Heute ist die Bucht von San Francisco das globale Hauptquartier von Hightech-Konzernen. Gemeinschaft ist hier ein Euphemismus für Kunden, Störung bedeutet Gründung einer eigenen Firma, und freie Liebe heisst Tinder oder Grindr. Der Sound von San Francisco kommt nicht mehr von psychedelischen Rock-Gruppen, sondern von klingenden Kassen.

Die Stadt an der amerikanischen Westküste ist eines der teuersten und ungerechtesten Pflaster der Welt, wo Milliardäre an schlafenden Schatten vorbeifahren. Eine zwangsweise aus ihrer Wohnung geschaffte Hundertjährige ist zum Symbol der Gentrifizierung geworden. Künstler, Schriftsteller und Musiker ziehen in billigere Städte um. Sogar IT-Experten mit sechsstelligen Gehältern klagen über die hohen Mieten. Unternehmen wie Uber und Airbnb haben das Wort «teilen» in die digitale Wirtschaft übergeführt, als Euphemismus für Arbeit ohne Grenzen. An die Stelle von Hippies, die sich von Acid und Almosen ernährten, sind Hipster getreten, die schüsselweise Bio-Beeren essen und Yoga-Studio-Abos haben. «Turn on, tune in, drope out» – das Mantra von Timothy Leary, dem Guru der Hippie-Bewegung, ist längst ersetzt durch «click, swipe, update».

«San Francisco ist nicht mehr dieselbe Stadt. Es hat seine Seele verloren», sagt Jim Siegel, ein 61-Jähriger, der den Sommer der Liebe erlebt und später beim Haight-Ashbury-Switchboard mitgearbeitet hat, einer freiwilligen Gruppe, die freie Konzerte, freie Lebensmittel, freie medizinische Versorgung, freie Unterkünfte, ja selbst freie Läden organisierte, die alles kostenlos abgaben.

«Distractions» heisst das Geschäft, das Siegel seit 41 Jahren an der Haight Street führt. Er verkauft Kultur-Kitsch. Als ein fliegender Händler eine Tüte voller Kleider in seinem Laden auszupacken beginnt, weist er ihm höflich die Tür: «Sorry, aber ich habe in letzter Zeit selbst nicht genug Geld gemacht.»

Es ist natürlich keine Überraschung, dass sich die Stadt in einem halben Jahrhundert verändert hat. Aber der Sommer der Liebe versprühte einen Zauber, der San Francisco, Babyboomer und Nachgeborene rund um den Globus betörte. Ein Strudel von Kunst, Politik, Musik und Revolte erfasste die Stadt, der sich in der Zwischenzeit als einmalig und letztlich unkopierbar erwiesen hat. Kein Wunder, dass San Francisco sich an 1967 klammert.

Die Stadt feiert jenen Sommer im laufenden Jahr mit Dutzenden von Konzerten, Ausstellungen und Happenings im Retro-Stil. Dazu gehört auch ein Liebesbus mit Perlenvorhängen, Flickenteppich und neonblauen Sitzen. Ein Werbeslogan verspricht: «Nicht nur eine Sightseeing-Tour, eine Reise!» Ein anderer verkündet: «Lavendelblaue Brillengläser – ein schwuler Blick auf den Sommer der Liebe.»

Das M. H. de Young Memorial Museum im Golden Gate Park präsentiert die «Summer of Love Experience» mit Kunst, Mode und Rock'n'Roll. Der Ausstellungsmix aus Musik, Plakaten, Outfits, Textilien und Beleuchtung katapultiert die Besucher in die Zeit vor 50 Jahren zurück.

«Diese Geschichte lebt, weil so viele der Protagonisten noch am Leben sind und ihre Ideologie sich nicht verändert hat», erklärt Jill D'Alessandro, einer der Kuratoren. «Ich glaube, dass das Ethos noch hier ist, dass es weiterlebt. San Francisco ist auch heute noch eine aufgeweckte, neugierige Stadt, die die Künste unterstützt.»

IT-Spezialisten seien keine Spiessbürger, sondern unterstützten die Kunst und Kultur, sagt D'Alessandro. Das Problem sei nur, dass sich andere das Leben in der Stadt nicht mehr leisten könnten. «Es geht am Ende ums Geld.»

Emily Duffy, eine 59-jährige Glaskünstlerin und selbsterklärte Hippiefrau, urteilt harscher: «Es ist eine ganz andere Stadt. San Francisco wurde Google-ised. Alle meine Künstlerfreunde sind weggezogen.» Das Glühen jenes Sommers sei erloschen, sagt sie. «Es ist verkohlt und in ein Museum gebracht worden.» Steve Dickison, ein prominenter Lokalpoet, erkennt zumindest noch Spuren, eine davon sei die Buchhandlung City Lights. «Aber es ist schwer, dies bei all dem Blendwerk und der Beschleunigung des Lebens noch wahrzunehmen.» Musikalische Innovation war einmal, stellt er fest. «Und wenn der Stadt die Musik abhandenkommt, fehlt wirklich etwas!»

Diese Aussage ist Häresie für all jene, welche die Liebe in Haight-Ashbury noch fühlen. «Frieden und Liebe waren früher ein Hippie-Ding, jetzt sind sie für alle», sagt Powers, eine glitterbehängte Künstlerin. Sie hat den Rat der Liebe gegründet, eine gemeinnützige Einrichtung, die Geld für Kliniken und Schlafstellen aus dem Jahre 1967 aufzutreiben sucht. Sie verweist auf die progressive Politik der Stadt – die Verteidigung der Rechte von Frauen, Einwanderern und der Homo-, Trans- und Bisexuellen – und ihre Leidenschaft für Yoga. «Der Sommer der Liebe hat Standards gesetzt.»

Die Kunstszene in San Francisco sei nicht todgeweiht, sagt Powers. «Ich bin schliesslich eine Künstlerin, und ich lebe hier.» Wie schafft sie das finanziell? Ihre Antwort darauf ist allerdings eher in Einklang mit Donald Trump als mit Timothy Leary: «Ich habe vier oder fünf Unternehmen.»

Auf der Strasse räumen Orange und seine obdachlosen Freunde ein, dass finanzielle Schwierigkeiten ihren Sommer der Liebe 2017 überschatten.

Sunshine Autrey, ein 18-jähriger Neuankömmling, sticht mit seiner adretten Kleidung aus der Gruppe heraus. «Ich versuche, eine Krawatte zu bekommen», sagt er. «Aber ich habe kein Geld. Und ein T-Shirt kostet hier bereits . . . 25 Dollar.» Ein anderer junger Mann, der anonym bleiben möchte, sagt, er habe als Software-Programmierer gearbeitet, bevor er abgerutscht sei. «Glaubst du etwa, ich schlafe gern auf der Strasse?»

Getümmel, Obdachlosigkeit, Drogenabhängigkeit und Verbrechen, inklusive sexueller Übergriffe, überschatteten den Sommer der Liebe vor 50 Jahren. Im Herbst zogen die meisten Zugereisten weiter. Die Zurückgebliebenen hielten eine Spottbeerdigung ab, die angeblich den «Tod des Hippies» besiegelte.

Doch viele blieben in San Francisco, ihre Hinterlassenschaft passt allerdings nicht zum Flower-Power-Mythos. Sie liessen sich in armen Nachbarschaften nieder und verdrängten unbeabsichtigt afrikanisch-amerikanische Einwohner. Diese machen heute nur 5 Prozent der gut 870 000 Einwohner aus. «Die Hippies lösten eine Gentrifizierungswelle aus. Die Jazz-Klubs verschwanden», sagt Steve Dickison, der Lokalpoet. San Francisco lösche Aspekte seiner Vergangenheit einfach aus. «Das passiert in dieser Stadt wieder und wieder.»


Aus: "Nach den Hippies übernahmen die Yuppies" Rory Carroll Übersetzung: mak. (18.6.2017)
Quelle: https://www.nzz.ch/gesellschaft/hippies-yuppies-ld.1301133 (https://www.nzz.ch/gesellschaft/hippies-yuppies-ld.1301133)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 06, 2017, 03:16:17 PM
Quote[...] [Matthias Matussek (* 9. März 1954 in Münster) ist ein deutscher Journalist, Publizist und Autor] .... Ich warf meinen letzten Trip 1974, als Nico von Velvet Underground, Eno und John Cale beim Metamusik-Festival in der Berliner Nationalgalerie auftraten. Kein schöner Trip, nicht diese sanfte Lichtflut, die sich in Perlenschnüren auflöst. Berlin bot eine nie abreißende Kette von hochsubventionierten Festivals. Man saß auf Kissen auf dem Boden, Nico hatte eine Art Akkordeon mit Blasebalg dabei, und sie sang die deutsche Nationalhymne, hinein in einen anschwellenden Chor aus Buh-Rufen.

Das war damals die größte Provokation, die sich vorstellen ließ: die Nationalhymne. Es gehörte zum guten Ton, ja zur Selbstverständlichkeit unter Intellektuellen, Deutschland zu hassen, und amerikanische Avantgarde-Künstler fanden diesen merkwürdigen Selbsthass interessant und spielten damit.

Das war ein ganz schlechter Start für diesen Trip. Ich lief hinaus in die Nacht und fühlte mich wie ausgespuckt, lief die zwei oder drei Kreuzberger Kneipen an, die in der Nähe lagen, auf der Suche nach Freunden, nach menschlichen Gesichtern, aber ich fand keine, ich flipperte ein wenig, aber die Krokodile auf dem Flipper-Untergrund bewegten sich und schnappten nach der Kugel, ich stand in Flammen, lief wieder nach draußen und lief über den Mond, über eine verkarstete, leere Einöde im Weltall – einsamer habe ich mich nie gefühlt.
Mein persönliches Ende von Flower-Power.
Die Blumen waren zertrampelt.
Die "One-World"-Blütenträume ausgeträumt.

... nach dem Mauerfall 1989 [erlebte ich], den Zusammenbruch der linken Theorie, allgemeiner: den Offenbarungseid eines Systems, das aus Lügen gezimmert war und einbrach wie eine morsche Theaterkulisse. Da war ich wohl, nach politischer Arithmetik, rechts, ein weiterer Mosaikstein zum "Matussek von heute", denn ich fuhr durchs Land und unterhielt mich mit den Opfern. Einquartiert war ich im Ostberliner Palasthotel.

Tatsächlich ein Kuddelmuddel aus Täter- und Opferbiografien, lauter Flickversuche. Das System der bösen alten verbohrten Männer hatte unendliche Verheerungen, unendliches Leid angerichtet. Vor allem: durch die Lüge in der Sprache. Es gab diese zwei Bereiche, in der Öffentlichkeit hielt man sich an die geforderten Sprachregelungen, in der Küche dagegen wurde Wahrheit geredet. Der Psychiater Maaß sprach vom "Gefühlsstau", der entsteht, wenn eine politisch "falsche" Äußerung zur sozialen Ächtung, zu Berufsverbot und eventuell Gefängnis führt.

Kennen wir das nicht heute wieder, in den Beschwörungen vom "Kampf gegen rechts" und dem "Antifaschismus" als Zivilreligion und "One World" (also Die Internationale, die es selbstverständlich nur als Phrase gab) und "Uns werden Menschen geschenkt"?

Der Krebs der Lüge fraß sich durch alles, all diese Phrasen von "Völkerfreundschaft" und "Solidarität" und "Besserer Zukunft" bis hin zur herrlich skurrilen unbeholfenen Autobahnwerbung "Küken aus Segrehna – gesund, vital, leistungsstark" oder "Electroimpex aus Bulgarien – ein verlässlicher Handelspartner". Aber es waren die moralischen Phrasen, die mich empörten, weil sie die schiere Unmoral, die Zuchthäuser, die nackte und brutale Herrschaft über Andersdenkende versäuselten.

... Mein Thema war Herrschaftskritik, mein Plädoyer war das Recht des Einzelnen auf Dissidententum. Figuren auf der Klippe. Das ist für mich, liebe Freunde und Matussek-Verächter, immer das Spannendste gewesen und geblieben.

... Als in Hoyerswerda 1991 Steine gegen Vietnamesen und Mosambikaner geworfen wurden, war ich als erster zur Stelle und fuhr mit verängstigten Vietnamesen in einem Bus mit gesplitterten Scheiben durch die Nacht, und ich schrieb eine Spiegel-Titelgeschichte über das Progrom an denjenigen, die im Rahmen der "Internationalen Völkersolidarität" hier untergebracht waren, ohne je wirklichen Kontakt zu haben mit "denen, die schon länger dort lebten".

Ich schrieb aber auch über die ratlosen, dumpfen Täter in ihren freudlosen Silos, viele junge darunter, die an den Wänden ihrer Kinderzimmer schwarze Popidole wie Michael Jackson hängen hatten und keine Sprache für ihre Widersprüche, also auf ihre Art Opfer.

... Kurz vor seinem Tod schrieb Chesterton eine fulminante Biografie über seinen Freund, und Shaw sagte: "Man muss mit ihm streiten, um ihn zu bewundern, und ich bin fast stolzer darauf, ihn zum Gegner gehabt zu haben als zum Freund." Einer der Gründe zum Streit war ganz sicher Chestertons orthodoxer Katholizismus. "Zu den Vorzügen der katholischen Kirche" (wie sie damals war) zählte Chesterton insbesondere, "dass sie die einzige Sache ist, die einen von der erniedrigenden Sklaverei befreit, ein Kind seiner Zeit zu sein."

Ein Unzeitgemäßer, den besonders unsere Kirche neu lesen sollte.
Ein Widerständler nach meinem Geschmack.

...



Aus: "Wie ich von links nach rechts gelangte" Matthias Matussek (6. Juli 2017)
Quelle: http://www.zeit.de/kultur/2017-07/68er-matthias-matussek-rechtspopulismus-identitaere/komplettansicht (http://www.zeit.de/kultur/2017-07/68er-matthias-matussek-rechtspopulismus-identitaere/komplettansicht)

Quotemikeythinks #12

Herr Matussek, ... trösten sie sich, sie sind nicht der einzige, der aus Pop-Gründen irgendetwas war. Ob nun Punk, links, rechts, Skater, Hippie was auch immer. Sie beschreiben eine Vita, die es millionenfach in unserer Republik gab und immer geben wird. ...


Quoteamalgam-pitol #15

Finde die bisherigen Kommentare teilweise zu hart.

Wir haben doch alle unsere Lebenserfahrung in gewissen Milieus gemacht. Auch ich bin mit 20 in eine linke Kommune eingezogen und mit 30 aus einer zum Faschismus mutierten Organisation ausgezogen. Danach Berufsbildung nachgeholt und Steuerberater mit Diplom geworden. Heute fühle ich mich manchmal nicht viel anders als eine Hure - allerdings muss ich nicht meinen Hintern vermieten sondern nur mein Gehirn.

Quintessenz: das Leben ist vielfältiger als jede Ideologie einfangen kann. Und jeder, der sich erhaben fühlt gegenüber seinen verblendeten Mitmenschen verdient mein Mitgefühl - ich hoffe er kommt ins richtige Abteil seines vorgestellten Paradieses im Jenseits.


QuoteLumpaci #25

Matussek und sein Werdegang sind in der Tat so interessant, dass sie in Tychis obskur-sektiererischem "Magazin" (mit Broder und Genossen) am besten aufgehoben ist.

QuoteFreiheit oder Neoliberalismus #25.2

Oder bei "pi-news", wissen schon, die "Islamkritiker" aus der christlich-fundamentalistischen Ecke. Die lieben ihn auch.



QuoteShinee #32

"Wie ich von links nach rechts gelangte"

Wie jeder! Du bist älter geworden.
Deine Eitelkeit verstärkte allerdings den Effekt.


Quote47Ronin #33

Die extreme Linke und die extreme Rechte haben tatsächlich viel gemeinsam. Insofern ist diese "Wandlung" nichts besonderes. Der frühere RAF-Anwalt Horst Mahler wurde ja auch problemlos zum Neonazi.


QuoteMarybeth #34

Man muss nicht zwangsläufig in den Schoß der Kirche fliehen um ein unabhängig denkender Mensch über die Jahre zu bleiben und die verschiedenen Phänomene
nicht nur im Rückblick, richtig einordnen zu können. Wir leben längst nicht mehr
in der Bundesrepublik der 68er, in der man im Gegensatz zu heute, politisch relativ
frei war und seine Gedanken artikulieren konnte. ...


Quote
Tordenskjold #39

Was für eine eitle Selbstbeweihräucherung. Ich war schon in jungen Jahren ein cooler Hund, ich war immer Avantgarde, ich habe tolle Sachen erlebt und getan und gesagt, ich wurde gelobt, geliebt... Ich, ich, ich... Die klebrige Selbstverliebtheit des Herrn M. Ist gelinde gesagt anstrengend.

... Und Avantgarde war er nie. In seiner Jugend links zu sein war damals nix besonderes (Drogenkonsum auch nicht) und im Alter zu einem Rechtspopulisten zu mutieren ist nicht cool sondern angesichts der Lebenserfahrung einfach nur peinlich blöd. Schon als Mitarbeiter des Spiegel ging er mir als rechter, katholischer Klassenclown auf den Wecker. Unvergessen seine "Stilkolumne"- Videos auf Spiegel Online. Matussek hat sich einen "stilvollen" Hut gekauft und stolziert vor laufender Kamera durch Hamburg... Auch da: Ich, ich, ich...


Quoteheragema #45

Nur mal so, Herr Matsussek war 1968 gerade 14 Jahre jung, hatte prägende Erlebnisse im Jesuiten-Kloster nicht erleben dürfen und schloss sich dann einer K-Gruppe an, auch wieder kleine zersplitterte Gruppen evtl. auch der 68er (KPD, KPD-ML, -AO, etc.). Der ,,öffentliche Raum" nach dem Krieg musste von den Jugendlichen erst erobert werden. Erwachsenen geführte Einrichtungen gab es: Sportvereine, Pfadfinder, CVJM, wenige Jugendhäuser, usw., vom ,,Establishment" eingerichtet und kontrolliert (häufig auch geläuterte Nazis – in den öffentlichen Einrichtungen waren z.T. über 60% ehem. NSDAP Mitglieder s.a. AA). Spätestens mit Elvis Presley oder auch Bill Haley entwickelte sich eine Jugendszene jenseits des Erwachsenen-Tanztees. Und bei mehr Selbstständigkeit und zunehmender Politisierung bildete sich eine starke Gruppe der Jugend heraus, vor allem in den Metropolen, die sich gegen die ,,Machenschaften" der Eltern abgrenzen wollte, ein Teil der APO also. Sie suchte aufklärende Literatur, die von ,,ihren Eltern" verbrannt worden war, gestalteten eigene Kunst und Musik, entwickelten alternative Lebens- und Bildungsformen, forderten nie wieder Krieg, mehr Mitbestimmung in allen Bereichen auch Reformen im gesellschaftlichen Leben (,,Reformen" zu der Zeit noch positiv besetzt) usw. Häufig gegen den Protest und in Auseinandersetzung mit den ,,Alten". Das harmloseste was die ,,Jugend" zu hören bekam war noch Entartet, Langhaarige mit ihrer Hottentotten Musik, Nestbeschmutzer, alle vergasen usw.


Quotewoherwohinwarum #46

Bleibt einzig, dass er aus einer Zeit stammt, in der es noch möglich war, ungepamperte Erfahrungen zu machen und das auch getan hat. Der Mumm, in jede Pfütze zu springen und (bisher immer) wieder rauszukommen, immer wieder - und ab in die nächste. Ein experimentelles Leben. Das nehme ich ihm ab. Die Folgerichtigkeit, die er hineininterpretiert, nicht. ...


QuoteMarc87 #47

Vielen Dank für diesen Artikel, vor allem sprachlich habe ich ihn sehr genossen. Thematisch auf jedenfall ein interessanter Wandel, der hier beschrieben wird, entspricht er doch voll und ganz dem Cliché.

Ich persönlich stimme Herrn Matussek auch zu, dass er sich eigentlich nicht verändert hat: Und genau das werfe ich eben den meisten Menschen vor, die zuerst sehr weit links und schließlich sehr weit rechts landen.

Das Weltbild ist immer das Gleiche: Man steht für eine scheinbar unterdrückte Minderheit ein. Dabei ist man immer im Besitz der absoluten Wahrheit, ...


Quotetaxis #64

Der "jugendlich geblieben Held, ist ein Sohn aus gutem Hause der den Aufstand probt. Belesen und eloquent wirft er sich in die Brust, oder nach Bedarf, zu Boden, ist "Melchior Gabor und Felix Krull", "Jake Barnes" and "Statler & Waldorf".
Vom Strom der Zeit mitgerisse, bis zur Mündung, aber immer in Sichtweite des Ufers, der Kaptiän des Floßes auf großer Fahrt, der den Sturm vor Kap Hoorn so schildern kann, dass mir die Gischt im Gesicht zu gefrieren beginnt, ein guter Erzähler.

Ja, er ist sich selbt treu geblieben, immer noch er selbst, verwechselt Pose mit Einstellung und Trotz mit Widerstand.


QuoteHeinz Wescher #70

Kurzform: "Ich war immer antiautoritär und herrschaftkritisch und deswegen bin ich jetzt deutschnationaler Erzkatholik." ...


Quotequarx #77

... Spannend zu lesen wie Herr Matussek in diversen Rollen schlüpft. Rollen, die man sich anhängt: so wie er seine Holzperlen umhängt, oder wohl jetzt einen dreiteiligen Anzug mit Krawatte. Die Rolle die man im Kopf hat, oder zugewiesen bekommt. Eher spricht hier die Neiging um sich selbst zu vergessen und sich im Umkreis finden zu müssen. Selbstvergessenheit, die man zu Häufe findet, am Besten geht das im Kollektiv: sei es laut mit zu brüllen auf einer Demo, natürlich nach Vorgabe des Vorbeters mit seinem Megaphon, im Fussballstadium, beim Mega-Popkonzert, in der kollektiven Salbung eines Gottesdienstes oder hinter einer Fahne der Identitären (Hippe rechte Jungs die ihre Identität suchen). Schlichtweg eine Dämpfung des Selbstbewustseins, auch wenn der eine oder andere Teilnehmer das Gegenteil behaupten würde. ...


Quotewetware #83

Liest sich wie jemand der immer sehr oberflächlich war und sich vielleicht deshalb für einen tollen Überflieger hält, typisch narzistische Nabelschau. ... Wer fast alles in der "Dialektik der Aufklärung" meint anstreichen zu müssen, ist hilflos bei der Lektüre. ...


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Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 10, 2017, 03:01:36 PM
QuoteDer Mai 1968 (auch Pariser Mai) bildet das zeitliche Zentrum der 68er-Bewegung in Frankreich. Neben Verbesserungen der Studienbedingungen wurden politische Forderungen zur Arbeitslosigkeit, zur Konsumgesellschaft (Kapitalismuskritik), zur Friedensbewegung (vor allem gegen den Vietnamkrieg, zum Prager Frühling, Internationale Solidarität) und zur Demokratisierung der Gesellschaft erhoben.
Die Unruhen, die nach Studentenprotesten im Mai 1968 zunächst durch die Räumung einer Fakultät der Pariser Universität Sorbonne ausgelöst wurden, führten zu einem wochenlangen Generalstreik, der das ganze Land lahmlegte. Langfristig zog diese Revolte kulturelle, politische und ökonomische Reformen in Frankreich nach sich. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Mai_1968 (https://de.wikipedia.org/wiki/Mai_1968)

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QuoteDie Träumer (Originaltitel The Dreamers) ist ein Spielfilm aus dem Jahr 2003. Das Werk des italienischen Regisseurs Bernardo Bertolucci basiert auf mehreren Werken von Gilbert Adair, der auch das Drehbuch schrieb. Vor dem Hintergrund der Unruhen von 1968 in Paris schildert er die erotischen Erfahrungen dreier junger Menschen. ... Ein Grund, diesen Film zu machen, war für Bertolucci das gegenwärtige Unwissen darüber, was die damalige Generation wirklich bewegt hat. Heute wüssten nur noch wenige, dass es Filmbegeisterte gewesen seien, welche die Pariser Mai-Unruhen ausgelöst hätten. Die Beteiligten hofften, die Welt zu verändern, und wussten, dass sie an dieser Veränderung irgendwie beteiligt sein würden. ,,Ich habe keinen historischen Moment erlebt, der einen solchen Glanz hatte, eine solche Magie, einen solchen Enthusiasmus!" Und: ,,Die 1960er Jahre waren für mich die beste Zeit meines Lebens." Er wolle nichts überhöhen, aber das Publikum dazu anregen, wie die Bewegung die Gesellschaft verändert hat. Die Zurückdrängung autoritärer Erziehungsformen, die Stärkung der Demokratie und der Frauen sowie freiere Sexualität seien Errungenschaften, die der Bewegung anzurechnen sind. In den Globalisierungsgegnern sieht er so etwas wie Erben der 1968er-Bewegung.

...  In der Zeit stellte Georg Seeßlen fest, Bertolucci gehe nicht der Frage nach, welchen politischen Sinn der Mai '68 hatte. ,,Es ist nicht der Narziss Bertolucci, der sich noch einmal in die süße Zeit vor der Revolution träumt, es ist der erwachsene Künstler, der nach dem Zusammenhang von Narzissmus, Kino und Revolte fragt. Und nicht bereut, mittendrin in der Groteske der tragischen Kinder gewesen zu sein." Er rechnete Bertolucci hoch an, dass er sich der, je nach Standpunkt, Denunziation oder Zerknirschung verweigere, mit welcher der Mai '68 im Rückblick oft behandelt werde. ,,Es ist, als würde man mit dem Erfolg der Revolte auch die Süße verneinen wollen." Bertolucci hingegen bewege sich lustvoll, leicht und persönlich durch das Thema.


Aus: "Die Träumer" (17. April 2017)
https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tr%C3%A4umer (https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Tr%C3%A4umer)

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Louis Malle (* 30. Oktober 1932 in Thumeries, Frankreich; † 23. November 1995 in Los Angeles) war ein französischer Filmregisseur und Drehbuchautor.
https://de.wikipedia.org/wiki/Louis_Malle (https://de.wikipedia.org/wiki/Louis_Malle)

Quote[...] Eine Komödie im Mai (Milou en mai) ist ein Film von Louis Malle aus dem Jahr 1990, der in Château du Calaoue im Département Gers gedreht wurde.

Handlung: Als die betagte Madame Vieuzac im Mai 1968 in der südfranzösischen Provinz stirbt, reist ihre Familie zur Beerdigung an. Da infolge des Generalstreiks auch die Totengräber streiken, ist die Familie gezwungen, länger als geplant zu verweilen. Aufgewühlt durch spärliche Informationen aus dem Radio und einen später dazustoßenden Neffen, der von den Ereignissen in Paris berichtet, wähnt man sich in der Anarchie und überlegt, wie man unter diesen Rahmenbedingungen die Zukunft gestaltet. Durch eine Rede De Gaulles wird der Generalstreik beendet, die Totengräber erledigen ihre Arbeit und die Familienangehörigen reisen ab.

... Lexikon des internationalen Films: ,,Eine heiter-melancholische Gesellschaftskomödie, die nuancenreich und mit feinem Gespür Stimmungen und Empfindungen einfängt. Zwischen leiser Wehmut und subtiler Heiterkeit trauert Louis Malle sowohl um den Untergang einer großbürgerlichen Lebensart als auch um das vorprogrammierte Scheitern der Utopie der rebellierenden Jugend."
Prisma-online: ,,Louis Malle schuf eine heiter-melancholische Gesellschaftskomödie über das Scheitern einer Revolte, die ein ganzes Land bewegte und für wenige Stunden auch den Alltag einer großbürgerlichen Familie durcheinanderwirbelt. Malle zeigt ein ironisches Bild der französischen Bourgeoisie mit einer Unmenge guter und witziger Ideen (wunderbar: der Versuch der Gesellschaft, freie Liebe zu praktizieren), aber auch etwas Wehmut, da von der rebellischen Zeit Ende der 60er Jahre kaum etwas geblieben ist. Eine überzeugende, meist feinsinnig, mitunter auch derb sarkastische Komödie mit brillanten Darstellern."


Aus: "Eine Komödie im Mai" (30. Mai 2017)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Eine_Kom%C3%B6die_im_Mai (https://de.wikipedia.org/wiki/Eine_Kom%C3%B6die_im_Mai)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 05, 2017, 09:22:01 AM
Quote[...] Die Axel-Springer-Straße gibt es noch – als unbedeutenden Abzweig der vorfahrtberechtigten Rudi-Dutschke-Straße.


Aus: "Korrekturen & Klarstellungen: Dutschke, Springer, Reiser, Koch" (19.8.2017)
Quelle: https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5435198&s=Rudi-Dutschke-Stra%C3%9Fe&SuchRahmen=Print/ (https://www.taz.de/Archiv-Suche/!5435198&s=Rudi-Dutschke-Stra%C3%9Fe&SuchRahmen=Print/)

Quote[...] Die Rudi-Dutschke-Straße ist eine Straße im Berliner Ortsteil Kreuzberg. Sie führt als Fortsetzung der Oranienstraße von der Lindenstraße/Axel-Springer-Straße bis zur Friedrichstraße, wo sie in die Kochstraße übergeht. Die Rudi-Dutschke-Straße entstand nach jahrelangen politischen und gerichtlichen Auseinandersetzungen durch Umbenennung des östlichen Abschnitts der Kochstraße. Die Umbenennung, die durch die überregionale Tageszeitung taz angeregt worden war, wurde am 30. April 2008 mit der Enthüllung eines Straßenschildes an der Rudi-Dutschke- /Ecke Axel-Springer-Straße vor dem Axel-Springer-Hochhaus vollzogen. ... Ein Mehrheitsbeschluss der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg sah zunächst die Umbenennung eines Teils der Kochstraße zum 1. April 2006 vor. Diese schob das Verwaltungsgericht am 29. August 2005 auf Klage von Anwohnern, darunter der Axel Springer AG und der Bundesingenieurkammer, auf. Während die taz seit Februar 2006 Unterschriften für die Umbenennung sammelte, initiierte die CDU des Bezirks eine Unterschriftenliste für ein Bürgerbegehren gegen eine Umbenennung. Durch diese kam ein Bürgerentscheid zustande, in dem eine Mehrheit am 21. Januar 2007 die Aufforderung an das Bezirksamt, die Umbenennung zurückzunehmen, ablehnte.

Am 9. Mai 2007 gab das Berliner Verwaltungsgericht bekannt, dass die Umbenennung rechtens sei und keine Grundrechte der Anlieger verletze, und lehnte damit die Anwohnerklage ab. Die Berufung ließ das Gericht nicht zu. Die Klägergemeinschaft beantragte daraufhin die Zulassung auf Berufung beim Oberverwaltungsgericht.[2] Am 21. April 2008 wies dieses den Antrag zurück: Die Umbenennung könne als Ausdruck der Meinungs- und Informationsfreiheit verstanden werden und sei daher kein Verstoß gegen Willkürverbot und staatliches Neutralitätsgebot. ...


Aus: "Rudi-Dutschke-Straße" (27. August 2017)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Rudi-Dutschke-Stra%C3%9Fe (https://de.wikipedia.org/wiki/Rudi-Dutschke-Stra%C3%9Fe)

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Quote[...] Geht es nach der Linkspartei, wird dem verstorbenen Rockmusiker Rio Reiser demnächst ein Platz in Kreuzberg gewidmet – und zwar der Mariannenplatz. Einen entsprechenden Antrag brachte die Linksfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ein. Fraktionschef Oliver Nöll begründet die Forderung mit der Bedeutung, die der 1996 verstorbene Reiser und seine Band Ton Steine Sterben für den Bezirk hätten, sowie seines kulturellen und politischen Wirkens in der linken Bewegung. Die Gedenkplakette am Tempelhofer Ufer 32, wo die Band in den 70er Jahren gemeinsam wohnte, sei dafür unzureichend.

Die Fraktion fordert die Umbenennung eines Teils des Mariannenplatzes, den Reiser in seinem ,,Rauch-Haus-Song" während der Besetzung des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses besang (,,Der Mariannenplatz war blau, so viele Bullen waren da"). Konkret geht es um den Abschnitt zwischen Mariannen- und Waldemarstraße. Fraktionsübergreifend stimmte die BVV der Überweisung des Antrags an den Kulturausschuss zu. Der soll gemeinsam mit dem Ausschuss für Gleichstellung und Frauen eine mögliche Umbenennung prüfen.

Doch der Rio-Reiser-Plan hat einen Haken: Der Bezirk hat sich 2005 eine Frauenquote von 50 Prozent verordnet. Bis die erreicht ist, sollen Straßen und Plätze nur noch nach Patinnen benannt werden. So gibt es am Mariannenplatz, der schon nach einer Frau benannt ist, eigentlich nichts zu rütteln: Namensgeberin ist die Prinzessin von Preußen, Maria Anna (1785-1846).

Bei Rio Reiser jedoch sei eine Ausnahme möglich, sagte der Chef des Kulturausschusses, Werner Heck. Schließlich habe sich Reiser, der sich offen zu seiner Homosexualität bekannte, stark für Schwulenrechte engagiert, womit er sich ebenfalls für einen Straßennamen qualifiziere. Der Grüne-Verordnete erinnerte zudem an die Ausnahme bei der nach dem linken Aktivisten Silvio Maier benannten gleichnamigen Straße in Friedrichshain. ,,Fragwürdig", sagte Heck, sei hingegen eine ,,Umbenennung von oben". Deshalb soll es noch in diesem Jahr eine Öffentlichkeitsbeteiligung mit Anwohnern und Bekannten Reisers geben, in der die Umbenennung diskutiert werde.

Naturgemäß wenig begeistert ist die CDU. ,,Rio Reiser war bekanntermaßen ein prominenter Befürworter der Hausbesetzerszene. Wir sind der Meinung, dass es genug andere Menschen gibt, die hier ihren Lebensmittelpunkt hatten und sich um den Bezirk verdient gemacht haben", sagte Fraktionsvize Götz Müller. Obwohl seine Fraktion die Umbenennung ablehnt, unterstützt sie die formale Prüfung durch die Experten des Kulturausschusses.

Er störe sich grundsätzlich nicht daran, dass es sich um einen männlichen Namensgeber handle, sondern um die Person Reisers an sich. ,,Das ist Kreuzberger Landrecht, das da wieder gemacht wird", sagte er – und erinnerte an den Streit um die Umbenennung des Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platzes, bei dem der Bezirk an der Frauenquote festhielt. Im August bezeichnete Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne) die Idee eines Rio-Reiser-Platzes als ,,Wahlkampfgag". Man darf gespannt sein, was die Kreuzberger von der späten Würdigung ihres berühmten Botschafters halten.

QuoteNoraZech 04.10.2017, 21:59 Uhr
"Rio-Reiser-Platz" für den Mariannenplatz wäre dufte! "Die CDU ist schwer empört..." steht ja auch schon im Songtext. Allerdings kommt das alles 20 Jahre zu spät. Die heutige "Beer & Burger"-Partyjugend in Kreuzberg kann mit Ton, Steine, Scherben nichts mehr anfangen.



Aus: "Berlin-Kreuzberg: Teil des Mariannenplatzes soll nach Rio Reiser benannt werden" (04.10.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-kreuzberg-teil-des-mariannenplatzes-soll-nach-rio-reiser-benannt-werden/20413612.html (http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-kreuzberg-teil-des-mariannenplatzes-soll-nach-rio-reiser-benannt-werden/20413612.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 18, 2017, 12:29:26 PM
Quote[...] Er war das Phantom des Terrorjahres '77 und ist noch heute schwer aufzufinden. In der ,,taz" von 2001 steht eine vage Ortsangabe: ,,24 Jahre lang lebte er unerkannt in Lüdenscheid, Kanton und Wittenberg." Was für ein Satz!

Damals hatte der ,,Göttinger Mescalero" sein Geheimnis gelüftet. Klaus Hülbrock, Dozent für Deutsch als Fremdsprache, hatte im April 1977 in einer Asta-Zeitung den Artikel ,,Buback – Ein Nachruf" geschrieben, in dem er ,,klammheimliche Freude" über den Mordanschlag auf den Generalbundesanwalt gestand. Hülbrock schuf damit ein Schlagwort für diese paranoide Zeit.

Nach seinem Bekenntnis verschwand er wieder aus der Öffentlichkeit. Verwandte blockten Interviewanfragen ab, hieß es damals, bis sich seine Spur wieder verlor. In diesem Sommer 2017, weitere 16 Jahre später, meldete Hülbrock sich in der politischen Debatte zurück. Diesmal schrieb er eine markige Abrechnung mit den G20-Randalierern: ,,Die Marschkolonne, der Block in der Demonstration ist eine Hirnblockade." Dabei hinterließ er seine Mailadresse.

Hülbrock antwortet prompt. Mittlerweile wohnt er in Weimar. ...  Das Pseudonym habe er sich damals spontan ausgedacht, sagt er. ,,Ich konnte ja nicht meinen richtigen Namen druntersetzen." Doch welches Ausmaß die Aufregung um seine Person annahm, verwundert ihn bis heute. ,,Ich habe einen Toten getreten, ja, tut mir leid! Würde ich auch nie wieder machen", versichert er lachend. ,,Aber das ist doch keine Staatsaffäre wert!"

Hülbrocks Passage um die ,,klammheimliche Freude" vervielfältigte sich, bis sie eine Druckauflage wie sonst nur die Bibel und das Telefonbuch erreichte, so schrieb es der ,,Spiegel" damals. Die Formulierung traf einen Nerv, weil das bürgerliche Deutschland darin die Geisteshaltung vieler Studenten zu erkennen glaubte. Die CDU kaperte sie sich als Kampfbegriff: Der Linken wurde damit eine Gesinnungsgenossenschaft mit den mordenden Terroristen unterstellt, eine weltanschauliche Kluft zwischen rechts und links behauptet, die es auch damals so nicht gab.

Im Laufe des Jahres 1977 wurde die Verfolgung von Terroristen auf deren vermeintliche Sympathisanten ausgeweitet, auf diejenigen, die sich zwar nicht offen, aber womöglich klammheimlich über die Morde freuten. Dass die Staatsfeinde nicht gleich erkennbar waren, ließ sie umso bedrohlicher erscheinen. 69 Männer und Frauen, die den Nachruf nachgedruckt hatten, wurden sogar vor Gericht gestellt. Das ist die seltener erzählte Seite des Deutschen Herbstes und zugleich ein Lehrstück über Worte und ihre Wirkung.

Klaus Hülbrock steht von der Bank auf, nimmt seine Aktentasche und läuft auf die nahe gelegene Bäckerei zu, die er für das Interview ausgesucht hat. ,,Wir hatten nun wirklich keinerlei Sympathie mit den RAF-Leuten", sagt er. ,,Sehen Sie: Eine solche Aktentasche voll mit Büchern und Papieren war schon damals mein Markenzeichen. Können Sie sich Baader mit so einem Täschchen vorstellen? Höchstens mit einer ausgebeulten Lederjacke, weil er da eine Waffe drunter hatte."

Ein Verkaufsraum mit Kuchentheke, drumherum Tische, alle frei. Hülbrock setzt sich auf die hinterste Bank. Er war damals Student der Germanistik und Volkskunde, erzählt er. Für die ,,Bewegung Undogmatischer Frühling", kurz BUF, ein Zusammenschluss von Frauengruppen, Spontis, Pazifisten, saß er im Asta. Die BUF war der kleine Koalitionspartner der ,,Sozialistischen Bündnisliste", bei der Jürgen Trittin eine führende Rolle spielte.

Im Namen der BUF hat Hülbrock auch den Buback-Nachruf geschrieben. An einem Samstagmorgen kurz vor der Deadline, in großer Eile. Zwischendurch musste er wie jedes Wochenende Erbsensuppe für seine Freundin kochen. ,,Das Ding irgendwie fertigzukriegen, war meine wahre Intention beim Schreiben des Textes", sagt er.

Die Formulierung ,,klammheimliche Freude" sei eine Eingebung gewesen, nicht reiflich überlegt. Hülbrock gibt nicht den Profi, mehr den genialen Dilettanten. Kurz entschlossen war auch die Wahl des Decknamens: Mescalero, wie ein übel beleumundeter Indianerstamm. Das passte zum Text, fand er. Zusammen mit einem Freund brachte er das Manuskript auf den letzten Drücker zum Redaktionstisch. Zeit zum Gegenlesen blieb keine [Zeit].

Hülbrock erinnert sich, dass in den ersten Tagen nach dem Erscheinen wenig passierte. Die beiden Worte entfalteten ihre Wirkung nicht von selbst. So ist das meist. Es bedarf oft jemandem, der in karrieristischer Absicht einen Text nach skandalisierungsfähigem Material durchsucht, und es – wenn nötig – aus dem Zusammenhang reißt.

In dem Fall könnte es Friedbert Pflüger gewesen sein, der Chef des CDU-Studentenverbandes und damit Gegenspieler der BUF, glaubt Hülbrock. Pflüger arbeitete später als Redenschreiber für Richard von Weizsäcker, er war ein Mann von großem Ehrgeiz, den er wieder bewies, als er vor zehn Jahren die Berliner CDU übernehmen wollte. Pflügers Studentenverband hatte im April 1977 Strafantrag gestellt und einen offenen Brief geschrieben, der an die Medien ging. Darin wurden nur Textauszüge zitiert.

In den darauffolgenden Wochen wurde der Asta von Journalisten belagert, erzählt Hülbrock. Sogar Gerhard Löwenthal, der Leiter eines ZDF-Magazins, stand vor der Tür. Er selbst habe Löwenthal aus dem ersten Stock einen Eimer Wasser übergeschüttet. Hülbrock lacht. Das ist die Art von Wehrhaftigkeit, die er mag. Widerstand als Schelmenstück. Löwenthals Dusche sei im Fernsehen gelaufen. Niemand ahnte, dass der Mescalero persönlich am Fenster gestanden hatte.

Das Spiel ,,Ich weiß was, was ihr nicht wisst" hat ihm gefallen. Ein gewisser Stolz kam hinzu über die plötzliche Bedeutung. Doch beides wurde überlagert vom ,,Entsetzen" darüber, dass seine prägnante Formulierung zum Kondensat des Textes erklärt wurde. Ja, er habe momentan eine klammheimliche Freude empfunden, räumt Hülbrock ein, aber schnell schon nicht mehr. Er habe das Gefühl aufgegriffen, um die wenigen Göttinger Sympathisanten abzuholen. In seiner Argumentation habe er sich dann klar von Gewalt distanziert. Wörtlich steht da, ,,unser Weg zum Sozialismus" dürfe nicht ,,mit Leichen gepflastert" werden. ,,Ich dachte mir: Können die nicht lesen?"

Die ,,Frankfurter Rundschau" schrieb von ,,krankem Gehirn", die ,,FAZ" von ,,Wasserspender des Terrors". ,,Heute würde der Artikel vielleicht einen Shitstorm auslösen und in drei Tagen vorbei sein", sagt Hülbrock. Damals hätten Politik und Presse eine ,,Hetzmasse" mobilisiert. ,,Wenn ich nicht den starken Decknamen gehabt hätte, wäre ich aus der bürgerlichen Existenz gejagt worden. Ich hätte die Uni verlassen müssen."

Einmal durchsuchte das BKA seine Wohnung. Doch die Frau eines Professors, die bei der Justiz arbeitete, hatte ihn vorgewarnt. So konnte er seine Schreibmaschine und seinen Schäferhund wegschaffen. ,,Sonst hätten die ihn noch erschossen und behauptet, er habe sich selbst umgebracht", sagt er – eine Anspielung auf die damals grassierende Paranoia der Linken.

Etwa hundert Leute hätten gewusst, dass er der alleinige Urheber des Textes war. Aber auf ihr Schweigen war Verlass. Unterdessen wurde ein Kommilitone von der ,,Gewaltfreien Aktion", der als Herausgeber der Asta-Zeitung namentlich bekannt war, wegen Gewaltverherrlichung zu drei Monaten Haft verurteilt. ,,Ausgerechnet dieser Pazifist", sagt Hülbrock lachend.

Auch für Hülbrock, der unerkannt und unbehelligt blieb, bestimmte die Affäre sein weiteres Leben. ,,Als Nachwirkung" sei sein Privatleben ,,aus dem Ruder gelaufen", glaubt er. ,,Vielleicht ist es ja so: Wenn man schon inkriminiert wird, so ein Arsch zu sein, dann glaubt man, auf gewissen Gebieten ein bisschen verwahrlosen zu können." Mehr will er dazu nicht sagen. Nur, dass er ans Scheitern seiner Beziehung mit viel größerem Bedauern zurückdenkt als an die Buback-Geschichte.

Hülbrock ergriff die Flucht nach China. Er nahm einen Lehrauftrag für Deutsch als Fremdsprache in Kanton an. Die ,,Stern"-Reporterin Edith Kohn traf ihn dort Ende der 80er zufällig, als sie über die aufständischen Studenten recherchierte. Beide waren im selben Wohnheim untergebracht. Auch sie verriet ihn nicht.

Hülbrock wäre gern in China geblieben. Doch mit dem beginnendem Wirtschaftsboom reichte sein Gehalt nicht mehr. 1992 zog er nach Lüdenscheid, zur Mutter unters Dach. ,,Die Rückkehr war eine fürchterliche Bauchlandung", sagt er. ,,Irgendwie kam ich nicht mehr klar. Ich ging nicht unter Leute, sondern nur mit dem Hund in den Wald."

1998 bot ihm eine chinesische Bekannte eine Dozentenstelle an der Uni Halle/Wittenberg an. Seine Rettung. Nun wollte Hülbrock sein Geheimnis lüften. Er schrieb Bubacks Sohn Michael einen Brief, gab sich als Nachruf-Autor zu erkennen, beteuerte, dass ihn die auf Siegfried Buback gemünzten Aussagen schmerzten. ,,Die tun mir immer noch weh", sagt er. Buback antwortete, lancierte den Brief aber nicht in den Medien. Ob er ihm nicht glaubte?

Drei Jahre später beschuldigte Buback Jürgen Trittin, Verantwortung für die Mescalero-Schrift zu tragen. Daraufhin schrieb Hülbrock ihm erneut: ,,Der hat nun wirklich nichts damit zu tun. Ich bin das scharfe Schwarz. Der Niemand, auf den Sie trefflicher zielen können." Diesmal ließ er den Brief über seine Mutter ,,Report Mainz" zukommen – zur Weitergabe an Buback. Am selben Nachmittag kam das Bekenntnis in den Nachrichten.

Jetzt schaut Hülbrock auf die Uhr: halb drei. Normalerweise halte er um diese Zeit Mittagsschlaf, sagt er. Seit ein paar Jahren ist er Rentner. ,,Gott sei Dank, ich bin auf dem Schrottplatz, wo ich hinwollte." Die Schrottplatzperspektive habe ihm immer gefallen.

Hülbrock pflegt ein spottlustiges Außenseitertum. In schonungslosen Worten spricht er auch von sich selbst. 1980 urteilte der Bundesgerichtshof, dass der Buback-Nachruf nichts Strafbares enthält. In den sozialen Medien fallen heute brutalere Aussagen. Da schreibt einer, dass er gerne ein Enthauptungsvideo von Renate Künast sehen würde, ein anderer fordert Merkels Hinrichtung. Beides wurde weit weniger empört aufgenommen als Hülbrocks Begriff. Deutschland ist dickhäutiger geworden, aber das ist es nicht nur.

Vielleicht liege die Stärke der Formulierung darin, dass die Wortkombination ,,eine Ambivalenz" in sich trage, mutmaßt Hülbrock. ,,Dass es keine helle Freude ist, sondern eine getrübte. Mit einer Verklemmung drin. Manche würden es Feigheit nennen." Hülbrock kann den Erfolg seiner Schöpfung nicht richtig begreifen, zumal es politisch betrachtet kein Erfolg für ihn war. Die Worte verselbstständigten sich. Hülbrock hat seine Gegner bewaffnet. Das ist die Tragik des lustigen Mescalero.

Er ist nach wie vor Antikapitalist, auch wenn ihm viele Linke fremd sind. ,,Hooligans und Linksradikale werden einander ähnlicher", sagt er. ,,Der Block im Stadion, der Block auf der Straße – welche Unterschiede sind da noch?"

Radikal wäre es eher, neue demokratische Formen zu erproben, beispielsweise ,,die Kunst der Versammlung" einzuüben. Bislang werde dort ja nur versucht, ,,die Leute auf eine Linie zu bringen, möglichst auf die Linie des vorne Sitzenden". Durchsetzen sollen das die Jüngeren.

Hülbrock läuft zum Bus nach Weimar West. Ein radikal unauffälliger Mann. Vielleicht meldet er sich ja in ein paar Jahren wieder zu Wort.



Aus: "Buback-Nachruf von 1977 - Der Klammheimliche: Eine Begegnung mit Klaus Hülbrock" Barbara Nolte (17.10.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/buback-nachruf-von-1977-der-klammheimliche-eine-begegnung-mit-klaus-huelbrock/20452424.html (http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/buback-nachruf-von-1977-der-klammheimliche-eine-begegnung-mit-klaus-huelbrock/20452424.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 18, 2017, 12:54:05 PM
Quote[...] Bis 21.32 Uhr an diesem 10. Oktober 1986 ist der Taxifahrer, der vor der Buchholzstraße 34a in Bonn-Ippendorf angehalten hat, nur ein 24-jähriger Student, der sich Geld für die Uni verdient. Eine Minute später wird er Zeuge eines brutalen Mordes. Sein Fahrgast holt gerade zwei Aktentaschen aus dem Kofferraum, als aus der Dunkelheit eine Person auftaucht, etwa 1,65 Meter groß, vermummt mit einer Wollmütze, eine Pistole in der Hand. Zwei Schüsse knallen durch die Nacht, sie treffen Gerold von Braunmühl in den Oberkörper. Der 51-Jährige schleppt sich hinter einen VW Scirocco. Dann taucht ein zweiter Vermummter auf, nach zwei Schüssen in den Kopf bleibt von Braunmühl tot auf der Straße liegen.

,,Das Kommando Ingrid Schubert" der Roten Armee Fraktion hat einen weiteren Mordanschlag verübt.

Gerold von Braunmühl ist kein Prominenter, ,,nur" Ministerialdirektor im Auswärtigen Amt, aber ein enger Vertrauter von Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Niemand hätte gedacht, dass solch ein Mann zum Opfer der RAF werden könnte. Die Mörder sind bis heute nicht gefunden. Es gibt nicht mal Verdächtige.

Der Fall von Braunmühl ist Teil einer traurigen Liste ungeklärter RAF-Attentate, alle verübt von der dritten Generation der RAF, die zwischen 1984 und 1993 bombt und mordet. Aber erst am 20. April 1998 erklärt die RAF in einem siebenseitigen Schreiben, dass sie sich an diesem Tag auflösen werde. Von Reue ist keine Rede. Stattdessen endet die Erklärung mit einem Zitat von Rosa Luxemburg: ,,Die Revolution sagt: Ich war/ich bin/ich werde sein".

22 Gewalttaten hat sie verübt, nur zwei konnten vollständig aufgeklärt werden. ...

Entweder sind die Fälle gar nicht geklärt und es gibt nicht mal einen Verdächtigen, oder aber es gibt noch viele Unklarheiten.
Ein Auszug aus der Liste: 1985 wird der Vorstandsvorsitzende des Konzerns MTU, Ernst Zimmermann, in Gauting bei München besonders brutal ermordet. Die RAF-Attentäter setzen ihn in seinem Schlafzimmer auf einen Stuhl und töten ihn mit einem Genickschuss.

1985 wird der US-Soldat Edward Pimental in Frankfurt ermordet, ebenfalls mit Kopfschuss. Die RAF benötigt seinen Armee-Ausweis, damit sie auf die Air Base in Frankfurt kommt. Dort zündet sie eine Bombe. Zwei Tote.

1986 jagt die RAF in Straßlach bei München das Siemens-Vorstandsmitglied Karl Heinz Beckurts und seinen Fahrer mit einer Bombe in die Luft, die am Straßenrand deponiert war. Beckurts und Goppler sind sofort tot.

1989 wird Alfred Herrhausen, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, mit einer Bombe getötet, die durch eine Lichtschranke ausgelöst wird.

1991 ermordet ein Scharfschütze aus 63 Metern Entfernung Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder in dessen Haus.

Birgit Hogefeld wurde unter anderem wegen ihrer Beteiligung am Pimental-Mord und am Air-Base-Anschlag zu lebenslanger Haft verurteilt. Wegen dieser Delikte erhielt auch das RAF-Mitglied Eva Haule eine lebenslange Gefängnisstrafe. Aber wer sonst noch an diesen Taten beteiligt war – niemand weiß es. Es gibt kaum Verhaftungen von Mitgliedern der dritten Generation. Die Polizei konnte Haule 1986 nur dank eines Tipps festnehmen, in einem Rüsselsheimer Eiscafé. Ein Mann, bei der Polizei genervt als ,,Oberverdachtsschöpfer" bekannt, hatte die Polizisten auf die Spur gebracht. Hogefeld und Grams wurden durch einen V-Mann des Verfassungsschutzes verraten.

Im November 2013 findet im Bundeskriminalamt eine Besprechung statt, mit Bundesanwälten und Kripoleuten. Thema: Bilanz der Fahndung nach RAF-Mitgliedern. Sie fällt überaus ernüchternd aus. Bundesanwalt Rainer Griesbaum, der führende Mann bei der Fahndung nach den Tätern, sagt: ,,Wir haben alle Ermittlungsansätze abgearbeitet, es gibt keine neuen Erkenntnisse."

Es gab schon vorher keine neuen Spuren, weil diese Generation keine hinterlassen hatte. Mitglieder der ersten und zweiten Generation hinterließen Fingerabdrücke, fuhren mit gestohlenen Autos, lieferten genügend Hinweise, so dass einige per Rasterfahndung aufgespürt werden konnten. Die letzten RAF-Mitglieder bewegten sich (und bewegen sich immer noch) ,,völlig unauffällig", sagt Griesbaum. ...

Nach dem Mord an Gerold von Braunmühl schreiben seine Brüder einen offenen Brief an die RAF. Die ,,taz" druckt ihn auf Seite eins. ,,Wer macht Euch zu Auserwählten Eurer elitären Wahrheit? Gibt es etwas außerhalb Eurer grandiosen Ideen, was Euch erlaubt, einem Menschen Eure Kugeln in den Leib zu schießen?"

Die RAF hat nie geantwortet.

QuoteMaria_M 12:00 Uhr
... Ich frage [mich], warum Bachner hier alle diese Morde so sicher der RAF zuschreibt. ...



Aus: "Aufarbeitung der RAF-Morde: Die Ohnmacht nach der Bombe" Frank Bachner (18.10.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/kultur/aufarbeitung-der-raf-morde-die-ohnmacht-nach-der-bombe/20468178.html (http://www.tagesspiegel.de/kultur/aufarbeitung-der-raf-morde-die-ohnmacht-nach-der-bombe/20468178.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 18, 2017, 01:15:47 PM
Quote[...] Der damalige Arbeitgeberpräsident Schleyer war nach sechswöchiger Geiselhaft im Oktober 1977 von der linksterroristischen Roten Armee Fraktion (RAF) erschossen worden. Zuvor war der Versuch gescheitert, mit der Entführung führende RAF-Mitglieder aus der Haft freizupressen. Andreas Baader und andere begingen daraufhin Selbstmord. "Viel zu lange hielt sich die Märtyrerlegende vom Justizmord an den Häftlingen", sagte Steinmeier. "Wahn und Lüge umgaben die RAF-Geschichte über Jahrzehnte."

... Zu der Veranstaltung im Schloss Bellevue waren auch Angehörige der Opfer und Terrorismusexperten wie der Autor Stefan Aust eingeladen.

Quote
Am 18. Oktober 2017 um 13:13 von Moderation
Schließung der Kommentarfunktion

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Wir bitten um Ihr Verständnis.

Mit freundlichen Grüßen
Die Moderation



Aus: " Steinmeier-Rede "Tun wir genug? Nein"" (18.10.2017)
Quelle: https://www.tagesschau.de/inland/steinmeier-rede-terrorismus-101.html (https://www.tagesschau.de/inland/steinmeier-rede-terrorismus-101.html)

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Quote[...]  Dieter, Mittwoch, 04.Oktober 2017, 10:57 Uhr
4. Die RAF -Zeit

Die geschmähte Bonner Republik brachte den Deutschen nicht bloß den größten Wirtschaftswunder-Wohlstandsschub ihrer Geschichte. Zum ersten Mal formierte sich eine sozial verfasste Gesellschaft, ein Wohlfahrtsstaat, der seinesgleichen suchte. Man integrierte Millionen Vertriebener und Flüchtlinge und achtete auf sanften Ausgleich nach innen wie nach außen. Dieses Adenauer-Deutschland versöhnte sich mit allen Nachbarn und legte den Grundstein für ein neues Europa - die beste Idee, die man auf diesem geschundenen Kontinent seit Generationen hatte. ...

    Antwort von Leonia, Mittwoch, 04.Oktober, 12:15 Uhr

    Nicht das "Spießige" und "Miefige" der 50er und 60er war für den wirtschaftlichen Erfolg grundlegend, sondern die enorme Nachfrage nach Gütern aufgrund der weitreichenden Zerstörungen durch den selbst angezettelten Krieg. Zudem darf nicht vergessen werden, dass der Westen Deutschlands seine noch vorhandenen Industrieanlagen und verbliebene Infrastruktur wie Gleise weiterhin nutzen konnte und nicht wie der Osten, der sie als Reparationen an Russland verlor.
    Hätte nicht die Jugend damals von diesem Mief die Schnauze voll gehabt, hätte der die positive Entwicklung binnen kurzem erstickt. Es mangelte damals schon an Arbeitskräften, aber die Frauen mussten sich damals vom Ehemann bescheinigen lassen, dass sie Arbeit suchen durften und fehlten größtenteils dem Arbeitsmarkt. Während der ersten großen Koalition entstand die außerparlamentarische Opposition (APO). Nach der großen Koalition entwickelte sich die Friedensbewegung daraus und leider auch eine kleine extremistische Gruppe, die RAF.




Aus Kommentaren zu: https://www.br.de/nachrichten/raf-terror-deutscher-herbst-story-100.html (https://www.br.de/nachrichten/raf-terror-deutscher-herbst-story-100.html)

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Quote[...]Der "Tatort: Der rote Schatten" hat die Geschehnisse rund um den sogenannten Deutschen Herbst und Todesnacht von Stammheim wieder aufgerollt. Hannes Jaenicke spielt im Krimi einen V-Mann für den Verfassungsschutz, der in den 1970er-Jahren gegen die RAF eingesetzt war. Tatsächlich war der in Frankfurt am Main geborene Schauspieler im Herbst 1977 zarte 17 Jahre jung. An die Zeit kann er sich trotzdem gut erinnern.

"Ich [war] längst politisiert, weil ich a) auf eine erzkonservative, komplett spaßbefreite Schule in Bayern ging und b) RAF, Alt-Nazis, Antisemitismus, Vietnamkrieg, Franz Josef Strauß et cetera Dauergesprächsthemen in meiner Familie waren", erinnert sich Jaenicke. Er habe das Glück gehabt, von Eltern großgezogen worden zu sein, "die durch und durch anständige Sozialdemokraten und engagierte Willy-Brandt-Unterstützer waren".

Für seine "Tatort"-Figur zieht Jaenicke eine nüchterne Bilanz. "Das Böse setzt sich nun mal leichter und schneller durch als das Gute", erklärt der 57-Jährige. "Es ist faszinierend, sich mit einem Charakter auseinanderzusetzen, der als Idealist anfing und als desillusioniertes, zynisches Wrack endet. Die Entwicklung dahin kann ich verstehen, den mangelnden Kampf dagegen nicht."

Über die "Todesnacht von Stammheim", auf die Regisseur Dominik Graf in seinem "Tatort" Bezug nimmt, möchte Jaenicke nicht spekulieren. "Ich bin kein Anhänger von Verschwörungstheorien", sagt er. Doch er räumt ein, immer starke Zweifel am Wahrheitsgehalt dessen gehabt zu haben, "was Politik und Medien uns seit 1977 über die RAF, deren Selbstmorde und Attentate kommuniziert haben".


Aus: "Jaenicke über RAF-"Tatort": "Das Böse setzt sich leichter durch"" (16. Oktober 2017)
Quelle: http://www.n-tv.de/leute/Das-Boese-setzt-sich-leichter-durch-article20084939.html (http://www.n-tv.de/leute/Das-Boese-setzt-sich-leichter-durch-article20084939.html)

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Quote[...] "Der rote Schatten" nahm sich die Bilder, die allbekannt die 1970er-Jahre illustrieren, die Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF, um sie schneller zu schneiden, elliptischer das Material zu durchforsten, damit der Authentizitäts-Retro-Grusel, der noch von jedem wieder abgedruckten RAF-Fahndungsplakat ausgeht, nicht wohlig den Rücken runterrauscht. Sondern damit die Frage gestellt werden kann, was uns an diesen Bildern interessiert, heute noch, was sie eigentlich erzählen.

Über die sogenannte "Nacht von Stammheim" etwa, als Baader, Ensslin, Raspe starben nach der Befreiung der Lufthansamaschine "Landshut": War es Mord, war es Selbstmord? Oder kann so etwas nur geschehen, wenn sich die verfeindeten Blöcke – der Staat und seine Feinde – besser kennen, als es nach außen scheinen mag? Und der Selbstmord etwas ist, von dem der Staat zumindest wusste? Dies legt "Der rote Schatten" jedenfalls auf spekulativ interessante Weise nahe. ...

Nach der Ausstrahlung formulierte Stefan Aust harsche Kritik an Dominik Grafs "Tatort": Der Film betreibe "Propaganda für die RAF". Wir haben bei Brigitte Dithard nachgefragt, die beim SWR als Filmredakteurin seit vielen Jahren für den "Tatort" verantwortlich ist. Die Kritik treffe sie nicht, sagte sie im Deutschlandfunk Kultur. Dies liege schon am Begriff "Propaganda". "Wer Propaganda betreibt, beansprucht die eindeutige Deutungshoheit über ein bestimmtes Faktum und lässt andere Deutungen nicht zu." Doch der Film "diskutiert mehrere Thesen. ... Der Film entscheidet sich nicht für eine ganz konkret." Dadurch lasse der Film viel offen. "Das ist das Gegenteil von Propaganda", so Dithard.


Aus: ""Tatort" von Dominik GrafKein RAF-Retro-Grusel" Matthias Dell (16.10.2017)
Quelle: http://www.deutschlandfunkkultur.de/tatort-von-dominik-graf-kein-raf-retro-grusel.2150.de.html?dram:article_id=398309 (http://www.deutschlandfunkkultur.de/tatort-von-dominik-graf-kein-raf-retro-grusel.2150.de.html?dram:article_id=398309)

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Quote[...] Stuttgart - Der Journalist und RAF-Experte Stefan Aust hat die Darstellung der Todesnacht von Stammheim im Stuttgart-«Tatort» als RAF-Propaganda kritisiert. Im «Tatort» am Sonntagabend war die Frage offen geblieben, ob die Terroristen der «Roten Armee Fraktion (RAF) sich 1977 im Gefängnis das Leben nahmen - oder doch ermordet wurden. «Es gibt keine ernstzunehmenden Zweifel daran, dass es Selbstmord war», sagte Aust der «Bild»-Zeitung. Im «Tatort» «Der rote Schatten» wurde der Mord an den Gefangenen der RAF in zwei Versionen inszeniert, auch als Mord durch eine geheime Truppe. «Das wird bei den Zuschauern hängen bleiben», kritisierte Aust, Autor des Buches «Der Baader-Meinhof-Komplex». «Ich halte das für sehr problematisch. Das ist RAF-Propaganda.»

QuoteOliver M. vor 2 Tagen
Und da wundert man sich, warum in Deutschland ansonsten langweiliges Kino und Fernsehen die Normalität ist. Weil Leute wie Stefan Aust die Mehrheit bilden. Schaut man nach Hollywood, wird dort oft mit fiktionalen Elementen ein historischer Stoff verwoben. Ginge es jedoch nach Aust, wären Filme wie JFK - Tatort Dallas, Forest Gump, Malcom X kaum möglich. Für mich ist das typisch deutsches /...gekürzt, bitte bleiben Sie sachlich, die Mod./


QuoteFreddy K., vor 3 Tagen
Wenn in einem Film das Ende offen bleibt, ist das problematisch? Weil das "hängenbleibt"?
Also darf der Zuschauer nur DIE EINE Version sehen, die staatlich freigegeben und als unbedenklich eingestuft wird?
Selber denken verboten, oder wie?




Aus: "Darstellung im RAF-"Tatort" ist "gefährlicher Unsinn"" (16.10.2017)
Quelle: https://www.welt.de/regionales/baden-wuerttemberg/article169667682/Darstellung-im-RAF-Tatort-ist-gefaehrlicher-Unsinn.html (https://www.welt.de/regionales/baden-wuerttemberg/article169667682/Darstellung-im-RAF-Tatort-ist-gefaehrlicher-Unsinn.html)

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Quote[...] 40 Jahre nach dem Terror der Roten Armee Fraktion (RAF) will der Stuttgarter «Tatort» eine Auseinandersetzung mit dem «Deutschen Herbst» anstoßen. In «Der rote Schatten» setzt der SWR auch dokumentarische Aufnahmen aus dem Jahr 1977 ein. Für Regisseur Dominik Graf wurde das Thema nicht genug aufgearbeitet, wie er im Interview der Deutschen Presse-Agentur sagt.

Frage: Der neue Stuttgart-«Tatort» befasst sich mit der RAF-Zeit. Was hat sie daran gereizt?

Antwort Dominik Graf: Ein Polizeithriller handelt immer von Ermittlungen und Nachforschungen. Kommissaren beim Nachforschen im Bereich der RAF zuzusehen finde ich extrem interessant.

Frage: Wie intensiv muss das Thema noch aufgearbeitet werden? Hat man das bisher nicht hinreichend genug getan?

Antwort Dominik Graf: Das Thema wurde überwiegend einseitig aufgearbeitet. Viel zu viel Schlamperei und Vertuschung der staatlichen Behörden wurde und wird bei uns nach wie vor unter den Teppich gekehrt. Man muss zum Thema RAF eine völlig neue Qualität in die Perspektive der Geschichtsschreibung und in die Analyse der Ereignisse einführen. Man muss verstehen, dass sich im Nachkriegs-Westdeutschland zwei Generationen als Todfeinde gegenüberstanden. Die alten Nazis, überall noch präsent, und die nächste Generation, die eine Utopie hatte.

Frage: Wie haben Sie selbst diese Zeit erlebt?

Antwort Dominik Graf: Ich habe ständig Faschismus im Alltag erlebt. Manche Lehrer, viele Beamte, fast das ganze damalige Staatspersonal bis hin zum Zugschaffner und Hausmeister, alles autoritäre Kettenhunde. Auf der Straße, in der Schule. Ich habe damals den Aufstand der Jungen gegen das Establishment der Bundesrepublik Deutschland (BRD) völlig verstanden. Gewalt aber hätte ich selbst nie anwenden können.

Frage: Der RAF-Terror ist 40 Jahre her. Ist das Thema angesichts der jüngsten Anschläge dennoch aktueller denn je?

Antwort Dominik Graf: Das Thema RAF wird niemals un-aktuell, weil es eben letztlich ungeklärt ist. Es geht um die konkrete Schuld der staatlichen Organe einerseits, und es geht darum, eine neue Mentalitätsgeschichte dieser Revolte zu erforschen, die dann mal bitte nicht von den Regierenden und ihren Vasallen geschrieben wird.

Frage: V-Männer wie im aktuellen «Tatort» sind ein umstrittenes Thema. Sollte der Staat gemeinsame Sache mit Straftätern machen? Oder sind V-Leute letztlich unverzichtbar?

Antwort Dominik Graf: Ermittlungstechnisch gesehen sind V-Leute im kriminellen Milieu weltweit unverzichtbar, glaube ich. Radikal ändern müssen sich aber die Behörden, die offenbar jede Art von Größenwahn und krimineller Energie ihrer Mitarbeiter und auch ihrer V-Mann-Führer dulden oder sogar unterstützen. Beamte im Höhenrausch müssen verschwinden.



Aus: "Interview: «Tatort»-Regisseur Dominik Graf über die RAF-Zeit" (13. Oktober 2017)
Quelle: http://www.stern.de/kultur/tv/interview--tatort--regisseur-dominik-graf-ueber-die-raf-zeit-7659908.html (http://www.stern.de/kultur/tv/interview--tatort--regisseur-dominik-graf-ueber-die-raf-zeit-7659908.html)

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Quote[...]  Der Tatort-Krimi Der rote Schatten, der am letzten Sonntag ausgestrahlt wurde, hat ein Verdienst. Er lenkt noch einmal die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass zahlreiche Widersprüche zur offiziellen Version der Todesumstände der RAF-Gefangenen am 18.Oktober 1977 in dem Isolationstrakt von Stammheim unaufgeklärt sind.

Denn in der Tatort-Fiktion war offen geblieben, ob sich die Gefangenen das Leben nahmen, vielleicht unter Aufsicht des Staates, oder ob sie ermordet wurden. Deshalb haben sich sofort die Bild-Zeitung und Stefan Aust zu Wort gemeldet und behauptet, in dem Tatort werde RAF-Propaganda verbreitet.

Die Bild-Zeitung bleibt da ihrer Linie treu. Sie hatte ja bereits vor über 40 Jahren Heinrich Böll und andere linksliberale Intellektuelle zu RAF-Sympathisanten erklärt. Und der öffentlich-rechtliche RAF-Erklärer Stefan Aust fürchtet um seine Deutungshoheit für die Geschichte der RAF und der Ereignisse in Stammheim, wenn plötzlich auch über die Widersprüche zu der Version der Stammheimer Todesnacht diskutiert würden, die Aust ja immer vertreten hat.

Der Publizist Willi Winkler hingegen weist Austs Vorwürfe in einem Interview im Deutschlandfunk zurück. Zu Aust erklärt Winkler nur knapp:

    Naja, soll ich mich jetzt wirklich zu Herrn Aust äußern? Der hat seine Karriere auf dem Mythos RAF aufgebaut. Und er hat die Vorlage geliefert für den Baller-Film "Der Baader Meinhof Komplex". Also: Wer ist er, um das zu sagen?
    Willi Winkler

Obwohl er selbst an die Selbstmordversion glaubt, ist sich Winkler der vielen unaufgeklärten Widersprüche der Geschehnisse am 18.10.1977 in Stammheim bewusst. Er fordert von den staatlichen Stellen Transparenz und sieht in der Diskussion nach der Tatort-Fiktion etwas Positives:

    Wenn das jetzt Anlass dazu gibt, dass man die vorhandenen Akten offenlegt - nach 40 Jahren wäre das ja möglich, es wurde ja ausführlich die Geschichte eines V-Mannes behandelt, und es gab mehrere - das wäre doch kein schlechter Effekt, wenn die jetzt veröffentlicht werden müssten. Dann hätte es auch was Gutes.
    Willi Winkler

Tatsächlich könnte die Diskussion nach dem Tatort auch jüngeren Leuten deutlich machen, wie viel an den Geschehnissen vor 40 Jahren noch ungeklärt ist. Ein Nachgeborener, der seit Jahren dazu forscht, ist der IT-Spezialist Helge Lehmann, der 2011 seine Rechercheergebnisse in einem Buch unter dem Titel "Die Todesnacht von Stammheim" herausgegeben hat (vgl. dazu Helge Lehmann über blinde Flecken und Widersprüche. Zum vierzigsten Jubiläum der Ereignisse hat kaum jemand darauf Bezug genommen.

Telepolis sprach mit dem Autor, der sich wundert, warum niemand auch nur versucht hat, die von ihm benannten Widersprüche aufzuklären.
Am 18.10.2017 jährt sich die Todesnacht von Stammheim, an dem die RAF-Gefangenen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe in ihren Zellen umgekommen sind, zum 40ten Mal. Kaum noch jemand bezweifelt die offizielle Selbstmordversion. Warum sind Sie da eine Ausnahme?

Helge Lehmann: Meine Zweifel rühren von meinen Recherchen zu der Todesnacht in Stammheim. Zahlreiche Punkte sind ungeklärt oder wurden nicht in die Untersuchung des Todesermittlungsverfahrens aufgenommen. Die Indizienpunkte aus meinem Buch, die mir bisher niemand widerlegt hat, machen es nicht schwer, den Selbstmord anzuzweifeln.

Telepolis: Sie beschreiben sich als anfangs unpolitischen Menschen und dann über 4 Jahre für Ihr im 2011 erschienenes Buch "Die Todesnacht von Stammheim" recherchiert. Wieso nahmen Sie sich die Zeit und wie finanzierten Sie sich und ihre Recherche?

Helge Lehmann: Wenn ich erkenne, dass es bei irgendeiner Sache mehr zu erfahren gibt, bzw. sich irgendwelche Thesen als unschlüssig zeigen, möchte ich es genau wissen. Das hat dann mal mehr, mal weniger zeitintensiver Recherche zur Folge. Die "Todesnacht in Stammheim" war extrem zeitintensiv, gefühlt unendlich viele Stränge gab es zu untersuchen. Da ich einen Job habe und hatte, konnte ich nur nach Feierabend, am Wochenende und an freien Urlaubstagen daran arbeiten.


Telepolis: Wie gingen Sie bei Ihrer Recherche vor?

Helge Lehmann: Da es keine Schemata gibt, begann ich logischerweise am Kernpunkt. Der Todesnacht selbst, sowie dem Auffinden der Toten und der verletzten Irmgard Möller. Schritt für Schritt sammelte ich Daten, holte mir in den verschiedenen Archiven verfügbare Akten und glich diese mit dem bereits vorhandenen Buchmaterial und dem Internet ab. So gelangte ich Schritt für Schritt voran und baute um die Todesnacht die Geschichte immer weiter aus. Dazu habe ich praktische Untersuchungen unternommen, wie beispielsweise die Lautstärke der Schüsse, um die Widersprüche aufzuzeigen.

Telepolis: Unmittelbar nach der Todesnacht von Stammheim bezweifelte ein großer Teil der Linken die Selbstmordthese. Ein Internationaler Untersuchungsausschuss versuchte Aufklärung. Haben Sie sich auf dessen Arbeit stützen können?

Helge Lehmann: Solche Untersuchungen habe ich im Nachgang mit meinen Recherchen abgeglichen. Hätte ich diese als Grundlage genommen, wäre ich in meiner Ausarbeitung beeinflusst worden. Das hätte ich als keine gute Herangehensweise gesehen.

Telepolis: Sie haben sich ausgiebig mit dem behaupteten Waffenschmuggel in das Gefängnis und dem angeblichen geheimen Kommunikationssystem der Stammheimer Häftlinge auseinandergesetzt. Zu welchem Resultat kommen Sie da?

Helge Lehmann: Nach meinen Untersuchungen, jeweils mit einem Versuchsaufbau, komme ich zu dem Ergebnis, dass der Waffenschmuggel nur möglich gewesen sein kann, wenn die untersuchenden Beamten grob fahrlässig und dilettantisch gearbeitet hätten. Da sich die Beamten bei einem Waffenschmuggel selbst in Gefahr gebracht hätten und da es vor jeder Durchsuchung intensive Vorbereitungen gab, erscheint mir die Wahrscheinlichkeit des Schmuggels mehrerer Waffen und Patronen sowie eine Kochplatte und anderer Gegenstände gleich null.

Telepolis: Wo sehen Sie einen weiteren zentralen Widerspruch in der offiziellen Version der Stammheimer Todesnacht? ... Sie schreiben, dass ihre Untersuchungen die Form "eines Indizienprozesses" gegen die offizielle Version angenommen hat. Wollen Sie damit zum Ausdruck bringen, dass sie keine Beweise haben?

Helge Lehmann: In der Rechtsprechung ist ein Beweis mehr als ein Indiz, die Summe der Indizien kann als Beweis gelten. Natürlich habe ich keinen Beweis. Ich war nicht dabei, keiner der beteiligten Beamten hat sich dahingehend geäußert. Jedes Gericht würde aufgrund dieser Indizienlage das Ergebnis Selbstmord nicht als das tatsächliche zweifelsfreie Ergebnis sehen.

Telepolis: Waren Sie über die öffentlichen Reaktionen auf Ihr Buch enttäuscht? Schließlich wird es im Jubiläums-Jahr kaum erwähnt und selbst in linken Zeitungen wird die Selbstmordthese kaum in Frage gestellt.

Helge Lehmann: Nein war ich nicht. Genauer gesagt habe ich damit gerechnet. Die Sieger schreiben die Geschichte.

Telepolis: Aber auch der ehemalige RAF-Gefangene Karl-Heinz Dellwo, der heute als linker Verleger und Aktivist tätig ist, erklärte später, die RAF-Gefangenen hätten über einen Selbstmord als selbstbestimmten Akt, um sich der staatlichen Verfolgung zu entziehen, gesprochen. Würde die offizielle Version zumindest im Grunde gestützt?

Helge Lehmann: Seine Darstellung widerlegt die von mir offengelegten Indizien und Widersprüche nicht.

Telepolis: Könnten die von Ihnen untersuchten Widersprüche nicht auch darauf hinweisen, dass ein Selbstmord unter staatlicher Aufsicht damit verschleiert wurde? Ein Beispiel, die schon immer stark bezweifelte Art des angeblichen Waffenschmuggels könnte verschleiern, dass die Waffen mit Wissen staatlicher Stellen ins Gefängnis gelangt sind?

Helge Lehmann: Ich beteilige mich nicht an Spekulationen. Ich kann nur auf die in meinem Buch vorgelegten Indizienpunkte hinweisen. Warum löste keiner die benannten Widersprüche auf oder versucht, diese zu erklären?

Telepolis: Gehen Sie davon aus, dass es noch eine Aufklärung der Todesumstände in Stammheim geben wird? Welche politischen Folgen hätte das?

Helge Lehmann: Das ist nicht absehbar. Das bisherige Interesse an der Aufklärung hält sich ja in Grenzen. Diskussionen sind wichtig, um das ganze Thema zu verstehen. Es wäre allerdings nötig, dass sich mehr Menschen für das Thema interessieren beginnen. Vielleicht kann der Tatort, den ich sehr gelungen fand, dazu beitragen.


Aus: "Stammheimer Todesnacht: Es bleiben zahlreiche Widersprüche" Peter Nowak (17. Oktober 2017)
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche-3864072.html (https://www.heise.de/tp/features/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche-3864072.html)

"Hier sind ein paar Indizien, die gegen Selbstmord sprechen" (Friedensblick, 17.10.2017 19:53)
https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Hier-sind-ein-paar-Indizien-die-gegen-Selbstmord-sprechen/posting-31218088/show/ (https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Hier-sind-ein-paar-Indizien-die-gegen-Selbstmord-sprechen/posting-31218088/show/)

https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Re-Hier-sind-ein-paar-Indizien-die-gegen-Selbstmord-sprechen/posting-31218528/show/ (https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Re-Hier-sind-ein-paar-Indizien-die-gegen-Selbstmord-sprechen/posting-31218528/show/)

QuoteSvenV, 18.10.2017 01:43


Interview einer Zeitzeugin:
https://www.youtube.com/watch?v=mGYINRC_RUI (https://www.youtube.com/watch?v=mGYINRC_RUI)

Man sollte meinen, dass diese Überlebende wissen muss, was wirklich geschehen ist?
Ein ausführlicheres Interview ist hier zu finden:
https://web.archive.org/web/20070529192730/https://www.rote-hilfe.de/publikationen/die_rote_hilfe_zeitung/1997/4/interview_mit_irmgard_moeller

Mag sich jeder selbst sein Urteil bilden. Ich halte diese Zeitzeugin für glaubwürdig.
Hätte sie sich der staatlich diktierten Darstellung angeschlossen, hätte sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht fast 23 Jahre Haft in weitgehender Isolation kassiert.
Bei ihrer Haftentlassung war sie die am längsten inhaftierte Frau im deutschen Strafvollzug. Zu ihrem Glück gab es damals noch keine "Sicherheitsverwahrung".


https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Interview-einer-Zeitzeugin/posting-31219092/show/ (https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Interview-einer-Zeitzeugin/posting-31219092/show/)

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Quote[...]      Artur_B

mehr als 1000 Beiträge seit 09.09.2004
17.10.2017 22:22

Und was wäre das Motiv?

Fangen wir hinten an: die Morde an Herrhausen und Rohwedder wurden mit einem Fachwisssen und einer Kompetenz ausgeführt, wie man sie eigentlich nur bei Militärs findet. Herrhausen wollte die Entwicklungsländer entschulden und die den Umbau der DDR-Wirtschaft ganz qanders gestalten als er dann tatsächlich kam. Humaner würde ich sagen. Die, die danch kamen, hielten von Humanität erkennbar wenig. Ziemlich genau das Schema eines Gladio-Anschlags. Wofür auch spricht, dass trotz aller Fahndungsbemühungen kein Täter verhaftet werden konnte. Wenn die Verantwortlichen durch die moilitärische Geheimhaltung geschützt sind, dringt nie etwas nach außen. Jüngstes Beispiel die Geschichte um Franco A. Wir wissen keinen Deut mehr als am ersten Tag. Es wird nie einen Untersuchungsausschuss geben und wenn, erfährt er nichts. Geheimnisse verlassen die Kasernenmauern nie.

... Also das Grundmuster aller Gladio-Aktionen: Rechte begehen Anschläge, die als links motiviert dargestellt werden. Warum das? Nun, die RAF gab dem Staat die Legitimation für einen allseitigen Rollback und hier insbesondere den Radikalenerlass. Denjenigen, die '68 wieder zurück drehen wollten, konnte nichts besser in den Kram passen als die RAF.

... Gruß Artur


https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Und-was-waere-das-Motiv/posting-31218715/show/ (https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Stammheimer-Todesnacht-Es-bleiben-zahlreiche-Widersprueche/Und-was-waere-das-Motiv/posting-31218715/show/)

...
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 28, 2017, 11:27:03 AM
Quote[...] Vierzig Jahre nach der Entführung und Ermordung von Arbeitsgeberpräsident Hanns Martin Schleyer hat die verurteilte RAF-Terroristin Silke Maier-Witt die Familie um Verzeihung gebeten. Die 67-Jährige, die wegen Schleyers Entführung und Ermordung zu zehn Jahren Haft verurteilt worden war, habe die Entschuldigung vergangene Woche bei einem langen Gespräch mit Schleyers jüngstem Sohn Jörg in der mazedonischen Hauptstadt Skopje vorgebracht, berichtete die "Bild".

Maier-Witt habe Schleyer mit folgenden Worten begrüßt: "Es klingt so platt. Aber ich möchte erst einmal um Verzeihung bitten." Weiter sagte sie dem Zeitungsbericht zufolge: "Es hilft nicht viel, aber ich denke, dass ich immer ausgewichen bin, mich dem zu stellen." Sie habe "immer versucht, mich damit auseinanderzusetzen", sagte das ehemalige RAF-Mitglied demnach zu Jörg Schleyer. "Aber die eigentliche direkte Konfrontation mit Ihnen zum Beispiel habe ich nicht gesucht. Dafür möchte ich mich auch noch mal entschuldigen."

Schleyers Hinterbliebene suchen seit Jahrzehnten eine Antwort auf die Frage, welches RAF-Mitglied die tödlichen Schüsse auf den Entführten abgegeben hat. Dies ist bis heute ungeklärt, weil die beteiligten Täter dazu schweigen. Vergangenen Monat hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Täter aufgerufen, ihr Schweigen über die Bluttaten der RAF zu brechen.

Nach dem mehr als siebenstündigen Gespräch mit Silke Maier-Witt erklärte Jörg Schleyer nun in der "Bild": "Erstmalig habe ich aus dem Mund einer wegen des Mordes verurteilten Terroristin erfahren, wer die drei Personen sind, die bei meinem Vater waren, als die tödlichen Schüsse abgegeben wurden." Maier-Witts Bereitschaft, Auskunft über die Hintergründe der Tat zu geben, habe "glaubhaft" gewirkt, sagte Jörg Schleyer. "Jetzt hoffe ich, dass ihrem Beispiel weitere Täter folgen und ihr Wissen offenbaren."

Die Ermordung des von der RAF entführten Schleyer vor vier Jahrzehnten stand am Ende einer Serie dramatischer Ereignisse, die als Deutscher Herbst in die Geschichte eingingen.  ...


Aus: "Ehemalige RAF-Terroristin bittet Schleyer-Familie um Verzeihung" (28.11.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/politik/40-jahre-nach-schleyer-ermordung-ehemalige-raf-terroristin-bittet-schleyer-familie-um-verzeihung/20638816.html (http://www.tagesspiegel.de/politik/40-jahre-nach-schleyer-ermordung-ehemalige-raf-terroristin-bittet-schleyer-familie-um-verzeihung/20638816.html)

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Quote[...] Eine Entschuldigung wird auch durch die richtigen Worte aufrichtig. ,,Ich möchte Sie, wenn das überhaupt geht, um Verzeihung bitten." Das hat die ehemalige RAF-Terroristin Silke Maier-Witt in einem Brief an Jörg Schleyer geschrieben, den jüngsten Sohn von Hanns Martin Schleyer, den die RAF vor 40 Jahren entführt und ermordet hat. Anschließend hat sie Jörg Schleyer in einem persönlichen Gespräch um Verzeihung gebeten, statt einfach nur Entschuldigung zu sagen.

Das macht nichts ungeschehen. Es bleibt ein Verbrechen, das auch Schleyers Fahrer und drei Personenschützer das Leben kostete. Dennoch haben Silke Maier-Witts Worte einen Wert und eine Bedeutung. Für die Familie des Ermordeten vor allem. Für den Blick auf dieses schwarze Kapitel der Nachkriegszeit. Als Erste aus den Reihen der RAF hat Silke Maier-Witt ihre Scham für die begangenen Taten zum Ausdruck gebracht. Sie hat sich dabei nicht in historischen Kulissen versteckt.

... Eine Entschuldigung kann keine Abwurfaktion für Seelenballast sein, nur damit man sich hinterher leichter fühlt. Sie setzt einiges voraus. Die Konfrontation mit einem Hinterbliebenen bedeutet, den Schmerz des anderen an sich heranzulassen. Hinzu kommt die Übernahme von Verantwortung. Maier-Witt etwa hat ihre eigene Verantwortlichkeit im Gruppenhandeln erkannt. Dass in Gerichtsprozessen Täter aus totalitären Regimen so selten Reue zeigen, liegt nicht zuletzt daran, dass sie ihre Verantwortung aufgelöst sehen in der eines Systems. Wer vermag sich schon einzugestehen, einen Teil seines Lebens einer falschen, einer furchtbaren Sache gewidmet zu haben, die Menschenleben zerstört hat.

Die Bitte um Verzeihung ist für Opfer oft genauso wichtig wie die Bestrafung der Täter. Ein Gericht mag Recht sprechen, im Namen des Volkes. Doch spürbar wird das Geschehene unmittelbar, konzentriert im persönlichen Verhältnis zwischen Opfer und Täter.

... Eine Gesellschaft kann die Kultur des Um-Verzeihung-Bittens fördern, indem sie eine von Reue getragene Entschuldigung würdigt. Indem sie andererseits hastig vorgetragene Entschuldigungsfloskeln nicht besser macht, als sie sind. Aufrichtig um Verzeihung zu bitten, ist mit das Stärkste, was sich aus der eigenen Schuld machen lässt.

Quote1964 10:28 Uhr

Für alle Terroristen gilt: Kein Vergeben, kein Vergessen!



Aus: "Warum es so wichtig ist, dass Täter Reue zeigen" Friedhard Teuffel (29.11.2017)
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/politik/lehren-aus-raf-terror-warum-es-so-wichtig-ist-dass-taeter-reue-zeigen/20649234.html (http://www.tagesspiegel.de/politik/lehren-aus-raf-terror-warum-es-so-wichtig-ist-dass-taeter-reue-zeigen/20649234.html)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 02, 2018, 11:34:24 AM
Quote[...] When Alan Shane Dillingham, a historian at Spring Hill College in Alabama, lectures on the 1960s he starts by displaying a timeline of the decade's most iconic, tumultuous year — 1968.

The assassinations of the Rev. Martin Luther King Jr. and Robert F. Kennedy. The riots that shook Washington, Chicago, Baltimore and other U.S. cities. Campus protests. Civil rights protests. Vietnam War protests. The Tet Offensive. The My Lai massacre. The rise of Richard Nixon and the retreat of Lyndon Johnson. And so much else: Black Power, "The White Album," Andy Warhol, "Hair," Apollo 8, the first black character in Peanuts.

"Was there something in the water?" Dillingham asks his students. "What is it about this year?"

With 2018 marking the 50th anniversary of that extraordinary year, Dillingham and more than 1,500 other historians descend on Washington this week for the American Historical Association's annual meeting, where they will grapple with that question and others about 1968 in a series of special panels.

The historians arrive in the nation's capital at a time when many of 1968's flash points still consume the country, including race, political polarization, war and America's standing in the world. The man who occupies the White House graduated from the University of Pennsylvania in 1968 and got a draft deferment for bone spurs in his heels, exempting him from military service in Vietnam.

The election of President Trump, who came of age in the '60s, and even the designation of gender neutral bathrooms at the conference are reminders that the political and social forces unleashed at that time still reverberate today. But the historians aren't looking at 1968 in the context of current events. Instead, they are focusing on how that year shaped — and was shaped — by global events.

In many ways, the panels represent the symbolic pass-the-torch movement that occurs in any field of historical study — a move away from first-person, character-driven accounts in favor of more detached analysis. Civil rights leader Jesse Jackson, feminist Betty Friedan and activist-turned-academic Todd Gitlin, author of "The Sixties: Years of Hope, Days of Rage," had great stories to tell (and sell) about the 1960s. But what didn't they see?

"I think the limitations of historical narratives dominated by participants tell a kind of romantic story — obstacles overcome, that kind of stuff," Dillingham said. "That's important, but it can also simplify these moments and prevent you from seeing important connections."

Younger historians, many of whom were born in the 1970s or later, are examining the '60s through a global lens that isn't tainted by nostalgia.

Dillingham, who is leading a 1968 panel at the conference, is 36 years old. Chelsea Szendi Schieder, a historian who helped organize the special focus, is 34. Fabio Lanza, another '68 panel leader, was definitely around for 1968, but as a baby.

These younger scholars learned about King, Nixon and the Kennedy clan growing up, then in college and graduate school read works by historians who, as it happened, were often part of 1960s political movements. Gitlin, who teaches at Columbia University, was president of Students for a Democratic Society.

"This is not to dismiss a generation of scholars," Schieder said, "but I think right now is a kind of reckoning."

The papers being presented about 1968, for so long treated as an American artifact, certainly reflect that notion. One is titled, "Long Live African Women Wherever They Are! Black Women, Pan-Africanism, and Black Power's Global Reach." Another is, "Gender Trouble in Guatemalan Student Movement Memories." Schieder, who teaches at Meiji University in Tokyo, is presenting "Beyond the Barricades: The Possibilities and Pitfalls of the Campus-Based New Left in Japan," looking at campus protests that rivaled the more famous ones at Columbia and the University of California Berkeley.

In the 1960s, just about every matter of strife in the United States — race, war, free speech, the establishment — was a matter of contention elsewhere. The timelines line up nicely.

In February 1968, students in Boston staged a hunger strike to protest the war in Vietnam. Not long after, 10,000 people, many of them students, marched in Paris against the war. There were riots in Memphis and Mexico, Washington and Poland.

"The problem with the U.S. and '68 is that it looks very insular, but it's not," said Lanza, a professor at the University of Arizona. "I think that is changing, though."

But first, historians have some pretty big questions to answer.

One: Which came first, the American chaos or the global chaos?

Another: Why does 1968 loom so large in the narrative of political and cultural change?

There's a building consensus, historians say, that while 1968 gets all the attention, it is actually a later chapter of a story that begins much earlier — after World War II.

The postwar baby boom in the West and Asia vastly increased the number of people who went to college in the early 1960s. Dorms were crowded. Students argued a lot — with each other and university administrators. Many early campus protests, both in the United States and abroad, were not over Vietnam. They were over dorm living conditions.

"A lot of these small grievances start to snowball," said Dillingham, the Spring Hill College historian.

And the radicalization moves beyond college campuses, spurred by growing unease over the Vietnam War. As the body count in Southeast Asia grows, Americans take to the streets. But so do Europeans — and they have other concerns, too, including the Cold War clash between communism and democracy playing out on their doorstep. In August 1968, the Soviet Union invades Czechoslovakia to end the political liberalization movement known as the Prague Spring. Suddenly, the whole world seems like it's coming unglued.

Amid all of this, there's the incredible rise of the mass media, particularly television. In 1950, the number of U.S. households with TVs was 3.9 million. In 1968: 57 million. The adoption patterns are similar in other developed countries.

So, when two U.S. athletes gave the Black Power salute at the 1968 Summer Olympics in Mexico City, the footage is seen around the world. Television helps fuel protests, uniting activists at home and abroad.

"In the late 1960s, black civil rights activists in Alabama are also reading about struggles against colonialism in Africa," Dillingham said. "And they're reading about the Cuban Revolution. And they're reading about the Algerian struggle against the French. They start to understand their local fight within a global framework."

So what caused what?

"It's hard to know," Dillingham says, "because that global context is very much shaping local fights. The global and the local become deeply intertwined."

What's local in one place is global in another. Untangling all that is the goal for the conference — and beyond.

"As historians, we don't have the full picture yet because people weren't operating only within their national context," Schieder said.

"So I guess what I'm really hoping in bringing all these different scholars together, is that we can start to say, 'Oh, I only thought that happened in Argentina. Oh, I only thought that happened in Japan.'"

The scholarly infrastructure is now in place to make these connections. The 1960s even have their own academic journal, called, appropriately, the "The Sixties."
In an editorial in the first issue, the editors wrote this: "Nostalgia, in its most primitive form, entails the indiscriminate love of a particular past because it is one's own."
That year, 1968. It belongs to the world.

Quote... While the rest of the world was going nuts, the British were cranking out new bands in spades- Yes, Genesis, Pink Floyd, King Crimson- many more. Maybe when one's parents live through air raids one sees the world differently.......


...


From: "1968's chaos: The assassinations, riots and protests that defined our world" Michael S. Rosenwald (01.01.2018)
Source: https://www.washingtonpost.com/news/retropolis/wp/2018/01/01/1968s-chaos-the-assassinations-riots-and-protests-that-defined-our-world/ (https://www.washingtonpost.com/news/retropolis/wp/2018/01/01/1968s-chaos-the-assassinations-riots-and-protests-that-defined-our-world/)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 06, 2018, 11:24:58 AM
Quote[...] Emmanuel Macron ist ein "Nachgeborener". 1977 auf die Welt gekommen, verspürt der bürgerlich erzogene Eliteschulabgänger nur eine beschränkte Nähe zu jenem historischen Studentenaufstand, der im Frühling 1968 von Paris aus Schockwellen durch ganz Frankreich und weit darüber hinaus geschickt hatte. Das würde ihn an sich nicht daran hindern, eine große Gedenkzeremonie zu inszenieren: Frankreichs Staatspräsident mag solche Auftritte, an denen er sich als junger und doch geschichtsbewusster Einiger der Nation über den Parteien präsentieren kann. Auch der (1948 geborene) Sozialhistoriker Pascal Ory erklärt: "Wir sind alle Kinder des Mai '68. Eine Gedenkfeier zu diesem Gründungsereignis versteht sich da von selbst." Doch Macron zögert. Und je länger, desto mehr. Denn der Mai '68 bleibt in Frankreich ein heißes Eisen. Das Ereignis liegt ein halbes Jahrhundert zurück, doch in Paris wird darüber zum Beginn des Jubeljahres mit einer Heftigkeit debattiert, als wären die Studenten und streikenden Arbeiter erst gestern auf die Straße gegangen. Mai '68 fegte mit seinem Sponti-Anspruch nicht nur eine alte Gesellschaftsordnung weg, sondern verankerte den Rechts-links-Gegensatz fest in der französischen Konfliktkultur.

Als die sozialistische Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo jüngst Che Guevara anlässlich einer Gratisausstellung im Rathaus als "romantische Ikone" feierte, wurde sie von der Gegenseite mit Nettigkeiten wie "68er-Linksfascho" bedacht. Der konservative Politiker Maël de Calan schob nach: "Mai '68, das ist der Sieg des Individuums über die Familie, das Kollektiv, die Autorität, die Regeln." Nicolas Sarkozy hatte seine ganze Präsidentschaftskampagne 2007 unter das Motto gestellt, er wolle "das Erbe des Mai '68 liquidieren"; damit appellierte er an die gleiche schweigende Mehrheit, die im Juni 1968 den Wahltriumph der französischen Rechten gegen die Studenten und Streikenden ermöglicht hatte. Macron wird sich erst langsam der Gefahr bewusst, noch 50 Jahre "danach" zwischen die Fronten zu geraten. Er mag jung und liberal sein, doch er tritt auch für die Autorität des Staates ein. Sein "vertikales" Staatsverständnis ist das ziemliche Gegenteil studentischer Selbstbestimmung. Um sich von Sarkozy abzugrenzen, hatte Macron noch im vergangenen Herbst erklärt, er könne sich sehr gut vorstellen, des Mai '68 zu gedenken. Damals habe ja ein ähnlicher Geist wie im Prager Frühling des gleichen Jahres geweht.

Mit dieser Bemerkung zog der Präsident aber nur den Zorn der Rechten auf sich: Diese erklärt, die Tschechen hätten sich gerade auch gegen jene Kommunisten erhoben, die in Paris auch auf die Straße gegangen seien. Die Linke wiederum wirft Macron vor, er wolle Mai '68 für seine Zwecke vereinnahmen, so wie er sich im Wahlkampf um die Präsidentschaft der Unterstützung der 68er-Ikone Daniel Cohn-Bendit versichert habe. Die geballte Kritik von allen Seiten macht die Élysée-Berater vorsichtig. Einer von ihnen erklärte, noch sei gar nicht sicher, ob der "Mai-Tage" in irgendeiner Form gedacht werde. Man wolle "nicht einfach Cohn-Bendit einen goldenen Pflasterstein überreichen". Hinter diesem Sarkasmus verbirgt sich auch eine zunehmende Unsicherheit. Wie soll die Nation Proteste zelebrieren, die ein ziemliches "chienlit" – wie de Gaulle das Chaos im Pariser Sorbonne-Viertel nannte – verursachten? Und was wäre vorrangig zu feiern – eher der damalige Sponti-Geist ("Es ist verboten zu verbieten") oder das sozialpolitisch bedeutsame Grenelle-Abkommen, das dem Generalstreik von Mitte Mai folgte? Für den Mittepolitiker Macron stellt sich speziell die Frage, wo er sich positioniert. Seine Mühe, sich festzulegen, offenbart die Ambivalenz seiner ganzen Regierungslinie. Er will zwar bei der Linken nicht als "Präsident der Reichen" durchgehen, setzt aber selbst alle Hebel in Bewegung, um Streiks und Massendemonstrationen gegen seine eigenen Reformen zu vermeiden.

Élysée-Insider berichten, der Präsident scheine mehr und mehr gewillt, die ganze 68er-Sause im Mai sein zu lassen. Das Gedenken an den Mai '68 ist für den jungen Präsidenten eine Versuchung, sich als versöhnlicher Landesvater zu inszenieren – aber auch ein beträchtliches Risiko, seine politischen Gegner aufzuwecken. Erkennbar wurde das Ende Jänner, als das Institut de France in diversen Kulturzentren eine "Nacht der Ideen" organisierte, um analog zu einer 68er-Devise "die Fantasie an die Macht" zu bringen. Monatelang vorbereitet, wurde die Operation zum Schluss diskret und gänzlich unpolitisch umgesetzt. Macron glänzte durch Abwesenheit – um die heutigen Studenten nicht auf dumme Ideen zu bringen? (Stefan Brändle aus Paris, 6.2.218)




Aus: "Macron gerät zwischen die Fronten des Pariser Mai 1968" Stefan Brändle aus Paris (6. Februar 2018)
Quelle: https://derstandard.at/2000073681650/Macron-geraet-zwischen-die-Fronten-des-Pariser-Mai-1968 (https://derstandard.at/2000073681650/Macron-geraet-zwischen-die-Fronten-des-Pariser-Mai-1968)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 06, 2018, 12:18:02 PM
Quote[...] Bis heute sorgen die Ereignisse dieser Zeit für Kontroversen. Versuch einer Sammlung  ...

"Sie protestierten gegen starre Strukturen, den Vietnamkrieg, die rigide Sexualmoral und die Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus: Tausende Studenten gingen in den 1960er Jahren auf die Straße – und unter der Chiffre '68' in die Geschichtsbücher ein. Bis heute sorgen die Ereignisse dieser Zeit für Kontroversen: War sie notwendig für den Übergang in die moderne Gesellschaft? Oder ist die 68er-Generation für Werteverlust, Kindermangel und Bildungsnotstand verantwortlich?

... "Misst man sie an ihren Liebes-Utopien, an Sozialismus und Weltrevolution, dann muss man die Bewegung der 68er für gescheitert erklären. Und doch war ihre Revolte eine der folgenreichsten Zäsuren der deutschen Nachkriegsgeschichte. Verdanken wir ihnen eine freiere und glücklichere Gesellschaft? Was ist geblieben vom Mythos '68?" (Spiegel Online)

"Als die Achtundsechziger sich daranmachten, das herkömmliche bürgerliche Wertekorsett aus Wohlanständigkeit und Enthaltsamkeit zu sprengen, war dieses längst Geschichte. Doch auch die schöne neue Alles-über-Sex-sagen-Welt der Linksalternativen war nicht von Dauer – wenn es sie überhaupt je gegeben hat." (FAZ.net)

"Die '68er seien zwar schon für seine Generation 'merkwürdige Typen' gewesen, sagte der Soziologe Heinz Bude (selbst 1954 geboren) im Dlf. Doch als Kriegskinder hätten sie auf faszinierende Weise aus dem Nichts etwas geschaffen. ... (Deutschlandfunk)

...


Aus: "Nachwirkungen" (01.02.2018)
Quelle: https://www.freitag.de/produkt-der-woche/buch/adorno-fuer-ruinenkinder/adorno_einblicke (https://www.freitag.de/produkt-der-woche/buch/adorno-fuer-ruinenkinder/adorno_einblicke)

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Quote[...] In einer Kapitelüberschrift Ihres Buches ,,Adorno für Ruinenkinder" ist von der letzten heißen Revolution und der ersten coolen Revolte die Rede. Bedeutet das, es ging mehr um Pose als um Politik?

Der Soziologe Heinz Bude: Nein, nicht so einfach. Es gab die SDS-Fraktion, die vertiefte sich in ,,Geschichte und Klassenkampf" von Lukács, träumte über die geschichtsphilosophischen Thesen von Benjamin und debattierte mit Adorno über den ,,versäumten Augenblick" der Revolution. Das wäre aber ein kleiner esoterischer Zirkel geblieben, hätte es nicht die Masse der Revoltierenden gegeben, die ihrer Sehnsucht nach Welt Ausdruck verleihen wollten. Das Verbindungsglied zwischen diesen beiden ungleichen Gruppierungen war der mysteriöse Begriff der Gesellschaft, der einem erlaubte, sein eigenes, ganz persönliches Leiden zum Maßstab für die Beurteilung der allgemeinen Verhältnisse zu nehmen. Deshalb war das Private politisch, deshalb enthielt 1968 die Lizenz, alles in Frage zu stellen und eine Politik der Ersten Person zu befördern, die Politik, Poesie, Pop und Pose zusammenbrachte. 1968 waren Rudi Dutschke und Fritz Teufel, Uschi Obermeier und Silvia Bovenschen und am Ende Bob Dylan mit dem Nobelpreis für Literatur und Ulrike Meinhof auf dem Bild von Gerhard Richter.

... Hat die rasche Radikalisierung, das Umschlagen der Revolte in terroristische Gewalt auch etwas mit den Traumata der Kriegsjahre zu tun?

In gewisser Weise ja. Wer im Krieg auf einem Heimaturlaub des Vaters gezeugt worden ist und in den ersten Jahren aufgerissene Straßen, abgedeckte Häuser und brennende Ruinen erlebt hat, hat ein Gespür dafür, dass Gesellschaft auf Gewalt gegründet ist. Gewalt nicht nur gegen Sachen, sondern auch gegen Personen.

Wenn man sich die Alltagsgeschichte der 60er Jahre genauer ansieht, wird man feststellen können, dass die gesellschaftliche Liberalisierung weit vor 1968 begonnen hat. Wird die Wirkung des Aufbegehrens der 68er heute verklärt?

Ich glaube, die ganzen evolutionären Deutungen von 1968 führen in die Irre. Da hat nichts begonnen, was es vorher nicht schon gab. Weder die sexuelle Revolution noch die Demokratisierung der Gesellschaft und vor allem nicht die Konfrontation mit Auschwitz. Der Kinsey-Report und Oswalt Kolle, die Lehre der sozialen Demokratie und das Betriebsverfassungsgesetz, der ,,SS-Staat" von Eugen Kogon und die Courage von Fritz Bauer. Diese Suche nach dem gesellschaftlichen und geschichtlichen Trend verdeckt die Mischung aus Melancholie und Sehnsucht, aus radikaler Reflexion und rebellischem Elan, aus politischem Dadaismus und existenziellen Ausbruchsversuchen, die für die Bresche von 1968 kennzeichnend waren. Glaubten die 68er an ihre Mythen? Wenn sie auf der Straße riefen ,,Wer zweimal mit der Gleichen pennt, gehört schon zum Establishment!", Ja; wenn sie abends auf leeren Bürgersteigen als dürre Gestalten in ihren Schlaghosen und Fransenjacken nach Hause gingen, Nein.

Eines der wesentlichen Merkmale der 68er-Bewegung war deren Theoriefixierung. Viele der einst heiligen Texte jener Jahre scheinen heute seltsam überholt und vergessen. Was hat Bestand?

Von der Masse der Bücher, die die 68er selbst dann über Ideologiekritik, Wertformanalyse, Klassengesellschaft und Warenästhetik geschrieben haben, bleibt kaum etwas. Die wichtigen Bücher von 1968 kamen danach und werden auch in fünfzig Jahre noch Leserinnen und Leser finden: Claus Offes ,,Strukturprobleme des kapitalistischen Staates" von 1972, Klaus Theweleits ,,Männerphantasien" von 1977/78, Horst Kern und Michael Schumanns ,,Das Ende der Arbeitsteilung?" von 1984 oder Friedrichs Kittlers ,,Aufschreibesysteme 1800/1900" von 1985. Und natürlich Hans-Jürgen Krahls geheimer Klassiker ,,Konstitution und Klassenkampf" aus dem Jahr 1971.

Sie versuchen, sich 1968 auch anhand dessen zu erklären, was übersehen wurde. Was war das?

Ich bin noch einmal die Interviews durchgegangen, die ich vor dreißig Jahren mit 68ern der Jahrgänge 1938 bis 1948 geführt habe. Da war der Punk schon Geschichte und der Mauerfall noch keine Zukunft. Im Abstand hat sich für mich gezeigt, dass 1968 eine ziemlich einzigartige Episode kollektiver Leidenschaft und existenzieller Emphase war. Die letzte Generation, die noch den Krieg erlebt hat, hat 1968 sich selbst und der Gesellschaft des Nachkriegs vor Augen geführt, wie dünn das Eis und wie verworren die Zustände sind. Für die Kriegskinder war das Leben, wie der 1940 im selben Jahr wie Rudi Dutschke geborene Rolf Dieter Brinkmann gesagt hat, eine einzige Entschuldigung dafür, dass sie überhaupt geboren worden waren. Das ist der Hintergrund für die ungeheure Kompromisslosigkeit, mit der sie sich 1968 gegen die Gesellschaft gestellt haben, die sie als die Kräfte von morgen begrüßen wollte. Die 68er waren eine junge und starke Generation, die Ernst damit gemacht hat, dass Fortschritt ohne Unterbrechung nicht möglich ist.

1968 wird heute nicht nur als historisches Schlüsseljahr betrachtet. Rechte Ideologen scheinen ihre Vorstellungen von 1968 geradezu konservieren zu wollen, um ein klares Feindbild zu haben. Sind Höcke und Co. die letzten Kinder von 1968?

Die Paradoxie ist, das die kulturmilitante Rechte 68 für etwas anklagt, was sie selbst in Anspruch nimmt. Es ist offenbar nach wie vor schwierig zu verstehen, wie die Gewinne von 68 mit ihren Kosten zusammenhängen.

Trotz aller Skepsis endet Ihr Blick auf die 68er auch versöhnlich. Sie erkennen in der Suche nach Linkssein bei den Jungen von heute auch ein Erbe von 1968. An was können sie anknüpfen?

Anknüpfen ist nicht das richtige Wort. Den 68ern ging es um Befreiung, der antirassistischen, postkolonialen und transimperialen Linken von heute geht es um Gerechtigkeit. Das ist nicht dasselbe. Das Schema der Gerechtigkeit will Anrechte erweitern und vertiefen, der Wunsch nach Befreiung will das Ganze in Bewegung bringen. Das Erbe von 68 besteht in der Verwunderung darüber, dass das vor 50 Jahren für einen kurzen Moment aus einem irren Antrieb gelungen ist.

QuoteSushi Train

Heiz Bude ist ein starker Typ geblieben, auch ohne schulterlange Haare und Schlaghosen. Ansonsten kenne ich niemanden, der auch nur eine Seite von Horkheimer gelesen hat. Die 68er sind und bleiben eine Erfindung des Feuilletons.


...


Aus: "Heinz Bude: ,,Mit Adorno durch die Hölle"" Harry Nutt (31.01.2018)
Quelle: http://www.fr.de/kultur/heinz-bude-mit-adorno-durch-die-hoelle-a-1437570,0#artpager-1437570-0 (http://www.fr.de/kultur/heinz-bude-mit-adorno-durch-die-hoelle-a-1437570,0#artpager-1437570-0)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 05, 2018, 10:24:20 AM
Quote[...] Die 68er-Bewegung wirkte sich in Tübingen auch auf die Universitäten aus; vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften in Bezug auf neue, stärker gesellschaftsbezogene Forschungsthemen. Und durch sie entstand sogar ein neues Fach: die Empirische Kulturwissenschaft (EKW). Hervorgegangen sind sie aus dem Ludwig-Uhland-Institut für deutsche Altertumswissenschaft, Volkskunde und Mundartenforschung, das 1933 gegründet wurde und anfangs, im Dienste der damals neuen NS-Machthaber, eine rassistische Volkstumsideologie propagierte. Erst ab den 1950ern sorgt der spätere Institutsleiter Hermann Bausinger, "ein liberaler, soziologisch positivistischer Wissenschaftler, bei den Studenten sehr angesehen", für frischen Wind im Fach, forscht gegenwartsbezogen. "Das war die Gegenwarts- und Alltagswende der Volkskunde, die sich bis dahin auf alte Traditionen des Bauerntums kapriziert hatte", erzählt Warneken.

... Was ist für Warneken die Hauptwirkung der 68er? Da hält er es mit Habermas: "Die Fundamentalliberalisierung der Gesellschaft." Um noch etwas konkreter zu werden: "Die wichtigste Wirkung der 68er ist die riesige alternative Jugendszene, die ab Mitte der 1970er die Mehrheit der Jugend prägt." Das, was Jörg Meuthen von der AfD als 'links-grün versifftes 68er-Deutschland' bezeichne und ganz furchtbar finde. "Da muss ich sagen: Ich bin stolz auf diese Entwicklung! Und dass man zumindest für Tübingen sagen kann, dass diese Tendenz dort stark geblieben ist. In Deutschland in der Mehrheit ja leider nicht." Dass Versuche, die 68er zu verfemen, immer wieder kommen, nicht nur von der AfD oder von Unions-Rechtsauslegern wie Alexander Dobrindt (CSU), ficht Warneken nicht an, im Gegenteil. "Es ist ja auch eine Freude, wenn sie sich immer noch über uns ärgern, eine Bestätigung. Wir haben ihnen in der Tat etwas angetan."

...


Aus: "Tübinger Revoluzzer" Oliver Stenzel (04.04.2018)
Quelle: https://www.kontextwochenzeitung.de/zeitgeschehen/366/tuebinger-revoluzzer-5008.html (https://www.kontextwochenzeitung.de/zeitgeschehen/366/tuebinger-revoluzzer-5008.html)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 12, 2018, 10:01:27 AM
Quote[...] Es herrschen aufgewühlte Zeiten in Deutschland und Europa. Aber es ist doch kein Vergleich mit der Lage vor 50 Jahren, als die Bundesrepublik in Aufruhr war wie nie zuvor. Mit dem Anschlag auf den radikalen Studentenführer Rudi Dutschke und den folgenden Osterunruhen in Universitätsstädten erreichte im Frühjahr 1968 die Auseinandersetzung um den Weg Westdeutschlands aus der Nachkriegszeit einen Höhepunkt. Sie fügte sich ein in die Straßenkämpfe der revolutionären französischen Studenten und den Widerstand gegen den Vietnamkrieg in den USA. Nicht nur die Republik, die westliche Welt war in Aufruhr.

Dieser Kampf um die kulturell-politische Hegemonie wurde auf den Straßen ausgefochten, wie man es zuvor hierzulande noch nicht erlebt hatte. Viel mehr aber noch in den Hörsälen, in den Medien und überall, wo Menschen sich Gedanken machten über die Zukunft des Landes – in den Parteien, Gewerkschaften und Kirchen, an Arbeitsplätzen und in den Kneipen. Westdeutschland war in jenen Jahren eine politisierte Republik, wie auch der breite Protest gegen die Notstandsgesetze zeigte, die die Große Koalition im Mai 1968 durch den Bundestag brachte.

Zwei Dinge fallen auf, wenn man auf diese Zeit zurückschaut: Die Radikalität mancher Debatten und der hohe Grad an Intellektualität, mit der sie geführt wurden. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas lieferten mit ihrer Kritischen Theorie das geistige Rüstzeug, aus der Dutschke und andere die Legitimation für den revolutionären Kampf gegen das System ableiteten, oft auch entgegen der Intention ihrer Lehrer.

Dutschke warb für eine revolutionäre Doppelstrategie nach dem Vorbild lateinamerikanischer Stadtguerilleros. Während eine kämpfende Avantgarde offen die Revolution organisierte, sollte eine verdeckt arbeitende Abteilung in die herrschenden Institutionen eindringen, um sie von innen her zu destabilisieren.

Dieser später viel apostrophierte lange Marsch durch die Institutionen war nicht als Karrierepfad für geläuterte Radikale wie Joschka Fischer an die Hebel des bürgerlichen Staates gedacht, sondern als Taktik im ,,permanenten Kampf für eine antiautoritäre sozialistische Weltgesellschaft". Doch diese Radikalität mündete nicht in Sprachlosigkeit mit der herrschenden Politik. Unter anderem der Sozialdemokrat Johannes Rau und der Liberale Ralf Dahrendorf stellten sich Debatten mit den Studentenführern.

So abstrus – und zum Teil mit verbrecherischen Irrwegen, wie der Terror der RAF – manche dieser Positionen auch waren, sie forderten die Mehrheitsgesellschaft zu einer geistigen Auseinandersetzung heraus, die dem demokratischen Klima im Lande gutgetan hat. Die heutige Klage, so vieles erscheine alternativlos, die meisten Politiker und Medien seien einer Meinung, der Mainstream ersticke jeden abweichenden Gedanken, wäre damals nicht verstanden worden.

Bis zum Beginn der 90er Jahre gehörten zum öffentlichen Meinungsspektrum ganz selbstverständlich auch widerständige Positionen, wie sie etwa die einstigen Grünen ,,Fundis" Jutta Ditfurth oder Thomas Ebermann vertreten. Solche Haltungen sind inzwischen in eine so außenseiterische Position geraten, dass sie im politischen Diskurs nicht mehr auftauchen. Das hängt auch mit dem Ende der Systemkonkurrenz durch den Untergang der Sowjetunion zusammen, das Norbert Blüm einst so famos auf die Formel gebracht hat: ,,Marx ist tot, Jesus lebt." So ist auch die Linke eine staatstragende Regierungspartei geworden.

Das hat zu einer geistigen Verödung geführt und der Sehnsucht nach Widerworten. Es ist eine bittere Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet eine neue Rechte beansprucht, diese Leerstelle zu füllen, manchmal gar mit kopierten Formen der einstigen linken APO (Außerparlamentarische Opposition). Doch bewegen sie sich auf einem intellektuell so unterbelichteten Niveau, dass sich nicht einmal aus dem Widerspruch zu ihren oft gar frei erfundenen Thesen irgendein geistig erhellender Funke schlagen ließe.

Das ist auch deshalb kein Wunder, weil ihre einzige Vision rückwärts gerichtet ist, auf historisch längst überwundene völkische und undemokratische Verhältnisse. Dass sich dafür kein intellektuell anspruchsvolles Umfeld findet, ist nicht überraschend.

Sie ist freilich auf der Linken nicht so viel besser, wo vor allem Schweigen und Ratlosigkeit herrschen. ,,Ich kann das nicht verstehen, ich kann diese Lethargie bei den Intellektuellen, Künstlern, Schriftstellern überhaupt nicht nachvollziehen", klagte gerade Bahman Nirumand, einer der klügeren Köpfe der 68er Bewegung. Was bleibt zu tun?

Wir sollten die Erinnerung an die aufrührerischen Tage vor 50 Jahren dazu nutzen, die Suche auch nach radikalen Alternativen wieder ernster zu nehmen. Die Herausforderungen unserer Zeit sind wahrlich nicht geringer, sondern komplexer geworden. Dass es damit auch nicht mehr so einfach ist, eindeutige Feindbilder zu bestimmen wie einst, macht die Sache nur umso spannender.


Aus: "1968er-Bewegung: Radikaler denken" Holger Schmale (12.04.2018)
Quelle: http://www.fr.de/politik/meinung/leitartikel/1968er-bewegung-radikaler-denken-a-1483687,0#artpager-1483687-1 (http://www.fr.de/politik/meinung/leitartikel/1968er-bewegung-radikaler-denken-a-1483687,0#artpager-1483687-1)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 29, 2018, 11:44:42 AM
Quote[...] 1968 geht als Jahr der Gewalt in die Geschichte ein: Am 4. April wird der Bürgerrechtler Martin Luther King ermordet, am 6. Juni Robert F. Kennedy. In Vietnam sterben so viele US-Soldaten wie in keinem Kriegsjahr zuvor; amerikanische Kriegsverbrechen wie das Massaker von My Lai, dem mehr als 500 Zivilisten zum Opfer fallen, entsetzen die Öffentlichkeit. An der im Frühjahr besetzten Columbia University in New York droht der Studentenführer Mark Rudd (der sich später den militanten Weathermen anschließt) mit einem gewaltsamen Umsturz. Und im August gehen Polizeitruppen in Chicago hemmungslos gegen eine Kundgebung während des Nominierungsparteitages der Demokraten vor. Zu ihrem neuen Präsidenten wählen die Amerikaner wenig später Richard Nixon, der Law and Order verspricht statt Peace and Love.

Bei den Olympischen Spielen 1968 erheben die beiden afroamerikanischen Athleten Tommie Smith und John Carlos während der Siegerehrung die geballte Faust zum Black-Power-Gruß. Das Foto geht um die Welt. In Mexiko ruft die Chiffre "68" allerdings auch ganz andere Szenen in Erinnerung.

Am 2. Oktober des Jahres protestieren etliche Tausend Studenten, Arbeiter und Angestellte für eine Liberalisierung des seit fast 40 Jahren von der Partido Revolucionario Institucional autokratisch regierten Landes. 5.000 Soldaten umstellen den Platz der Drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco von Mexiko-Stadt, wo sich die Demonstranten versammelt haben, und feuern in die Menge. Etwa 300 Menschen sterben, Hunderte werden verletzt, Tausende festgenommen. Zehn Tage vor Beginn der als Friedensfest inszenierten Olympiade besiegelt das Blutbad das jähe Ende der mexikanischen Studentenbewegung.

Wie in Mexiko richtet sich der Protest in Brasilien nicht nur gegen autoritäre Mentalitäten und "Strukturen", sondern gegen eine autoritäre Regierung. Seit 1964 ist das Land eine Militärdiktatur. Linke Studentengruppen agieren aus dem Untergrund heraus. Anfang 1968 entzündet sich an einer Hochschulreform offener Protest.

Zunächst verläuft er friedlich. Dann, am 28. März, erschießt die Militärpolizei in Rio de Janeiro den 18-jährigen Schüler Edson Luis de Lima Souto. Rasch weitet sich die Revolte nun aus; Teile der Arbeiterschaft schließen sich den Studenten an. Im Sommer demonstrieren in Rio 100.000 Menschen.

Das Regime reagiert mit Waffengewalt und Repressionen – auch gegen Künstler, die sich die Ideen der antiautoritären counter culture zu eigen machen. Allen voran geraten die sogenannten Tropicalistas ins Visier der Behörden, eine Gruppe von Künstlern und Musikern, die bei ihren Auftritten in dadaistischer Manier Einflüsse aus aller Welt vermengen und mit Parolen wie É proibido proibir ("Es ist verboten zu verbieten") provozieren. Viele Tropicalistas fliehen ins europäische Exil. Einer von ihnen, der Sänger Gilberto Gil, wird 2003, Jahre nach dem Ende der Diktatur 1985, Brasiliens Kulturminister.

Am 2. Juni 1967 stirbt der Student Benno Ohnesorg am Rande der Proteste gegen den Besuch des persischen Schahs in West-Berlin durch einen Schuss aus einer Polizeiwaffe – das Schlüsselereignis für die westdeutschen Acht- oder vielmehr "Siebenundsechziger".

Die Suche nach den Ursprüngen des Aufruhrs führt, wie in den USA, zurück in die fünfziger Jahre. Zurück zu den Ostermärschen gegen die Atomrüstung. Zur beginnenden Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen – von der Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) von 1959 bis zum Frankfurter Auschwitz-Prozess. Zurück zu den Debatten über eine Neue Linke und zur Kritischen Theorie Adornos, Horkheimers und Marcuses. Zurück auch zu gegenkulturellen Bewegungen wie der Münchner Künstlergruppe SPUR, von der viele antiautoritäre Aktionen der legendären Kommune 1 inspiriert sind.

Mitte der sechziger Jahre wird der Westberliner SDS durch Rudi Dutschke zum Epizentrum der Rebellion. Und ging es zunächst um eine Reform der Hochschulen, steht alsbald die Weltrevolution auf der Agenda. Die wachsende Ablehnung des Vietnamkriegs, die Befreiungsbewegungen in der "Dritten Welt", Maos Kulturrevolution, Che Guevaras Versuch, die kubanische Revolution nach Bolivien zu tragen, und die Ereignisse in den USA wecken Hoffnungen auf einen Wandel.

Der scheint umso dringender, als viele deutsche 68er einen neuen "Faschismus" heraufziehen sehen. Die große Koalition und die Pläne für eine Notstandsgesetzgebung, die vielen Altnazis, die noch immer in hohen Positionen sitzen, und die Wahlerfolge der rechtsextremen NPD – das alles sind in ihren Augen grelle Alarmzeichen.

Das Jahr 1968 selbst bringt Radikalisierung und Zerfall: die Kaufhausbrandstiftung vom 2. April, an der die späteren RAF-Terroristen Andreas Baader und Gudrun Ensslin beteiligt sind, das Attentat auf Dutschke am 11. April, die Unruhen danach.

Viele gemäßigte 68er finden in den folgenden Jahren zur SPD Willy Brandts, einige wenige Radikale beschreiten den Weg in den Terror. Ansonsten verläuft sich die Revolte in K-Gruppen, während sie an ihrem eher lebensweltlich und kulturell orientierten Ende zu einer Liberalisierung und Lockerung der bundesrepublikanischen Gesellschaft beiträgt.

In kaum einem anderen Land zeigt sich so deutlich, wie wenig der Geist des damaligen Aufbruchs allein im Kalenderjahr 68 zu suchen ist: Das "Jahr, das alles veränderte", verläuft in den Niederlanden ruhig. Auch davor und danach bleiben gewaltsame Auseinandersetzungen aus. Vielleicht weil der Protest hier auf eine erstaunlich tolerante und gelassene Gesellschaft trifft.

Provos nennen sich die niederländischen "68er", eine locker organisierte, 1965 gegründete Gruppe, die nicht nur aus Studenten besteht und zu deren wegweisenden Erfahrungen die Ostermarschbewegung zählt. Mit ihren fantasievollen Aktionen wollen sie nicht der Revolution den Weg bereiten: Eher setzen sie auf ein Unterlaufen des modernen Kapitalismus und die Selbstbefreiung des Individuums.

Manche ihrer Ideen sind heute, mit Abstrichen, Realität: etwa, im Zentrum von Amsterdam von jedermann benutzbare, weiß lackierte Fahrräder bereitzustellen. Gewagter war es da schon, die als kip ("Hähnchen") verspotteten Polizisten im Umgang mit dem Protest des "Provotariats" schulen zu wollen: Gesprächstherapie statt Barrikadenbau.

In den siebziger Jahren treten die Kabouter ("Heinzelmännchen") das Provo-Erbe an. Sie richten fehlende Spielplätze kurzerhand auf Brachflächen ein und nehmen ungenutzte Gebäude in Beschlag – was später in vielen europäischen Städten Nachahmer findet.

Im Mutterland der Revolution zündet der 68er-Funke spät, aber heftig. Für einige Wochen scheint gar eine fundamentale Wende nach links möglich.

Alles beginnt in Nanterre, an der Dependance der Sorbonne. Schon länger brodelt es auf dem Campus in dem Pariser Vorort. Als der Soziologiestudent Daniel Cohn-Bendit dann im Januar wegen einer Aufmüpfigkeit gegenüber dem Jugend- und Sportminister einen Verweis erhält, bricht sich der allgemeine Frust Bahn: der Verdruss über die Studienbedingungen an der anonymen Trabanten-Uni, über Wohnheime, die wie Internate geführt werden, bald auch über Vietnam und das kapitalistische System schlechthin.

Im Frühjahr erfassen die Proteste die Pariser Sorbonne. Im Mai tobt der Barrikadenkampf. In der Nacht vom 10. auf den 11. des Monats erlebt die Hauptstadt eine der gewaltsamsten Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit. Erinnerungen an die Pariser Kommune von 1871 werden wach. Zumal die neulinken Studenten Verstärkung von altlinken Kommunisten und Sozialisten erhalten. Wenige Tage später sind Millionen Franzosen im Streik. Nicht unbedingt, weil sie mit dem "roten Dany" sympathisieren, sondern weil sie ihre eigenen Interessen auf der Protestwelle vorantreiben wollen. Vielerorts besetzen radikale Arbeiter die Fabriken.

Als der Innenminister dem Studentenführer Cohn-Bendit nach einem Trip ins revolutionäre Frankfurt die Wiedereinreise verweigert, kocht die Erregung über. Mancher hört gar schon, wie der Spiegel es Ende Mai formuliert, "die Sterbeglocken des Gaullismus" läuten.

Nach Wochen des Aufruhrs jedoch schwindet der öffentliche Rückhalt, den die Studenten anfänglich genossen. Und statt ihrer haben die Gewerkschaften das Heft des Handelns ergriffen: In Verhandlungen mit der Regierung fordern sie nicht nur höhere Löhne, sondern den Rücktritt von Präsident Charles de Gaulle. Als dieser auf dem Höhepunkt der Konfrontation kurzzeitig das Land verlässt, rechnet mancher mit einem Militärputsch.

Nach seiner Rückkehr stellt der Präsident klar, dass nicht er und auch nicht Ministerpräsident Georges Pompidou zurücktreten wird. Stattdessen löst er die Nationalversammlung auf.

Damit gelingt es ihm, die Stimmung zu drehen. Bei den Neuwahlen Ende Juni triumphieren die bürgerlichen Kräfte, während der Anteil der Linken auf nahezu die Hälfte schrumpft. Nirgends in Europa entwickelten die Proteste eine ähnliche Dynamik wie in Frankreich im Frühjahr 1968 – und nirgends waren sie so kurzlebig.

Der Wandel scheint im Vereinigten Königreich zunächst von oben zu kommen: 1964 gewinnt die Labour Party bei den Unterhauswahlen die Mehrheit. Doch die linken Hoffnungen, die sich auf die neue Regierung richten, werden rasch enttäuscht.

Zum Zentrum des studentischen Aufbegehrens wird 1966 die London School of Economics. Auslöser ist die Besetzung des Direktorenpostens mit dem ehemaligen Prinzipal des University College in Rhodesien, einem Apartheidstaat im heutigen Simbabwe, der bis 1965 Kronkolonie war. Im März 1967 besetzen Studenten ihr Institut, und zur Erregung über den neuen Direktor kommen rasch neue Themen: der Vietnamkrieg und die Befreiungsbewegungen in Lateinamerika. Eine breite Studentenbewegung wird nicht daraus.

Weitaus wichtiger für das britische Achtundsechzig sind die sprichwörtlich gewordenen kulturellen Ingredienzen der Revolte: Sex, Drogen und Rock 'n' Roll. Von London – und von Paris – gingen die entscheidenden Impulse für die Mode der sechziger Jahre aus. Und aus Großbritannien – nicht den USA – kamen die beiden einflussreichsten Bands der Dekade, die Beatles und die Rolling Stones. Geprägt haben sie, anders als viele der politischen 68er-Ideale, Bürger- und Arbeiterkinder gleichermaßen.

In Südeuropa gibt es 1968 mehr rechte Regime als Demokratien: In Spanien herrscht Franco, in Portugal – bis Mitte des Jahres – Salazar; Griechenland ist seit 1967 eine Militärdiktatur. Auch im demokratischen Italien geht das Gespenst des Faschismus um. Ende April 1966, kurz nach dem Nationalfeiertag zu Ehren der Partisanenaufstände in Norditalien 1945, kommt der Student Paolo Rossi bei einer Auseinandersetzung mit neofaschistischen Kommilitonen ums Leben. Sein Tod setzt eine landesweite Erhebung in Gang, die Italien über Jahre in Atem halten wird.

Zunächst sind es die Studenten, die rebellieren. Und zunächst richtet sich ihr Zorn gegen die Zustände an den Universitäten, gegen den Professorenmangel, Studiengebühren und die wachsende Arbeitslosigkeit unter Akademikern. Frustriert sind vor allem Absolventen aus unteren Schichten, die sich um ihre Aufstiegschancen betrogen sehen.

1968 eskaliert der Konflikt in Rom, als der Rektor die Protestierenden unter Androhung eines Polizeieinsatzes auffordert, den Campus zu verlassen. Tags darauf attackieren wütende Studenten eine Polizeieinheit mit Steinwürfen – der Anfang einer Radikalisierung, die sich bald auch jenseits der Universitäten ausbreitet.

Etwa in den Fabriken Norditaliens, wo seit den fünfziger Jahren mehr und mehr ungelernte Kräfte aus dem rückständigen Süden unter prekären Bedingungen arbeiten. Agitiert wird dieses Milieu von den Anhängern des Operaismus, einer marxistisch-anarchistischen Bewegung, die sich als Alternative zur erstarrten Kommunistischen Partei begreift. Mithilfe kleiner Gruppen "arbeitender Studenten" beschleunigen sie die Mobilisierung.

Streiks, Werksbesetzungen und Prügeleien in den Betrieben sind die Folge, begleitet von Demonstrationen in den Städten. Immer wieder geraten Protestierende und Polizei heftig aneinander. Neofaschisten heizen den Konflikt mit Mordanschlägen und Bombenattentaten an. Es herrscht ein Klima der Gewalt, in dem einige der radikalisierten Studenten in den terroristischen Untergrund abtauchen. 1970 gründen sich die Brigate Rosse, die Roten Brigaden, die in Italien bis weit in die achtziger Jahre hinein aktiv bleibt.

Besuchern der Tokioter Eliteuniversität Todai bietet sich 1968 ein bizarrer Anblick: Mit Helmen und Holzlatten bewehrte Studenten stehen sich wie mittelalterliche Krieger in Formation gegenüber, brüllen sich durch Megafone gegenseitig an, werfen einander "falschen Kommunismus" vor und gehen prügelnd aufeinander los. In keinem anderen Land trägt die Revolte so brutale Züge, und in keinem anderen Land eskaliert die Rivalität studentischer Gruppen in solch blutiger Weise.

Die japanische Studentenschaft ist früh organisiert – von 1948 an, in dem der Kommunistischen Partei nahestehenden Verband Zengakuren. Und früh regt sich dort die Kritik an der Stationierung amerikanischer Soldaten in Japan. Bereits 1959 organisieren Studenten Proteste – und bereits damals setzt eine Zersplitterung in konkurrierende Fraktionen ein. Mitte der Sechziger eint sie kurzzeitig die Opposition gegen den vor der eigenen Haustür tobenden Krieg in Vietnam. Von 1967 an liefert sich die politisierte Jugend regelrechte Schlachten mit der Polizei.

An den Universitäten artikuliert die Studentenschaft von Mitte der sechziger Jahre an ihr Unbehagen am autoritären Erziehungssystem. 1968 werden Hochschulen wie die renommierte Todai in Tokio komplett bestreikt und verwandeln sich in den Schauplatz eines erbitterten Kleinkriegs um die Vorherrschaft auf dem Campus. Bis Mitte der Siebziger fordern die Fraktionskämpfe 44 Tote und fast 5.000 Verletzte – weitaus mehr Opfer, als die japanische Rote Armee Fraktion auf dem Gewissen hat, die 1971 aus den Straßenkämpfen der sechziger Jahre hervorgeht.

Der Prager Frühling ist nicht der erste Versuch, demokratische Reformen im Ostblock durchzusetzen. Und er ist nicht der erste, den Moskau niederschlägt: Im August 1968 rollen sowjetische Panzer über die Grenzen der ČSSR, so wie es 1953 in der DDR geschehen ist und 1956 in Ungarn.

Der Frust über die Verhältnisse hat sich in der Tschechoslowakei über Jahre angestaut, schon 1953 ist es in Pilsen zu einem ersten Aufstand gekommen. Die Wirtschaft stagniert, es herrschen Zensur und ruinöser Stillstand. Kritik wird von vielen Seiten laut: sei es 1967 auf dem Kongress des Schriftstellerverbandes oder in der Kommunistischen Partei selbst, wo der Ökonom Ota Šik Wege aus der Misere sucht. Studentischer Ungehorsam flankiert den Wandel eher, als ihn anzutreiben. So am 31. Oktober 1967, als in Prag 1.500 Studenten mit Kerzen und der hintersinnigen Parole "Mehr Licht!" auf die Straße gehen, um gegen die Zustände in den schlecht beheizten und mangelhaft mit Strom versorgten Wohnheimen zu protestieren.

Der Mann, auf den sich bald alle Hoffnungen richten, heißt Alexander Dubček. Am 5. Januar 1968 wird er Erster Sekretär des Zentralkomitees. Binnen weniger Wochen bringt er das Land auf Reformkurs, lockert die Zensur, setzt eine Aufarbeitung stalinistischer Verbrechen in Gang und verspricht einen "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Die Aufbruchsstimmung führt zu immer weiter gehenden Forderungen der Zivilgesellschaft. Dubček, der aus Moskau argwöhnisch beobachtet wird, bringt dies rasch in Bedrängnis. Nach knapp acht Monaten erstickt die Sowjetunion den demokratischen Frühling mit militärischer Gewalt.

Ende Januar 1968 demonstriert eine kleine Gruppe von Studenten in Warschau gegen die Zensur des Kulturlebens, nachdem ein Drama des polnischen Dichterfürsten Adam Mickiewicz abgesetzt worden ist. Im März weitet sich die Kritik zum Massenprotest aus, der auch die Universitäten ergreift.

Das Regime unter Władysław Gomułka reagiert mit Schlagstöcken, Handschellen und Tränengas – und mit antisemitischer Propaganda. Hinter den Protesten, heißt es, steckten "aufwieglerische Zionisten". Tag für Tag decken regierungstreue Zeitungen angebliche Verschwörungen auf: der Beginn einer Hetzjagd, die viele Beobachter an Stalins antizionistische Kampagne der frühen fünfziger Jahre erinnert.

Die Sündenbock-Taktik verfängt – und ermöglicht es Gomułka nicht nur, einige der Protestführer zu isolieren, die aus jüdischen Elternhäusern stammen, sondern auch unliebsame jüdische Genossen aus dem Staatsapparat zu entfernen. Bis zum Sommer 1969 verlassen rund 11.000 jüdische Polen das Land, unter ihnen Hunderte Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler.

Wird die Prager Frühlingsstimmung auch die DDR erfassen? Die Befürchtungen in der SED-Führung sind groß, zumal die Tschechoslowakei zu den beliebtesten Reisezielen der DDR-Bürger zählt.

Schnell nimmt das staatliche Reisebüro das Nachbarland aus dem Programm. Verhindern aber lässt sich nicht, dass der Funke hier und da überspringt. Zu großen Protesten allerdings kommt es nicht. Courage beweisen all jene, die Transparente aufhängen und Flugblätter verteilen, auf denen sie ihre Solidarität mit Dubček bekunden. Den Akten der DDR-Generalstaatsanwaltschaft zufolge werden 1189 meist junge Ostdeutsche wegen ihrer Sympathie für die Reformen in der ČSSR strafrechtlich belangt.

Ansonsten hat sich der Protest 1968 in die Nischen der realsozialistischen Gesellschaft zurückgezogen. Anders drei Jahre zuvor. Damals erlebt der "Arbeiter-und-Bauern-Staat" ein kleines Achtundsechzig: während der Beat-Proteste im Herbst 1965, als die Staatsmacht die Versammlungen einiger Hundert "echter Beat-Fans" zusammenprügelt. Ende 1965 dann dekretiert Walter Ulbricht auf dem berüchtigten 11. Plenum des Zentralkomitees, dem sogenannten Kahlschlagplenum, eine Art sozialistische Leitkultur in Abgrenzung zum Westen. Es müsse, rief er, Schluss sein mit der "Monotonie des Yeah Yeah Yeah". Wenn man irgendwo in vollem Ausmaß begriff, wie revolutionär die kulturellen Errungenschaften der sechziger Jahre waren, dann hier, hinter dem Eisernen Vorhang.

...


Aus: "1968: USA, LSD & SDS" Christian Staas (18. April 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/2018/17/1968-revolution-befreiungsbewegungen-weltweit-schlaglichter/komplettansicht (https://www.zeit.de/2018/17/1968-revolution-befreiungsbewegungen-weltweit-schlaglichter/komplettansicht)

Quote
r.schewietzek #2

Vor 68 war es auch noch üblich in Deutschland, daß Mädchen knicksen mussten, wenn sie jemanden begrüßten und natürlich trugen sie Röcke - Hosen waren verpönt, allenfalls trug man im Winter Skihosen, wenn Schnee lag und man Winterstiefel anziehen musste, um keine nassen Füsse zu bekommen. An Hosen für Mädchen als allgemeine Bekleidung war nicht zu denken.

Vielleicht sollte man noch dazu sagen, daß es damals noch Kolonialismus gab - und es gab Bilder, wo man sehen konnte, wie portugiesische Kolonialisten die abgeschlagenen Köpfe von 'Terroristen' in Angola in die Luft hielten; das waren keine historischen Bilder, sondern aktuelle. Wenn man den Spiegel las, galt man schon als revolutionär und die Frauenbewegung existierte nur marginal. Abtreibung war natürlich verboten und Homosexualität war strafbar und wurde auch bestraft - mit Gefängnis. Ehemänner durften bestimmen, ob ihre Frauen arbeiten durften, bzw. es verbieten - und falls diese angeblich die Familie vernachlässigten, konnte das tatsächlich als Scheidungsgrund herhalten. Ein Ehemann konnte auch die Ersparnisse seiner Frau vom Konto abheben und ausgeben, ohne zu fragen. Natürlich hätte auch die Bank oder Sparkasse niemals die Frau davon verständigt. Der Vater einer Schulfreundin von mir hat ihr Sparbuch geplündert, er war Alkoholiker, das Geld war weg. Erdbeeren im Winter gab es nicht, Kiwis auch nicht, und diverses anderes importiertes Obst auch noch nicht. Die Welt hat sich wirklich verändert.


Quotelennon68 #2.2

Danke für die Ergänzungen, die zeigen wie verknöchert die Gesellschaft damals noch war. Nicht zu vergessen, die sexuelle Revolution. Keine sexuelle Aufklärung an Schulen, Abtreibungen waren verboten, die Pille kaum zugänglich. Unverheiratete durften nicht zusammen wohnen; kein Sex vor der Ehe. ...


Quotenana hara #3

Einige Kommentare wie "Euch sollte man vergasen", "An die Wand stellen" oder "Hitler hätte mit Euch aufgeräumt" waren damals die Sprache der Mehrheit über die asozialen Gammler und Demonstranten in Deutschland! Die Zeiten haben sich Gott sei`s gedankt geändert.

Ich erinnere mich noch gut: abends am Tisch beim Abendessen und ihm schwarz-weiß Fernsehen: brennende Dörfer, schreiende Menschen, eine entfesselte Militärmaschinerie (Vietnam) ...


QuoteSt.Expeditus #5

Die 68er waren nur eine kitschige Kopie der Chinesischen Kulturrevolution unter Mao.
Die wahren Revolutionäre waren Elvis Presley, Chack Berry, die Beatles und die Rolling Stones. Sie haben Millionen junger Leute erreicht und deren Leben verändert.
Die 68er waren elitär, doktrinär, autoritär. Sie haben - Gott sei Dank - die Welt nicht verändert.


Quotenana hara #5.1

Ich weiß nicht wo derKitsch der 68er ist, sicherlich haben die 68er nicht Millionen Menschen ermordet und Interlektuelle auf's Land verschickt.

Das die Musik ihren Einfluß hatte ist zweifellos richtig. Aber diese Musik war nur "Urwaldmusik", wie man damals sagte, zum Hüfte wackeln und zur Partnersuche. Ich glaube nicht, dass sich diese Musik mit dem Nazi-Terror der Vergangenheit auseinander gesetzt hat, sowie dies die 68er versucht haben. ...


QuoteHeimdahl #8

Der rebellische Lifestyle war schon der Abgesang, der in der am besten bestochenen Generation aller Zeiten mündete. Sogar ihren Nimbus durften sie mit in die Führungsposten nehmen.

Fundamentalkritik fand einige Jahre früher statt, insbesondere an Wiederbewaffnung, unkritischer Westbindung und Konsumgesellschaft als Bestechungsmittel. ,,68" war die Kanalisierung dieser Kritik ins Integrierbare.


Quotemagnalogger #11

Ich fand es interessant, dass die Kinder der fanatischsten Nazis oftmals zu fanatischen Linken wurden.
Vater war Fähnleinführer, Sohn wurde glühender Maoist, Marxist oder whatever.


Quotedeep_franz #11.1

Das ist nun gar nicht verwunderlich, sondern im Grunde klassischer Bestandteil jeder Jugendkultur. Es lässt sich übrigens auch in genau die andere Richtung beobachten, wenn aus den Kindern der "Revolutionäre" richtig konservative "Spießer" werden.
M.E ist dieser Mechanismus jugendlicher Auflehnung gegen die Elterngeneration sogar Teil der "Erfolgsgeschichte" der Menschheit.


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Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 13, 2018, 10:34:23 AM
Quote[...] Catherine Millet 70, leitet als Kunstkritikerin in Paris das Magazin art press. Ein Welterfolg war ,,Das sexuelle Leben der Catherine M." Aktueller Titel: ,,Traumhafte Kindheit".

... Der Mai 1968 hat die Sexualität aus der Versenkung geholt. Frauen wollten frei Lust empfinden. ... Jeder weiß, dass der Mai 68 am 22. März 1968 begann, als eine Gruppe Studierender den Sitzungssaal der Professoren ganz oben im Verwaltungsgebäude der Universität Nanterre besetzte. Freilich hatte es schon zuvor Proteste und Aktivitäten aller Art gegeben. So hatte die studentische Campusinitiative für den Abend des 21. März Myriam Revault d'Allonnes zu einer Vorlesung über Die sexuelle Revolution von Wilhelm Reich eingeladen – eine gute Gelegenheit, um das Manifest des Orgontheoretikers ,,Was ist sexuelles Chaos?" als Flugblatt zu verteilen.

Ein Beispiel darin für sexuelles Chaos: ,,Durch erotische Filme die Jugendlichen sexuell zu erregen, um Geschäfte zu machen, aber ihnen die natürliche Liebe und Befriedigung, noch dazu mit Berufung auf die Kultur, zu versagen."

... Pierre Viansson-Pontés Artikel ,,Wenn Frankreich sich langweilt" [Quand la France s'ennuie], eine Woche vor dem 22. März 1968 in Le Monde erschienen, wird heute oft als Beispiel für Verblendung herangezogen. Er schreibt: ,,Was macht unsere Jugend? Sie will wissen, ob die Mädchen von Nanterre oder Antony freien Zugang zu den Zimmern der Jungs bekommen – ein beschränkter Begriff der Menschenrechte." Anders gesagt: Nichts zu erwarten von unserer nutzlosen Jugend, die sich mehr für Belanglosigkeiten interessiert als für Politik.

Diese Auffassung steht für eine Geisteshaltung, die das Thema Sexualität zwar nicht ignoriert, es aber trotzdem für vollkommen unernsthaft hält. Unwichtig, unbedeutend. Bei einer Schwimmbadeinweihung am 8. Januar 1968 auf dem Campus von Nanterre kritisierte Daniel Cohn-Bendit den Sport- und Jugendminister François Missoffe dafür, dass er sich nicht für die sexuellen Schwierigkeiten der Jugend interessiere. Der Minister empfahl dem jungen Mann daraufhin einen Sprung ins Becken, er riet zu kaltem Wasser als Gegenmittel, so wie andere früher Bromid zur Beruhigung verschrieben hätten. Ein Sprung ins Wasser, und schon denkt man nicht mehr daran.

Der Journalist wie auch der Minister hinkten weit hinter ihrer Zeit zurück. Ihre Äußerungen legen die große Kluft offen, eine Kluft zwischen Mächtigen in den Medien und der Politik und dem, was in der Gesellschaft damals bereits gelebt wurde. Der Pariser Mai hat die Gesellschaft nicht umgekrempelt, aber er hat die Notwendigkeit aufgezeigt, dass die Regierenden ihre Uhren richtig stellen. Trotz allem hätten Viansson-Ponté und Missoffe im Hinterkopf haben sollen, dass die Nationalversammlung im Dezember 1967 endlich die Empfängnisverhütung legalisiert hatte, was nicht ohne Kampf abgegangen war. Doch sogar General de Gaulle hatte sich den Argumenten von Lucien Neuwirth, dem Initia­tor des Gesetzes, gebeugt. Dieses Gesetz bestätigte gewissermaßen die tiefgreifende Veränderung, die in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen begonnen hatte, vor allem bei den Babyboomern, die nun in einem Alter waren, dass sie selbst Kinder bekamen, und deren Lebensstil sich an der amerikanischen Gegenkultur orientierte, vielleicht träumten sie ja vom Summer of Love in San Francisco.

Heute denke ich, dass es für meine Freundinnen, die bürgerlicher aufgewachsen sind als ich, sicher viel schwieriger war, von ihren eher konservativen Eltern die Erlaubnis zu kriegen, die Pille zu nehmen. Ich komme aus einem volkstümlichen Pariser Vorort, und sobald meine Mutter merkte, dass ich sexuelle Kontakte hatte, schickte sie mich zum Arzt. Das war 1966, als die Pille bereits unter dem Vorwand medizinischer Gründe verschrieben werden konnte. Merci, Maman! Sie ermöglichte mir ein Jahr Vorlauf vor dem Gesetz.

Vor dem Gesetz, nach dem Gesetz – die Vorschriften auf dem Campus von Nanterre waren folgende: Nach 22 Uhr durften die Jungs Besuch bekommen, während dies den Mädchen verboten war. Ich habe mir viele Gedanken über diese absurde Ungleichbehandlung gemacht. Florence Prud'homme, heute Frauenrechtlerin und Verlegerin, die 1968 auf dem Campus lebte, erinnert sich, dass Studenten und Studentinnen intensive Kontakte hatten und dass es in Nanterre eine Beratungsstelle für Familienplanung gab. Florence nimmt mir darüber hinaus meine naive Vergesslichkeit in Bezug auf die damalige Mentalität: Jungen Männern wurden Bedürfnisse zugestanden, die junge Frauen gar nicht kannten. Frühere Generationen fanden es ja auch normal, dass ein junger Mann seine ersten sexuellen Erfahrungen im Bordell machte, während ein junges Mädchen seine Jungfräulichkeit bewahren musste. Beim Mann also ist sexuelles Verlangen drängend, bei der Frau kann es warten. Eine Moral und ein Begriff von Körperlichkeit, die eher ins 19. Jahrhundert gehören!

Der Dekan nannte die Studenten, die den Abend des 21. März 1967 bei den Studentinnen verlängert hatten, ,,Eindringlinge". Doch sie waren nirgendwo eingedrungen – die Mädchen hatten ihnen die Tür geöffnet. Sie haben damals deutlich gemacht, dass ihre Lust genauso drängend sein kann wie die der Männer. Meine These ist einfach: ,,Lust ohne Fesseln" [jouir sans entraves] wäre nicht auf die Mauern geschrieben worden, hätten die Frauen nicht zuvor beschlossen, dass sie ebenso frei Lust empfinden wollen wie die Männer.


Aus: "Der Mai '68 in Frankreich - Merci, Maman!" Catherine Millet (12. 5. 2018, Übersetzung: Gaby Wurster)
Quelle: http://www.taz.de/Der-Mai-68-in-Frankreich/!5501327/ (http://www.taz.de/Der-Mai-68-in-Frankreich/!5501327/)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 17, 2018, 10:25:21 AM
Quote[...] Berlin - Diesmal ist er wirklich tot: Der linksradikale Politaktivist Dieter Kunzelmann, der 1998 per Todesanzeige seinen Selbstmord vorgetäuscht hatte, ist am Montag im Alter von 78 Jahren in seiner Kreuzberger Wohnung verstorben. Das bestätigte sein Anwalt Hans- Christian Ströbele dem Berliner KURIER.

Er war eine der führenden Personen der Studentenproteste in West-Berlin, Freund Rudi Dutschkes, Mitbegründer der Kommune 1, Terrorist und 1983 bis 1985 Abgeordneter des Grünen-Vorläufers Alternative Liste. Sein ehemaliger Anwalt, zeitweiliger Arbeitgeber und Weggefährte Hans-Christian Ströbele sagte dem KURIER: ,,Ich bin sehr traurig. Das ist eine Zeit, um nachzudenken und sich zu erinnern."

Er hatte erst ein Ei auf den Dienstwagen des damaligen Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen (CDU) geworfen und beim Prozess ein Ei auf dem Kopf des Zeugen Diepgen zerdrückt – begleitet von den Worten: ,,Frohe Ostern, du Weihnachtsmann." Dafür sollte Kunzelmann sitzen, ,,starb" aber lieber ,,Auferstanden" war er ein gutes Jahr später, trat seine Haft an und kam im Mai 2000 frei. Dabei warf er drei Eier an das Gefängnis Tegel.

So ulkig das heute klingen mag: Der Provokateur Kunzelmann, zeitweilig Mitglied der ,,umherschweifenden Haschrebellen", war kein harmloser Clown. 1969 lernte er – begleitet von seiner Freundin und späteren Terroristin des ,,2. Juni", Ina Siepmann – bei den palästinensischen Fatah-Bewegung das Bombenbauen und das Schießen.

Kurz nach seiner Rückkehr wurde am Jahrestag der ,,Reichspogromnacht", dem 9. November 1969, eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus gelegt, die aber nicht explodierte. Urheber waren laut einem Flugblatt die Terrorgruppe ,,Tupamaros West-Berlin", deren Kopf Kunzelmann gewesen sein soll.

Er hatte die Bombe offenkundig nicht gelegt, ehemalige Mitstreiter beschuldigten ihn aber der Anstiftung und bezeichneten ihn als Antisemiten. Kunzelmann selbst bestritt später eine Beteiligung an dem Anschlag. Später saß er wegen Brandstiftungen und anderer Straftaten jahrelang hinter Gittern.


Aus: "Dieter Kunzelmann (✝78) Abschied von einem Bürgerschreck" Christian Gehrke, Gerhard Lehrke (16.05.18)
Quelle: https://www.berliner-kurier.de/berlin/leute/dieter-kunzelmann---78--abschied-von-einem-buergerschreck-30412794 (https://www.berliner-kurier.de/berlin/leute/dieter-kunzelmann---78--abschied-von-einem-buergerschreck-30412794)

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Quote[...] Der Politologe Wolfgang Kraushaar deckte 2005 auf, dass Peter Urbach, ein V-Mann des Berliner Verfassungsschutzes, die Bombe geliefert hatte. Die Berliner Behörden kannten durch ihn die Namen der beteiligten Täter, die der Schlussbericht einer eingesetzten Sonderkommission benannte. Die Staatsanwaltschaft erhob jedoch keine Anklage; der damals zuständige Staatsanwalt wollte sich 2005 nicht dazu äußern. Kraushaar erklärt dies mit dem ,,großen Ansehensverlust der Bundesrepublik", falls der Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus mit staatlichen Mitteln verübt wurde.[11] Urbachs Rolle bei dem Anschlag wurde nicht vollständig geklärt.[9] ...

[9] Gerd Koenen: Rainer, wenn du wüsstest! Der Anschlag auf die Jüdische Gemeinde am 9. November 1969 ist nun aufgeklärt – fast. Was war die Rolle des Staates? In: Berliner Zeitung, 6. Juli 2005
[11] Steffen Mayer, Susanne Opalka: Bombenterror gegen jüdische Gemeinde – nach 30 Jahren packt der Täter aus. Kontraste, 10. November 2005 (Nachdruck)


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Tupamaros_West-Berlin (https://de.wikipedia.org/wiki/Tupamaros_West-Berlin) (23. April 2018)

https://de.wikipedia.org/wiki/Zentralrat_der_umherschweifenden_Haschrebellen (https://de.wikipedia.org/wiki/Zentralrat_der_umherschweifenden_Haschrebellen)

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Quote[...] Kommune 1: Politaktivist Dieter Kunzelmann ist tot - Er war Mitbegründer der Kommune 1 und galt als wichtiger Aktivist der Studentenbewegung in den 1968er Jahren. Mit 78 Jahren ist Dieter Kunzelmann gestorben.  ...

QuoteKonfusius #10

Zu Glanz und Elend (ja auch Elend) der 68er-Bewegung empfehle ich Götz Aly: 'Unser Kampf: 1968 - ein irritierter Blick zurück'. - Er, - wir alle, - waren oder sind (so wir noch leben) - Kinder unserer Zeit, Suchende und Irrende, belastet mit schweren Hypotheken der Vergangenheit. Aber war überhaupt lebendig, wer nicht suchte und irrte ?



QuoteDierahape45 #9

Namensvetter und Weggefährte, ich selbst habe bald schon in Frankfurt einen anderen Weg beschritten, aber ich halte dich in guter Erinnerung.
Fantasievoll, verrückt, mutig und menschlich warst du immer.



Quote
matotope #8

Ein wahrer Situanionist.



Aus: "Politaktivist Dieter Kunzelmann ist tot" (16. Mai 201)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-05/kommune-1-dieter-kunzelmann-gruender-tot (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-05/kommune-1-dieter-kunzelmann-gruender-tot)

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Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 22, 2018, 02:13:29 PM
Quote[...] Der klerusnahe Psychiater Raphael Bonelli warf jetzt im ORF den 68ern vor, sie seien "in der Pubertät steckengeblieben, denn sie müssen ständig gegen etwas sein, obwohl sie schon Jahrzehnte das Establishment erobert haben". Aber wenige Jahre nach '68 kamen die praktischen Maßnahmen der großen gesellschaftspolitischen Reformen der ersten sozialdemokratischen Alleinregierung unter Bruno Kreisky: Familienrechtsreform, Strafrechtsreform, Bildungsreform durch neue Hochschulgesetze, Schülerfreifahrten und Gratisschulbücher. "Das ist genau die Lücke, in die Kreisky hineinstieg", sagt Rathkolb. Der SPÖ-Kanzler war ein Gegner der 68er, fing aber gleichzeitig das gesellschaftliche Bedürfnis nach Veränderung auf – und brachte es 1970 genau dorthin, wo der Bedarf war: bei Jungwählern, Erstwählern, bei den Frauen, in kleinen Gemeinden. "Das sind jene Gruppen, die von den autoritären Strukturen am stärksten unterdrückt waren." "Eine entscheidende Veränderung war der Umgang mit Kindern", urteilt Fischer-Kowalski. "Das ist wirklich geblieben und hat einen Riesenunterschied gemacht. Das antiautoritäre Moment hat die Sozialisationsbedingungen von Kindern nachhaltig verändert. Der schiere Autoritarismus und die Gewalt gegen Kinder haben sich stark verringert." "Die Familien- und Sexualstrafrechtsreformen von Kreisky hätte es ohne die 68er nicht gegeben", sagt Gerfried Sperl, früherer STANDARD-Chefredakteur und damals Chef der Hochschülerschaft Graz. Sperls "Aktion" war übrigens der Beleg dafür, dass Österreich 1968 nicht nur links, sondern auch bürgerlich-katholisch- liberal war. Die Forderung der Grazer Studenten: Die "kostümierten" Burschenschaften müssen von den Feierlichkeiten an den Unis verschwinden . "Am stärksten geblieben von 1968 ist die Hochschulgesetzgebung", sagt Sperl. Mitbestimmung, Drittelparität, Schluss mit der Herrschaft der Ordinarien.

Und die "Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie" (Kreisky). Der Gedanke, dass man Autoritäten infrage stellen kann, sogar erfolgreich, dass Hierarchien nicht gottgewollt sind, dass es eine Liberalität des Denkens gibt – "dieser Gedanke hat Österreich massiv verändert", ist Peter Kowalski überzeugt. Eine Rolle dabei spielte für Peter Huemer die "Demokratisierung" durch den neuen ORF, einfach durch intensive Berichterstattung. Ist eine neue Revolution am Horizont? Derzeit nicht, sagen alle. Eine Umfrage, die Rathkolb gemeinsam mit dem Sora-Institut gemacht hat, zeigt sogar einen Schub in Richtung autoritäre Einstellungen. "Momentan kämpfen auch gut Ausgebildete in prekären Verhältnissen um ihre Zukunft. Aber wenn ihnen das Wasser bis unter die Nase reicht, dann werden sie sich schon rühren." (Hans Rauscher, 21.5.2018)

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Aus: "1968 – war da was?- SPURENSUCHE" Hans Rauscher (21. Mai 2018)
Quelle: https://derstandard.at/2000080015931/1968-War-da-was (https://derstandard.at/2000080015931/1968-War-da-was)

Quoteanders and 69

a bisserl a akademische Nabelschau ist das schon - der erste kulturelle Umbruch kam doch um 1955 mit der städtischen Arbeiterjugend, die sich an James Dean und Elvis Presley orientierte, und ihr Leben nicht mehr alleine auf Arbeit und Familie hin orientieren wollte, wie das in den vermieften 50ern zuvor üblich war;
aber dafür interessieren sich die angeblich linken, intellektuellisierenden Zirkel ja überhaupt nicht. Sind ja nur Arbeiter, die mit der Elite überhaupt nichts am Hut hatten, wie garstig!


QuoteEdwinTheMan

Kommt alles wieder. Jetzt kommt erst mal der Spießermief zurück, halt laktosefrei und ohne Gott, dafür um so mehr mit Geld. Irgendwann wird's dann wieder zu dick werden, so ein Spießerleben hat auf die Dauer einfach zu viele Widersprüche. Dann werden wieder Leute kommen, die das ganze wieder aufbrechen.


QuoteGrüner Hein

Lernunfähigkeit - Sämtliche 68er-Konzepte sind gescheitert: Freie Liebe, Multikulti, antiautoritäre Erziehung, Abschaffung von Heimat und Familie usw.
Trotzdem scheinen die Proponenten dieser "Revolution" bis heute nichts dazuzulernen. Selbstreflexion ist den 68ern anscheinend unbekannt, was umso mehr verwundert, als diese Leute doch intelligent waren. Somit bleibt als Erklärung für ihre Irrationalität nur ein für heutige junge Leute unvorstellbares Ausmaß an Komplexen, was sicher mit der Erziehung durch die Kriegsgeneration zusammenhängt.


Quoteanders and 69

"neues Biedermeier" ist doch schon seit 45 Jahren ein Schlagwort für die jeweils aktuelle Situation - lustig, wie viele Leute meinen, das sei originell so unheimlich passend, gerade für die jetzige Situation - dabei wird "das Neue Biedermeier" zuverlässig mindestens alls fünf Jahre ausgerufen:

"Ein neues Biedermeier?" (29.01.1973)
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42713745.html (http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42713745.html)


QuoteJuusto Hampurilainen

Die 68er haben die Kriegsgeneration noch als voll im Leben stehende, vitale Patriarchen mit Allmachtsanspruch erlebt und versucht, dieser autoritären und rückwärtsgewandten Welt etwas entgegenzusetzen. Im Gegensatz dazu kennen die Millenials diese extreme gesellschaftliche Enge nicht. Ihr Bezug zur Kriegsgeneration ist entweder inexistent oder jener zu altersmilden Großeltern, bei denen man nicht so genau hinhört, wenn sie eigenartige Ansichten absondern.
Diese junge Generation wählt nun wieder den Rückschritt und kapiert nicht, was sie sich damit einbrockt.



QuoteLe Comte

Für mich ist das Folgende charakteristisch für das, was sich geändert hat:

Anzeige nach StVO vor 68:
Sie haben sich am y.x hierorts um 10:45 im Zimmer xxx einzufinden.

Nach 68:
Sie werden gebeten etc. Sollten Sie dazu nicht in der Lage sein, bitten wir Sie um telefonische Kontaktaufnahme.


Quotemy nucular dingaling

Erst vor kurzem wieder eine Doku über die Muehl Kommune gesehen. Ein Drecksack und perversr Kinderschänder der sich für eine art Gott hielt. Ich weiß schon, jetzt kommen wieder die Leute die meinen man muss die Kunst und die Person trennen, aber das ist in meinen Augen Unsinn.


QuoteAnton Szanya

Revolutionsjahr 1968? - Das studentische Revolutionsjahr war 1848!
Damals forderten die Studenten mit Erfolg Lehr- und Lernfreiheit und die Abschaffung des streng reglementierten Studienganges, der auch schon damals "prüfungsinaktive" Studenten sanktionierte. Der damalige Studiengang hatte, wie Anton Massari es ausdrückte, in erster Linie "philantropistische" Ziele, das heißt die Verwendbarkeit der Studenten als juristisch geschulte Beamte und als taugliche Ärzte. Der heutige Bologna-Prozess mit seinem Zwang zum Erwerb der erforderlichen Anzahl an ECTS-Punkten ist im Grunde nichts anderes.
Ein Studium im eigentlichen Sinne zur Befriedigung wissenschaftlichen Erkenntnisdranges und Bereicherung der Persönlichkeit war damals so unmöglich wie es das heute ist.
Wir leben wieder in einem Vormärz.


Quotedasmussichloswerden

Was lief den zeitgleich in katholischen und staatlichen kinderheimen ab, in priesterseminaren? Was in gutbürgerlichen, angesehenen familien? Wieso fanden sich Altnazis als lehrer und richter unbehelligt in der gesellschaftsmitte? Ich kann die 68er heute bestens verstehen und ohne deren radikalität und provokation hätte sich gar nichts geändert. Es war nicht die zeit und nicht die Verpflichtung für alles lösungen anzubieten, aber der protest war und bleibt vorbildlich.


QuoteGünther Bauer sen.

Was wirklich etwas bedeutete war nicht die "Uniferkelei", die wurde von den Jugendlichen eher mit Humor genommen. Das Wichtige war der Generationenwechsel der Jugend vom Folgsamen, Strebsamen und auf Konvention bedachten Heranwachsenden zum Nein-Sager, Kritiker und Nonkonformisten. Gab es in den 50ern und Anfang der 60er nur das Bestreben, den Eltern nachzueifern und auch "Erwachsen" sein zu wollen, begann man ab 66, lieber ewig jungedlich bleiben zu wollen (auch wenn das Berufsleben dann zuschlug).
Und ein wirklich tragendes Element der Veränderung war, war die Musik. Nach Jahren des Tingeltangel-Schlagers kamen erstmals Rock und Pop nach Österreich. Das bewirkte ein unglaubliches Freiheitsgefühl und grenzte gleichzeitig gegen die Elterngeneration ab.


QuoteShyama Charan

In Paris, Berlin & London kämpfte man auf den Straßen
In Wien saß man im Trockenen und onanierte gemütlich ...


QuoteNoTrueScotsman

Wer sich ein paar Interviews von damals reinzieht (gibt's unter anderem auf YouTube) der merkt relativ schnell, dass diese Kids vor allem das waren, was man heute als Hipster bezeichnen würde - und auch ähnlich auftraten. '68 ist massiv romantisch verklärt - meistens von den damaligen Anhängern. Nüchtern betrachtet handelt es sich beim "Geist" dieser Zeit um irgendeine nicht greifbare Form der Rebellion, die meistens nicht einmal von den Teilnehmern ernst genommen wurde.


Quoteyoghurtinator

Um die Auswirkungen von 68 in Österreich auf das heute zu konstatieren, muss man sich nur den späteren Zustand der damaligen 68er vor Augen führen. Viele von ihnen sind übergangslos von "wer zweimal mit derselben pennt..." in eine biedere Karriere, etwa in der Bank oder als Beamter eingebogen. Das sind dieselben Leut, die heut bei ihren eigenen Kindern jammern "Oiso i versteh des ned, wieso die Jungen heut so konformistisch san. Wie mir jung warn, hamma doch so revolluzt."



Quotequisquam

Ein echter schauriger
Treppenwitz der Geschichte, daß ausgerechnet ein ehemaliger NS-Arzt und Mordgeselle über den Geisteszustand der Aktionskünstler zu befinden hatte. Von solchen Figuren wie Gross (SPÖ-Mitglied) hat uns die Zeit befreit und leider keine 68er- oder sonstige Revolution. Überhaupt sehe ich die Bilanz dieser Protestbewegung im Ergebnis nicht ganz so positiv. Ein subalterner Parvenü und Beschwörer des "gesunden Volksempfindens" schreibt immer noch in der "Krone" und wird für seine Dreckschleudereien noch von der Republik ausgezeichnet. Rechte Burschenschafter sitzen 50 Jahre nach 1968 in hohen Positionen und lassen in ihren Zirkeln unter sich den Ungeist der Vergangenheit hochleben. Viel gelernt haben manche also keineswegs, im Gegenteil...


QuoteAlfred J. Noll

Die Sozialdemokratie konnte sich 1970 ff. als politischer Vermittler darstellen. Sie hatte eine gesellschaftliche Kraft links von ihr. Strafrechtsreform, Familienreform, Bildungsreform, neue Arbeitsverfassung etc. waren nur möglich, weil neben der Sozialdemokratie eine (radikal-)engagiert-utopische "politische Macht" bestand, die dem Institutionengefüge Reformen aufzwang, indem sie den Eindruck erweckte, dass bald alles außer Kontrolle geraten könnte. Als die Gruppen, Grüppchen und Einzeldarsteller dann eingefangen (bürokratisch pazifiert) waren, beschied sich die Sozialdemokratie wieder damit, die bestehenden Verhältnisse bloß noch zu verwalten - das Ergebnis sehen wir heute.


QuotePfeil

Die 68er-Generation hat uns die aktuelle Misere eingebrockt: Rückgang der Geburtenrate, Werteverfall und Islamisierung. Ein hässliches Erbe.


QuoteToxo Logic

Islamisierung?
Das wahr wohl umgekehrt. Schauen Sie sich einmal Bilder aus den 70ern von Kairo, Kabul oder Ankara an. Da waren Miniröcke angesagt und nix mit Kopftüchern.
Es sind die Wertkonservativen, die auf der ganzen Welt die Islamisierung verbreiten.


QuotePhaidros_III

Die 68er für die Islamisierung verantwortlich zu machen ist schon ein starkes Stück. Ziehen's bitte Ihre Lederhose an und gehen's zum Volksfest ( bei der John Otti Band werden sie sich unter ihresgleichen sofort besser fühlen).


QuoteLaTuja

Was war 68? In den USA die Proteste gegen den Vietnamkrieg und damit der Beginn einer Friedensbewegung.
In Europa der größte gesellschaftliche Wandel nach dem Krieg.
Kulturelle Freiheiten, Die Pille , neue Musik wie Beatles, Stones, Minirock als Skandal, Die Bewegung der Grünen in Hainburg, Das Infrage stellen aller Autoritäten und dem neu Definieren von Frauenrechten und Kinderrechten.
die 68 beschränkten sich nicht auf eine Aktion in der Uni und ich würde es nicht als Höhepunkt bezeichnen.
Es war ein neues Lebensgefühl, mit Irrungen und Fehlern, aber im großen und ganzen die Basis des liberalen Lebens, das wir heute genießen.
Lassen wir uns das nicht wegnehmen durch eine rückwärts gewandte Politik.


Quoteabaris

Was viele immer wieder vergessen: '68 war nicht dieser große Knall und plötzlich war alles anders. Das hat Mitte der 60er begonnen und sich bis weit in die 70er entfaltet.
Ja, ich war ein Kind damals. Woran ich mich erinnere, ist primär die Musik, die Paperbox am Graben (some old farts might remember) und dass mir niemals der Mund verboten wurde. Auch dass meine Eltern die Zeit willig und begeistert angenommen haben, obwohl Kriegsgeneration und in den 20ern geboren. Es war, aus kindlicher Perspektive, lustig und bunt damals. Die Großeltern, obwohl kleine Gewerbetreibende, waren überzeugte Sozis.
Ich muss aber auch sagen, dass ich aus heutiger Sicht, äußerst privilegiert aufgewachsen bin. Geld war kein Thema. Andere haben die Zeit wohl nicht in so guter Erinnerung.


Quotemaximalist

... Ich halte nichts vom "hoch stilisieren" der 68er, aber es ging fast immer um die Gesellschaft und Allgemeinheit und nicht um Abschottung und Abgrenzung.


Quotele pere duchesne

Natürlich war 68 was - aber in Österreich leider nicht so richtig: Die großen Studentenrevolten in Frankreich und der BRD waren die Spitze eines Eisberges, der den ganzen konservativen Mief der Nachkriegszeit durchbrochen hat. Autoritäten und Hierachien wurden hinterfragt und der Lächerlichkeit preisgegeben, die Gesellschaft wurde liberaler - gut so.
Die Entwicklung hier fand allerdings so statt, dass diese Einflüsse vor allem von Deutschland her einsickerten und nicht vor Ort erkämpft wurden. Wie immer hinkte Österreich hinterher - ein Land, das sich für Revolten nicht eignet.
Warum? Geringe Bevölkerungsdichte, wenig urbane Zentren und eine jahrhundertelange Verdummung durch den Katholizismus.

...


QuoteDerSchenkelklopfer

"Wir sind uns manchmal recht revolutionär vorgekommen, aber so wirklich waren wir das nicht"
Das ist eigentlich die Zusammenfassung der gesamten österreichischen Linken.


Quotemag. wilhelm polterer reloaded

Ist es nicht ein bißchen traurig, dass linke Bewegungen in der Gegenwart ständig nur von der Vergangenheit reden? Da ist einerseits der Säulenheilige Kreisky, der bei jeder Gelegenheit erwähnt wird und andererseits die "68-er", deren Revolution im Dauerdurchlauf alle paar Jahre gefeiert, er- und verklärt wird. Nur was ist mit der Gegenwart - gibt es seit den 70er-Jahren keine gedanklichen Impulse und Ideen mehr?


QuoteMafi

Es ist der ewige Kampf ums Narrativ, um die Erzählung der Geschichte. Für die Rechten ist 68 der Sündenbock für alles, für die 68er ihr beweis das sie was bewegt hätten. ...


Quote
pol.korr. Weltbild-Schoner

Grau: Der Schwenk ins Intolerante kam, als die Ideale von 1968 mehrheitsfähig geworden waren, also in den 1990er Jahren. Überhaupt würde ich darauf pochen, dass nicht 1968 unsere Gesellschaft verändert hat. Nur Intellektuelle glauben, dass Intellektuelle die Welt verändern.


Quote
Erich aus Hietzing

Uni-Ferkler und ihre Anhänger kassieren jetzt oft hohe Beamtenpensionen
1968 gegen den Staat protestieren,
2018 sich von den Steuerzahlern mit einem Vielfachen der ASVG-Pension aushalten lassen, die bei weitem nicht durch erhöhte Pensionsbeiträge abgedeckt ist.


Quotesaurewurst

österreich hat zehntausende nazis mit spitzenpensionen durchgefüttert und wird sicher mit einer handvoll 68er rentner nicht in konkurs gehen


Quotebretterregens

"Aus den 68ern ist eine Generation Egoisten entstanden."

Die 68er haben verschiedenste Lebensentwürfe und unterschiedliche Richtungen mit unterschiedlichen Zielen hervorgebracht, von ausgerägtem Individualismus bis kollektiven Forderungen. Das auf banale Phrasen runter zu brechen wie Sie es tun zeugt nicht von faktischer Differenziertheit, sondern von populärphilosophischen Versuchen, die zur Zeit um sich greifen.


Quote
slim shady

... 1968 hat nicht nur eine gesellschaftliche sondern auch eine kulturelle Revolution in Gang gesetzt. Musik, Mode, Theater, Film.
Und natürlich die sexuelle Revolution. Insgesamt die Machtgewinnung der Jugend, das Aufbrechen der jahrhundertlang durch Kirche und Monarchien gefestigten und allgemein anerkannter Autoritätsordnung.

Sozusagen die Pubertät der westlichen Gesellschaft.


QuotePenjamin Hakeler

Ich bin in den Siebzigern geboren und in den Achtzigern und Neunzigern groß geworden. Ich habe sie miterlebt, die Revolution, den Bruch mit der Gesellschaft und dem Elternhaus. Es war eine wahnsinnig energiegeladene Zeit. Und heute ist es nicht anders. Unsere Kinder werden uns zeigen wo es lang geht.


QuoteDante75

Die 68er haben vorallem das Gesellschaftssystem, dass von den Nationalsozialisten geprägt wurde aufgebrochen. Der Nationalsozialismus stärkte die konservativen Rollen, verfestigte Rollenverständnisse und lies, wie heute im neokonservativen Kapitalismus, die Reichen reicher werden. Die 68er waren ein Versuch, diese gesellschaftliche Grundordnung, die "nur" durch den Führungswechsel 1945 ja nicht beseitigt wurde, aufzubrechen. Und es gelang den 68ern auch und dafür sind wir ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, denn sonst würden wir immer noch in einer Gesellschaft leben, in der gesellschaftliche Positionen zum größten Teil vom Schicksal vorgegeben sind.


Quoteka-tse

Ich habe diese Zeit der 68er durchlebt und auch mitgemacht. Und Sie haben meiner Meinung nach grade die eigentlichen Ursachen der Bewegung aufgezeigt. Damals saßen die alten Nazis in gleichen oder ähnlichen Stellungen wie unter Hitler. So waren meine Lehrer damals fast alle 'ehemalige' Nazis. Die Nichtnazis waren entweder tot oder geflohen. Aus diesem Grund war meine Schulzeit ein Horror, inklusive der elterlichen verstaubten und rigiden Erziehung. Für mich war das damals der Grund in der 68er-Bewegung eine Chance zu sehen und daher mitzumachen - soweit ich das als jugendlicher Naiver eben verstand.


QuoteKanton

Es war halt für Auflehnung gegen ,,unterm Hitler hätt's des ned gebn".
Etwas verkürzt gesagt.


...

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 28, 2018, 12:08:13 PM
Quote[...]  Am 30. Mai 1968 wurden die Notstandsgesetze der Bundesrepublik verabschiedet. Sie legalisierten das Abhören und Überwachen durch Nachrichtendienste, führten den Richtervorbehalt ein und etablierten die G10-Kontrollkommission.

Auch sie sind ein Erbe der "68er": Die Notstandsgesetze, die im Rahmen der Notstandsverfassung und der Änderung des Artikels 10 des Grundgesetzes am 30. Mai 1968 in dritter Lesung mit 384 Ja-Stimmen und 100 Nein-Stimmen verabschiedet wurden. Mit dem Gesetzespaket wurden 28 Artikel so geändert, aufgehoben oder neu eingefügt, dass eine amtierende Regierung im Falle eines Angriffes, eines Putschversuchs oder einer Naturkatastrophe den Notstand ausrufen und die parlamentarische Kontrolle bei solch einem "inneren Notstand" aussetzen konnte.

So wurde der Einsatz der Bundeswehr im Inneren nach einer Naturkatastrophe erlaubt. Auf Seiten der regierten Bürger wurden bei einem Notstand jedoch die Grundrechte drastisch eingeschränkt. Zudem wurde auf der juristischen Ebene der Begriff des "Staatswohls" geprägt: Wer das Wohl des Staates gefährdet, sollte auch ohne Ausrufung des Notstands überwacht oder in Schutzhaft genommen werden können. Die Notstandsgesetze gelten heute als das wichtigste Erbe der ersten großen Koalition von SPD und CDU/CSU.

Im Bereich der Kommunikation führten die Notstandsgesetze zu einer Umdefinierung des Post- und Fernmeldegeheimnisses. Bis zu dieser zentralen Gesetzesänderung waren Post- und Fernmeldeüberwachungen durch deutsche Behörden verboten. Das änderte sich mit den Notstandsgesetzen beziehungsweise dem zugehörigen G10-Gesetz, das am 1. November in Kraft trat und nur in Westdeutschland galt – in Westberlin war das Abhören und Verwanzen via Besatzungsrecht weiterhin nur den Alliierten erlaubt. Fortan durften der Bundesnachrichtendienst, der Militärische Abschirmdienst und der Verfassungsschutz das Post- und Fernmeldegeheimnis brechen, wenn sie den bloßen Verdacht hatten, jemand könnte etwas planen, das die Sicherheit der BRD und das Staatswohl gefährde. Gegen die Maßnahmen konnte nicht geklagt werden, denn in "ihrem Vollzug ist der Rechtsweg nicht zulässig".

Dieser massive Eingriff in die Grundrechte wurde so erklärt: "Dient die Beschränkung dem Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, dass sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und das an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt." Als "Ersatzrechtsweg" wurde eine mit drei Personen besetzte G10-Kontrollkommission eingerichtet. Außerdem erfand man den "Richtervorbehalt" für langfristige Überwachungen, die "in den Kernbereich der Privatsphäre des Bürgers" eingreifen. All die Bestimmungen, die heute bei Überwachungsmaßnahmen der heimlichen "Online-Durchsuchung" und der "Quellen-Telekommunikationsüberwachung" gelten, können direkt auf die Notstandsgesetze zurückgeführt werden.

Für den damaligen SPD-Vorsitzenden und Außenminister Willy Brandt waren die neuen Gesetze ein großer Erfolg: "Die Bundesrepublik ist erwachsen genug, um die Ordnung ihrer inneren Angelegenheiten ohne Einschränkung in die eigenen Hände zu nehmen." Brandt verschwieg in seiner Rede allerdings, dass die deutschen Behörden durch Verwaltungsvereinbarungen und alliierte "Vorbehaltsrechte" verpflichtet wurden, die geheimdienstlichen Interessen der Alliierten wahrzunehmen. Genauso hatten zuvor alliierte Geheimdienste bundesdeutsche Überwachungsaufträge "auf Mitteilung" des Bundesnachrichtendienstes (BND) und des Verfassungsschutzes durchgeführt.

Verfassungsschutz und BND verpflichteten sich, westlichen Geheimdiensten bei "Anwendung einer Beschränkungsmaßnahme" den Zutritt zu den Gebäuden zu gestatten, in denen die Überwachungsmaßnahme der Postverkehrs beziehungsweise das Abhören des Telefons durchgeführt wurde. In seinem Buch Überwachtes Deutschland erklärt der überwachungskritische Historiker Josef Foschepoth das Pathos der Politiker, die von der Einheit Deutschlands schwärmten, die durch die Notstandsgesetze gesichert werde: "Je nationaler die Töne der verantwortlichen Politiker wurden, desto mehr musste verschleiert werden."

"Lasst das Grundgesetz in Ruh – SPD und CDU!", skandierten die Demonstranten: Der größte und lauteste Protest gegen die neuen Gesetze kam von der außerparlamentarischen Opposition (APO). Die 68er Studenten sahen in den neuen Befugnissen für die Nachrichtendienste alte Methoden des NS-Staates wiederkehren und machten dies auf ihren Transparenten und Plakaten deutlich. Das Lied von der formierten Gesellschaftsordnung wurde gesungen, ein "Hochschulmanifest gegen die Notstandsgesetze" wurde in vier Wochen von 45.000 Studenten unterzeichnet, ganz ohne Internet. Am 11. Mai 1968 wurde mit dem Marsch auf Bonn die bis dahin größte Demonstration in der Bundeshauptstadt veranstaltet.

Aber auch innerparlamentarisch gab es deutlichen Protest, der hauptsächlich von der oppositionellen FDP kam. Die Freien Demokraten sahen vor allem durch die G10-Kommission den Rechtsstaat ausgehebelt. Ordentliche Gerichte und Richter müssten über die Zulässigkeit von Maßnahmen entscheiden, nicht irgendeine Kommission ohne Macht, "ein Gremium von Parlamentariern die nicht nach Rechtsgrundsätzen, sondern nach politischen Grundsätzen zu entscheiden haben und die nicht in der Lage sind, dieses Hohe Haus anzurufen, sondern die schön geheim für sich behalten müssen, was sie an wichtigen Staatsgeheimnissen gewahr geworden sind," erklärte der FDP-Abgeordnete Hermann Busse bei der zweiten Lesung der Gesetze im Deutschen Bundestag zu den vage gefassten "Fernmeldeverkehrsbeziehungen".

"Der Mann, gegen den begründeter Verdacht besteht, dass er schwerste Verbrechen zu begehen gewillt ist, genießt Rechtsschutz. Der Bürger, gegen den vage am Horizont irgendetwas auftauchen könnte – wir wissen ja gar nicht mal was, weil es nicht fassbar ist – genießt keinen Rechtsschutz." Der heftige Widerstand der FDP hielt allerdings nur bis zum Herbst 1969 an.

Nach der Bundestagswahl vom 28. September bildete man mit der SPD ("Mehr Demokratie wagen") eine kleine Koalition und Hans-Dietrich Genscher, der schärfste Kritiker der Notstandsgesetze, wurde Bundesinnenminister. Die FDP-Klage gegen die Notstandsgesetze wurde abgekündigt, was blieb war eine Klage des Bundeslandes Hessen.

Am 15. Dezember 1970 wies das Bundesverfassungsgericht diese Klage ab. Nach Auffassung der Mehrheit der Richter müsse der Bürger eine "gewisse Last" in seinen Grundrechten hinnehmen, wenn es um den "Schutz überragender Rechtsgüter" wie etwa dem Staatsschutz und dem Staatswohl der Bundesrepublik gehe. Weder die Menschenwürde, noch die Rechtsstaatlichkeit, noch die Gewaltenteilung werde verletzt, wenn der Staat geschützt werde. Eine Klage gegen die Überwachung der Bürger durch den Staat sei schon deswegen nicht zu gewähren, weil davon auzugehen ist, dass die Maßnahme "in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie korrekt und fair angewendet wird."

Drei Bundesrichter votierten dagegen und durften erstmals in der Geschichte des Bundesverfassungsgerichtes ihr Nein öffentlich begründen. Im "Abhörstreit" stellten die abtrünnigen Juristen Fabian von Schlabrendorff, Hans-Georg Rupp und Gregor Geller fest, dass es der menschlichen Würde widerspreche, wenn der Mensch durch das Eindringen in seine Privatsphäre mit dem Abhören "zum bloßen Objekt staatlichen Handelns" gemacht werde.

Die nächste juristische Instanz war der Europäische Gerichtshof, der die Beschwerde gegen die Notstandsgesetze 1978 aufgrund der europäischen Menschenrechtskonvention abwies und wiederum das Staatswohl bemühte: "Befugnisse zur geheimen Überwachung von Bürgern, wie sie für einen Polizeistaat typisch sind, können nach der Konvention nur insoweit hingenommen werden, als sie zur Erhaltung der demokratischen Einrichtungen unbedingt notwendig sind." Man müsse davon ausgehen, dass in einer demokratischen Gesellschaft wie der Bundesrepublik Deutschland die Behörden alle Überwachungsvorschriften korrekt anwenden, erklärten die Richter.

Solchermaßen juristisch abgesichert wurden in der Bundesrepublik ab September 1971 insgesamt 25 Überwachungsstellen eingerichtet. Pro Stelle wurden bis zu 240 Tonbandgeräte installiert, die die Gespräche verdächtiger Verbindungen für den Verfassungsschutz und den Bundesnachrichtendienst aufzeichnen konnten – das Ausland lag gleich nebenan. Für die Briefpost wurden drei zentrale Aussonderungsstellen eingerichtet, die jeweils bis zu 7000 DDR-Postsendungen täglich öffneten und auf staatsfeindliche Propaganda hin kontrollierten.

Die Notstandsgesetze wurden unter dem heftigen Protest der "68er" installiert. Die größten Notstände wurden von Ausläufern dieser Bewegung ausgelöst. 1975 entführte eine "Bewegung 2. Juni" den Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz und löste damit eine Überwachung von mehr als 2500 Telefon-Anschlüssen in der Bundesrepublik und Westberlin aus, die erfolglos war. Bei der nächsten Geiselnahme von Hanns Martin Schleyer kam darum ein Computersystem ins Spiel, das neben der Überwachung und Auswertung von Telefonaten zahlreiche weitere Hinweise speichern sollte. Die Fahndung nach der RAF führte zur größten Panne der Kriminalisten. Eine Panne anderer Art offenbarte sich beim Verfassungsschutz, der im Zuge der RAF-Fahndung den Physiker Klaus Traube rechtswidrig abhörte. Die G10-Kommission wurde einfach nicht informiert.

Zur 50-jährigen Geschichte des Abhörens und Überwachens gehört ein Vorfall aus der jüngeren Geschichte: vor fünf Jahren enthüllte Edward Snowden, in welchem Ausmaß westliche Geheimdienste wie der BND in Bad Aibling Telefonate und die Datenkommunikation abhörten und auswerteten. Weder das inzwischen eingerichtete Parlamentarische Kontrollgremium noch die G10-Kommission waren davon informiert – denn es gab nichts zu informieren, weil es niemand die Fragwürdigkeit der Abhörmaßnahmen erkannte. In der Rückschau erklärte Gerhard Schindler, damals der Chef des Bundesnachrichtendienstes: "Obwohl der BND als deutsche Behörde vieles penibel regelt, gab es ausgerechnet für die Frage, wann man Ausländer abhören darf, keine Anweisungen. Deshalb gab es auch kein Unrechtsbewusstsein." (Detlef Borchers) / (mho)

...


Aus: "Missing Link: Grundrechtsabbau fürs "Staatswohl" – 50 Jahre Notstandsgesetze" Detlef Borchers  (27.05.2018)
Quelle: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Missing-Link-Grundrechtsabbau-fuers-Staatswohl-50-Jahre-Notstandsgesetze-4059232.html?seite=all (https://www.heise.de/newsticker/meldung/Missing-Link-Grundrechtsabbau-fuers-Staatswohl-50-Jahre-Notstandsgesetze-4059232.html?seite=all)

QuoteJ.Reuther, 28.05.2018 09:01

Weil es keine Anweisungen gab, gab es kein Unrechtsbewusstsein? - Was für 'Menschen' sitzen denn da an den Abhörgeräten und den Schaltstellen der Macht? Jeder einigermaßen geistig gesunde Mensch hat ein Gewissen und fühlt sich schlecht, wenn er dem kategorischen Imperativ zuwider handelt: ,,Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
Oder umgangssprachlich formuliert: "Was du nicht willst das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu"

... Gesetze sollten das moralische Empfinden der Menschen abbilden, dachte ich mal.


...
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 30, 2018, 10:23:44 AM
Quote[...]  ... Helnwein: Die Welt befindet sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer noch in einem permanenten Kriegszustand. In diesen Kriegen starben 50 Millionen Menschen, ganze Nationen wurden in die Steinzeit zurückgebombt und versanken im Chaos. Keine dieser militärischen Interventionen hat jemals irgendein Problem gelöst oder irgendjemandem geholfen, außer dem Militär, der Rüstungsindustrie und deren Banken. Und da das Geschäft mit dem Tod gar so gut läuft, werden die Kampfhandlungen auf immer neue Länder ausgeweitet.

STANDARD: Sie meinen, es ginge hier nur ums Geschäft?

Helnwein: Dieser Verdacht kann sich einem schon aufdrängen, wenn man sieht, wie trotz gigantischer Staatsschulden, weltweiter Wirtschaftskrise und Sparmaßnahmen im Sozialbereich, Unterricht und Kultur die Militärbudgets ständig weiter erhöht werden. Noch nie sind so viele Waffen produziert und exportiert worden. Obwohl die Nato jährlich bereits 900 Milliarden Dollar für Rüstung ausgibt, fordern die USA Europa ständig auf, noch mehr aufzurüsten.

STANDARD: Sie fühlen sich der 68er-Generation verbunden. Wie sehen Sie diese Revolte 50 Jahre danach?

Helnwein: Die Jugendrevolte der 1960er-Jahre war der letzte Versuch, sich gegen ein System aufzulehnen, das für zwei Weltkriege und den Holocaust verantwortlich war. Die linke Studentenschaft wollte damals den Marsch durch die Institutionen antreten. Bei diesem Marsch haben aber die Institutionen gewonnen. Fischer, Schily und Mahler sind links unten hineinmarschiert, und ganz rechts oben sind sie wieder herausgekommen. Man kann es ruhig sagen: Das amerikanische, raubkapitalistische System hat den endgültigen und totalen Sieg errungen.

STANDARD: Der globale Siegeszug des Kapitalismus hat doch auch Armut verringert.

Helnwein: Noch nie war die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie heute. Das reichste Prozent der Menschheit besitzt heute mehr als der gesamte Rest. Und die Schere geht immer weiter auf.

STANDARD: Die 68er politisierten sich einst an den Gräuelbildern des Vietnamkriegs, die damals erstmals via Fernseher in die Wohnzimmer geliefert wurden. Heute scheint durch die mediale Überfrachtung mit Gewaltbildern eher ein Fluchtreflex einzusetzen. Man will eben nicht mehr hinsehen. Ist das gefährlich?

Helnwein: Der ganze Planet ist fest im Griff eines Systems, das Pasolini schon in den 60er-Jahren als Konsumterror, als den neuen Faschismus bezeichnet hat. Die Überflutung der Menschen mit überflüssigen Konsumprodukten, schwachsinnigem Entertainment, Kitsch und Gewalt in Massenmedien, Filmen und Computerspielen haben die Menschen desensibilisiert und in einen Zustand von Apathie getrieben. ..."


Aus: "Gottfried Helnwein im Interview: "Das Geschäft mit dem Tod läuft gut" Interview: Stefan Weiss (30. Mai 2018)
Quelle: https://derstandard.at/2000080648311/Gottfried-Helnwein-im-Interview-Das-Geschaeft-mit-dem-Tod-laeuft (https://derstandard.at/2000080648311/Gottfried-Helnwein-im-Interview-Das-Geschaeft-mit-dem-Tod-laeuft)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 31, 2018, 02:13:40 PM
Quote[...] Arthur F. Thurnau Professor, Karl W. Deutsch Collegiate Professor of Comparative Politics and German Studies, Professor of Political Science, Professor of Germanic Languages and Literatures, Professor of Sociology The University of Michigan, Ann Arbor --- gehalten am 5. Juni 2018 in Stuttgart auf Einladung des Deutschen Literaturarchiv Marbach in der Stiftung Geißstraße7

... Das Jahr 1968 war in den Vereinigten Staaten schon wegen der schieren Größe der Ereignisse zumindest genauso bedeutsam wie in Frankreich oder Deutschland, wenn nicht sogar noch bedeutsamer: Präsident Johnsons Ankündigung, nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren zu wollen, die Ermordung Martin Luther Kings, die Studentenunruhen an der Columbia-Universiäet, alles nur im April des Jahres (obwohl Praesident Johnsons Erklärung am 31. März stattfand); die Ermordung Robert ,,Bobby" Kennedys, die Strassenschlachten zwischen der Polizei und linken Demonstranten beim Parteitag der Demokraten in Chicago im August. ...

... Es gibt keine Helden. Selbst die good guys der Geschichte begehen gravierende Irrtümer, in moralischer Hinsicht wie im täglichen Leben. Ich kenne da keine Ausnahmen. Ich habe nie irgendwelche Achtundsechziger in den Himmel gehoben und werde das niemals tun. Ihre Fehler waren häufig zu häßlich für mich, wofür sie oft nichts konnten – das Leben ist eben so, unschön, manchmal schmutzig.

... Die Nöte weißer Arbeiter, die Woody Guthrie, ein Verfechter fortschrittlicher Politik, in Songs wie ,,Pastures of Plenty" oder ,,Hard Travelin" fuer Oklahoma oder den ,,Dust Bowl" (der arme, weiße, ausgebeutete Arbeiter aus der Prairie Oklahomas als Träger progressiver Politik) so eindringlich beschrieben hat, war das zentrale Anliegen linker Politik in den Vereinigten Staaten bis 1968. In der Nach-68-Ära wurde aus genau diesen Leuten Merle Haggards ,,Okie from Muskogee" (und inzwischen ist der genau gleiche aus Oklahoma stammende weiße Arbeiter zum Träger und Repräsentant der Reaktion schlechthin und der Red Necks und des White Trash, also zum Kern der Trumpanhänger mutiert), der ungebildete, konservative, nationalistische, Country-Musik liebende, die linke Elite hassende weiße Mann des mittleren Westens, der unerschütterliche Parteigänger Trumps.

Machen wir uns nichts vor: Die wichtigste Kluft, die Amerika von 1968 bis zum heutigen Tag durchzieht, ist in erster Linie kultureller, nicht ökonomischer Natur. Die Spaltung des Landes, zu Recht als der große ,,Kultur-Krieg" bezeichnet, hat sich seit 1968 stetig vertieft.

... ,,1968" warf ernsthaft die Frage auf, ob der westliche Fortschritt tatsächlich wünschenswert ist. Ähnliches gilt für das Verhältnis von Männern und Frauen. Unsere Auffassung von Sexualität änderte sich. Neulich sah ich zufällig eine Folge von ,,Wheel of Fortune", eine durch und durch konventionelle, ungemein biedere und immer am Mainstream orientierte Gameshow im amerikanischen Fernsehen. Bei den Kandidaten handelte es sich um schwule, lesbische und transsexuelle Paare. Unglaublich!

Das victorianisch inspirierte Bild der idealen amerikanischen Familie, wie es TV-Shows von der Sorte ,,Leave it to Beaver" über Jahrzehnte popularisiert haben – der arbeitende Mann, die Hausfrau und Mutter, zwei Kinder, ein Vorstadt-Häuschen –, diese spiessbürgerliche Vorstellung ist vollständig verschwunden. Stattdessen gibt es Sendungen wie ,,Shameless" und unzählige andere, in denen eine Vielzahl familiärer Beziehungen vorgeführt werden, die sich entsprechend der sexuellen Neigungen und Geschlechterrollen von Folge zu Folge ändern. Ich finde es ausgesprochen bemerkenswert, wie schnell die amerikanische Öffentlichkeit diesen massiven sozialen Wandel akzeptiert hat.

,,1968" veränderte ebenso die victorianische Auffassung von Alter. In der Vor-68er-Zeit waren Kinder und Jugendliche gekleidet wie Erwachsene. Wie weit diese Gepflogenheit zurückreicht, zeigen die wunderbaren Brueghel-Gemälde im Wiener Kunsthistorischen Museum. Da sehen wir Kinder die einfach kleinen Erwachsenen gleichsehen. Das genaue Gegenteil geschah nach 1968: Selbst ältere Professoren kleiden sich seither wie ihre Studenten. Sehen Sie sich Bilder von Horkheimer und Adorno an, den Koryphäen des Frankfurter Instituts. In ihren gepflegten dunklen Anzügen und mit sorgfältig gebundenen Krawatten sehen sie aus wie gediegene Erwachsene, eigentlich wie Rechtsanwälte oder Spitzenmanager, aber keineswegs wie gegenwärtige Professoren in den Geistes- und Sozialwissenschaften. (Und Jura und Betriebswirtschaft und Medizin mag das schon anders sein). Meine Generation von Professoren hingegen liefert der Welt in Sachen Kleidung das Bild ergrauter Teenager. ,,1968" sorgte dafür, dass wir partout an der Jugendlichkeit und ihrer Kultur festhalten wollen. ,,Forever young", wie Bob Dylan singt.

,,1968" warf die ziemlich genau hundert Jahre währenden Lehren über den Haufen, die bestimmten, was es heißt, politisch links zu sein. Sie kennen alle die verschiedenen Glaubenssätze, auf die sich die alte Linke gründete und die sie von der neuen Linken unterschieden. Ich will mich darüber nicht weiter auslassen, sondern zu dem mit ,,1968" wichtigsten Wort meines Vortragstitels begeben: dem ,,Mitgefühl".

Ende der 1960er-Jahre, vielleicht nicht ganz genau 1968, aber doch nah genug dran, entwickelte sich in der fortgeschrittenen Welt der liberalen Demokratien ein breites Narrativ ueber das Mitgefühl. Dieser Diskurs ist meines Erachtens absolut demokratisch, weil er einen Prozess in Gang setzt, der Demokratie letztlich ausmacht: die über das allgemeine und gleiche Wahlrecht weit hinausgehende gesellschaftliche Einbeziehung vormals Ausgegrenzter. Dieser Demokratisierungsprozess ist für mich eine umfassende Bewegung mit dem Ziel, bis dahin ausgegrenzten sozialen Gruppen Würde, Authentizitaet und Respekt einzuräumen, die sie unbedingt verdienen. Voraussetzung dafür ist es, alte Fehler einzuräumen und für Schandtaten wahre Busse zu begehen, die von einer Gemeinschaft gegenüber einer anderen begangen wurden. Den was ich in meinen Arbeiten den ,,Discourse of Compassion" also den Diskurs der Reue nenne, hat mein Freund, der israelische Historiker und Columbia-Professor Elazar Barkan, in seinem brillanten Buch ,,The Guilt of Nations" ausführlich behandelt.
Wir erinnern uns alle an Willy Brandts Kniefall am Ehrenmal für die ermordeten Juden des Warschauer Ghettos im Dezember 1970. Weitere, nicht ganz so bekannte Beispiele, zunächst aus Grossbritannien: Die Entschädigung von 5.228 Kenianern, die von den britischen Machthabern während der Mau-Mau-Aufstands in den 1950er-Jahren brutal gefoltert und misshandelt worden waren. Oder der auf das Britische Museum ausgeübte Druck, die aus aller Welt zusammengetragenen Artefakte zurückzugeben. Deutsche Museen tun dies auch. Oder die Debatten an der Universitaet Oxford über die Cecil Rhodes-Statue. Ich könnte noch zig Beispiele aus Grossbritannien, aber auch äquivalente aus Frankreich, den Niederlanden, Belgien u.a. liberal demokratischen Ländern aufzählen, wo es in den letzten 20 Jahren zu emphatischen Ausdrücken der kollektiven Reue für frühere Missetaten gegenüber anderen, in diesem Fall oft Bevölkerungen ehemaliger Kolonien, kam.

In den Vereinigten Staaten gab es 1993 die lang ueberfällige Entschuldigung von Präsident Bill Clinton für die Internierung japanisch-stämmiger Amerikaner in Lagern an der Westküste nach dem Überfall auf Pearl Harbor. Es folgte die von Präsident Barack Obama in Gesetzesform gegossene Entschuldigung von 2009 bei den amerikanischen Ureinwohnern. Der Ruf des Amerika-Entdeckers Christopher Columbus ist inzwischen ziemlich ramponiert, da seine Landung immer mehr als Beginn einer Tragödie denn als Aufbruch zu einem grossartigen neuen Staatswesen und einer neuen Gesellschaft gesehen wird. Namen für Sportmannschaften, die auf amerikanische Ureinwohner Bezug nehmen, sind nach und nach verschwunden – mit Ausnahme der in der National Football League aktiven ,,Washington Redskins", eine ungemein erniedrigende Bezeichnung. Dass ein Team mit einem solchen Namen ausgerechnet in unserer Hauptstadt angesiedelt ist, ist beschämend und unentschuldbar. In den Südstaaten gibt es überall Initiativen, die sich dafür einsetzen, Denkmäler von politischen und militärischen Führern der Konföderation, die den ehemals versklavten Schwarzen und deren Nachkommen immenses Leid zugefügt haben, zu zerstören oder zumindest aus der Öffentlichkeit zu entfernen. Und da ist nicht zuletzt die landesweit geführte appropriations-Diskussion (die kulturelle Aneignungsdiskussion), eine absolut entscheidende Debatte um die kulturelle Entmündigung bis heute marginalisierter Gruppen und Möglichkeiten und angemessene Formen der Wiedergutmachung. (Kurz erklärt: Man darf sich Gegenstände und kulturelle Gewohnheiten und Habitus ehedem unterdrückter Gruppen ohne deren vollem und explizitem Zugeständnis nicht aneignen.  Es geht vor allem um den Respekt, den man unterdrückten Gruppen schuldet. Und deren Authentizität, die man hochhalten muss.

Solche Debatten werden auch in Australien und Neuseeland geführt... Frauen sind die zivilisierende Kraft dieser Welt, und wir Männer handeln häufig entgegengesetzt. Nehmen wir jenen Terroristen, der Ende April mitten in Toronto sein Auto als toöliche Waffe gegen Frauen einsetzte und zehn auch tötete. Leider war er erfolgreich in seinem Vorhaben als Verfechter der sogenannten INCEL Bewegung – involuntary celibacy – Frauen für sein vermeintlich unfreiwilliges Zölibat zu bestrafen. Und Männerwut auf Frauen und die vermeintliche Feminisierung der Öffentlichkeit ist jedem halbwegs mit dem Internet vertrauten Beobachter längst bekannt.

Auf hunderten oder tausenden Internetseiten treffen wir eine offenen Frauenfeindlichkeit an, die bäengstigend ist. Diese Frauenfeindlichkeit ist eine männliche Reaktion auf die wachsenden Strömungen der Emanzipation und des Mitgefühls seit 1968, bei der sich konventionelle Männer übergangen und eigentlich gefährdet fühlen.
,,Die Zukunft ist weiblich." Dieser inzwischen weltbekannte Slogan stand ursprünglich auf einem T-Shirt, das für Labyris Books entworfen worden war, den ersten Frauenbuchladen in New York City, den 1972 die beiden Achtundsechzigerinnen Jane Lurie und Marizel Rios eröffneten.

Ob die Zukunft wirklich weiblich sein wird, weiss ich nicht. Aber vieles spricht dafür, dass die Politik des Mitgefühls irreversibel ist. Sicher wird es Rückschlaege geben, wie das bei allen positiven Veränderungen der Fall ist. Nachlassen oder womöglich ganz verschwinden wird sie allerdings nicht. Was diese Politik auszeichnet ist die Tatsache, dass ihre Verfechter und Nutzniesser niemals zuvor die Macht hatten, sich Gehör zu verschaffen, oder – im Fall der Tiere – eben über keine Stimme im konventionellen Sinn verfügen. Sie waren stets auf externe Wohltäter mit Mitgefühl und Möglichkeiten angewiesen, die sich ihrer annahmen, sie zu ihrer Angelegenheit machten, was ihnen nichts einbrachte ausser der zufriedenstellenden Gewissheit, Notleidenden geholfen zu haben. Weder auf monetäre Belohnung noch auf sozialen Aufstieg durfte man hoffen. Der Einsatz für hilsbedürftige Lebewesen, die keine Stimme und null Macht haben, wirft keinen Gewinn ab.

Wenn ,,1968" zumindest ein kleines bisschen zu dieser selbstlosen Generosität und zu Ausbreitung und Vertiefung von Mitgefühl beigetragen hat, sollten wir es, denke ich, als Erfolg betrachten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Geduld.



Aus: "1968 und der Diskurs des Mitgefühls: Der lange Marsch zur sozialen Inklusion"
Vortrag von Andrei S. Markovits (Veröffentlicht am 22. Juli 2018 von E&F)
Quelle: http://emafrie.de/1968-und-der-diskurs-des-mitgefuehls-der-lange-marsch-zur-sozialen-inklusion/ (http://emafrie.de/1968-und-der-diskurs-des-mitgefuehls-der-lange-marsch-zur-sozialen-inklusion/)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 09, 2018, 01:40:47 PM
Bernward Vesper (* 1. August 1938 in Frankfurt (Oder); † 15. Mai 1971 in Hamburg) ... 1969 begann Vesper den Romanessay Die Reise, den er aber nicht mehr vollenden konnte. In dem autobiographischen Fragment, das erst 1977 posthum veröffentlicht wurde, thematisiert und reflektiert Vesper das Verhältnis zu seinem Vater, seine eigene radikale politische Überzeugung, seinen Schreibprozess an der ,,Reise" sowie seine Erfahrungen mit Drogen. Es gilt als einflussreiche Darstellung der 68er-Generation und bedeutendes Zeitdokument.
Im Jahr 1971 wurde Vesper in die Psychiatrie Haar bei München eingewiesen und anschließend in die Psychiatrie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf verlegt, wo er sich am 15. Mai 1971 mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben nahm. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Bernward_Vesper (https://de.wikipedia.org/wiki/Bernward_Vesper) (5. August 2018)

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Quote[...] ,,Die Reise", ca. 1968. Ein Buch als Ich-Suche und Selbst­auf­lö­sung - Das Romanfragment von Bernward Vesper ist vielleicht das definitive Buch zu ,,68". Der Autor seziert und vermischt seine Geschichte als Sohn eines Nazidichters, die Theorie- und Revolutionsträume der Neuen Linken und die halluzinatorischen Welten von LSD-Trips – bis seine Ich-Suche im Selbstmord endet.

... Vater und Sohn Vesper waren radikal anderer Meinung, was Hitler und den Natio­nal­so­zia­lismus betraf. Aber sie stimmten überein in ihrem Hass auf die USA. Vespers Buch ist daher auch ein Doku­ment aus der heissen Entste­hungs­ge­schichte der soge­nannten Quer­front, der dunklen Verbin­dungs­linie von rechtem und linkem Natio­na­lismus, von linkem und rechtem Ameri­ka­hass, auch von linker und rechter Feind­schaft gegen­über libe­ralen Gesell­schaften. Man liest es streck­weise atemlos – weil es so gut geschrieben, aber auch, weil es so bedrü­ckend ist. Vesper kommt einem dabei (fast zu) nahe – ,,68" aber rückt weit weg.

Bern­ward Vesper: Die Reise. Reinbek bei Hamburg: rororo, 1. Taschen­buch­aus­gabe 1983


Aus: ",,Die Reise", ca. 1968. Ein Buch als Ich-Suche und Selbst­auf­lö­sung" Philipp Sarasin (2018)
Quelle: https://geschichtedergegenwart.ch/die-reise-ca-1968-ein-buch-als-ich-suche-und-selbstaufloesung/ (https://geschichtedergegenwart.ch/die-reise-ca-1968-ein-buch-als-ich-suche-und-selbstaufloesung/)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 09, 2018, 02:40:20 PM
Quote[...] Das vermutlich erste deutschsprachige Popgedicht hatte einen englischen Titel. "To Lofty with Love" entstand 1965 in London auf einem Notizzettel, nur 200 Meter von jenem Piccadilly Circus entfernt, an dem sein Verfasser Rolf Dieter Brinkmann fast genau zehn Jahre später mit 35 Jahren von einem Auto überfahren werden sollte. Gewidmet war der Siebzehnzeiler dem jetzigen Frankfurter Nachtklubbesitzer Ralf-Rainer Rygulla, der im Sommer 1966 einige Umzugskartons mit little mags - hektographierten Popschriften - aus den USA importierte. Die beiden hatten in Essen in einem "verhaßten Ausbeuterbetrieb" eine Buchhändlerlehre begonnen, würden in Kölner Wohnungen oder in fahrenden Zügen auf "Formulier- und Schreib-Partys" mit unterschiedlichsten Techniken und Textvorlagen experimentieren und 1969 im März Verlag die legendäre, damals in der BRD weitverbreitete Pop-Anthologie "ACID. Neue amerikanische Szene" herausgeben. Diese Anthologie, Brinkmann hatte 1969 schon zahlreiche eigene Titel veröffentlicht, war seine vorerst aggressivste Attacke auf den damals vorherrschenden Literaturgeschmack.

Im deutschen Sprachraum leben sich zu sehr auf Popideen einlassende Autoren statistisch gefährlich. Meistens werden sie überfahren. Fauser: Lkw; BAADER Holst: Straßenbahn; Brinkmann: Pkw. (Vesper und Schwab kamen auf andere Weise frühzeitig um.) Zwanzig Jahre nach Brinkmanns plötzlichem Tod und dem Erscheinen seines letzten Gedichtbandes "Westwärts 1 & 2" ...

... Was Brinkmann an der Literatur seiner Zeit am meisten vermißt, ist Gegenwart. Die meisten Texte sieht er als reinen "Erinnerungsfilm" angelegt, der sich "zynisch lächelnd" über die trivialen Ereignisse in nächster Nähe erhebt. Das Bewußtsein: "mit Bildern von gestern verstopft". Sein Gegenbild: die nackten Astronauten im Raum. Aber die ersehnte Projektion einer "schwerelos auszuführenden Sexualität" kann er in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nicht entdecken. Das gängige Schreiben zielt ihm viel zu sehr auf eine abstrakte, lustlos hervorgebrachte Kulturleistung ab: Unter dem Beifall der Literaturpolizei entstehen "entsetzlich verstellte" Produkte.

... Brinkmann schafft sich eigene Gattungsbegriffe: "ReiseZeitMagazin Tagebuch" oder "Verrecktes Traumbuch Totenbuch". Gedicht, Roman, Essay - "diese Einteilungen sagen längst nichts mehr, und das ist auch gut so . . ." Die von außen herangetragenen Stilfragen langweilen ihn - "alles Rituale". Seit der Moderne sind für ihn alle Stile verfügbar geworden, "und so kann auf einen Stil verzichtet werden. Mit der Auflösung der objektiven Funktion der Literatur hat sich weiterhin die Vorstellung von einem einheitlichen Werk, das zu leisten wäre, aufgelöst." Brinkmann wehrt sich gegen den Zwang, zu jedem Produkt gleich eine Theorie mitliefern zu müssen, und in seinem Protest formuliert er sie doch.

Was für Brinkmann allein zählt, "ist die Intensität der Hinwendung auf die Gegenstände, die jemand mag und die ihn faszinieren . . ." Seit Anfang der Siebziger wird für ihn daraus die verbissene Fixierung auf die Gegenstände, die er haßt - und die ihn faszinieren. In den ab 1971 entstehenden Text- und Bildbänden ("Drei neue Bücher habe ich eigentlich fertig") "Erkundungen für das Gefühl für einen Aufstand", "Rom, Blicke" und "Schnitte" treten Weltekel, Haß und Enttäuschung immer mehr in den Vordergrund, in ihnen sind die "Möglichkeiten der Verneinung bis zum Rand ausgeschöpft" (Genia Schulz). Erfreulich ausführlich im LiteraturMagazin die Beschäftigung mit diesen Nachlaßbänden, die bis heute oft als unzugänglich-sperrige Abfallprodukte der zuletzt erschienenen Gedichte abgetan werden.

...


Aus: "". . . richtig zum Ekeln!"" Andreas Neumeister (22. März 1996 Quelle: DIE ZEIT, 13/1996)
Quelle: https://www.zeit.de/1996/13/_richtig_zum_Ekeln_/komplettansicht (https://www.zeit.de/1996/13/_richtig_zum_Ekeln_/komplettansicht)

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Quote" ... Es ist ein neuer Paragone, ein Widerstreit zwischen Bild oder – wie zu zeigen sein  wird  –  Foto und Wort, der Rolf Dieter Brinkmanns Poetologie der 1960er Jahre bestimmt. Auf der einen Seite stehen das Wort und die negativ konnotierten Attribute, mit denen es von Brinkmann assoziiert wird: Abstraktion, Reflexion, Begrifflichkeit, Vergangenheit. Dem  gegenüber sind dem Bild die positiv besetzten Begriffe der Sinnlichkeit, des konkreten Alltagsmaterials und der Gegenwart zu eigen. Vor dem Hintergrund dieser Polarisierung setzt sich Brinkmann von Anfang an als vehementer Verfechter einer neuen Bildlichkeit in Szene ... Bei der »hübschen Sache«, die zum Gegenstand der Darstellung wird, handelt es sich des weiteren nicht um eines der traditionellen Themen »hoher Literatur«, die durch intellektuelle Anstrengungen seitens des Autors in einen Begriff gefaßt werden, sondern um Material des Alltags, ja um den buchstäblichen Abfall, der dem Dichter zufällig in die Hände fällt: »Es gibt kein anderes Material als das, was allen zugänglich ist und womit jeder alltäglich umgeht, was man aufnimmt, wenn man aus dem Fenster guckt, auf der Straße steht, an einem Schaufenster vorbeigeht, Knöpfe, Knöpfe, was man gebraucht, woran man denkt und sich erinnert, alles ganz gewöhnlich, Filmbilder, Reklamebilder, Sätze aus irgendeiner Lektüre oder aus zurückliegenden Gesprächen, Meinungen, Gefasel, Gefasel, Ketchup, eine Schlagermelodie, die bestimmte Eindrücke neu in einem entstehen läßt.«
Indem der Alltag ins Zentrum des Interesses des Dichters rückt, kommt es zum doppelten Bruch mit der Vergangenheit: Einerseits ist Brinkmanns Interesse thematisch nicht mehr auf die Vergangenheit gerichtet, sondern auf die eigene unmittelbare Gegenwart und ihr »jetzt und jetzt und jetzt«. »Das Kurz-Zeit-Gedächtnis wird bevorzugt.«
... Der Fotografie ist für Brinkmann innerhalb dieses Paragones eine Potenzierung des Bild-Begriffs zu eigen. Ihre Bedeutung zeigt sich zunächst in einer Anspielung in »Der Film in Worten« auf den 1927 entstandenen »Photographie«-Aufsatz  Siegfried  Kracauers, der auch in der langen Liste der Widmungsträger der »ACID«-Anthologie auftaucht. Was später in Kracauers »Theorie des Films« – die Brinkmanns Auffassung vom fotografischen Medium sehr nahe kommt und die er 1966 las – als Vorzug der Fotografie hervorgehoben wird, wird hier noch gegen sie gewendet. In der Fotografie werden demnach stets nur materielle Äußerlichkeiten und diese nach dem Prinzip einer Oberfläche unterschiedslos abgebildet. Lediglich die »gegenwärtige menschliche Hülle« zeigt sich auf den Fotos, die Abgebildeten verwandeln sich in »Kostümpuppen«. Im Unterschied dazu operieren die Bilder des Gedächtnisses. Die  Speicherung erfolgt hier selektiv und damit fragmentarisch: Bewahrt wird nur, was Wahrheitsgehalt besitzt und bedeutungsvoll ist. Derartigen Gedächtnisbildern, die Kracauer auch  die »eigentliche Geschichte« des jeweils Dargestellten nennt, wird die Dimension der Tiefe zugeordnet – eine Dimension, die der Fotografie als Abbildung des rein Äußerlichen fehlt: »Unter der Photographie eines Menschen ist seine Geschichte wie unter einer Schneedecke vergraben.« ...
... Weil also das Objekt vor der Kamera bei Brinkmann ebenso in den Blickpunkt rückt wie das Subjekt dahinter, führen die Erkundungen des alltäglichen Materials gleichzeitig auch nach innen und werden als »Abenteuer des Geistes« zur »Eroberung des inneren Raums«. 1968, als Stanley Kubrick, einer der vielen Widmungsträger  der »ACID«-Anthologie, im Kino Astronauten bis zum Jupiter »and  beyond« schickte, die Menschen es in Wirklichkeit aber nur zum Mond schafften, durchdringen sich für Brinkmann Außen- mit Innenräumen. Denn es gilt, die Science-Fiction-Projektionen »auf uns hier, jetzt konkret« anzuwenden und zu einem »Vorstoß in die innere Dimension von uns selbst« zu machen, »die ebenso ein riesiger Raum ist wie der Weltraum, in den Raketen, Astronauten, Telestars, Mars-Sonden, Mondlandefahrzeuge hinauskatapultiert werden...«.
Logischerweise ist es dann auch die Figur des »Piloten« – so der Titel von Brinkmanns 1968 erschienenem  Gedichtband –, die zum Sinnbild für denjenigen wird, der sich auf diese  Mission ins Innere macht, zum  »Breakthrough in the Grey Room«, wie Brinkmann den US-Schriftsteller William S. Burroughs im »Film in Worten« zitiert.
Das Ende des letzten Gedichtes des »Piloten«-Bandes mit dem programmatischen Titel »Alle Gedichte sind Pilotengedichte« führt zudem ein zweites Symbol für den von Brinkmann angestrebten Zustand der gesteigerten Wahrnehmung ein ... das Motiv der Tür, die sich öffnet, gleichermaßen für einen Moment der intensiven Erfahrung als auch für eben jene Durchdringung der Räume. Ist doch die eingeforderte »neue  Sensibilität« des Subjekts für Brinkmann eine »nach innen und nach außen schwingende Tür«. Ja, der Moment des »snap-shots« selbst wird verglichen mit dem Moment, »wenn zwischen Tür und Angel, wie man so sagt, das, was man in dem Augenblick zufällig vor sich hat, zu einem sehr präzisen, festen, zugleich aber auch sehr durchsichtigen Bild wird, hinter dem nichts steht als scheinbar isolierte Schnittpunkte.« Für Brinkmann, der nicht zufällig immer wieder den Vers »Break on through to the other side« der »DOORS« zitiert, kennzeichnet somit neben den beiden anderen in den Aufsätzen propagierten bewußtseinserweiternden Mitteln, Pop- bzw. Rock-Musik und »Gras« – so der Titel von Brinkmanns letztem zu Lebzeiten 1970 publizierten Gedichtband – bzw. Drogen, die Fotografie eben diesen Augenblick des »Durchbruchs« als Ausbruch aus literarischen Traditionen. ..." 

Aus: "Rolf Dieter Brinkmann - Die Foto-Texte der 1960er Jahre", Thomas von Steinaecker: Literarische Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, Alexander Kluges und W.G. Sebalds. Bielefeld: transcript Verlag, 2007, http://kult-online.uni-giessen.de/archiv/2008/ausgabe-16/rezensionen/dialoge-zwischen-text-und-fotografie
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Quote" ... NACKTHEIT- Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich" Herausgegeben von Kerstin Gernig (2002) -  " ...  Brinkmanns  Ästhetik der Entblößung situierte sich zweifellos schon von Anfang an in der Nähe des Pornographischen, aber diese Nähe wurde konkreter und expliziter, sobald sie sich auf das Bildmaterial zu beziehen begann, das im Zuge der medialen Freisetzung  der Nacktheit zunehmend aus dem Bereich klandestiner privater Lüste in die Öffentlichkeit zu wandern begann. An den Veränderungen von Brinkmanns Versuchen, zu einem bildhaften, an den Ausdrucksmöglichkeiten der Medien Film und Photographie orientierten Schreiben zu gelangen, läßt sich auch der Beschleunigungsprozeß ablesen, der die mediale Entsublimierung der öffentlichen Sphäre Ende der 60er Jahre kennzeichnete. ... Die 1968 veröffentlichte Gedichtsammlung "Godzilla" kann das Spannungsfeld besonders anschaulich machen, in das seine Poetik des "einfachen", sinnlich-sinnlosen Bildes geriet, sobald sie sich mit der Vermarktung der Sinnlichkeit  im  öffentlichen Raum  auseinanderzusetzen hatte. Ausgangspunkt sind in diesem Band bunte Illustriertenphotos von leicht bekleideten, nur in Ausschnitten dargebotenen, meist verführerisch lächelnden Frauen, die buchstäblich von der "dearty speach" pornographischer Phantasien überschrieben werden. Eine Überschreibung, die als doppelter BeschmutzungsVorgang angelegt ist: Als materielle Beschmutzung, weil  die bildlichen Unterlagen teilweise von schwarzen Lettern überdeckt werden und dadurch ihre Farbigkeit einbüßen; vor allem aber als symbolische Beschmutzung, weil die über die Schrift transportierten sexuellen Imaginationen durch ihre extreme Gewaltsamkeit schockierend wirken und in diesem Schock die verführerische Attraktion brechen, die von den erotischen Posen der reizenden Illustriertenschönheiten ursprünglich einmal ausgehen sollte.
Ein voyeuristischer Genuß der schönen Frauenkörper will sich nicht mehr einstellen, nachdem der pornographische Text entziffert wurde, der mit drastischer Eindeutigkeit auf der triebhaften Gewaltsamkeit sexuellen Begehrens insistiert und damit den Körper des Blickes ins Spiel bringt, der zum Funktionieren des voyeuristischen Dispositivs unsichtbar zu bleiben
hat. Die Worte des aus japanischen Science-Fiction-Filmen bekannten Monsters Godzilla konfrontieren das warenästhetische Versprechen nach sinnlicher Befriedigung, das von den überschriebenen Bildern ausgeht, brutaistmöglich mit der Todesverfallenheit des Körpers. Sie weisen auf das destruktive Triebpotential hin, das sich im hedonistischen Konsumrausch  fröhlichbesinnungslos auslebt. ..."

Aus: "NACKTHEIT- Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich" Herausgegeben von Kerstin Gernig (2002),
Quelle: https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/81908/Ehrlicher_Brinkmann.pdf (https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/81908/Ehrlicher_Brinkmann.pdf)
https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/81908/Ehrlicher_Brinkmann.pdf (https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/bitstream/handle/10900/81908/Ehrlicher_Brinkmann.pdf)

https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Dieter_Brinkmann#Literatur (https://de.wikipedia.org/wiki/Rolf_Dieter_Brinkmann#Literatur)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 27, 2018, 01:17:45 PM
Quote[...] Auch und gerade Künstler verinnerlichten die Maxime der Achtundsechziger, dass alles Private politisch sei; nichts Privateres aber gibt es als den eigenen Körper. Im Wien des Jahres 1968 gingen die Aktionisten Otto Muehl, Rudolf Schwarzkogler, Hermann Nitsch, vor allem aber Günter Brus noch einen Schritt weiter: Da der empfundene Druck des Staates sichtbar gemacht werden sollte, wurde der eigene Körper zur Leinwand, zum Medium des künstlerischen Ausdrucks, und dies wörtlich: Der Künstlerkorpus gehörte von nun an zum Künstler-Corpus, der Leib wurde über und über bemalt, wovon als Schwundstufe bis heute auf Alternativfestivals das Body-Painting verblieben ist.

Haut, Fleisch und Haare als neu hinzugekommene Künstlermaterialien malträtierte Brus mit Nägeln, Reißzwecken und Rasierklingen. Latent immer vorhandene Bilder vom Künstler als christusgleichem Schmerzensmann wurden insbesondere in den Sechzigern säkularisiert; Brus fügte sich Seitenwunden zu und plante gar, sich wie ein Gekreuzigter Silbernägel durch die Füße zu treiben (was Jahrzehnte später andere Künstler in die Tat umsetzen sollten). Als Blitzableiter für gefühlte gesellschaftliche Repressionen wendete Brus alle Gewalt und Energie gegen sich; mit diesen Selbstverletzungen wollte er gegen Normen ankämpfen, dies nicht tun zu dürfen. Er suchte anderen die Verfügungsgewalt über sich entziehen und in einer schwierigen hermeneutischen Schlaufe autoaggressiv Autonomie und Selbstermächtigung zurückgewinnen.

Auch sexuelle Tabus zeigte Brus rücksichtslos auf, indem er etwa öffentlich masturbierte und bei Aktionen einen Teil seines Körpers einsetzte, den bereits die Renaissancekünstler wiederholt als besonderen ,,Pinsel" bezeichnet und mehr oder weniger subtil in ihre Malerei eingebracht hatten. Seine Aktion ,,Zerreißprobe" von 1970 verstört selbst heutige Betrachter noch nachhaltig. Mit aggressiv aus dem Sprachsteinbruch geschlagenen Tätigkeitswörtern beschrieb er bewußtseinsströmend im Jahr 1968 die von ihm verspürte Paranoia: ,,Der Staat will mich essen, rasten, schlecken, vögeln, einfrieren, auftauen, erfinden" – was zeigt, dass Brus seine Körper-Aktionen tatsächlich immer auch als politische verstand.

Ein wochenlanger österreichweiter Polit-Skandal war erreicht, als Brus 1968 an der Universität Wien während der Aktion ,,Kunst und Revolution" beim Absingen der österreichischen Bundeshymne defäkierte. Der Künstler, der stets symbolbewusst Zeichen setzte, wurde wegen ,,Herabwürdigung der Staatssymbole" zu sechs Monaten Arrest verurteilt. Um dem zu entgehen, floh er nach Berlin. Hatte schon jede seiner Body-Art-Aktionen präzise choreographierte zeichnerische Partituren, widmete er sich in den folgenden Jahren überwiegend Zeichnungen, die allerdings ,,Kratzspuren" und ,,Störungszonen" blieben, wie zwei Kataloge heißen.

Über Ausmaße und Mittel seiner Provokation lässt sich trefflich streiten, unzweifelhaft jedoch ist, dass Günter Brus unausweichlich nötige Diskussionen über die Freiheit der Kunst und gesellschaftliche Normen in Österreich und dann auch in Deutschland mit seinem Körper als Brandbeschleuniger angefeuert hat. An diesem Donnerstag wird der Künstler, der wie kaum ein anderer seinen Körper auf die Zerreißprobe stellte, fast schon erstaunliche achtzig Jahre alt.


Aus: "Existenz als Zerreißprobe" Stefan Trinks (27.09.2018)
Quelle: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/der-koerperkuenstler-guenter-brus-wird-80-15808330.html (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/der-koerperkuenstler-guenter-brus-wird-80-15808330.html)

Günter Brus (* 27. September 1938 in Ardning in der Steiermark)
https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Brus (https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%BCnter_Brus)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on October 30, 2018, 05:01:03 PM
Quote[...] Im Jahr 1968 war ich acht. Es war das Jahr, in dem wir im Dorf als Erste einen Fernseher bekamen. Heimlich hatte der Vater ihn gekauft, da die Mutter niemals zugestimmt hätte. Für sie war es verschwendetes Geld, da wir weder eine Warmwasserleitung, geschweige ein Bad oder Klo im Haus hatten. ... Mein Vater liebte das Fernsehen vor allem wegen der bebilderten Nachrichten und versäumte kaum eine Zeit im Bild um 19.30 Uhr. Meist kommentierte er lautstark, was er sah. Für die Studentenunruhen in Deutschland hatte er wenig Verständnis. Auch die Mutter lästerte über das Volk der Studenten, die nur Unruhe in die sonst so friedliche Welt brächten. Und da sah ich ihn und war elektrisiert: Rudi Dutschke. Mein Herz schlug schneller, ich war gebannt, konnte nicht mehr wegsehen, aber ich wusste nicht warum. Ich hatte auch keine Ahnung, was er sagte, aber ich spürte, so wie er es sagte, dass es bedeutungsvoll war. Mir gefiel sein scharf geschnittenes Gesicht, mit dem durchdringenden Blick, seine Frisur mit der ins Gesicht fallenden dunklen Strähne, mir gefiel der große, weite Pullover. Mir gefiel der energische Schritt, mit dem er Demonstrationen anführte, und ich verstand nicht, wieso meine Eltern nicht genauso begeistert von ihm waren wie ich. Ich wurde zu einer eifrigen Zeit im Bild-Seherin, immer in der Hoffnung, dass Rudi Dutschke bei einer Rede oder bei einer Demonstration gezeigt wurde. Dass ich erotisiert von seiner Ausstrahlung war, begriff ich erst später. Damals wusste ich nicht, was mich an ihm anzog, aber ich wusste intuitiv, dass die Eltern nicht recht hatten, wenn sie ihn und die Studentenbewegung heruntermachten. ...

Am Weihnachtsabend 1979 starb Dutschke an den Spätfolgen des Attentats. Am Tag seines Begräbnisses am 3. Jänner 1980 beging Axel Springers Sohn, der Fotograf Sven Simon, Selbstmord.

Anlässlich der Beschäftigung mit meinem Jahr 1968 habe ich mir auf Youtube ein beinahe einstündiges Interview von Günter Gaus mit Rudi Dutschke von 1967 angesehen. Was er sagte, war so aktuell, als hätte er es heute gesagt: "1918 wurde der Achtstundentag erkämpft. 1967 arbeiten unsere Arbeiterinnen und Arbeiter (er hat wirklich gegendert!) und Angestellten lumpige vier bis fünf Stunden weniger pro Woche. Und das bei einer umgekehrten Entfaltung der Produktivkräfte, der technischen Errungenschaften, die eine wirklich sehr große Arbeitszeitreduzierung bringen könnte. Aber im Interesse der Aufrechterhaltung der bestehenden Herrschaftsordnung wird die Arbeitszeitverkürzung, die historisch möglich geworden ist, hintangehalten, um Bewusstlosigkeit – das hat mit der Länge der Arbeitszeit zu tun – aufrechtzuerhalten!" Rudi, ich vermisse dich!

(Gabriele Kögl, 30.10.2018)



Aus: "Mein 68 – Eros zwischen Löwinger und Dutschke Gabriele Kögl" (30. Oktober 2018)
Quelle: https://derstandard.at/2000090267370/Mein-68-Eros-zwischen-Loewinger-und-Dutschke (https://derstandard.at/2000090267370/Mein-68-Eros-zwischen-Loewinger-und-Dutschke)

Gabriele Kögl (* 16. April 1960 in Graz) eine österreichische Schriftstellerin
https://de.wikipedia.org/wiki/Gabriele_K%C3%B6gl (https://de.wikipedia.org/wiki/Gabriele_K%C3%B6gl)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 03, 2018, 02:58:12 PM
Quote[...] Das dramatische Jahr 1968 endete schon am 4. November – mit einer bis dahin in West-Berlin unvorstellbaren Straßenschlacht in Charlottenburg. ,,Wer will, dass die studentische Bewegung zerfallen wird, der soll weiter solche Aktion machen", sagte der Theologe Helmut Gollwitzer anderntags auf einer SDS-Veranstaltung im Audimax der Freien Universität.

Was war geschehen? Dem damals 32-jährigen Horst Mahler, prominentester ,,Linksanwalt" der Studentenbewegung, drohte der Entzug seiner Anwaltszulassung, da er auf Grund einer Klage des Springer-Konzerns zu einer Zahlung von mehr als einer halben Million D-Mark verurteilt worden war. Der Springer-Verlag hatte sich Mahler stellvertretend für tausende Demonstranten herausgepickt, nachdem bei einer spontanen Demo am Gründonnerstag 1968 etliche Auslieferungsfahrzeuge des Verlags in Flammen aufgegangen waren. Die Studenten waren von der TU zum Springer-Hochhaus marschiert, weil sie den Konzern für das Attentat auf Rudi Dutschke wenige Stunden zuvor verantwortlich machten.

Das Anzünden der Fahrzeuge konnte Mahler natürlich nicht nachgewiesen werden. Tatsächlich war es der Berliner Verfassungsschutz, der die Molotowcocktails zum Springer-Hochhaus geliefert hatte. Der für den Verfassungsschutz verantwortliche Politiker, der damalige Innensenator Kurt Neubauer, sah der Eskalation vom Dach des Springerhauses aus zu.

Das Ehrengerichtsverfahren gegen Horst Mahler am 4. November 1968 sollte um 8.30 Uhr beginnen. Gegen 8 Uhr versammelten sich rund 1000 Studenten auf dem Mierendorffplatz. Es wurden Bauhelme verteilt. Viele Studenten hatten Taschen bei sich, in denen man zumindest Farbeier vermuten darf, da später viele Farbspuren auf den Einsatzfahrzeugen der Polizei zu sehen waren. 400 Beamte standen bereit.

Nachdem ein mit Steinen beladener LKW samt Anhänger von drei Polizeibeamten in Richtung der Demonstranten umgeleitet, von diesen angehalten und entladen wurde, eskalierte die Situation vollends. Polizisten sahen sich einem nie da gewesenen Steinhagel ausgesetzt, wobei die Tschakos, Kopfbedeckungen aus Plastik und Leder, keinerlei Schutz boten. Die Polizei zählte am Mittag, als alles vorbei war, 130 Verletzte in den eigenen Reihen. Zehn von ihnen wurden in Krankenhäuser eingeliefert. Bei den Demonstranten gab es wesentlich weniger Verletzte.

Auf Seiten der Polizei war man über den Verlauf des Einsatzes geteilter Meinung. Bemängelt wurden die schlechte Ausrüstung und unsichere Funkstrecken. Nach der Eskalation ging ein polizeiinterner, aber anonymer Anruf bei dem hohen Polizeibeamten der Schutzpolizei Hackbarth ein: ,,Den Behrens müßte man aufhängen, denn er hat die verletzten Kollegen auf dem Gewissen!" Ewald Behrens, mit Karl-Heinz Kurras befreundet, war Ausbilder der Berliner Polizei und hatte am 2. Juni 1967 wesentlich zur Schaffung der Situation beigetragen, in der dann Kurras Benno Ohnesorg erschossen hatte.

Der Fahrer des mit Steinen beladenen LKW, Egon H., beschwerte sich zwei Wochen später bei der Polizei, dass drei Polizeibeamte ihn nicht durch den Tegeler Weg hatten fahren lassen, sondern ihn ,,direkt in die randalierende Menschenmenge hineinmanövriert" hätten.

Dazu heißt es in einer internen Auswertung der Berliner Polizei: ,,Ermittlungen haben ergeben, das ein unbekannt gebliebener Lkw mit Anhänger kurz vor dem ersten Ansturm der Demonstranten voll beladen mit Steinen in der Osnabrücker Str./Kamminer Str. hielt und die Steine auf die Fahrbahn entlud. Es hatte den Anschein, dass dieser Vorgang abgesprochen war, um die Demonstranten mit Wurfgeschossen zu versorgen. Spätere Ermittlungen ergaben, daß es ein Zufall war." Die zitierte Aussage des Fahrers und eine Anzeige seines Chefs, der Schadenersatz wegen der Farbeier, die seinen LKW getroffen hatten, verlangte, belegen, dass der LKW keinesfalls ,,unbekannt geblieben" ist.

Bis heute wollen die Gerüchte nicht verstummen, dass es sich nicht um einen Zufall, sondern um eine weitere Provokation des Verfassungsschutzes gehandelt habe, die ähnlich den Brandsätzen am Springer-Hochhaus die Demonstranten zu noch aggressiverem Verhalten anstacheln sollte. Beweisen lässt sich das nicht, und es entschuldigt auch nicht die besondere Aggressivität der Demonstranten an diesem Tag.

Spricht man mit Veteranen der 68er Bewegung, bekommt man fast durchweg Aussagen, dass diese Straßenschlacht ein Umschlagpunkt war, ein Pyrrhussieg, eine Niederlage, das Ende von ,,1968". Bestätigt wird dies auch aus anderer Sicht: ,,Ein polizeilicher Misserfolg ist nicht deshalb eingetreten, weil zahlreiche Beamte verletzt worden sind, sondern der Erfolg der polizeilichen Maßnahmen ist gerade darin zu sehen, dass das polizeiliche Ziel voll erreicht worden ist, obwohl 130 Pol-Beamte hierbei verletzt worden sind", heißt es in einer polizeiinternen Auswertung.

Und weiter: ,,Noch in anderer Hinsicht ist ein bemerkenswerter Erfolg zu verzeichnen. Die Polizei befindet sich nach diesem Geschehen im Urteil der Öffentlichkeit in einer äußerst günstigen Position. Von keiner Seite wurde bisher auch nur der leiseste Vorwurf gegen das Vorgehen der Polizei erhoben. Im Gegenteil! Wie nie zuvor zeigen weite Kreise der Bevölkerung großes Verständnis für die schweren Aufgaben der Polizei. (...) Demgegenüber haben sich die Akteure der APO (Außerparlamentarische Opposition, d. Red) und deren Anhänger mit ihrem Verhalten am 4.11.1968 vor dem Landgericht in den Augen einer breiten Öffentlichkeit einhellig ins Unrecht gesetzt. (...) Andererseits dürfte dem Solidarisierungsprozess innerhalb der Berliner Studentenschaft zumindest für die nahe Zukunft ein wirksamer Schlag versetzt worden sein. Selbst jene intellektuellen Besserwisser, die keine Gelegenheit versäumen, sich mit spitzer Feder kritisch über das Vorgehen der Polizei auszulassen, sind über das Verhalten der APO-Anhänger schockiert und verharren in betretenem Schweigen." Diese Sätze, aufgefunden im Staub des Aktenkellers der Berliner Polizei – klingen sie nicht so, als habe man genau das gewollt?

Horst Mahler durfte seine Anwaltslizenz behalten – noch. Als führendes Mitglied der RAF wurde er schon im Oktober 1970 verhaftet und zu 14 Jahren Haft verurteilt. 1987 erstritt der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Bundesgerichtshof die erneute Zulassung und Mahler eröffnete eine Kanzlei in der Paulsborner Straße in Wilmersdorf.

In den neunziger Jahren begann Mahlers Hinwendung zur rechten Szene, er wurde NPD-Mitglied und vertrat die Partei im Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht. Nach einer Reihe von Verurteilungen wegen Volksverhetzung, Zeigen des Hitlergrußes und Leugnung des Holocausts entzog ihm die Berliner Anwaltskammer 2009 erneut die Anwaltslizenz.


Aus: "1968 im Tagesspiegel: Die Schlacht von Charlottenburg" Uwe Soukup (03.11.2018)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/1968-im-tagesspiegel-die-schlacht-von-charlottenburg/23352192.html (https://www.tagesspiegel.de/berlin/1968-im-tagesspiegel-die-schlacht-von-charlottenburg/23352192.html)

QuoteMaryP 11:54 Uhr

    Der für den Verfassungsschutz verantwortliche Politiker, der damalige Innensenator Kurt Neubauer, sah der Eskalation vom Dach des Springerhauses aus zu.

FEUER! und "haltet den Dieb"
War der Verfassungs"schutz" JEMALS etwas anders als ein Brandstifter?


"NS-Vergangenheit und Verfassungsschutz - Über die Seilschaften der Altnazis" Joachim Käppner, Köln  (28. September 2011, 14:34 Uhr)
Es hat mehr als sechs Jahrzehnte gedauert - nach BKA und BND lässt jetzt auch das Bundesamt für Verfassungsschutz die braune Vergangenheit seiner Mitarbeiter systematisch erforschen. Das Projekt liegt in den Händen renommierter Historiker, und ihre Ergebnisse werden, soviel ist klar, erschüttern: Die alten Verbindungen der Nazis reichten bis in die Spitze der Behörde.
https://www.sueddeutsche.de/politik/ns-vergangenheit-und-verfassungsschutz-ueber-die-seilschaften-der-altnazis-1.1150775 (https://www.sueddeutsche.de/politik/ns-vergangenheit-und-verfassungsschutz-ueber-die-seilschaften-der-altnazis-1.1150775)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 23, 2019, 01:41:15 PM
Quote[...] Bini Adamczak: Den Bewegungen von '68 ist es nirgends gelungen, siegreiche Revolutionen durchzuführen, aber trotzdem waren sie teilweise sehr erfolgreich, weil sie gravierende Veränderungen durchgesetzt haben. Auch auf ökonomischer Ebene: '68 und folgende sind durch mächtige und siegreiche Streikbewegungen gekennzeichnet. Deren Erfolge werden aber in den kommenden Jahrzehnten wieder zurückgenommen. Etwas anders ist es auf der Ebene, die sozial oder kulturell genannt wird, bei der Transformation von Geschlechterverhältnissen, der sexuellen Befreiung oder der Zerbröckelung der alten, autoritären Institutionen etwa. Darin ist '68 bis heute sehr erfolgreich. Allerdings wurden viele Errungenschaften später in einer feindlichen Übernahme durch den Neoliberalismus gewendet. '68 haben die Menschen etwa gegen die Fremdbestimmung der Arbeit gekämpft. Aber sie haben nur Teilforderungen durchsetzen können. Heute dürfen viele selbst entscheiden, wann sie arbeiten, aber die Deadline setzt weiterhin das Kapital. So verkehrt sich Selbstverwaltung in Selbstausbeutung. In vielen Lebensbereichen ist Ähnliches passiert.

...


Aus: "Interview mit Bini Adamczak ('Der Mut, dem Gegner in die Augen zu schauen ')" (15. Januar 2019)
Quelle: https://kritisch-lesen.de/interview/der-mut-dem-gegner-in-die-augen-zu-schauen (https://kritisch-lesen.de/interview/der-mut-dem-gegner-in-die-augen-zu-schauen)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 02, 2019, 12:40:30 PM
Quote[...] Die Deutsche Leonora war 15 Jahre alt, als sie nach Syrien reiste, um sich der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat (IS) anzuschließen. Wenige Tage nach ihrer Ankunft heiratete sie den Dschihadisten Martin Lemke. Mit ihm und seiner zweiten Ehefrau wurde sie nun nahe der letzten IS-Bastion an der irakischen Grenze festgenommen. "Ich war ein wenig naiv. Ich war gerade erst zwei Monate zum Islam konvertiert", sagt sie heute über ihre Entscheidung, sich der Extremistengruppe anzuschließen.

In einen schwarzen Nikab gehüllt, einen zwei Wochen alten Säugling auf dem Arm, berichtet die blasse junge Frau von ihrem Leben unter der IS-Miliz. "Ich blieb im Haus, um zu kochen und zu putzen", erzählt die 19-jährige Mutter zweier Kinder in gebrochenem Englisch. ...

"Am Anfang, als sie die großen Städte kontrollierten und viel Geld hatten, war alles gut", berichtet Leonora inmitten einer staubigen Ebene nahe dem Dorf Baghus, in dem die Dschihadisten noch immer erbitterten Widerstand leisten. ...


Aus: "Deutsche Dschihadistin sieht sich von IS-Propaganda getäuscht" Rouba El Husseini (02.02.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/syrien-deutsche-dschihadistin-sieht-sich-von-is-propaganda-getaeuscht/23941070.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/syrien-deutsche-dschihadistin-sieht-sich-von-is-propaganda-getaeuscht/23941070.html)

Quotemargin_call 11:34 Uhr


    "Am Anfang, als sie die großen Städte kontrollierten und viel Geld hatten, war alles gut", Außer für die örtliche Bevölkerung welche ausgebraubt, gefoltert, öffentlich geschändet und ermodert wurde.
    Leonora und Sabina versichern, dass ihr Ehemann Lemke für die IS-Miliz nur als Techniker tätig gewesen sei und Computer und Handys repariert habe

Also war er nur für die Logistik der marodierenden Terrorbande zuständig ?
Das erinnert mich irgendwie an die Nürnberger Prozesse. Ich habe "nur " die Dokumente abgestempelt, ich habe " nur " die Panzer gebaut ...


QuoteKaypakkaya 09:55 Uhr
Was diese junge Dame erzählt, könnte auch 1945 so von einer NS-Anhängerin berichtet worden sein...

"Am Anfang, als sie die großen Städte kontrollierten und viel Geld hatten, war alles gut"
"Sie haben die Frauen ganz alleine gelassen, ohne Essen. Wir waren ihnen egal"

Worte des Bedauerns über die Gräueltaten des IS dagegen finden sich offenbar nicht und auch keine Antwort auf die Frage, warum der IS für Sie Attraktivität besaß, obwohl er doch in der Öffentlichkeit mit brutalsten Videos bekannt wurde.


QuoteCloudySkies 10:27 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Kaypakkaya 09:55 Uhr

    ... und auch keine Antwort auf die Frage, warum der IS für Sie Attraktivität besaß, obwohl er doch in der Öffentlichkeit mit brutalsten Videos bekannt wurde.

Fragen Sie mal, warum Mao für die "Achtundsechziger" solche enorme Attraktivität besaß. Gewalttätigkeit macht attraktiv, jedenfalls für sehr viele Leute, insbesondere auch für Frauen. Der Gewalttätige hat eine Aura der Stärke, die ihnen imponiert. In Deutschland hatte man gedacht, nach den 1933ff Erfahrungen wüsste man es besser. Aber jede Generation braucht ihre neuen Erfahrungen, Berichte bringen da nicht viel. Es steckt in den Genen.


QuoteKaypakkaya 10:38 Uhr
Antwort auf den Beitrag von CloudySkies 10:27 Uhr

Dazu sollte man sich damit befassen, wie Mao um 1968 herum bekannt wurde - es werden dabei deutliche Unterschiede zur brutalen Propaganda des IS deutlich werden.

Ihr Vergleich der 1968er mit den Nazis ist wenig überzeugend.


QuoteCloudySkies 11:36 Uhr

Antwort auf den Beitrag von Kaypakkaya 10:38 Uhr

    Dazu sollte man sich damit befassen, wie Mao um 1968 herum bekannt wurde

Wollen Sie damit sagen, Maos deutsche Anhänger 1968ff hätten von nichts gewusst?


QuoteKaypakkaya 11:46 Uhr
Antwort auf den Beitrag von CloudySkies 11:36 Uhr

Definitiv war die mediale Darstellung deutlich anders.
Lesen Sie doch einfach mal etwa beim 'Spiegel' nach.


QuoteCloudySkies 12:09 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Kaypakkaya 11:46 Uhr

    Definitiv war die mediale Darstellung deutlich anders.

Nun ja, es gab kein Internet, und Mao hat keine Kopfabschneider-Videos veröffentlicht. Das heißt aber nicht, dass seine Gewalttätigkeit nicht bekannt und berüchtigt war oder von den Medien nicht thematisiert wurde. Es war auch bekannt, dass Mao ein glühender Stalin-Verehrer war. Und es war auch völlig bekannt, dass in China ein völlig irrer, sehr ekelerregender Personenkult um diesen Herrn stattfand. Dass man so einen Personenkult nur mit den Mitteln des Massenterrors durchziehen kann, war mir schon als Zwölfjähriger klar. Die "Achtundsechziger" fanden den Personenkult aber toll - ganz wie ihre Väter, gegen die sie auf die Straße gingen.


QuoteKaypakkaya 12:16 Uhr
Antwort auf den Beitrag von CloudySkies 12:09 Uhr

Es gibt da allerdings doch ganz gravierende Unterschiede zwischen den 1968ern und den Nazis - wir diskutieren allerdings mittlerweile deutlich weit ab vom Thema des Artikels.


...
Title: [1968 (Afterglow) // Theorieversessenheit... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 18, 2019, 02:30:45 PM
Quote[...] Dirk Frank Der Historiker Philipp Felsch hat in seinem Buch ,,Der Sommer der Theorie" versucht darzulegen, dass Theoriebände von Suhrkamp und Merve damals auch als Teil des individuellen Stils und der Abgrenzung verwendet wurden. Können Theorien also auch aus der Mode kommen?

Prof. Axel Honneth: Man muss die damalige Theorieversessenheit aus dem kulturellen und politischen Kontext heraus verstehen: Es gab nach zwei Jahrzehnten des restaurativen Schlummers und der intellektuellen Abwehr innerhalb einer jungen Generation einen unglaublichen Bildungshunger. Man schnappte förmlich nach allem, was sich in der Kultur, auf dem Büchermarkt oder in der Kunstwelt tat. Ich erinnere das noch sehr gut aus meiner eigenen Schulzeit, ich schaute jeden Film an, der den Ruch des Neuen und Experimentellen besaß, las die entsprechenden Filmmagazine, verschlang französische und amerikanische Literatur, ging in jede neue Ausstellung des Folkwang-Museums – über fünf Stunden saß ich damals im Essener Jugendclub, um mir einen enorm langweiligen, nahezu handlungslosen Film von Andy Warhol anzuschauen. Das alles vollzog sich in kleinen, politisch engagierten Gruppen, deren Bildungshunger kaum Grenzen kannte, alles glaubte man um der politischen Veränderung willen zur Kenntnis nehmen und diskursiv verarbeiten zu müssen; überall schossen ja damals auch die vielen Lektürezirkel aus dem Boden, in denen man Marx, Freud und Lukács las, auch in meiner Heimat, dem Ruhrgebiet. Das war eine einzigartige, kollektiv geteilte Erfahrung, die ich auf keinen Fall missen möchte – und die den Verlagen unglaublich große Auflagenzahlen bescherte, wie sie heute mit dieser Art von theoretischer Literatur kaum mehr vorstellbar sind. Zu sagen, dass das damals zum ,,Lifestyle" gehörte oder eine ,,Mode" darstellte, ist mir fast schon ein wenig zu polemisch, denn die Texte wurden ja wirklich noch gelesen und kollektiv durchgearbeitet, nicht nur aus Gründen des kulturellen Prahlens in die Bücherregale gestellt. Heute spielen bekanntlich Bücher eine wesentlich geringere, das Internet dagegen eine immer größere Rolle. Die Aneignung von Literatur und Theorie vollzieht sich zudem kaum mehr in kleinen, intellektuell besessenen Zirkeln und Lesegruppen, im Zuge einer großen Individualisierung unter den Studierenden ist diese Diskussionspraxis leider weitgehend verschwunden und damit wohl auch der Theoriehunger. Natürlich, es gibt vielleicht aber auch nicht mehr die großen Theoretiker, die man unbedingt zu lesen müssen glaubte, bedeutende Denker wie Georg Lukács, Jean-Paul Sartre, Theodor W. Adorno, Michel Foucault oder Jacques Derrida, alle damals ja noch lebend, findet man heute nur noch selten. ... ohne dieses enorme Anregungspotenzial, aber auch ohne diese Reformprozesse wüsste ich gar nicht, was sonst aus mir geworden wäre.

...  Zudem sollte vielleicht auch darauf verwiesen werden, dass der gegenwärtige Rechtspopulismus eine durchaus erwartbare Gegenbewegung gegen die zahlreichen Reformen der letzten 50 Jahre darstellt, ein reaktionärer Aufstand gegen die Errungenschaften der Transnationalisierung, der sexuellen Liberalisierung, des Multikulturalismus usw. – was diese Bewegungen also vielleicht antreibt, ist das, was Erich Fromm die ,,Furcht vor der Freiheit" genannt hat. Insofern hätten wir mit diesem Gegenprotest auch durchaus rechnen können, er kommt gewissermaßen nicht aus dem Nichts. Hinzu kommt auch die als solche ja gar nicht schlechte Entwicklung, dass die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die Demokratie gewachsen sind, man will heute stärker als früher als mitsprechendes und mitbestimmendes Subjekt anerkannt werden. Sie sehen, ich suche händeringend nach empirischen Indikatoren, die uns überzeugt sein lassen können, dass es um unsere gesellschaftlichen Verhältnisse in Hinblick auf intersubjektive Verbindlichkeiten und unsere Anerkennungskultur doch nicht so schlecht bestellt ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Es gibt weiterhin ein starkes Verlangen nach sozialer Anerkennung, wenngleich auch die Tendenzen der gesellschaftlichen Polarisierung unverkennbar sind.

...


Aus: "Axel Honneth im Interview" (Ausgabe 1.19 des UniReport)
Quelle: https://klausbaum.wordpress.com/2019/02/15/axel-honneth-im-interview/ (https://klausbaum.wordpress.com/2019/02/15/axel-honneth-im-interview/)

https://aktuelles.uni-frankfurt.de/studium/neuer-unireport-1-19-sozialphilosoph-axel-honneth-nimmt-die-komplizierte-gegenwart-in-den-blick/ (https://aktuelles.uni-frankfurt.de/studium/neuer-unireport-1-19-sozialphilosoph-axel-honneth-nimmt-die-komplizierte-gegenwart-in-den-blick/)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 06, 2019, 09:22:21 AM
QuoteCBT #3

Dieser Luke Perry gehörte zu der Serie, die ich immer heimlich schaute, da meine Eltern überzeugte American-Way-of-Life-Hasser waren (...sind !?...heute backen diese 68er Eltern ja kleinere Ideologie-Brötchen). Für mich war das schauen dieser sauberen und neurotischen Welt eine Rebellion gegenüber einer umweltfreundlichen, europäischen (das meint geschichtslastigen) und bewusst-sein-orientierten Lebenseinstellung. Das genau dieser melancholisch wirkende Perry und kein anderer der Clique viel zu früh gestorben ist, wirkt für mich irgendwie ironisch. Sein verzweifelnd anmutender Gesichtsausdruck ist auf jeden Fall ein Symbol der Neunziger!


https://www.zeit.de/kultur/film/2019-03/luke-perry-schauspieler-beverly-hills-90210-tod-nachruf?cid=24025153#cid-24025153 (https://www.zeit.de/kultur/film/2019-03/luke-perry-schauspieler-beverly-hills-90210-tod-nachruf?cid=24025153#cid-24025153)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 12, 2019, 11:58:34 AM
Quote[...] In einer von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen und im September 2018 veröffentlichten Studie ,,Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz" – wegen der Orte der Universitäten des Forschungskonsortiums (Mannheim – Heidelberg – Gießen) auch ,,MHG-Studie genannt" – wurden 38.156 Personalakten aus den 27 deutschen Bistümern für die Zeit zwischen 1946 und 2014 ausgewertet. Demnach gab es bei 1.670 Klerikern (4,4, Prozent) Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger. Darunter waren 1.429 Diözesanpriester (5,1 Prozent aller Diözesanpriester), 159 Ordenspriester (2,1 Prozent) und 24 hauptamtliche Diakone (1,0 Prozent). Bei 54 Prozent der Beschuldigten lagen Hinweise auf ein einziges Opfer vor, bei 42,3 Prozent Hinweise auf mehrere Betroffene zwischen 2 und 44, der Durchschnitt lag bei 2,5. 3.677 Kinder und Jugendliche sind als Opfer dieser Taten dokumentiert; 62,8 Prozent von ihnen waren männlich, 34,9 Prozent weiblich, bei 2,3 Prozent fehlten Angaben zum Geschlecht. Das deutliche Überwiegen männlicher Betroffener unterscheidet sich nach Angaben der Forscher vom sexuellen Missbrauch an Minderjährigen in nicht-kirchlichen Zusammenhängen. Die in der Studie ermittelte Zahl von 3.677 Betroffenen spiegelt, so die Forscher, nur das sogenannte ,,Hellfeld" wider; aus der Dunkelfeldforschung des sexuellen Missbrauchs sei bekannt, dass die Zahl der tatsächlich betroffenen Personen deutlich höher liege. ...


https://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_r%C3%B6misch-katholischen_Kirche (https://de.wikipedia.org/wiki/Sexueller_Missbrauch_in_der_r%C3%B6misch-katholischen_Kirche) (11. April 2019)

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Quote[...] Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat die sexuelle Revolution der Zeit um 1968 und die Säkularisierung der westlichen Gesellschaft für den sexuellen Missbrauch von Kindern in der katholischen Kirche mitverantwortlich gemacht. Benedikt führt diese Taten in einem jetzt veröffentlichten Aufsatz vor allem auf außerkirchliche Entwicklungen zurück.

Als Gründe benennt er etwa die Liberalisierung der Sexualität und die schwindende Bedeutung des Glaubens in der heutigen Gesellschaft: "Wieso konnte Pädophilie ein solches Ausmaß erreichen? Im letzten liegt der Grund in der Abwesenheit Gottes." Eine Welt ohne Gott sei eine Welt ohne Moral: "Es gibt dann keine Maßstäbe des Guten oder des Bösen." Von Machtstrukturen in der Kirche ist in dem Papier nicht die Rede.

"Zu der Physiognomie der 68er Revolution gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde", schrieb Benedikt in dem Aufsatz, den unter anderen das katholische Nachrichtennetzwerk CNA veröffentlichte.

Unabhängig davon hätte sich zeitgleich "ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie ereignet, der die Kirche wehrlos gegenüber den Vorgängen in der Gesellschaft machte". Erst jetzt erkenne man mit "Erschütterung, dass an unseren Kindern und Jugendlichen Dinge geschehen, die sie zu zerstören drohen".

Nach Rücksprache mit seinem Nachfolger Franziskus habe er den Text für das bayerische "Klerusblatt" verfasst, schrieb der ehemalige Papst, der kommende Woche 92 Jahre alt wird. In dem Text heißt es: Zwischen 1960 bis 1980 seien "die bisher geltenden Maßstäbe in Fragen Sexualität vollkommen weggebrochen" und eine "Normlosigkeit entstanden, die man inzwischen abzufangen sich gemüht hat".

Katholische Theologen übten scharfe Kritik an diesen Thesen. Es sei "verblüffend", teilte Julie Hanlon Rubio, Professorin an der kalifornischen Privatuniversität Santa Clara, auf Twitter mit, "eine freizügige Kultur und progressive Theologie für ein internes und strukturelles Problem verantwortlich zu machen". Sie bezeichnete Benedikts Analyse als "zutiefst fehlerhaft" und "zutiefst beunruhigend".

Brian Flanagan, Dozent an der Marymount University im US-amerikanischen Virginia, twitterte: "Das ist ein beschämendes Schreiben." Die Annahme, der Missbrauch von Kindern durch Geistliche sei ein Ergebnis der Sechzigerjahre und eines angeblichen Zusammenbruchs der Moraltheologie, sei eine "peinliche, falsche Erklärung für den systematischen Missbrauch von Kindern und dessen Verschleierung".

Benedikt war von 2005 bis zu seinem überraschenden Rücktritt 2013 Oberhaupt der katholischen Kirche - damals hatte er versprochen, künftig "für die Welt verborgen" zu bleiben. In seiner Amtszeit kam ans Licht, dass weltweit massenweise Kinder von Geistlichen missbraucht wurden.

Angesichts dieser schweren Krise hatte Papst Franziskus erst vor einigen Wochen zu einem Anti-Missbrauchs-Gipfel in den Vatikan eingeladen. Er hat immer wieder darauf hingewiesen, dass der Grund für Missbrauch auch die Machtstrukturen der Kirche sind (mehr über das Thema erfahren Sie hier).

Auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung hatte zuletzt hervorgehoben, die Wurzeln des Problems seien Jahrhunderte alt und auch in den Machtstrukturen begründet. Missbrauch werde so begünstigt - unter anderem durch den Zölibat, eine "schwierige Sexualmoral", ausgeprägte Hierarchien, die moralische Machtposition der Kirchen und die Rolle von Frauen in der Kirche.

"Es gibt keine Institution, die eine konservativere Sexualmoral vertritt und gleichzeitig über Jahrzehnte den sexuellen Missbrauch in ihren Reihen geduldet, vertuscht und geleugnet hat", sagte Rörig im Februar. "Es ist unumgänglich, dass die Kirche sich alle Bausteine ihrer Struktur ernsthaft kritisch vor Augen führt"

Zuletzt hatte sich Benedikt im vergangenen Jahr über direkte Vergleiche zwischen ihm und seinem Amtsnachfolger empört. Es sei ein "törichtes Vorurteil, wonach Papst Franziskus bloß ein praktisch veranlagter Mann ohne besondere theologische und philosophische Bildung sei, während ich selbst nur ein Theoretiker der Theologie gewesen wäre, der wenig vom konkreten Leben eines heutigen Christenmenschen verstanden hätte", schrieb Benedikt XVI. in einem Brief an den Präfekten des vatikanischen Kommunikationssekretariats.

mxw/dpa


Aus: " Streitbare Thesen Benedikt XVI. gibt Achtundsechzigern Mitschuld am Missbrauchsskandal" (11.04.2019)
Quelle: https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/benedikt-xvi-gibt-achtundsechzigern-mitschuld-am-missbrauch-a-1262422.html (https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/benedikt-xvi-gibt-achtundsechzigern-mitschuld-am-missbrauch-a-1262422.html)

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QuoteAndreas Kyriacou
@andreaskyriacou
Genau, die 68er sind schuld! Wer erinnert sich nicht an die zahlreichen Love-ins in katholischen Kirchen und an das Banner ,,Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren", das 1967 quer über den Petersplatz gezogen war?

1:10 vorm. · 12. Apr. 2019 · Twitter


https://twitter.com/andreaskyriacou/status/1116478575069343744

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Quoteschlussmachen.jetzt
@schlussmachen
·
Antwort an @hpdticker
Man muss zugeben: Die Linken haben in den siebziger Jahren #Pädophilie mit anderen bitter nötigen Emanzipationsbewegungen in einen Topf geworfen. Das haben sie sehr bereut. Kein Grund, sich die kath. Sexualmoral zurück zu ersehnen.


https://twitter.com/schlussmachen/status/1116627532017569793 (https://twitter.com/schlussmachen/status/1116627532017569793)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 16, 2019, 01:28:40 PM
Quote[...] Easy Rider ist ein US-amerikanischer Spielfilm aus dem Jahr 1969, der als Kultfilm und Road Movie das Lebensgefühl der Biker der späten 1960er Jahre beschreibt. Am 8. Mai 1969 war Easy Rider der offizielle Beitrag der Vereinigten Staaten zum Filmfestival von Cannes. Die Erstaufführung fand am 14. Juli 1969 in den Vereinigten Staaten statt, und am 19. Dezember 1969 kam der Film in die Kinos der Bundesrepublik Deutschland. ... Easy Rider hatte eine zwiespältige Wirkung. Viele Zuschauer konnten sich damit identifizieren, noch mehr waren und sind jedoch irritiert oder reagierten gar aggressiv. Einerseits hielt der Film der amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor, der ihr nicht gefallen konnte: Die USA sind kein Land der unendlichen Möglichkeiten, Toleranz und der freien Gesellschaft. Auch abseits der Großstädte ist das Land nicht mehr das unberührte Paradies, für das es die Hippies damals hielten. Je weiter man in den USA nach Süden kommt, desto mehr bekommt man den Hass jener zu spüren, die zwar ständig von Freiheit reden, aber aggressiv auf alle reagieren, die sie sich nehmen. Nach Meinung vieler Zuschauer ist Easy Rider trotz der unversöhnlich erscheinenden Gesellschaftskritik letztendlich ein Road-Movie, das den Glauben an Freiheit und Abenteuer aufrechterhält.

Gleichzeitig beschwor Easy Rider noch einmal den Pioniergeist der Menschen und die Freiheit des Einzelnen herauf von Leuten, die sich unabhängig von der Gesellschaft ihr Leben suchen wollen, mit selbständiger Landwirtschaft oder Drogen, Rockmusik und individuell gestalteten Motorrädern. Dies wird jedoch als zielloser Fluchtversuch entlarvt.

Dieser Pioniergeist über Generationen hinweg lässt sich besonders in einer Szene wiederfinden: Während im Hintergrund der gastgebende Farmer sein Pferd beschlägt, repariert Billy den Reifenschaden an seinem Motorrad. Ein Aufeinandertreffen zweier Zeitalter in einer Szene, das Ziel beider ist jedoch identisch.

Insgesamt gilt Easy Rider als authentisches Abbild eines Amerikas abseits der damals vorherrschenden Lebensentwürfe. Eine Darstellung der abflauenden, schon in Gewalt und Drogenexzesse umgeschlagenen Hippiebewegung samt deren verlorenen Hoffnungen und Lebenszielen. ...
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Easy_Rider (https://de.wikipedia.org/wiki/Easy_Rider) (11. Juli 2019)

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Quote[...] Wer "Easy Rider" hört, denkt zunächst mal an Motorräder und vor allem an Harley-Davidson, aber darum ging es Hopper gar nicht, wie er mal in einem Interview erzählte: "'Easy Rider' war für mich nie ein Motorradfilm. Es ging vor allem darum, was politisch gerade los war in dem Land."

... Die Umstände der Dreharbeiten bieten viel Stoff zur Legendenbildung - nicht nur, weil am Set viel Stoff aller Art konsumiert wurde. Waren es jetzt 100 oder 150 Joints, die Hopper, Fonda und Nicholson bei der berühmten Lagerfeuerszene rauchten? Zu dem Drogenkonsum kamen die Ego-Probleme: Hopper soll schon bei Probeaufnahmen beim Mardi Gras viele Crewmitglieder so verärgert haben, dass diese hinschmissen und durch Laien vor Ort ersetzt werden mussten. Im Streit mit seinem Filmpartner Peter Fonda ging es dagegen wohl vor allem um Geld - und der Streit sollte nie wieder geschlichtet werden. Fonda sagte, er sei zur Beerdigung von Hopper gekommen, habe aber nicht die Kapelle betreten dürfen.

Auch ums Drehbuch ranken sich zahllose Geschichten: Gab es überhaupt eins oder improvisierten die Schauspieler? Und wenn es eins gab, wer hat es geschrieben? Darüber wurden sich Hopper, Fonda und der als Autor genannte Terry Southern nie einig. Als der Film dann endlich abgedreht war, fiel Hopper und Fonda auf, dass sie glatt vergessen hatten, die abschließende Lagerfeuerszene zu drehen. So mussten sie zwei Wochen später nochmal ran - ohne die Motorräder, die mittlerweile gestohlen worden waren.

In gewisser Hinsicht ist all dieses Chaos auch egal, wenn am Ende so ein wahrhaftiger Film dabei herauskommt. Denn ob gewollt oder nicht, Hopper setzte verblüffende Akzente als Regisseur. Etwa ließ er die sogenannten Blendenflecke, die Lichtspiegelungen, die sonst immer aus Filmen herausgeschnitten werden, einfach drin. Und schuf mit seinen vielen Jump-Cuts einen natürlichen, fast dokumentarischen Stil, der bald Standard werden sollte. Ursprünglich wollte er auch viele "Flash Forward"-Szenen einbauen, am Ende blieb aber nur eine drin: die auf dem Friedhof, als Wyatts Ende zu sehen ist.

Auch die Auswahl der Musik setzte neue Maßstäbe. Zunächst sollten Crosby, Stills & Nash für den Soundtrack sorgen, ein entsprechender Vertrag war schon geschlossen. Doch ihr Engagement scheiterte am Veto von Hopper nach einer gemeinsamen Fahrt in einer Limousine mit Chauffeur. "Ihr Typen seid verdammt gute Musiker, ehrlich", soll Hopper zu Stephen Stills gesagt haben, "aber ich glaube nicht, dass jemand, der sich in Limousinen herumkutschieren lässt, meinen Film verstehen kann. Deshalb bin ich dagegen, dass ihr die Filmmusik macht."

Hopper griff stattdessen hauptsächlich auf Songs zurück, die er während der Schneidearbeiten im Radio hörte - ein Best-of des Sixties-Rock. Bei "Born to Be Wild" von Steppenwolf darf man schon mal die Augen verdrehen, aber andere Stücke wie "Wasn't Born to Follow" von The Byrds, "It's Alright, Ma" oder "Ballad of Easy Rider" von Roger McGuinn fangen den damaligen Zeitgeist perfekt ein. Ohne diese Musik hätte "Easy Rider" einiges von seiner Wirkung eingebüßt. Die Methode, Songs aus der Zeit für einen Film zu nehmen, statt einen eigens dafür komponierten Soundtrack, sollte sich bald in vielen Filmen durchsetzen - etwa in "American Graffiti" oder "Apocalypse Now".

Beides Werke des "New Hollywood", dieser Zeit zwischen Ende der Sechziger- und Ende der Siebzigerjahre, als sich junge und unerschrockene Autoren und Filmemacher anschickten, das angestaubte Hollywood zu revolutionieren und mit Energie und Kreativität das Kino zu erobern. Arthur Penns "Bonnie und Clyde" hatte 1967 den Weg dafür geebnet, aber "Easy Rider" war der Film, der plötzlich noch viel mehr möglich machte. Ein Film, der von Rebellen und Outlaws handelte, die sich gegen das Establishment auflehnen, mit geringen Mitteln unabhängig finanziert, aber mit viel Gefühl für die Zeit und die jungen Leute und einer Menge Authentizität und Gesellschaftskritik. All das, was dem alten Hollywood abging.

Deshalb schlug "Easy Rider" so ein. Zunächst auf dem Filmfestival in Cannes, wo Hopper den Preis für das beste Werk eines Regieneulings bekam, und später im Sommer und Herbst 1969 in den Kinos der USA. Schließlich weltweit, als die Erfolgsfahrt der "Easy Rider" an den Kinokassen nicht mehr aufhören wollte. Knapp 400.000 Dollar hatte der Film gekostet und spielte über 16 Millionen Dollar ein. "Vorher haben mich die Leute immer nur als den Sohn des großen Henry Fonda gesehen", sagte Peter Fonda, "mit 'Easy Rider' konnte ich endlich aus seinem Schatten heraustreten."

... So trügerisch die vermeintliche Freiheit am Ende ist, die Billy, Wyatt und George im Film genießen, so prophetisch nimmt "Easy Rider" damit auch Abschied von den Träumen und Hoffnungen der Sechzigerjahre. "You know Billy, we blew it", sagt Wyatt in der letzten Lagerfeuerszene, und viel ist darüber gerätselt worden, ob das nun nur auf die Protagonisten im Film oder auf die Gesellschaft an sich bezogen war. Ein paar Wochen später ermordete die Manson-Bande die schwangere Sharon Tate in den Hollywood Hills, Ende des Jahres erstachen die als Sicherheitsdienst engagierten Hells Angels beim Rolling-Stones-Konzert in Altamont den Schwarzen Meredith Hunter. Der Traum der Blumenkinder schien Ende der Sechzigerjahre zu platzen.

Seit dem Kinostart von "Easy Rider" sind 50 Jahre vergangen, der Film wurde zum Jubiläum in einigen Kinos wieder aufgeführt - und ist abgesehen von der Musik verblüffend aktuell und besser gealtert als andere Werke seiner Zeit. Was ist Freiheit? Wo fängt sie an? Wo hört sie auf? Vielleicht sind es einfach die Fragen, die der Film stellt, die zeitlos sind.


Aus: "50 Jahre "Easy Rider": Höllenfahrt in eine neue Zeit" Dirk Brichzi (11.07.2019)
Quelle: https://www.spiegel.de/einestages/50-jahre-easy-rider-hoellenfahrt-in-ein-neues-zeitalter-a-1276719.html#js-article-comments-box-pager (https://www.spiegel.de/einestages/50-jahre-easy-rider-hoellenfahrt-in-ein-neues-zeitalter-a-1276719.html#js-article-comments-box-pager)

Quoter blaas, 11.07.2019

1. es sollte nicht vergessen werden, dass der Film nachträglich nochmals gegenüber auch der in Deutschland gezeigten ursprünglichen Version "entschärft" wurde


QuoteJens-Uwe Schmidt, 11.07.2019

2. Grandioser Film - ich hab ihn im Kino vorgeführt aber die meisten Leute sind kopfschüttelnd raus weil sie ihn nicht verstanden haben. Meist Jugendliche, die etwas völlig anderes erwartet hatten. Danke für die Erinnerung, ich werde ihn Mal wieder schauen!


Quotehardee neubert, 11.07.2019

3. Ein Wahnsinnsfilm!

Er wirkt bei mir bis heute nach. Er beinhaltete alles, was wir in der damaligen Zeit dachten, träumten und versuchten umzusetzen. Es war der Anfang einer stillen Revolution und im Kern der Beginn des freien Denkens.


QuoteClaus-Stephan Merl, 11.07.2019

4. Was war an dem Film so gut? Ein paar Drogendealer, die damit andere Menschen ins Unglück stürzen, fahren durch die Gegend und werden von Rednecks umgelegt. Und das soll etwas mit "Freiheit" zu tun haben? Nein, es ist die Dekadenz des amerikanischen Traums. Sinnlose Existenzen, die kurze Momente des falschen Glücks erleben.


QuoteBernd Leibovitz, 12.07.2019

11. Ehrlich...

[Zitat]... war an dem Film so gut? Ein paar Drogendealer, die damit andere Menschen ins Unglück stürzen, fahren durch die Gegend und werden von Rednecks umgelegt. Und das
soll etwas mit "Freiheit" zu tun haben? Nein, es ist die Dekadenz des amerikanischen Traums. Sinnlose Existenzen, die kurze Momente des falschen Glücks erleben.


Wenn das alles ist, was Sie damals gesehen (und vor allem gehört) haben, dann sorry.


QuoteEnno Hoffmann, 11.07.2019

6. Die Faust in der Tasche

Als Easy Rider in Deutschland in die Kinos kam, erinnere ich mich an eine Rezension im NDR. Es war die Zeit von Wolfgang Bombusch und Henning Venske. In diesem Zusammenhang fiel der Satz: Du gehst mit der Faust in der Tasche aus dem Kino.


QuotePapazaca, 12.07.2019

10. Atmosphärisches Zeitdokument

Wenn man an den Film denkt, fallen einem eine verrückte Harley, die Freiheit, anders zu sein, gute Musik und ein böses Ende ein. Mehr Atmosphäre als Fakten, mehr Illusion als ein tatsächlicher Zeitabschnitt. Diese Zeit war eben viel Hoffnung auf eine andere Welt, bis zum Klischee der Blumenkinder. Fast nicht wahr und schnell von der Realität eingeholt. Und danach folgte Ernüchterung und später ein konservatives Roll Back. Aber auch die Abschaffung des Kuppeleiparagraphen und der Marsch durch die Instiutionen. Der Erfolg der Grünen läßt grüßen. Letztlich ist die Rezeption von "Easy Rider" eine Frage von Macht, Zeitgeschmack und Geschichtsschreibung. Ein Habeck hat beim Sehen des Films sicher andere Gefühle als Helmut Kohl beim essen eines Saumagens. Und auch unsere nationale Ikone, die vielleicht in ihren Hosenanzügen schläft, kann man sich auch mit viel Vorstellungsvermögen nicht auf einer Easy Rider-Harley vorstellen. So werden wir mit der unterschiedlichen Deutungshoheit über die Bedeutung dieses Films leben: Er vermittelt wahrscheinlich mehr, WAS IST und nicht, WAS WAR.


QuoteC. Moritz, 12.07.2019

12. No winds of change

Es ist schon deprimierend zu sehen, dass die Hälfte (nicht nur) der US-Gesellschaft seit 50 Jahren geistig auf dem Niveau stehengeblieben ist, welches der Film so bitterböse beschreibt. Wer auf irgendeine Art "anders" ist, wird angefeindet oder auch mal totgeschlagen oder erschossen. In einer deutschen Dokumentation war mal zu sehen, wie zwei Leute fast verprügelt werden, weil sie sich an einen Werktag faul auf eine Wiese legen wollten. Laut Hopper ging es ihm ja hauptsächlich darum, diese dumpfe Ignoranz und diesen Hass gegen alles Neue und Fremde zu thematisieren.


QuoteRaimondo Civetta, 12.07.2019

14. Freiheit

... Beim Streben nach Freiheit, machen Verblüffenderweise auch gescheite Leute oft zwei Fehler: Sie glauben, dass die Freiheiten anderer immer die eigene einschränken und dass Freiheit ausschliesslich über Geld zu erreichen sei.


...

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 18, 2019, 12:23:32 PM
QuoteÜber Treue - Geschrieben von Thomas Trueten in LifeStyle um 08:30

,,[...] wenn man als junger Mensch so aussah wie ein Hippie und sich einigermaßen selbst treu geblieben ist, sieht man als alter Sack aus wie ein Penner und nicht wie Joschka Fischer."

Harry Rowohlt


Quelle: https://www.trueten.de/permalink/UEber-Treue.html (https://www.trueten.de/permalink/UEber-Treue.html) (15.07.2019)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 15, 2019, 01:44:23 PM
Quote[...] Die 70er Jahre beginnen am 16. Juli 1969 um 9:32 mit dem Start der Apollo 11 Richtung Mond. Eine halbe Milliarde Menschen wohnen vor ihren Fernsehern dem Ereignis bei. Vier Wochen später feiert eine unübersehbare Menge im Schlamm von Woodstock den Anbruch einer neuen Zeit.

Das Neue ist in diesem Jahrzehnt eine Verheißung, die alle Menschen, den Mensch als Spezies betrifft. In der Gegenwart ist das Neue eine Bedrohung. Und das große warme Menschheitsgefühl von Woodstock ist dem Gefühl unvereinbarer Gegensätze gewichen. Die im Schlamm tanzenden Massen sahen sich als Avantgarde. Wir sehen uns als verzweifelte Feuerwehrleute, die in letzter Minute versuchen, die Katastrophe, die wir selbst verschuldet haben, zu verhindern. Und doch sind, das erzählt Jens Balzers brillante Analyse des entfesselten Jahrzehnts, die 70er Jahre die Epoche, mit der unsere Gegenwart beginnt. Die große Erzählung vom Fortschritt der Menschheit findet hier ihr Ende.

Aber zugleich steckt im Geist dieser Zeit ein enormes utopische Potenzial, das Balzer als Antidot gegen unsere resignierte Gegenwart aus der Flasche holt. Den berühmtesten Soundtrack zur Mondlandung liefert der 22-jährige Londoner David Bowie. Am Ende von Space Oddity bricht die Funkverbindung zur Erde ab und der Astronaut Major Tom geht in den Weiten des Weltalls verloren. Ein melancholischer Song, der von der Einsamkeit, Ratlosigkeit und Trauer eines wenig heldenhaften Weltraumeroberers erzählt. Und vom blauen Planeten, der aus der Ferne so klein und verletzlich aussieht: "Planet Earth is blue and there's nothing I can do."

Der Utopie, den Hoffnungen von damals wohnt bereits die Ernüchterung, das Scheitern inne. Und Utopie und Apokalypse liegen näher beieinander, als die berauschten Hippies von Woodstock es zu träumen wagten. ...


Aus: "Jens Balzer über das "Das entfesselte Jahrzehnt"" Sandra Prechtel (13.08.2019)
Quelle: https://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.die-siebziger-jahre-jens-balzer-ueber-das-das-entfesselte-jahrzehnt.3f9158a2-dd30-42ee-82a9-86a5be6745b2.html (https://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.die-siebziger-jahre-jens-balzer-ueber-das-das-entfesselte-jahrzehnt.3f9158a2-dd30-42ee-82a9-86a5be6745b2.html)

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Quote[...] Mit ,,Making Woodstock" hat der Autor Robert Pilpel zusammen mit den beiden Hauptinitiatoren des Festivals, Joel Rosenman und John Roberts, ein sehr gut lesbares, dokumentarisches Sammelwerk vorgelegt, das aus der Perspektive der Beteiligten versucht, ein Bild vom Festival zu vermitteln: Anfang des Jahres 1969 sind zwei junge, angehende Geschäftsleute, John Roberts und Joel Rosenman, auf der Suche nach Ideen, mit denen sie in die Geschäftswelt einsteigen können. Durch verschiedene Zufälle geraten sie an das Duo Mike Lang und Artie Kornfeld. Die vorliegende Dokumentation ,,Making Woodstock" beginnt mit der Begegnung von diesen vier Protagonisten und schildert das Festival, die Vorbereitungen und den Blick auf die anderen Beteiligten jeweils in persönlichen Texten und Statements. So entsteht, vergleicht man es mit den anderen Publikationen über Woodstock, ein authentisches Bild, gestützt durch die dokumentarischen Berichte der Zeitzeugen. Dies ist auch besonders interessant, weil von dieser Seite genaue Zahlen genannt werden, etwa was die Gagen der Musiker betrifft und die Kosten des Festivals. Allerdings gibt es erhebliche Abweichungen zu den Angaben bei dem zweiten vorliegenden Buch von Frank Schäfer.

Schäfers ,,Woodstock 69" ist zuerst einmal ein brillanter Essay. Im Gegensatz zu der Dokumentation wird hier vor allem die reflexive Ebene bemüht. Schäfers Erfahrungen als Musikjournalist haben erfreulich positive Auswirkungen auf den Text. Die kurzweilige Lektüre macht den Leser mit einer genauen Chronologie des Festivals vertraut. Alle Bands und Musiker, die Umstände ihres Auftritts und ihre Setlists werden genauestens analysiert und geben auf der interpretatorischen und anaylitischen Ebene neue Erkenntnisse und Einsichten, die einige althergebrachte Analysen durchaus revidieren, etwa ,,The Who" und ihren Gitaristen Pete Townshend betreffend: ,,,Ich glaube nicht, dass Townshend eine der Hauptfiguren hier war', meint Abbie Hoffman später. ,Die hatten nichts anderes im Kopf als ihre Songs zu spielen.' Er hat völlig recht, nur darum geht es ihnen. The Who wehren sich, wenn es Not tut mit Gewalt, gegen eine Instrumentalisierung ihrer Musik. Sie soll sich emanzipieren, für sich allein stehen können – und das ist ein ästhetisches Konzept, für das es in Woodstock noch ein bisschen zu früh ist."

Schäfer arbeitet auch kritische Stimmen zum Festival auf und rekapituliert die Analysen von Joan Didion: ,,Didion kennt die Flower-Power-Bewegung von innen und deutet sie als Symptom eines schleichenden Verfalls einer Gesellschaft, zugleich des Verlusts einer ehemals integrativen, also Generationen verbindenden Wertetradition. ,Wir bekamen [...] den verzweifelten Versuch einer Handvoll bemitleidenswert schlecht ausgerüsteter Kinder zu sehen, inmitten sozialer Leere eine Gemeinschaft zu schaffen.'" Als Fazit gibt Schäfer ein für die Freunde und Bewunderer von Woodstock sicherlich deprimierendes Zitat. Von Neil Young – der mit ,,Croshy, Stills, Nash & Young" in Woodstock gespielt hatte – zitiert er aus dem 1975 erschienen Album ,,Tonight's The Night" eine Strophe aus ,,Roll Another Number": ,,I'm not going' back to Woodstock for a while,/ Though I long to hear that lonesome hippie smile./ I'm a million miles away from that helicopter day./ No, I don't believe I'll be goin' back that way."

Die literarische Verarbeitung des Themas ,,Woodstock" bietet der Roman ,,Taking Woodstock" von Elliot Tiber. Hier kann man die Analysen und Wünsche, die Träume und Mythen von Woodstock in einer unterhaltsamen Geschichte nachlesen. Der Protagonist Elliot ist homosexuell und Sohn eines jüdischen Ehepaares, das in der Nähe des späteren Festivalgeländes in White Lake ein Motel betreibt. Elliot trifft den oben schon erwähnten Mike Lang, kann ihm den Kontakt zu Max Yasgur vermitteln, der letztendlich das Festivalgelände zur Verfügung stellen wird. Das Motel der Familie Tiber wird zum Hauptquartier der Festivalplaner, was das größte Familienproblem, den Geldmangel, löst. In der aus diesem Kontext entstehenden Atmosphäre von Emanzipation, freier Liebe, Drogenkonsum und Selbstbefreiung kann Tiber endlich öffentlich seine Homosexualität zeigen und selbst akzeptieren. ,,Woodstock" ist in dem Roman ein Katalysator für die Entwicklung des Protagonisten – und in der Übertragung ein ebensolcher für die Entwicklung einer ganzen Generation – und es wird damit zu einer Metapher für eine freiheitliche und selbst bestimmte Lebensgestaltung.


Aus: "Woodstock revisited: Drei Bücher zum 40. Jubiläum des Woodstock Festivals"
Thomas Neumann (Archiv / Frühere Ausgaben / Nr. 3, März 2010 / Musik-, Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaften)
Quelle: https://literaturkritik.de/id/14035 (https://literaturkritik.de/id/14035)

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Quote[...] Zweifellos ist Woodstock 1969 ein wichtiges Datum auf dem Weg zur gesellschaftlichen Individualisierung. Letztlich war es auch ein Festival der Geschmacksbildung und des Konsums. Und entgegen dem vielfach formulierten Unbehagen, kontur- und bedeutungslos in einer Menge aufzugehen, ging es hier um das Erlebnis eines Massengefühls, das nicht von vornherein diskreditiert war.

... Aber keine künstlerische Naivität ohne gesellschaftliche Brechung. Niemand verkörperte das stärker als Jimi Hendrix. Mit seiner Version der US-amerikanischen Nationalhymne brachte er den Vietnamkrieg auch als Tonspur auf das riesige Gelände.

... Die Gesellschaft der Vereinigten Staaten war wenige Wochen nach der Ermordung von Robert Kennedy weit stärker aufgewühlt als die heutige.

...



Aus: "Woodstock 1969: Eine Generation, die sich in ihrem Widerstand selbst entdeckt" Harry Nutt (14.08.19)
Quelle: https://www.fr.de/meinung/woodstock-eine-generation-sich-ihrem-widerstand-selbst-entdeckt-12911641.html (https://www.fr.de/meinung/woodstock-eine-generation-sich-ihrem-widerstand-selbst-entdeckt-12911641.html)

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Quote[...] Hinter den Zäunen, die aber von den Massen eingerissen wurden, so dass Woodstock zu einem kostenlosen Konzert erklärt werden musste, schien eine Gegenwelt eingehegt. Der Vietnamkrieg, die Aggression der Spießer und Rassisten, die Ermordung von Martin Luther King und Robert Kennedy sorgten für ein politisch wie kulturell hochgradig aufgeladenes Klima. Es gab genug Gründe, um ,,Fuck" zu sagen. ,,Fuck" öffentlich auszusprechen, war in den USA der 60 Jahre jedoch ein Grund, um verhaftet zu werden. Country Joe McDonald ließ sich von der Bühne herab ,,F-U-C-K" von den Massen brüllend buchstabieren und bestätigen, als Ausdruck einer Rebellion, als Protest gegen die repressive Arroganz der Macht. ,,Fuck" schien das Losungswort, um das Establishment zu erschrecken. Aber sagten nicht auch die schlimmsten Spießer und aggressivsten Anti-Hippianer ,,Fuck"? Auf jeden Fall war für die Woodstock-Massen der Krieg in Vietnam fuck.

Für viele, die dabei waren, wurde der Matsch zur Institution, für nicht wenige nach Woodstock der Marsch durch die Institutionen. Schlichtere Gemüter sahen sich schon an der Spitze einer Revolution – die dann ausblieb. Seelenverkäufer setzten sich an die Spitze der Kommerzialisierung – ja, einer Durchökonomisierung des Musikbusiness. Und die blieb nicht aus. Einige Schriftgelehrte des Woodstock-Mythos haben all die Lesarten und Legenden retrospektiv als eine von Drogen stark manipulierte Selbstermächtigung interpretiert. Als so etwas wie die Verabredung eines Kollektivs mit dem Weltgeist, in dem eine Gegenwelt zu sich selbst kam unter verstörenden hygienischen Bedingungen.

... Waleighs oscarprämierter, fast vier Stunden langer Woodstock-Film hat die Legende rund um die Welt versendet, das Gerücht von einer Gegenwelt, für drei Tage errichtet auf einem grünen Hügel, mit der Ouvertüre von Canned Heat: ,,Going up the Country". Dieses Bild ist Waleigh immer wieder vorgeworfen worden, eine Imagebildung der Verklärung. Dabei ist es nicht geblieben, wie gern übersehen wurde. Denn tatsächlich endet seine Dokumentation, die eine Montage ist und sich nicht an die Chronologie hält, mit Bildern der Verwüstung, und die stammen dann vom Finale auf dem Festivalgelände – und dem Nachspiel, am Montagmorgen. Über eine Schlammwüste trug ein einsamer Mensch einen Regenbogenschirm. Jimi Hendrix, in seine Soli vertieft, zerschredderte die amerikanische Nationalhymne.

...


Aus: "Woodstock: Frauenverachtung, Kommerz und schlechte Drogen" Christian Thomas (15.08.2019)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/woodstock-kein-wonderland-12914989.html (https://www.fr.de/kultur/woodstock-kein-wonderland-12914989.html)

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Quote[...] Spielten denn Gruppen wie die Black Panther Party, die sich gegen die Unterdrückung der Afroamerikaner engagierte, eine Rolle in Woodstock?

Sie waren einfach da, wie die Frauenbewegung auch. Man erkannte sie. Was wir in Europa in den Berichten davon übrig gelassen haben, war vor allem die sexuelle Befreiung. Das Aufregende war aber für mich: Sie waren alle da, und niemand war der Führer. Bei uns in Deutschland wurde unter den K-Gruppen der Kampf um die Wahrheit geführt, was in den 70er-Jahren auch die Anfänge der Bremer Uni bestimmt hat. Woodstock war zwar ein Riesen ,,melting pot", aber niemand hat die Deutungshoheit übernommen. ...

...

Vor wenigen Wochen war der 50. Todestag von Theodor W. Adorno, der in ,,Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug" schon in den 40er-Jahren gesagt hat, dass alle Kultur Ware ist. Adorno sind Sie auch einmal begegnet, oder?

Ich kam im zweiten oder dritten Semester in die Studienstiftung des Deutschen Volkes. Die hatten immer spannende Tagungen. Als Adorno sein Buch ,,Negative Dialektik" geschrieben hat, gab es ein Seminar mit ihm. Das war natürlich toll. Adorno hätte mit Woodstock wohl nichts am Hut gehabt. Aber diese 60er-Jahre waren, wenn schon kein Aufbruch, dann doch eine Zusammenfassung einer Stimmung. Und für mich war es eine wichtige Einsicht, dass man nicht nur durch Analyse und Adorno oder Bloch Veränderungen erreichen kann, sondern dass der Aufbruchswille in jedem Menschen steckt. Und dass die Verzweiflung über das, was Menschen zugemutet wird, auch überall ist.

Was ist für Sie persönlich wichtiger gewesen? Adorno oder Woodstock?

Für meine Arbeit sicherlich Adorno. Woodstock ist eher das, wohin man sein Wissen bringt. Das ist kaum vergleichbar. Ich bin froh, dass ich als Intellektuelle diese andere Seite entdeckt habe. Adorno und andere haben wichtige Hintergrunderklärungen für die Studentenbewegung geliefert. Seine Studien zur autoritären Persönlichkeit waren eine wichtige Grundlage.

...


Aus: "Intweview: 50 Jahre später: Annelie Keil erinnert sich an Woodstock: ,,Ich war von der Stimmung stoned"" (14.08.2019)
Quelle: https://www.kreiszeitung.de/kultur/ich-stimmung-stoned-12914851.html (https://www.kreiszeitung.de/kultur/ich-stimmung-stoned-12914851.html)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on May 05, 2020, 09:41:13 AM
Quote[...] Patrick Wildermann: Nur werden Kinder plötzlich nicht nur als Krachmacher, sondern als Gefahr gesehen. In den vergangenen Wochen konnte man etliche Fälle erleben, in denen wegen spielender Kinder die Polizei gerufen wurde. Ist das die Rückkehr der Hausmeister-Republik?

Volker Ludwig: Diese Haltung von vielen Erwachsenen, sofort denunziatorisch einzuschreiten, die erinnert mich tatsächlich an die alten Zeiten. Das ist offenbar nicht auszurotten. Da kommt diese urdeutsche Blockwart-Mentalität wieder hoch. ...

Patrick Wildermann: Diese Blockwart-Mentalität hatte man doch eigentlich für überwunden gehalten.

Volker Ludwig: Wir haben ja vieles für überwunden gehalten nach der 68er-Zeit. Was die Kinderrechte betrifft, hat sich auch wahnsinnig viel getan, Deutschland ist sehr viel fortschrittlicher und liberaler geworden. Ich kann mich noch erinnern, wie normal es war, dass Kinder in den Geschäften erst nach allen Erwachsenen bedient wurden. Zum Essen sind wir nur zum Italiener gegangen, weil in allen anderen Restaurants Kinder allenfalls naserümpfend geduldet wurden.

Patrick Wildermann: Aus der 68er-Bewegung sind auch die Kinderläden entstanden, die gerade als mutmaßliche Virenschleudern in der Diskussion stehen. Inklusive Schlagzeilen wie ,,Jede Kita ist ein potenzielles Ischgl"...

Volker Ludwig: Ich begreife nicht, dass man sich nicht als Erstes um die Frage gekümmert hat, was macht man, wenn die Kitas zu sind? Es gibt ja eine Notbetreuung, aber die müsste man mehr ausweiten. Was ist mit den vielen alleinerziehenden Müttern, die sie am dringendsten brauchen, die aber nicht alle in den sogenannten systemrelevanten Berufen arbeiten? Was ist mit den Kindern und Jugendlichen, die auf das Schulessen angewiesen sind? Das alles wurde überhaupt nicht geklärt.

Patrick Wildermann: Glauben Sie, so etwas wirkt gesellschaftlich nach?

Volker Ludwig: Ich kann nur hoffen, dass man daraus einmal lernen wird, wenn die Krise vorbei ist. Dass man die Gefahr erkennt, wie schnell Errungenschaften auch wieder kippen können. Manche Leute glauben ja, wir werden eine neue Gesellschaft erleben, in der wir alle mehr aufeinander achten. Natürlich gibt es viele Beispiele von Solidarität unter Nachbarn, auch bei uns im Haus. Aber daraus die Hoffnung auf eine gerechtere Welt abzuleiten? Ein paar Hilfsbereite und Vernünftige hat es immer gegeben.

Patrick Wildermann: Wie geht es Ihnen mit der Einschränkung der Grundrechte?

Volker Ludwig: Man kann vieles akzeptieren, aber dieser totale Konsens, der zu Beginn geherrscht hat, von den Grünen bis zur AfD, hat mich doch skeptisch gemacht. Sofort sind die Umfragewerte für die Hardliner hochgeschossen, am beliebtesten ist immer noch Herr Söder – das ist schon sehr merkwürdig. Dass die Politiker sich jetzt andauernd bei den Bürgerinnen und Bürgern für ihr braves Mitmachen bedanken, ist jedenfalls überflüssig. Wir sind ein Land, das furchtbar gerne gehorcht.

Patrick Wildermann: Daran hat 68 nichts geändert...

Volker Ludwig: Einen echten Schock habe ich bekommen, als zum ersten Mal diese Hassfressen der Pegida-Leute aufgetaucht sind, die mit Schaum vorm Mund brüllten, dass die Merkel aufgehängt werden müsse. Das waren genau so hassverzerrte Gesichter wie damals, als es hieß: Dutschke an den Galgen. Was vom Staat seinerzeit noch gefördert wurde. Keine Ahnung, warum das nach 50 Jahren plötzlich wieder hochgekocht ist.

...



Aus: "Früherer Theater-Chef zur Coronakrise: ,,Wir sind ein Land, das furchtbar gerne gehorcht"" (04.05.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/frueherer-theater-chef-zur-coronakrise-wir-sind-ein-land-das-furchtbar-gerne-gehorcht/25797584.html (https://www.tagesspiegel.de/kultur/frueherer-theater-chef-zur-coronakrise-wir-sind-ein-land-das-furchtbar-gerne-gehorcht/25797584.html)

QuoteFriedenauer_Kaepsele 04.05.2020, 13:06 Uhr

So sehr ich Volker Ludwig eigentlich schätze, so sehr geht mir die Neigung mancher Linken zur penetranten und prinzipiellen Kritikasterei gegen den "Staat" und die Leute auf die Nerven. Ich hätte nicht lesen mögen, wie er sich ausgelassen hätte, wenn es hier in der Stadt Zustände wie in Bergamo, Madrid oder New York gegeben hätte, wenn die Leute nicht mehr gewusst hätten, wohin mit den Leichen.

Es ist keine "Lust am Gehorsam" der Leute, sondern Einsicht in die Notwendigkeit. Deshalb ist Berlin ja bis jetzt recht glimpflich davongekommen.


QuoteMaximum5438 04.05.2020, 14:00 Uhr

Antwort auf den Beitrag von Friedenauer_Kaepsele 04.05.2020, 13:06 Uhr
Fein, dass Sie Herrn Marx zitieren. Dennoch erlaube ich mir, meinen eigenen Verstand zu benutzen und die Verhältnismäßigkeit der Mittel zu hinterfragen. Die mantramäßige Beschwörung der Verhältnisse in Bergamo, Madrid und New York ist ebenfalls wenig hilfreich, da diesen durchaus bedauerlichen Verhältnissen Situationen vorangegangen sind, die in D in dieser Form eben nicht bestanden. Ich erwähne nur das aus Kostengründen heruntergerockte Gesundheitswesen inI, E und USA (sowieso), dazu problematische soziale Verhältnisse, möglicherweise auch intensive Luftverschmutzung (gerade in der Lombardei) etc. Also alles nicht so einfach. Und 95% der Bevölkerung in Geiselhaft für 5% Erkrankte/Gefährdete zu halten? Das ist schlicht und ergreifend eine  Überreaktion. Zum Schluß: ich habe den 70. Geburtstag schon hinter mir.....


Quotederverwalter 04.05.2020, 14:26 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Maximum5438 04.05.2020, 14:00 Uhr

    Und 95% der Bevölkerung in Geiselhaft für 5% Erkrankte/Gefährdete zu halten?

Abgesehen davon, dass der Begriff Geiselhaft in diesem Kontext purer sinnloser Populismus ist, ist Ihr Blickfeld ziemlich eingeschränkt.
Es ging/geht nicht nur um 5% Erkrankte/Gefährdete, sondern auch darum, die öffentliche Daseinsvorsorge aufrecht zu erhalten. Wenn die Infektionskurve nicht flach gehalten worden wäre, dann wären auch viel mehr Ärztinnen/Ärzte, Krankenschwestern, Erzieher*innen, Lehrer*innen, Polizist*innen, Feuerwehrleute, Müllwerker, Verkäufer*innen, usw. usf. erkrankt. Natürlich wären sie überwiegend nicht gestorben, aber mindestens zwei bis vier Wochen außer Gefecht gewesen, und etwa ein Zehntel von Ihnen hätte das Gesundheitswesen (Krankenhäuser) in Anspruch nehmen müssen. Dann hätte ich Ihre (Über-) Reaktion mal sehen wollen, wenn Supermärkte schließen und die Feuerwehr  prorisieren muss, wem sie hilft und wem nicht ...
Die Krankenhäuser mit Covid-19-Patienten arbeiten zum Teil schon auf dem Zahnfleisch, weil sich ärztliches und Pflegepersonal ansteckt und ausfällt.


...
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 27, 2020, 12:38:46 PM
Quote[...] Los Angeles - Nach ein paar Gitarrenakkorden setzt sie ein – die unverwechselbare Stimme, rau, mal flüsternd, mal ein wenig kreischend. ,,Ball and Chain" ist das letzte Lied, das Janis Joplin gemeinsam mit der Band Big Brother and the Holding Company auf dem Monterrey Festival im Juni 1967 in Kalifornien spielt. Die meisten Zuschauerinnen und Zuschauer hatten wohl vorher noch nie von der damals 24-Jährigen gehört, die mit goldenen Schlaghosen, wildem Haar, Ketten um den Hals und sehr viel Energie und Leidenschaft die Bühne einnimmt.

In einem Video des Auftritts verlässt die Kamera für einen Moment Janis Joplin und schwenkt ins Publikum. Zu sehen ist eine Frau, die mit offenem Mund begeistert ihrem Gesang lauscht. Wir können nicht hören, was sie sagt, aber ihr Mund formt offenbar das Wort ,,wow". Es ist die Sängerin Cass Elliot von der Band Mama and the Papas.

,,No one to that point had seen a white girl sing the blues like she sangs it", sagt Mitveranstalter und Musikproduzent Lou Adler vierzig Jahre später, niemand hatte bis dahin eine Weiße den Blues singen hören, wie Janis Joplin es tat. Es gibt viel Applaus, aber die Menge in Monterrey dreht nicht durch. Trotzdem gilt das dreitägige Festival, das ebenfalls Jimi Hendrix und The Who bekannt machte, als Joplins Durchbruch. Wenig später unterschreibt Janis Joplin mit der Band ihren ersten Plattenvertrag. Zwei Alben später ist sie ein gefeierter Superstar.

Ihre Songs ,,Me and Bobby Mc Gee", ,,Piece of my Heart" oder ,,Mercedes-Benz" wurden zu unvergessenen Klassikern, die unzählige Male gehört, gespielt, nachgesungen wurden. Ihr zweites Soloalbum ,,Pearl", das nach ihrem Tod veröffentlicht wurde, stand in den USA neun Wochen lang auf Platz 1 der Charts. Und verkaufte sich mehr als vier Millionen Mal.

Man kennt sie, die Eckpunkte von Janis Joplins kurzer Biografie. Geboren 1943 und aufgewachsen in einer Kleinstadt in Texas. Gestorben 1970 in einem Hotelzimmer an einer Überdosis Heroin. Auftritt beim Woodstock-Festival, rauchen und Whiskey trinken gehörte zu ihrem Image. Sie war drogensüchtig und alkoholabhängig, um genau zu sein. Sie ist trotzdem Stilikone, verkörpert Hippiekultur, den Spirit und Sound der Sixties und gehört zum Klub 27.

Janis Joplin war aber auch der erste weibliche Rockstar. In einer von Männern dominierten Musikszene Mitte der 1960er Jahre gab sie in ihren Bands den Ton an. Dass die Rockmusik ausgerechnet dieser Zeit sexistisch war, mag verwundern, repräsentierte sie doch sexuelle Freiheit und rebellierte gegen traditionelle Werte. Aber in den meisten Texten waren Frauen immer noch das Sex-Objekt und weibliche Performerinnen gab es kaum.

Die meisten Sängerinnen der 1950er und 60er waren eher Stereotypen und vor allem süß. Und selbst Girl-Rock-Groups verkörperten Sexiness in neuem Gewand. Ihre Texte waren oft wenig tiefgreifend. Janis Joplin brachte eine neue Weiblichkeit auf die Bühne und in die Köpfe der Menschen – vor allem in die der Frauen. Joplin wollte weder hübsch klingen noch aussehen, sie war für die meisten nicht süß oder sexy – und strengte sich auch nicht an, es zu werden.

Stattdessen wurde Joplin zu einer feministischen Heldin, weil sie Geschlechtergrenzen überschritt. Joplin nahm nicht nur die Bühne für sich ein, sie prägte auch einen neuen Style und revolutionierte Standards, die weibliche Schönheitsideale betrafen, schrieb der US-amerikanische Geschichtsprofessor Jerry Rodnitzky 1999 in einem Aufsatz. Die Sängerin trug weder einen BH, noch machte sie sich viel Arbeit mit ihren Haaren. Joplins wilder, individueller Look habe zahllose Frauen und Mädchen von Make-Up und Hüfthaltern befreit. Und Frauen Selbstbewusstsein gegeben, die nie als schön im klassischen Sinne angesehen worden seien.

Auch die Tatsache, dass Janis Joplin Frauenrechts-Organisationen ignorierte und keine offensichtlichen feministischen Slogans in ihren Songs auftauchten, machten sie nicht weniger zu einem feministischen Vorbild, so Rodnitzky. Einmal wird sie gefragt, ob sie von der Frauenbewegung angefeindet wurde. Ein Teil von ihnen schien es zu stören, dass Janis Joplin so offensiv mit Sex umgehe. ,,Nein", entgegnete Joplin, ,,wie könnten sie, ich stehe für alles, was sie angeblich wollen". Ihren Standpunkt machte Joplin klar, ohne sich direkt auf Forderungen oder Rechte der Frauen zu beziehen: Man sei doch das, womit man sich zufrieden gebe. ,,Und wenn man sich nicht damit begnügt, jemandem das Geschirr zu waschen und kämpft, kann man das sein, was man will."

Doch es gab auch eine Zeit, in der Janis Joplin noch lernen musste, sich zu behaupten, in der sie schön sein wollte. Sie sah allerdings nie so aus, wie die Frauen in den Magazinen. ,,Sie war ein wenig pummelig und hatte Pickel als Teenager", berichtet ihre jüngere Schwester in dem Dokumentarfilm ,,Little Girl Blue". Doch nicht nur das machte sie zur Außenseiterin. Joplin habe es zur Gegenkultur gezogen, sie kleidete sich wie ein Beatnik. Janis Joplin sah anders aus und rebellierte, dafür wurde sie gemobbt, berichtet ihre Schwester.

Wenige wissen, dass sich hinter Joplins wildem Lebensstil und dem scheinbaren Selbstbewusstsein auf der Bühne eine offenbar verletzte Seele verbarg. Die Anfeindungen begannen in der High-School, wurden auch auf der Uni nicht besser. ,,Janis benahm sich nicht, wie Frauen damals sein sollten, sie fluchte und war nicht sittsam", erinnert sich ein Schulfreund. Sie habe Grenzen verschoben. Auch wenn sie nach außen immer robust wirkte, habe es viel gegeben, was ihr zusetzte, sagt auch ein Bandkollege aus der College-Zeit.

Die Bühne ließ Janis Joplin fühlen, dass sie etwas zu bieten hatte. Als Teenager begann Janis Joplin Folk zu singen, im Chor, später in einer Band. Sie liebte Blues-Sänger wie Odette, Bessie Smith und Otis Reading. ,,Ich habe zufällig gemerkt, dass ich diese Stimme habe", erklärte Joplin in einem Interview. Aber auch später, als Star wurde sie angefeindet für das, was sie verkörperte. Treu geblieben ist sie sich trotzdem immer. Joplins Songs, die als autobiografisch gelten, sind voll von emotionaler Ehrlichkeit, in ihnen offenbarte sie Leidenschaft und ihre Sehnsüchte.

Zahllose Musikerinnen nach ihr fühlten sich von Joplin inspiriert, bis in die Gegenwart. Sie habe keine Angst vor ihrem Schmerz und ihrer Wahrheit gehabt, sagt etwa die Popmusikerin Pink. ,,Ich habe gemerkt, ich muss nicht anders sein, als ich bin." Sie habe einen Platz für Frauen in der Rockmusik geschaffen, so drückt es Melissa Etheridge aus. Die Sängerin hielt die Rede, als Janis Joplin 1995 in die ,,Rock and Roll Hall of Fame" aufgenommen wurde.

Etheridge erinnerte sich, dass sie als junge Frau so singen, so fühlen und auf der Bühne explodieren wollte, wie Janis Joplin. Sie habe ihr gezeigt, dass Frauen nicht Sekretärinnen und Hausfrauen sein müssen. ,,Wir können Rockstars sein." (Von Judith Köneke) 1960er Jahre: Gretchen Dutschke hat an der Seite ihres Mannes Rudi für eine freie, solidarische Gesellschaft gekämpft. Hinter der "antiautoritären Rebellion" steht sie bis heute.


Aus: "Rockstar Janis Joplin: Eine Ikone der 60er Jahre - Du bist, womit du dich zufriedengibst" Judith Köneke (27.08.2020)
Quelle: https://www.fr.de/zukunft/storys/75-lektionen-mut/du-bist-womit-du-dich-zufriedengibst-wie-janis-joplin-zum-ersten-weiblichen-rockstar-wurde-90031302.html (https://www.fr.de/zukunft/storys/75-lektionen-mut/du-bist-womit-du-dich-zufriedengibst-wie-janis-joplin-zum-ersten-weiblichen-rockstar-wurde-90031302.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 27, 2020, 03:25:49 PM
Quote[...] In großangelegten Werbekampagnen von Handel und Industrie sind sexistische Motive immer weniger zu finden. Dagegen werben Handwerksfirmen und kleinere Dienstleistungsunternehmen immer aggressiver mit geschlechtsdiskriminierenden Bildern und Slogans. ,,Werf' deine Alte raus", heißt es bei einem Sanitärunternehmen, das eine halbnackte Blondine in der neuen Badewanne zeigt. Ein anderes Beispiel: Eine Frau mit gespreizten Beinen auf dem Auto einer Rohrreinigungsfirma mit dem Werbespruch: ,,Wir kommen überall durch".

Rund 5000 solcher Beispiele hat die Frauenrechtsorganisation Pinkstinks im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über zwei Jahre hinweg gesammelt und bewertet. Das ,,Monitoring sexistischer Werbung" hat die Hamburger Organisation im September 2019 vorgelegt. Doch fast ein Jahr danach habe Pinkstinks keinerlei Reaktion erhalten von Seiten des Ministeriums.

,,Das sind 400.000 Euro, die uns gegeben wurden für zwei Jahre, um die Studie zu machen", erklärt Stevie Schmiedel, Geschäftsführerin von Pinkstinks. "Und jetzt interessiert sie niemanden. Wir haben überhaupt keine Rückmeldung von den PolitikerInnen bekommen, die letztendlich die Studie beauftragt haben. Das ist eigentlich nicht fair, den SteuerzahlerInnen gegenüber", beklagt sie.

Auch die Wirtschaftsjuristin Susanne Engelsing, Professorin an der Hochschule Konstanz, bedauert, ,,gegen frauenfeindliche Werbung wird zu wenig getan". Sie fordert schärfere Gesetze, weil die Selbstkontrolle der Werbewirtschaft durch den Deutschen Werberat leider nicht funktioniere. ,,Der Deutsche Werberat ist selbst Partei und hat die alleinige Deutungshoheit über das, was menschenverachtende Werbung ist", so Engelsing. "Man darf es aber nicht in den Händen der Werbewirtschaft lassen, sondern es müssen Gerichte eingeschaltet werden können."

...


Aus: "Sexistische Werbung: Nackte Haut für den Profit" (Frontal 21 vom 11. August 2020)
Quelle: https://www.zdf.de/politik/frontal-21/sexistische-werbung-100.html (https://www.zdf.de/politik/frontal-21/sexistische-werbung-100.html)

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Quote[...] Die Moral hat es dieser Tage nicht leicht. Sie ist zum Ismus verkommen und damit zum Schimpfwort. Ganz neu ist die Debatte nicht, doch im Zuge der Migrationshysterie wurde aus dem augenzwinkernden ,,Moralin" der spaßbefreite ,,Moralismus". Die rechte Publizistik hyperventiliert sogar von einer ,,Moralismus-Diktatur" – und rückt so Moral sprachlich in die Nähe von NS-Regime oder DDR. Aber Moral, war das nicht eigentlich mal was Gutes?

,,Moral ist im Prinzip erst mal etwas Gutes. Also Moral brauchen wir ja auch, um den Gang der Gesellschaft irgendwie zu ordnen. Aber sobald Moral sich selbstständig macht, dann wird es eben schnell zum Moralisieren."

Die finnisch-deutsche Schriftstellerin Beile Ratut sprach sich deshalb im Deutschlandfunk für einen kritischen Blick auf moralische Belehrungen aus. Der Philosoph Alexander Grau diagnostizierte ebenfalls im Deutschlandfunk einen ,,Moralismus mit totalitären Zügen". Der verlangt dann auch nach einem neuen Superlativ, beziehungsweise Hyperlativ: dem Hypermoralismus.

,,Der Hypermoralismus ist ja nicht politisch neutral, sondern wir kennen ihn vor allem eigentlich aus dem linken oder linksliberalen Lager. Er ist der Versuch, die Gesellschaft anhand linker Ordnungsvorstellungen und eines weitestgehend links konnotierten Menschenbildes auszurichten und hat seine Wurzeln in der 68er-Bewegung und in der kulturellen Hegemonie, die in einigen Teilen der Gesellschaft zumindest dieser Linksliberalismus inzwischen erlangt hat."

Die viel gescholtenen ,,alten weißen Männer" scheinen besonders stark unter der vermeintlichen linken Moraldiktatur zu leiden: Broder, Hahne, Tichy und so weiter haben dem Moralismus den Kampf angesagt (Der Vorwurf des ,,links-grünen Moralismus").  ...


Aus: "Moralismus-Debatte: Hype um die Hypermoral" Christian Röther (10.08.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/moralismus-debatte-hype-um-die-hypermoral.886.de.html?dram:article_id=422221 (https://www.deutschlandfunk.de/moralismus-debatte-hype-um-die-hypermoral.886.de.html?dram:article_id=422221)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 03, 2020, 10:13:39 AM
Quote[...]  Udo Wachtveitl und sein Schauspielerkollege Miroslav Nemec hatten als das Münchner Duo Batic und Leitmayr die meisten Einsätze in der Geschichte des ,,Tatorts".

Im Gespräch mit der ,,Zeit" zieht Wachtveitl nun eine durchaus kritische Bilanz der Krimireihe. Ihm sei der ,,Tatort" moralisch zu erwartbar geworden, so der 61-Jährige. Der Unterprivilegierte sei in der Krimiserie mit öder Regelmäßigkeit der bessere Mensch, wird der Darsteller von Kommissar Franz Leitmayr in der Wochenzeitung zitiert.

,,Neulich hat mich ein Freund gefragt: Wie viele moralisch gute Charaktere gibt es eigentlich im ,Tatort', die reich waren? Gute Frage", sagte er demnach.

Wachtveitl vermutet, dass das eine Generationenfrage sei: ,,Ich glaube, da ist ein bisschen 1968er-Kitsch dabei. Diese Leute sind jetzt alle in den Redaktionen in den entsprechenden Positionen. Bei denen darf der hart arbeitende Ausländer unter den drei Verdächtigen sicher nicht der Täter sein."

Auch Regisseur und Drehbuchautor Dominik Graf würde sich wünschen, dass der ,,Tatort" weniger erwartbar wäre und seine Zuschauer auch mal überfordern würde.

...


Aus: "Schauspieler Wachtveitl kritisiert zu viel ,,68er-Kitsch" im ,,Tatort"" (12.08.2020)
Quelle: https://www.welt.de/kultur/article213375856/Udo-Wachtveitl-sieht-zu-viel-68er-Kitsch-im-Tatort.html (https://www.welt.de/kultur/article213375856/Udo-Wachtveitl-sieht-zu-viel-68er-Kitsch-im-Tatort.html)

QuoteOrthograf

Es sind ja nicht nur die Alt-68er in den Redaktionen. Nachgerückt ist eine junge Journalisten-Generation, deren Angehörige scheinbar ganz offen Aktivismus als elementaren Bestandteil ihres Berufs sehen. Der Leser, Zuschauer, Hörer muss offenbar von der "richtigen" Meinung überzeugt werden. ...


QuoteDirk A.

Deutschland produziert nun auch in Sachen Film und Fernsehen nur noch hypermoralisierten Müll. ...


QuoteGunter P.

Nicht nur manchmal zu viel 68er Kitsch.
Insgesamt (!) sind die Filme zu "pädagogisch" und damit langweilig.
Genau das braucht ein guter Kriminalfilm nicht:
Langeweile und Belehrungen.

Dabei gibt es genügend wirklich hervorragende und inspirierende Vorbilder: Französische Kriminalfilme der 60er oder frühen 70er Jahre.
Amerikanische Kriminalfilme der "goldenen Ära" bis etwa 1980.
Nur Mut!


QuoteKarl W.

Beim letzten Tatort, den ich vollständig geschaut habe, hieß der Kommissar noch Schimanski. ...


...

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 03, 2020, 10:20:58 AM
Quote[...] Berlin - In den Jahren 1971 und 1972 gehörte ich der Roten Hilfe Westberlin an. Mit erheblicher Sympathie kümmerten wir uns damals um die Gefangenen der 1970 gegründeten Terrororganisationen ,,Rote Armee Fraktion" (RAF) und ,,Bewegung 2. Juni": Wir bezeichneten die Häftlinge als politische Gefangene, sprachen von ,,Isolationsfolter", schrieben Briefe, sammelten Geld und besuchten – parteiisch-solidarisch erregt – die Prozesse. Auch kamen illegale Aktionen vor, etwa das Waschen von Geldscheinen, die offensichtlich aus Banküberfällen stammten. Von solchen Dingen wollen die allermeisten heute noch lebenden, zumeist arrivierten einstigen Genossinnen und Genossen nichts gewusst haben. Schreibt man allerdings darüber, wie ich das vor zwölf Jahren in dem Buch ,,Unser Kampf" getan habe, gilt man sofort als Verräter. Diese Art von Selbstgerechtigkeit im Hinblick auf totalitäre und heute gewiss peinliche Selbstermächtigung erbten nicht wenige Alt-68er von ihren Alt-33er Vätern. Auch sie hatten nichts gesehen oder gewusst – und schwiegen.

... Die von Horst Mahler so hartnäckig vorgelebte Fusion von linkem und rechtem Radikalismus hätte aufmerksamen Beobachtern früh auffallen können. Aber es wird noch verrückter. 1967 hatte sich Mahler zusammen mit Heinz Galinski, Max Horkheimer, Fritz Bauer und wenigen anderen dafür eingesetzt, die damals als Schullandheim genutzte Wannsee-Villa in einen Ort zur Erforschung der nationalsozialistischen Verbrechen umzuwandeln. 1964 war die NDR-Journalistin Ulrike Meinhof die ,,erste Person in der Bundesrepublik", die, am Ende unter Tränen, von Marcel Reich-Ranicki ,,aufrichtig und ernsthaft wünschte", über dessen ,,Erlebnisse im Warschauer Ghetto informiert zu werden". Als sie sich dann 1976 im Gefängnis erhängte, wählte sie ausgerechnet die Nacht vom 8. zum 9. Mai. ,,Wäre es denkbar", fragte Reich-Ranicki später, dass es zwischen der deutschen Vergangenheit und dem Weg zum Terror ,,einen Zusammenhang gibt"?

Kurz nach der RAF gründete sich in Westberlin die zweite terroristische Vereinigung: die Gruppe ,,Bewegung 2. Juni". Mitglieder dieser politkriminellen Vereinigung ermordeten im November 1974 den Präsidenten des Kammergerichts Günter von Drenkmann; dreieinhalb Monate später entführten sie den CDU-Spitzenkandidaten für die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus Peter Lorenz. Sie nahmen ihn als Geisel, um fünf inhaftierte Terroristen freizupressen. Die Regierung gab nach. Einen der auf diese Weise in den Jemen ausgeflogenen Terroristen kannte ich aus München sehr gut, es war der hochbegabte, 1967/68 noch dem Liberalen Studentenbund angehörende Jurist Rolf Pohle. Er starb 2004.

Die 1980 wegen der Lorenz-Entführung gefällten Strafurteile bewegten sich zwischen 10 und 15 Jahren Gefängnis. Im Fall des Mordes an Günter von Drenkmann konnte die Strafkammer niemandem die Tat nachweisen. Heute noch leben in Berlin und sonst wo mindestens 25 mehr oder weniger direkt beteiligte Altterroristen und -terroristinnen, die genau wissen, wer welches Verbrechen begangen hat. Sie schweigen wie ihre Naziväter und -mütter. Aller Wahrscheinlichkeit nach nehmen sie ihre mörderischen Geheimnisse selbstgerecht und deutsch-rechthaberisch mit ins Grab.

Hansgeorg Bräutigam ruft die Details ins Gedächtnis zurück, die jeder Heroisierung der politisch verblendeten Mördergruppen entgegenstehen. Bei der Entführung drohten sie Peter Lorenz mehrfach: ,,Denk an Drenkmann!" Im Prozess beschimpfte der Angeklagte Till Meyer die Richter als ,,faschistische Todesschweine". 1986 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen, arbeitete dann als Redakteur bei der ,,taz". Dort bespitzelte er im

Auftrag der Stasi seine Kollegen und zudem die linke Westberliner Szene. Am 1. Mai 2007 rechtfertigte der 1980 zu 15 Jahren Haft verurteilte Ralf Reinders die politischen Morde an Generalbundesanwalt Siegfried Buback und an Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und erntete dafür den Beifall seiner linksradikalen Kreuzberger Zuhörer. Der wegen derselben Taten verurteilte Roland Fritsch fand das offenbar auch. Im Prozess hatten beide ihre Richter als ,,Schafskopf", ,,Du Sau" oder ,,Paragraphenschlafmützen" beleidigt und allerhand seltsames Theater aufgeführt.

Ich aber verbeuge mich vor Hansgeorg Bräutigam, dem Autor des hier besprochenen und vielfach zitierten Buches, und vor den seinerzeit zuständigen Strafrichtern, Staatsanwälten und Polizisten. Sie wurden damals vielfach und massiv persönlich bedroht. Dennoch wahrten sie im Großen und Ganzen die rechtsstaatlichen Prinzipien und drängten den mörderischen Terrorismus der RAF und der Bewegung 2. Juni entschlossen zurück.

Das Buch

Hansgeorg Bräutigam:
Terroristen vor dem Kammergericht. Drei Berliner Strafprozesse nach 1968,
Berlin Story Verlag 2020,
144 Seiten



Aus: "Der Rechtsstaat und seine Grenzen: Späte Einblicke in die Berliner RAF-Prozesse" Götz Aly (2.9.2020)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/aufrecht-gegen-linken-terror-li.101278 (https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/aufrecht-gegen-linken-terror-li.101278)

Götz Haydar Aly (* 3. Mai 1947 in Heidelberg) ist ein deutscher Politikwissenschaftler, Historiker und Journalist. Seine Themenschwerpunkte sind nationalsozialistische Rassenhygiene, Holocaust und Wirtschaftspolitik der nationalsozialistischen Diktatur sowie Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6tz_Aly (https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6tz_Aly)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 03, 2020, 10:24:38 AM
Quote[...] Es ist eines der bekanntesten Fotos der 68er-Bewegung, obwohl es schon 1967 aufgenommen wurde: Die Mitglieder der Westberliner Kommune I strecken der bürgerlichen Gesellschaft die nackten Hintern entgegen. Mit dabei: Rainer Langhans, schon damals mit der lockigen Mähne, die er bis heute trägt.

Rückblickend betrachtet war die Kommune I eine Art Therapie, erinnert sich Rainer Langhans im Gespräch an seinem 80. Geburtstag. In einer ,,Marathon-Klausur" probten die Kommunarden und Kommunardinnen nicht nur neue Formen den Zusammenlebens jenseits der bürgerlichen Kleinfamilie, sondern befassten sich auch mit einem zentralen Anliegen der Studentenbewegung: Den Faschismus der Generation ihrer Eltern zu bewältigen – und die eigene Prägung dadurch.

Dabei gab es das Problem, ,,dass man natürlich seine Mörder-Eltern nicht wirklich angreifen kann", räumt Langhans ein. Darum erfolgte die Kritik am System, theoretisch.

Als Revolutionär sieht sich Rainer Langhans noch heute, allerdings in eigener Sache. Er treibe seine ,,Selbst-Revolution" voran. Denn schon in den 70er-Jahren trennten sich seine Wege von denen vieler Mitstreiter, als die sich für den bewaffneten Kampf entschieden, den Terror.

Langhans, der sich vor seiner Kommunarden-Zeit als Bundeswehrsoldat mit dem Töten auseinandergesetzt hatte, machte da nicht mit – und wurde ausgegrenzt: ,,Für Leute, die Krieg führen wollen, ist derjenige, der nicht mitmachen will, ein Verräter". Dadurch habe er viele geliebte Menschen verloren.

Getreu der Einsicht, dass das Private das Politische sei, zog sich Rainer Langhans ins Innere zurück, wurde Veganer, pflegt einen asketischen Lebensstil. Und das in einer schon vier Jahrzehnte währenden Lebensgemeinschaft mit zunächst vier, nun drei Frauen. Einen Harem nennt er dieses Modell manchmal, im Grunde genommen sei es aber ,,ein Frauenprojekt, eigentlich eine Frauenkommune mit einem Mann". Einem Mann, den keine der Frauen für sich besitzen könne.

Das führe oft zu Eifersucht, sei für die Frauen aber eine Chance, sich selbst zu finden. Denn, so Langhans, ,,es ist möglich, zu lieben, statt mit Besitzdenken einen anderen erreichen zu wollen".

Schon als Kind hat Rainer Langhans sich fremd in der Welt gefühlt, verstand die Menschen nicht und die nicht ihn, wie er sich erinnert. Er eckte an, wurde zum Bürgerschreck, mal bekämpft, mal belächelt: ,,Ich bin wirklich ein amtlich anerkannter Verrückter oder Spinner", das sei halt so und damit komme er klar. Geholfen habe ihm dabei die späte Einsicht, dass er das Asperger-Syndrom trägt, also jene Form des Autismus, mit der auch die Klimaaktivistin Greta Thunberg lebt.

So habe er auch mit den Kontakteinschränkungen wegen Corona keine Probleme: ,,Ich finde dieses Social Distancing sehr gut, das haben wir damals in der Kommune schon angefangen. Weil man nur dann, wenn man die Körper ein bisschen auseinanderhält, wirklich zu sich und zu den anderen tiefer kommen kann."

(pag)


Aus: "Alt-68er-Ikone Rainer Langhans,,Ich bin ein amtlich anerkannter Spinner"" Ulrike Timm (19.06.2020)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/alt-68er-ikone-rainer-langhans-ich-bin-ein-amtlich.970.de.html?dram:article_id=478948 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/alt-68er-ikone-rainer-langhans-ich-bin-ein-amtlich.970.de.html?dram:article_id=478948)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 03, 2020, 10:47:00 AM
Quote[...] "Unter den Talaren der Muff von 1.000 Jahren" - dieser Spruch, den Studenten der Universität Hamburg 1967 auf einem Banner im Audimax das erste Mal zeigten, ist unvergessen. Der Campus im Grindelviertel war damals einer der zentralen Orte der deutschen Studentenbewegung. Dass diese Bewegung bis heute nachwirkt, haben nun aktuelle Studierende gezeigt: Sie haben einen Dokumentarfilm über die 68er-Bewegung an der Uni Hamburg gedreht und nun in einem Hörsaal vorgestellt.

Einen kurzen Moment könnte man denken, dass die 60er-Jahre wieder auferstanden sind: Aus den Lautsprechern dröhnt Musik von Jimi Hendrix. An der Wand eine Nachbildung des berühmten Banners von den Talaren und dem Muff. Der Anna-Siemsen-Hörsaal der Universität Hamburg ist brechend voll. Viele finden keinen Platz und müssen auf den Gängen sitzen oder an der Wand stehen. Das Interesse an diesem Studienprojekt ist riesig.

"Das Oberthema war die Universität in gesellschaftlicher Verantwortung", erzählt Inti Buckenmeyer, eine von 30 Studierenden an der Fakultät Erziehungswissenschaften, die an diesem Film mitgearbeitet haben. Die Studierenden näherten sich der Frage, wie bei den 68ern eine Politisierung stattgefunden hat. "Wir haben angefangen zu recherchieren und haben Personen gefunden, die in der damaligen Zeit aktiv waren. Dann kam das eine zum anderen", sagt Buckenmeyer.

[...] 95 Minuten ist die Dokumentation lang geworden. Sie erzählt vor allem vom sozialistischen deutschen Studentenbund SDS und seiner Rolle, von den Hamburger Protesten gegen den Besuch des persischen Schahs, dem Sturz der Statue des Kolonialisten Wissmann und natürlich dem Tod des Berliner Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967. Aktivist Thomas Thielemann erinnert sich, wie dieser damals die Studierenden politisierte: "Nach dem 2. Juni explodierte die Mitgliederzahl, wir waren dann über 100 Leute und man verlor auch so ein bisschen den Überblick."

Der Film zeugt vom Interesse der jüngeren Generation an der älteren. Studentin Johanna Hintze ist vieles klar geworden durch die Arbeit an diesem Projekt: "Ich habe angefangen, mich mehr mit der Uni auseinanderzusetzen, nicht alles hinzunehmen und mich einzubringen - etwas zu ändern, wo ich was ändern kann."


Aus: "68er-Bewegung in Hamburg: Studenten erinnern mit Doku" Danny Marques Marcalo (15.01.2020)
Quelle: https://www.ndr.de/kultur/film/68er-Bewegung-in-Hamburg-Studenten-erinnern-mit-Doku,studenten308.html (https://www.ndr.de/kultur/film/68er-Bewegung-in-Hamburg-Studenten-erinnern-mit-Doku,studenten308.html)

QuoteMensch Meier schrieb am 16.01.2020 00:08 Uhr:

Die "68er Generation" ist diejenige die für die heutigen Verhältnisse mitverantwortlich ist.
Der "Muff ist geblieben und stinckt mehr den je"!


Quote75er schrieb am 16.01.2020 07:59 Uhr:

Die 68er haben dafür gesorgt, dass die Toilettentür ausgehängt wurde. Darauf brauchen die absolut nicht stolz sein.


QuoteHistoriker schrieb am 16.01.2020 08:12 Uhr:

Ständig diese rückwärtsgewandten kommunistischen Heldengeschichten


QuoteLiberty schrieb am 16.01.2020 10:28 Uhr:

Ich denke, die 68er Bewegung war enorm wichtig!

Das junge Menschen gegen bestehende Strukturen und gesellschaftliche Normen aufbegehren ist wichtig. Die 68er waren Ursprung für die Umweltbewegung, die Gleichberechtigung, für Transparenz und Offenheit in der Gesellschaft. Der Abbau von Hirarchien war wichtig und das Ausbrechen aus Verhaltensmustern.

Hätte sonst ein Bill Gates in einer Garage seine Kreativität an Computern ausleben können? Nein, er hätte vermutlich Wehrdienst geleistet und Befehl und Gehorsam gelernt.

Natürlich gab es auch Dinge, die man heute kritisch sehen kann.
Ob freie Liebe erstrebenswert ist?
Ob Drogen besser sind als die Sufgelage früherer Generationen?
Der Umgang mit Kindern und Sexualität?

Fest steht, dass die Generation der 68er unserer Gesellschaft keine Trümmerwüste und tausende traumatisierte Menschen hinterlassen hat, wie zwei Generationen zuvor.

Die erste Generation nach dem Krieg war zur Verarbeitung noch ncht in der Lage, das mussten die 68er machen.


QuoteLuise schrieb am 19.01.2020 02:07 Uhr:

die 68er sind der Muff von heute.


usw.

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 03, 2020, 11:03:11 AM
Quote[...] Achille Mbembe gilt als wichtigster Denker des Postkolonialismus, ja gar als einflussreichster Intellektueller des gesamten afrikanischen Kontinents. Er wurde mit renommierten Preisen wie dem Geschwister-Scholl-Preis überschüttet und erhielt weltweit namhafte Gastprofessuren. Doch seit die Intendantin Stefanie Carp im März verkündet hat, dass Mbembe die Eröffnungsrede ihrer Ruhrtriennale halten soll, ist um ihn eine heftige Debatte entbrannt. Im Mittelpunkt steht die brisante Frage, wie viel Antisemitismus im Werk des 62-jährigen Historikers steckt.

Begonnen hat der Streit durch Interviewaussagen von Felix Klein, der seit 2018 als "Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus" wirkt. Klein warf Mbembe vor, er habe "in seinen Schriften das Existenzrecht Israels infrage gestellt und überdies auch das Apartheidsystem Südafrikas mit dem Holocaust verglichen".

... In seinem Buch Politik der Feindschaft schreibt Mbembe [ ]: "Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns." ...


Aus: "Eine echte Causa" Martin Eimermacher (22. April 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/2020/18/achille-mbembe-antsemitismus-vorwurf-israel (https://www.zeit.de/2020/18/achille-mbembe-antsemitismus-vorwurf-israel)

QuoteKHBI #9

"In der ZEIT äußert sich Mbembe jetzt selbst ausführlich zu den Vorwürfen."

Diese Äußerungen hätte ich gern gelesen. Wie schon vorher vermutet, leider mit dem Zeichen Z+ versehen. Schade.


...

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Quote[...] Kritik an der Politik Israels, Israelfeindschaft, Antisemitismus: In der Debatte um den Historiker Achille Mbembe ist zu beobachten, wie Haltungen und Begriffe auch in linken Milieus verschwimmen. Ein Blick ins Jahr 1969 schafft etwas Klarheit.

Dan Diner ist 23 Jahre alt, als er am 9. Juni 1969 im Hörsaal VI der Goethe-Uni Frankfurt am Main sitzt. Diner, seit langem ein renommierter Historiker, war damals noch Jurastudent und Vorsitzender des Bundesverbandes Jüdischer Studenten in Deutschland – kurz BJSD. Der Mann neben ihm ist mehr als doppelt so alt. Es ist Asher Ben-Natan, seit einigen Jahren der erste Botschafter Israels in der Bundesrepublik. Dan Diner hat ihn zur Diskussion in die Uni eingeladen.

Auf einem Foto, das damals aufgenommen wurde, sieht man den Studenten und späteren Verleger Karl Dietrich -,,KD"- Wolff, der mit Megafon die Menge gegen den Botschafter anstachelt. Viele Studierende – auch führende Vertreter des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes SDS – sehen die Politik Israels sehr kritisch und sympathisieren mit der Sache der Palästinenser.

Im Publikum sitzt Abdallah Frangi, der Vorsitzende der General-Union Palästinensischer Studenten (GUPS): ,,Wir hatten viele Palästinenser, die hier studiert haben. Und wir hatten gute Organisationen, die GUPS, also General Union Palästinensischer Studenten, und GUPA waren die stärksten Organisationen in der arabischen Welt. Wir waren sehr gut organisiert."

GUPA – das ist die Abkürzung für ,,Generalunion Palästinensischer Arbeiter". Sie ist damals vor allem in Deutschland aktiv, erklärt Frangi, ,,und nicht in den anderen europäischen Staaten, weil wir eine große Zahl von Palästinensern hatten, die in Offenbach und Frankfurt gearbeitet haben."

,,Der Nahe Osten im Frankfurter Westend". So ist der Aufsatz überschrieben, den die Historikerin Zarin Aschrafi unlängst in der Zeitschrift ,,Zeithistorische Forschungen" veröffentlicht hat. Darin schildert sie die politischen Auseinandersetzungen um Israel und Palästina, die während der Studentenbewegung in Frankfurt am Main heftig geführt wurden.

Auch mit der Rolle Abdallah Frangis als einem der Köpfe der in Deutschland aktiven Palästinenser-Gruppe setzt sich Zarin Aschrafi auseinander. Die Gruppe wurde vom damaligen PLO-Vorsitzenden Jassir Arafat gefördert.

,,Natürlich gab es auch in anderen Städten in der Bundesrepublik sehr aktive palästinensische Studierendengruppen", erklärt sie. ,,Doch in Frankfurt lebte die von Arafat durchaus anerkennend und wertschätzend gemeinte ,Deutsche Bande' – das heißt, eine Gruppe von palästinensischen Aktivisten, die für ihr politisches Engagement geschätzt wurde – nicht zuletzt aufgrund ihrer Vertrautheit mit der deutschen Politiklandschaft, die sie durch ihre langjährigen Aufenthalte in der Bundesrepublik hatte."

Insbesondere seit dem für Israel siegreichen sogenannten ,,Sechstagekrieg" vom Juni 1967 hatte sich die Stimmung gegenüber dem jüdischen Staat in der deutschen Studentenbewegung geändert. Der SDS stellte Israel mit einer Resolution das erste Mal regelrecht an den Pranger, so der Historiker der Studentenbewegung, Wolfgang Kraushaar.

Der Vorwurf: ,,Dass Israel nichts anderes sei als der vorgeschobene Posten des US-Imperialismus im Nahen Osten", erläutert Wolfgang Kraushaar. ,,Und damit sind im Grunde genommen alle historischen Bedenken relativiert, wenn nicht gar ignoriert worden. Und die Bühne wurde frei gemacht für eine sehr enge Kooperation mit den Palästinensern. Und das hat sich besonders stark niedergeschlagen in den Gründungsakten der ersten linksterroristischen Gruppierungen. Sei es der Tupamaros, dann der Roten Armee Fraktion, aber auch denen, die dann gefolgt sind."

Im Juni 1969 versucht der israelische Botschafter Asher Ben-Natan noch, mit den Studierenden zu diskutieren. Doch die Stimmung bei den radikal Linken ist aufgeladen. ,,Shalom gleich Napalm" wird bei Protestkundgebungen gerufen.

Eine große Dummheit nennt das der ehemalige SDS-Aktivist Daniel Cohn-Bendit heute: ,,Genau wie es damals zustande kam: ,USA-SA-SS'. Da waren wir auch nicht die Schlausten. Oder diejenigen, die das geschrien haben. Ich glaube, das habe ich kaum über die Lippen gekriegt, weil es natürlich eine Verharmlosung der SS ist, bei allen Schrecken des Vietnamkrieges, ja. Es gibt so – ich wollte sagen, Ausrutscher – das ist ja viel mehr als ein Ausrutscher, solche Fehlentwicklungen öfters."

Asher Ben-Natan wird am 9.Juni 1969 in der Uni-Veranstaltung vom Publikum übertönt, das lautstark Parolen skandiert. Irgendwann wird ihm das Mikrofonkabel durchtrennt.

Auch seine Biografie als NS-Verfolgter und späterem Nazi-Jäger schützt Asher Ben-Natan nicht vor dieser Demütigung. Er war am 15. Februar 1921 in Wien als Artur Piernikarz geboren worden. 1938 floh er als 17-Jähriger vor Hitler nach Palästina, lebte in einem Kibbuz. Nach Kriegsende kehrt er als Korrespondent israelischer Medien nach Wien zurück und organisiert für die zionistische Untergrund-Organisation Hagana die Auswanderung vieler Juden nach Palästina.

Gleichzeitig sammelt der Mann, der jetzt offiziell Ben-Natan heißt, unter dem Decknamen ,,Artur Pier" in Österreich und Deutschland Material über NS-Kriegsverbrecher und übergibt es dem Nürnberger Tribunal. Der engagierte Nazi-Gegner entdeckt im österreichischen Linz das einzige Foto Adolf Eichmanns, das später dessen Enttarnung in Südamerika möglich macht.

All das interessiert die Studentenbewegung in Frankfurt am Main im Sommer 1969 nicht.

,,Ich glaube, das ist ja das Schreckliche an dieser ganzen Aktion", sagt Daniel Cohn-Bendit. ,,Man hat sich nicht dafür interessiert. Das ist ja dieses Plakative. Man war ja im Bewusstsein, das hat Gerd Koenen ganz schön auch in seinem Buch über den Antisemitismus und die Linken entwickelt, man war ja überzeugt: Wir sind die Aufrechten, die radikalen Antifaschisten und damit muss man sich gar keine Fragen stellen. Sondern wir sind das Gute, das Richtige. Wir wollen die proletarische Revolution, und die anderen sind unsere Gegner. Haben sie überhaupt nicht nachgedacht? Woher kommt zum Beispiel der Botschafter? Wobei es ist ja egal ist, ob er jetzt aus dem polnischen Ghetto kommt oder, sagen wir, aus Nordafrika gekommen wäre. Aber das hat die Leute nicht interessiert. Ja, das ist das Schlimme. Das heißt, man forderte ein historisches Bewusstsein ein und bewies mit solchen Aktionen und anderen, dass man überhaupt keines hat."

Für den palästinensischen Studenten Abdallah Frangi, war Asher Ben-Natan vor allem ein harter Mann aus dem israelischen Militär gewesen, der in der Palästina-Frage ganz weit auf der anderen Seite steht. Frangi ist am 9. Juni 1969 in den Hörsaal gekommen, um das deutlich zu machen.

Die Studierenden fordern irgendwann, dass Abdallah Frangi als Vertreter des palästinensischen Volkes nach vorne kommen und das Wort anstatt des israelischen Botschafters ergreifen soll. Die Menge packt Frangi, hebt ihn über die Köpfe und schiebt ihn mit vielen Händen in der Höhe schwebend nach vorne Richtung Podium, auf dem immer noch der israelische Botschafter und Dan Diner sitzen.

,,Man hat mich getragen", erinnert sich Frangi, ,,und ich stand neben Asher Ben-Nathan. Ich habe dann gesagt, Sie sind nicht berechtigt, über Palästina zu reden, Sie sind Vertreter eines Staats, der Palästina geraubt hat."

,,Abdallah Frangi – man konnte mit ihm diskutieren", sagt Daniel Cohn-Bendit. ,,Er war kein fanatischer, aber er war ein entschiedener Vertreter der Palästinenser. Sein Werdegang: Die Palästinenser haben ja anfangs den Staat Israel abgelehnt. Dann gab es einen langen Entwicklungsprozess von der Fatah, auch von Arafat, hin zu Anerkennung des Staates Israel. Und dann die zwei Zwei-Staaten-Lösung anpeilen."

Abdallah Frangi wurde spätestens im Laufe der 1990er-Jahre zu einem Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung. Doch zwischen Hamas auf der einen Seite sowie Netanjahu und Trump auf der anderen sieht er zurzeit wenig Spielraum für die Realisierung dieses Konzeptes.

Für den Politologen und 68er-Forscher Wolfgang Kraushaar war der Eklat mit dem israelischen Botschafter Ben-Nathan 1969 der Auftakt einer ganzen Reihe ,,antizionistischer und antisemitischer Vorfälle" in der radikalen Linken.

,,Das heißt, damit war eine völlige Verschiebung der Horizonte verknüpft. Man ging davon aus, dass auch der Vietnamkrieg nicht mehr der entscheidende Konflikt sein würde, sondern in der Zukunft der 70er-Jahre dann der Nahostkonflikt."

So rekonstruiert Kraushaar in einem seiner Bücher einen versuchten Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus in West-Berlin am 9. November 1969 – ein gescheiterter Attentatsversuch aus der linksradikalen West-Berliner Szene. Delegationen des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes reisten ab Ende der 60er-Jahre in den Nahen Osten und suchten die Nähe zu militanten Palästinensern, so Kraushaar:

,,Und vor allen Dingen unter den Vorzeichen dessen, dass man die Palästinenser als eine Befreiungsbewegung meinte wahrnehmen zu können und es als legitim erschien, sie in der Rolle von Guerilla-Organisationen auch zu fassen und sie insofern gleichzusetzen mit anderen Guerilla-Organisationen oder bewaffneten Gruppierungen der Dritten Welt."

1976 beteiligten sich westdeutsche Terroristen an einer Flugzeugentführung der PLO nach Entebbe, bei der die Flugzeuginsassen in Juden und Nichtjuden aufgeteilt wurden.

Schon 1968 gab es jedoch aber auch Stimmen in der deutschen Linken, die davor warnten, postkolonialistische Befreiungsbewegungen etwa in Südamerika oder Afrika mit der PLO gleichzusetzen und dabei die Erfahrung des Holocaust auszublenden.

Zarin Aschrafi erinnert etwa an die ,,Gemeinsame Erklärung von 20 Vertretern der deutschen Linken zum Nah-Ost-Konflikt". Darin warnte eine Gruppe um den Berliner Philosophen Michael Landmann vor einer ,,unheilvollen Übertragung eines gängigen Denkschemas" auf die Situation im Nahen Osten. Das erinnere zumindest punktuell an aktuelle Debatten, so Zarin Aschrafi vom Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow.

Etwa wenn das heutige Israel mit Südafrika während der Apartheid verglichen werde, unter anderem durch den Philosophen Achille Mbembe. 1968 warf die Gruppe um Michael Landmann der israelfeindlichen Fraktion der ,,Neuen Linken" in Deutschland vor, bei ihrer Verurteilung Israels den Holocaust und seine Folgen – die verstärkten Fluchtbewegungen nach Palästina – nicht zu berücksichtigen, so die Historikerin Zarin Aschrafi.

,,Sie hatten natürlich recht", sagt sie. ,,Denn wenn die Deutung von Nationalitätenkonflikten durch Überstülpung von Konzepten wie Imperialismus oder Kolonialismus – in aktuellen Debatten ist auch die Rede von Apartheid – geschieht, dann entledigt man sich historischer Differenzierungen."

Wie heute für den Philosophen Achille Mbembe war auch für die Studentenbewegung gerade in ihrer Auflösungsphase Ende der 60er-Jahre ein Text besonders wichtig: das 1966 im Suhrkamp-Verlag erstmals in deutscher Sprache erschienene Buch ,,Die Verdammten dieser Erde" von Frantz Fanon, einem ehemaligen Kämpfer der algerischen Befreiungsbewegung FLN.  Mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre.

Daran erinnert Wolfgang Kraushaar: ,,Das bedeutete, dass man sich einließ auf einen Text, der hoch philosophisch einerseits war und andererseits aber auch unglaublich blutrünstig. Man konnte sehen, wie Sartre den Antikolonialismus wirklich geradezu feierte, und das wurde in der entscheidenden Phase zu Beginn der Studentenbewegung – der Westberliner zunächst und dann der bundesdeutschen – aufgenommen und wurde selber dann verbreitet. Man hat sich sehr stark mit dieser Rolle identifiziert, dass es darauf ankommen würde, den Kolonialismus zu schlagen und zu besiegen und das wurde übertragen dann auf Israel."

Zumindest in Teilen der radikalen neuen Linken war die Israelfeindschaft Teil des Antikolonialismus, so Kraushaar. Mit Bezug zu Frantz Fanons Schrift argumentiere Achille Mbembe heute punktuell wieder ähnlich, so Daniel Cohn-Bendit.

,,Mbembe – zum Beispiel, wenn er sagt: Israel ist schlimmer als Südafrika oder ist genauso wie Südafrika. Das ist falsch", sagt Cohn-Bendit. ,,Es ist falsch, weil die Araber in Israel wählen können. Wenn er gesagt hätte, es gibt eine Unterdrückung arabisch-israelischer Bürgerinnen. Es gibt eine Unterdrückung und Araber dürfen zwar wählen, aber die sozialen Möglichkeiten: die arabischen Städte sind im Vergleich zu den jüdischen-israelischen Städten natürlich sehr unterentwickelt. Das stimmt alles. Und wenn er sagt, dass die Besatzung im Westjordanland eine sehr kolonialistische Besatzung ist, das stimmt. Weil, die Macht hat nicht mal das Recht dort, sondern die Armee. Und so weiter. Das kann man alles sagen. Aber der Vergleich mit Südafrika bringt einen nicht weiter."

Den Nahostkonflikt mit politischen Begriffen wie etwa ,,Kolonialismus" oder eben Apartheid begreifen zu wollen – das klappt auch aus Sicht der Historikerin Zarin Aschrafi nicht: ,,Denn bei allen strukturellen Gemeinsamkeiten, die die Vertreter solcher Konzepte meinen entdecken zu können, übergehen sie im Falle der israelischen Staatsgründung häufig die Tatsache, dass sie in erster Linie eine Konsequenz aus dem Holocaust war und dass von dieser Erfahrung auch das Leben, Überleben und Wirken der Nachfolgegenerationen nicht unbeeinflusst blieb."

Auch für Abdallah Frangi, den heutigen Berater des Palästinenser-Präsidenten Abbas ,,für europäische Angelegenheiten", ist klar: ,,Wir haben immer bei jedem Vortrag der Palästinenser verurteilt, was Hitler und die Nazis gemacht haben – mit den Juden vor allem."

So klar haben das nach 1968/69 nicht alle in der westdeutschen neuen Linken gesagt. Und auch in der aktuellem Debatte um die Mbembe-Positionen zeigt sich: Die Bedeutung des Holocaust als historisch singuläres Ereignis mit den bis heute tragischen Auswirkungen auf die Geschichte Israels und Palästinas wird auch in der heutigen Linken nach wie vor vielfach nicht begriffen.


Aus: "Antikolonialismus und Antizionismus: Umstrittene Denkmuster in der 68er-Linken" Ludger Fittkau (10.06.2020)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/antikolonialismus-und-antizionismus-umstrittene-denkmuster.976.de.html?dram:article_id=478380 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/antikolonialismus-und-antizionismus-umstrittene-denkmuster.976.de.html?dram:article_id=478380)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 03, 2020, 11:09:28 AM
Quote[...] Der Tod ist ein Leitmotiv in seinen Büchern, mit ihm beschäftigt sich Uwe Timm schon seit seiner Kindheit, seit sein Bruder im Zweiten Weltkrieg starb. Nun wird der Autor 80 Jahre alt  ... Als junger Mann machte Timm eine Kürschnerlehre und übernahm das Pelzgeschäft seines Vaters. Später studierte er Philosophie und Germanistik in München und war aktiver Teil der 68er-Bewegung. Er beteiligte sich an der Besetzung der Universität und schrieb Agitprop-Gedichte. ,,Heißer Sommer", sein Debütroman von 1974, spiegelt diese Zeit wider. Timm tauchte ein in Utopien, kämpfte für eine bessere Welt und glaubte eine Zeit lang, sie durch den Marxismus erlangen zu können:

,,Was gab es nicht alles: revolutionäre Apotheker und revolutionäre Maschinenbauer. Das hört sich heute ganz komisch an, war aber ganz toll, dass die Leute überlegten: Nach welchen Bedürfnissen arbeitet man, verkauft man Psychopharmaka. Aber das hatte plötzlich die Unmittelbarkeit verloren. Und das ging bis in die Sprache rein. Die theoretische Sprache war völlig leer geworden."

Die Sprache des Autors Uwe Timm wirkt, genau wie er selbst, unprätentiös und einfühlsam. Timm ist, das merkt man seinen Büchern an, ein genauer Beobachter und guter Zuhörer. Jemand, der nicht nur auf das Leben neugierig ist, sondern, wie er betont, sogar auf sein eigenes Sterben. Der Roman ,,Rot", ein Meisterwerk, das alle großen Themen dieses Autors vereint – die Schattenseite der deutschen Geschichte, die 68er-Bewegung, den Verlust wie die Notwendigkeit von Utopien, die Liebe und den Tod – hat ausgerechnet einen Beerdigungsredner als Hauptfigur ....


Aus: "Der Alt-68er wird 80" Tobias Wenzel (29.03.2020)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/schriftsteller-uwe-timm-der-alt-68er-wird-80.1013.de.html?dram:article_id=473583 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/schriftsteller-uwe-timm-der-alt-68er-wird-80.1013.de.html?dram:article_id=473583)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 02, 2020, 09:33:22 AM
Quote[...] Am 11. April 1968 wird in West-Berlin ein Attentat auf Rudi Dutschke verübt. Er gilt als Wortführer und Symbolfigur der gesellschaftskritischen, linksgerichteten Studentenbewegung. Als Hassfigur rechter Medien und der Neonazis, steht er wie kein zweiter für die Radikalisierung einer antiautoritären Bewegung. Dutschke überlebt die Schüsse schwerstverletzt, das Attentat löst die größten politischen Unruhen in der noch jungen Bundesrepublik aus. ...


Aus: "Geschichte im Ersten: Dutschke – Schüsse von Rechts" (2020)
Quelle: https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/geschichte-im-ersten/sendung/dutschke-schuesse-von-rechts-100.html (https://www.daserste.de/information/reportage-dokumentation/geschichte-im-ersten/sendung/dutschke-schuesse-von-rechts-100.html)

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Quote[...] Josef Bachmann, der Rudi Dutschke am 11. April 1968 in Berlin mit drei Schüssen schwer verletzte, hatte sich die Tatwaffe in der militanten rechten Szene in Peine besorgt. Der Gelegenheitsarbeiter hasste Kommunisten, schoss auf DDR-Wachtürme an der innerdeutschen Grenze, besuchte NPD-Versammlungen und las die rechtsextreme ,,National-Zeitung", die damals titelte: ,,Stoppt Dutschke jetzt!""

Auch die rechtsextreme Gruppe in Peine habe ihn vor dem Attentat aufgehetzt, sagt der Journalist Peter Wensierski in dem ARD-Dokudrama ,,Dutschke - Schüsse von Rechts". Sie habe sich in den 1970er Jahren zu "eine der gefährlichsten Neonazigruppen" in der Bundesrepublik entwickelt. Bachmann galt allerdings lange Zeit als Einzeltäter.

Die Existenz einer rechten Terrorgruppe habe man nicht für möglich halten wollen, erklärt Wensierski, der Bachmanns Verbindungen in die rechte Szene nach der Auswertung von Stasi-Akten bereits 2009 im ,,Spiegel" enthüllt hatte.

Insofern liefern die Filmautoren, der langjährige ,,Spiegel"-Redakteur Cordt Schnibben und Peter Dörfler, nicht wirklich ,,einen neuen Blick auf den Mordanschlag", wie der Pressetext es glauben machen will (,,Dutschke – Schüsse von Rechts", ARD, Montag, 23 Uhr 35 [Sendetermin: Di., 03.11.20 | 00:05 Uhr, Das Erste]). Dennoch macht es Sinn, gerade jetzt, in einer Zeit zunehmender Gewalt von Rechts, daran zu erinnern, dass es eine lange Tradition gibt, die Strukturen hinter den vermeintlichen Einzeltätern zu ignorieren.

Schnibben und Dörfler rekonstruieren die Vorgeschichte des Attentats, an dessen Folgen Rudi Dutschke Heiligabend 1979 starb, mit Spielszenen. Das mag einleuchten, wenn es um Bachmann selbst geht, um seine Kontakte in Peine und das Gerichtsverfahren. Rafael Gareisen spielt den rechten Fanatiker, der im Verhör seinen Gewaltfantasien freien Lauf ließ. Das Attentat selbst wird nachgestellt – und schockiert als Spielszene umso mehr.

Gleichzeitig schildert der Film Dutschkes Werdegang. Als gläubiger Christ verweigerte er in der DDR den Militärdienst, zog Tage vor dem Mauerbau nach West-Berlin und avancierte zum Kopf der Studentenbewegung.

Zu den Interviewten zählen mit Rainer Langhans, Bahman Nirumand, Peter Schneider, Knut Nevermann und dem mittlerweile in die rechtsnationale Szene abgedrifteten Bernd Rabehl einige der damals führenden Köpfe der 68er Bewegung. Dutschkes Witwe Gretchen Dutschke-Klotz, die Publizistin Barbara Sichtermann und Stefan Aust ordnen Dutschkes Bedeutung für die Bewegung ein.

Nicht immer nachvollziehbar ist es, wenn Dutschkes Werdegang in Spielszenen geschildert wird. Darsteller Aaron Hilmer bemüht sich, im typischen Dutschke-Pulli den typischen Dutschke-Duktus zu treffen. Aber die ja zahlreich vorhandenen Originalaufnahmen sind halt nicht nur authentisch, sondern auch eindrucksvoller.

Und dass Moderator Günter Gaus nahezu verschwindet, weil das legendäre Dutschke-Interview von 1967 aus der Reihe ,,Zu Protokoll" in einer Mischung aus Spiel und Originalausschnitten wiedergegeben wird, ist ein kaum entschuldbarer Handgriff.


Aus: "ARD-Dokudrama zum Dutschke-Attentat: Rechter Terror im Jahr 1968" (01.11.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/ard-dokudrama-zum-dutschke-attentat-rechter-terror-im-jahr-1968/26580170.html# (https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/ard-dokudrama-zum-dutschke-attentat-rechter-terror-im-jahr-1968/26580170.html#)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 18, 2020, 02:12:52 PM
Leo Gabriel, Sohn des Philosophen Leo Gabriel, stammt aus einem konservativen Elternhaus und studierte nach dem Besuch des Humanistischen Gymnasiums Rechts- und Staatswissenschaften in Wien und Sozialanthropologie in Paris bei Claude Lévi-Strauss[3], wo er den Mai 68 miterlebte. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Gabriel_(Journalist) (https://de.wikipedia.org/wiki/Leo_Gabriel_(Journalist))

Quote[...] Den Mai 1968 in Paris erleben viele Menschen – einer von ihnen ist Leo Gabriel – ein paar Augenblicke lang als einen Moment, in dem die Revolution zum Greifen nahe scheint. Die Jugend rebelliert in den Straßen von Paris. Die Gewerkschaften rufen den Generalstreik aus und Aktivist*innen liefern sich Straßenschlachten mit der französischen Polizei. Staatspräsident de Gaulle verschwindet vorübergehend von der Bildfläche. Manche sehen in den Ereignissen ein Wiederaufleben der Pariser Kommune von 1871, als die Bewohner*innen die Staatsmacht aus der Stadt vertrieben und soziale Maßnahmen für eine Verbesserung der Lebensbedingungen ergriffen hatten.

Leo Gabriel nennt diese Tage einen Aufstand der Subjektivität. Ein Aufbegehren gegen jede Form von Herrschaft – gegen Kapitalismus und Konsumgesellschaft ebenso wie gegen das autoritäre Gesellschaftsmodell in der Sowjetunion und gegen die hierarchischen Kirchen. Und auch auf persönlicher Ebene handelt es sich um eine Befreiung des Individuums, die für viele mit sexueller Freiheit einher geht. Besonders die Frauen*bewegung nimmt in dieser Zeit einen Aufschwung. Der Blick erweitert sich von Europa auf andere Regionen wie Afrika, wo antikoloniale Befreiungsbewegungen sich für die Unabhängigkeit von kolonialer Unterdrückung stark machen und Lateinamerika, wo revolutionäre Bewegungen seit der erfolgreichen Kubanischen Revolution für soziale Befreiung kämpfen. 1968 ereignet sich als ein globales Phänomen, das an vielen Orten zum Ausdruck kommt. In politischer Hinsicht dennoch eine Niederlage, so Leo Gabriel, denn die Macht können die Aktivist*innen der 68er nirgends übernehmen. Veränderungen zeigen sich vor allem auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene.

Für Leo Gabriel persönlich bedeuten die Ereignisse in Paris einen tiefen Einschnitt in sein Leben. Als Sohn eines Universitätsprofessors für Philosophie und Chefideologen der konservativen ÖVP führt Leo Gabriels Weg nach Paris, mit dem Plan, eine diplomatische Laufbahn einzuschlagen. Zudem absolviert er ein Studium der Sozialanthropologie, u.a. bei Claude Levy-Strauss. Einst als Mitglied des katholischen Cartellverbandes und jetzt Vertreter der Auslandsstudent*innen erlebt Leo Gabriel die Ereignisse 1968 hautnah mit. Er liest die Werke von Autor*innen wie Herbert Marcuse, die besondere theoretische Impulse für die 68er Bewegung geben. Dies alles wird schließlich sein eigenes Leben tiefgreifend verändern und seinem bisherigen Weg eine Wendung geben.

Leo Gabriel kommt mit den Befreiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika in Berührung, die für die Überwindung der kolonialen Strukturen kämpfen. Auf einer persönlichen Ebene verändert auch die sexuelle Befreiung sein Leben. Freie Liebe und Sozialismus sind prägend für ihn, der lange Zeit in Kommunen lebt. Den Umbruch im Lebensstil erlebt er nicht nur abstrakt, sondern im Alltag, etwa bei den regelmäßigen Sitzungen in den Kommunen, wo selbstkritisch im Kollektiv über die eigenen Fehler reflektiert wird.

Nach dem Abflauen der Proteste hat Leo Gabriel das Gefühl, dass er nach all dem nicht mehr einfach in das erzkonservative Österreich zurückkehren kann. Er verbringt eine Zeit lang in einem kleinen Fischerdorf in Südspanien. Dort reift sein Entschluss, nach Lateinamerika zu reisen. Inspiriert von Persönlichkeiten wie Che Guevara und den Aufständen der Arbeiter*innen und Student*innen in ganz Lateinamerika möchte Leo Gabriel dorthin, um die wirkliche Revolution zu suchen, wie er es nennt. In Mexiko, wo er sich zunächst länger aufhält, hat er sie nicht gefunden, dafür ein paar Jahre später in Nicaragua.

Leo Gabriel beschließt, sich vom gewohnten intellektuellen Umfeld abzukoppeln und liest für einige Zeit kein Buch mehr, weil er so leben möchte wie die Kleinbauern und -bäuerinnen. Zu Beginn der 1970er Jahre schließt er sich dann einer Straßentheatergruppe an und gründet später eine eigene Gruppe. Der Gedanke hinter dem Straßentheater ist die Ermutigung der Arbeiter*innen und Kleinbauern und -bäuerinnen, deren Selbstbewusstsein gestärkt werden soll. Dafür werden soziale Kämpfe der Arbeiter*innen und Bauern dokumentiert und dramaturgisch auf der Bühne dargestellt. Besonders an den Orten, wo gerade Streiks und soziale Konflikte stattfinden, soll den Aktivist*innen an der Basis bewusst gemacht werden, dass hartnäckiger Widerstand und solidarischer Zusammenhalt zum Erreichen der gemeinsamen Ziele führt. Auf den Spuren von Che Guevara, nur in umgekehrter Richtung, reist Leo Gabriel als Filmemacher zusammen mit Musiker*innen und Schauspieler*innen quer durch den Kontinent, von Mexiko bis nach Argentinien, bis die Gruppe Anfang 1976 wieder nach Mexiko zurückkehrt. Alles, was er gefühlsmäßig über Lateinamerika weiss, hat er sich in diesen fünf Jahren angeeignet, so Leo Gabriel. So lebt er mit den Kleinbauern und -bäuerinnen in Guatemala zusammen und lernt Aktivist*innen aus den sozialen Bewegungen kennen. Später lernt er auch Personen wie den Revolutionsführer und heutigen Präsidenten von Nicaragua Daniel Ortega kennen und andere, die bei den lateinamerikanischen Linksregierungen seit Beginn der Jahrtausendwende eine Rolle spielen wie z.B. Evo Morales, den ehemaligen Gewerkschaftsaktivisten der Kokabauern und heutigen Präsidenten von Bolivien.

Während andere Aktivist*innen von 1968 den langen Marsch durch die Institutionen antreten und sich manche mit den Verhältnissen arrangieren, bleibt Leo Gabriel bis heute ein 68er. Einen Grund dafür sieht er darin, dass er lange Jahre in Lateinamerika verbracht hat. Er ist nicht vor der Frage gestanden, innerhalb der staatlichen Institutionen für Veränderungen einzutreten, wofür sich viele 68er in Österreich besonders in den Kreisky-Jahren entschieden haben. Um 1978 herum wird Leo Gabriel als Journalist tätig. Die Mitarbeiter*innen der von ihm frisch gegründeten alternativen Presseagentur APIA (Agencia Periodistica de Información Alternativa) treten als Kollektiv auf und berichten aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas. Während die Ereignisse in Nicaragua zunächst kaum von den großen Medienunternehmen zur Kenntnis genommen werden, setzen später viele auf die Arbeit der kleinen APIA, die von Anfang an über den Umbruch in diesem zentralamerikanischen Land berichtet.

Die Regierungen reagieren an vielen Orten mit brutaler Gewalt und schlagen die Proteste 1968 nieder wie in Kalifornien, wo der Gouverneur und spätere US-Präsident Ronald Reagan die Nationalgarde auf Demonstrant*innen hetzt. In Mexiko werden während der Olympischen Spiele im Oktober 1968 von der Armee Tausende Menschen auf dem Platz der drei Kulturen massakriert. In vielen Ländern von Lateinamerika führt die harte Repression durch die Staatsmacht – nahezu überall sind Diktaturen an der Macht – zur Militarisierung der sozialen Konflikte nach 1968 und zur Bildung von Guerillabewegungen. In den meisten Ländern werden diese niedergeschlagen, nur in Guatemala und El Salvador können diese Bewegungen zeitweise größere Gebiete befreien und in Nicaragua gelingt 1979 der Sturz der Diktatur von Somoza durch eine bewaffnete Revolution. Die Saat dafür war 1968 gelegt worden, so Leo Gabriel, denn je nach politischer Ausgangslage führte sie in manchen Ländern zu einer zivilgesellschaftlichen und kulturellen Dynamik, in anderen Ländern zu revolutionären bewaffneten Bewegungen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gilt es vorübergehend als unzeitgemäß, sich für soziale Veränderung und Gerechtigkeit einzusetzen. Doch inzwischen ist es wieder möglich, in der Gesellschaft fundamentale Kritik am Kapitalismus zu äußern und Fragen nach Alternativen aufzuwerfen, wie etwa im Rahmen des Weltsozialforums, dem Leo Gabriel als Mitglied des Internationalen Rates bis heute angehört. Vielfältige soziale Bewegungen treten, auch in Europa, wieder in Erscheinung, die für die Rechte der Arbeiter*innen und Subalternen kämpfen. Dies zeigt, dass das Bewusstsein und die Ideen von 1968 noch heute aktuell bleiben.


Aus: "Aufstand der Subjektivität" UZ (26. April 2018)
Quelle: https://www.unsere-zeitung.at/2018/04/26/aufstand-der-subjektivitaet/ (https://www.unsere-zeitung.at/2018/04/26/aufstand-der-subjektivitaet/)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 18, 2020, 02:26:50 PM
Quote[...] Im Jahr 1973 veröffentlichte Peter Schneider, einer der Hauptagitatoren der 68er-Bewegung in Berlin, seine Erzählung ,,Lenz". Der Autor war bisher vor allem durch radikale politische Reden aufgefallen, jetzt aber schrieb er von der Sehnsucht nach Sinnlichkeit, von Gefühlen, von den Leerstellen der kurz zurückliegenden Politisierung.

Das war ein Signal: Die 1970er-Jahre standen im Zeichen einer ,,Neuen Subjektivität". Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung hießen nun die Parolen. Gedichte von Jürgen Theobaldy oder Nicolas Born kündeten in einem neuen Ton von einem neuen Weltgefühl.

Ingeborg Bachmanns Roman ,,Malina" wurde zu einem Schlüsseltext für den sich entwickelnden Feminismus, Karin Strucks ,,Klassenliebe" setzte Peter Schneiders Suchbewegungen die weibliche Perspektive entgegen.

Und es existierte eine rege und unüberschaubare Kleinverlags- und Zeitschriftenszene. Die alternative Buchmesse in Frankfurt wurde von vielen eine Zeitlang für wichtiger als die offizielle Branchenveranstaltung gehalten. Dieser Kurswechsel von der Politik zur Literatur hielt ein Jahrzehnt lang an.

Nähert man sich der Neuen Subjektivtät heute, hat das etwas faszinierend Archäologisches.


Aus: "Deutsche Literatur nach 1968 und die ,,Neue Subjektivität": Die Gefühle an die Macht!" Helmut Böttiger (17.06.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/deutsche-literatur-nach-1968-und-die-neue-subjektivitaet.974.de.html?dram:article_id=420587 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/deutsche-literatur-nach-1968-und-die-neue-subjektivitaet.974.de.html?dram:article_id=420587)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 25, 2020, 02:15:03 PM
Quote[...]
Veranstaltungsinformationen
Wann: Fr. 13.11.2020, 19 Uhr
Wo: Livestream via YouTube
https://youtu.be/jj6xSfgcjVs (https://youtu.be/jj6xSfgcjVs)


Mit seinem Versuch, den ,,explosiven" Kern der Psychoanalyse herauszuschälen, avancierte Herbert Marcuse zum Vordenker und Stichwortgeber der sexuellen Protestbewegung von 1968. Seine ,,Philosophie der Psychoanalyse" entwarf ein mitreißendes Modell einer erotischen Utopie und bot den Protestierenden zugleich das Begriffswerkzeug, um auf die zunehmende Einbindung der Sexualität in die Konsumkultur der Nachkriegszeit zu reagieren.

Im Vortrag soll Marcuses eigentümliche Aneignung psychoanalytischer Begriffe vor dem kulturellen Hintergrund seiner Zeit nachgezeichnet werden, um dann den Fragen nachzugehen, warum seine sexualutopische Psychoanalyse heute veraltet wirkt, und ob sie wirklich veraltet ist.

Aaron Lahl ist Psychologe, arbeitet an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin und promoviert zum Thema Psychoanalyse und Masturbation. Verschiedene Veröffentlichungen im Themenbereich Psychoanalyse-Sexualität.

Jan Feddersen, Jahrgang 1957, taz-Redakteur und Kurator des taz lab und des taz Talk, moderiert den taz Talk.

Ein taz Talk in Kooperation mit der Initiative Queer Nations.


Aus: "Sexualutopische Psychoanalyse: Herbert Marcuse 1968 und heute" (2020)
Quelle: https://taz.de/Sexualutopische-Psychoanalyse/!171909/ (https://taz.de/Sexualutopische-Psychoanalyse/!171909/)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on December 02, 2020, 12:51:52 PM
Fritz Bauer (* 16. Juli 1903 in Stuttgart; † 1. Juli 1968 in Frankfurt am Main) war ein deutscher Jurist. Mit seinem Namen und Wirken als Generalstaatsanwalt in Hessen von 1956 bis 1968 verbinden sich die Entführung Adolf Eichmanns nach Israel, die positive Neubewertung der Widerstandskämpfer des 20. Juli von 1944 und die Frankfurter Auschwitzprozesse. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Bauer (https://de.wikipedia.org/wiki/Fritz_Bauer)

Quote[...]  Literatur - Ein Sammelband beschreibt das Verhältnis von Fritz Bauer zu den 68ern

Fritz Bauer war ein aufrechter Sozialdemokrat, einer, den man mit der Lupe sucht. Als Generalstaatsanwalt und Initiator der Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963 – 65) wurde er bekannt. Der Band Fritz Bauer und ,,Achtundsechzig" zeigt nun noch andere Seiten seines Engagements, wenngleich es insgesamt wohl eher dem Muff von tausend Jahren geschuldet war, den viele unter Talaren verbargen. Zwölf Aufsätze von Fachleuten, hauptsächlich aus den Geschichts- und Rechtswissenschaften, ergänzen einander optimal. Bei diversen Schwerpunkten greifen sie Grundzüge im Denken und Handeln stets neu auf: einen Willen, das Strafrecht menschlich zu gestalten, eine Aversion gegen neuen Rechtsradikalismus, gegen Obrigkeitsfimmel sowie rigide Sexualnormen, die aus seiner Sicht eine fehlende NS-Aufarbeitung kompensierten.

Ehemalige NS-Richter verhängten weiter Urteile. Dass sie geläutert waren, zweifelte der Sohn jüdischer Eltern und bekennende Atheist öffentlich an. Damit brachte er viele gegen sich auf, auch in der eigenen Partei. Als 1959 Studenten mit Nähe zum SDS die Ausstellung Ungesühnte Nazijustiz kuratierten, funkte die SPD dazwischen: Den SDS hielt sie für von der DDR unterwandert, erinnert Kristina Meyer, es waren typische ,,antikommunistische Abwehrreflexe" und ,,innerparteiliche Disziplinierungsmaßnahmen". Bauer habe sich aber nicht gefügt, sondern ,,die Initiativen der Studenten wohlwollend, wenn auch vorwiegend aus einer professionellen Distanz" unterstützt. Belastendes über NS-Funktionäre durch ,,Rechtshilfeersuchen an die Staatsanwaltschaft der DDR" in die Finger zu bekommen: der SPD ein Graus, für Bauer Alltagsroutine. ,,(G)egen 99 in Hessen tätige Juristen, die an Todesurteilen (...) beteiligt gewesen waren", strengte er Verfahren an. Auf unmittelbare Effekte hoffte er nur wenig. Gesellschaftliche Reflexion darüber, was Autoritarismus anrichtet, sei eher Ziel gewesen – und die Justiz davon zu befreien.

In puncto Strafrecht schwebte Bauer ein auf Resozialisierung setzendes vor. Auch hier lag er mit seiner Zunft über Kreuz. Kriminelle, so Kirstin Drenkhahn, wurden oft unter miserablen Umständen zu Zuchthausstrafen verdonnert. Abschrecken lautete das Motto. Philanthropen wie Bauer hätten es schwer gehabt, dagegen anzugehen. In einer Zeit, in der sich kaum jemand um Erhebungen geschert habe, verortet Drenkhahn Bauer als Freund der Empirie. Während er sich auf internationale und interdisziplinäre Forschung stützte, hätten Kollegen einschlägige Texte mangels Englischkenntnissen gar nicht gekannt.

Viele Texte im Band verweisen auf Öffentlichkeitsarbeit, die Bauer, der 1968 mit 64 Jahren starb, unermüdlich betrieb: als Experte bei Podiumsdiskussionen, als Autor von Büchern und einer Flut an Artikeln. Damit ,,eröffnete er den 68ern einen Gestaltungs- und Möglichkeitsraum juristischer Intervention", so Alexandra Kemmerer in einem Kapitel über Bauer als ,,Netzwerker". Deutlich wird durch die Lektüre aber auch: Teil der Diskurse und Debatten war er nur begrenzt. Sich im Privaten austobende (sexuelle) Gewalt und Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern habe er noch nicht berücksichtigt, der zweiten Frauenbewegung zum Beispiel daher nur eine Grundlage bereitet.

Detailreich, aber verständlich und so auch für interessierte Laien zugänglich zeichnen die Autor*innen ein spannungsreiches Bild vom Verhältnis Bauers zu den sich formierenden Protestbewegungen, wobei – so beschreibt es Malena Todt – die Angst vor einem allmächtigen Staat Bauers Denken jedoch bestimmte.

Fritz Bauer und ,,Achtundsechzig". Positionen zu den Umbrüchen in Justiz, Politik und Gesellschaft - Katharina Rauschenberger, Sybille Steinbacher (Hrsg.), Wallstein Verlag 2020, 278 S.


Aus: "Im Möglichkeitsraum" Stefan Walfort (Ausgabe 45/2020)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/im-moeglichkeitsraum (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/im-moeglichkeitsraum)

Quote
denkzone8 | Community

na ja,
als priores charakteristikum ist er mit: "ein aufrechter sozialdemokrat"
wohl eher un-angemessen beschrieben.
er ist wohl eher ein solitär gewesen.

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 03, 2021, 01:16:28 PM
Quote[...] Das Epochenereignis der Wende und die Wiedergeburt Berlins hat er mit großer Empathie analysiert, ebenso den Aufbruch von 68. Nun ist Klaus Hartung 80-jährig in Berlin gestorben. Ein Nachruf.

... Klaus Hartung gehörte zur 68er Generation, die ihn tief geprägt hat. Der gebürtige Sachse, Jahrgang 1940, ausgestattet mit den ostdeutschen Nachkriegserfahrungen, wuchs in Hagen auf, studierte zunächst in Bonn und kam 1963 nach Berlin, wo er an der Freien Universität unter anderem Politik, Germanistik und Religionswissenschaften studierte. Das säkulare Aufbegehren der Studentenbewegung brachte er auf den Begriff einer ,,langdauernden Jugend im linken Ghetto" - so der Titel seines 1978 erschienenen, seinerzeit viel diskutierten ,,Kursbuchs"-Artikels.

Klaus Hartung hat diese Zugehörigkeit in allen Konsequenzen gelebt und erlebt, als Teil der Westberliner linken Szene und ihrer zwiespältigen Entwicklungen. Er gehörte damals durchaus zur radikalen Fraktion, doch er versagte sich der Gewalt, die Teile von ihr nach dem Tod von Benno Ohnesorge 1967 begrüßten und auch anwendeten.

Mit alledem gibt Hartung ein Beispiel dafür, wie man sich zu diesem Kapitel der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, zu seinem Scheitern und Weiterleben, auch stellen konnte. Er ging mit ihren Deformationen und Fehlentwicklungen hart ins Gericht, aber er zerriss nicht das Band, das ihn mit diesem Kapitel verknüpfte.

An ihm, der sich eine Zeitlang auch in Italien in der Antipsychiatrie-Bewegung engagierte, konnte man erkennen, dass es aus dem antiautoritären Aufbegehren einen Weg zum entschiedenen, liberalen Demokraten gab. Und zwar ohne Konversion, sondern durch die Arbeit der Reflexion und Erkenntnis.

In einem seiner letzten Essays, den er auf seiner Webseite eingestellt hat - und den man als eine Art intellektuelles Vermächtnis auffassen kann - hat Hartung subtil und kritisch diese Position ausgebreitet. Seine Kritik an den 68ern ist radikal und von der Hellsichtigkeit eines Autors, der ihre Irrtümer an sich selbst erfahren hat. Gerade deshalb hat es etwas Anrührendes, wie beredt er dort das Erlebnis der Zugehörigkeit zu dieser Generation verteidigt. Nicht nur mit ihrem Anteil an der Entkrampfung der Bundesrepublik, der ihr heute weitgehend zugestanden wird, sondern mit dem ,,exzentrischen Glück" einer Generationserfahrung. Diese Erfahrung habe für ihn und die protestierende Generation ,,das seit der Kindheit entbehrte Einverständnis mit sich selbst gestiftet".

Man muss seine Sicht nicht teilen, aber Hartungs Schreiben und Denken haben einen eindrucksvollen Beleg für die Fruchtbarkeit gegeben, die aus den Wegen und Umwegen solcher Biographien entstehen konnten.Im August 2020 hatte Klaus Hartung einen schweren Unfall erlitten. Zum Jahreswechsel erreichte die Öffentlichkeit die Nachricht, dass er am 27. Dezember im Alter von 80 Jahren an dessen Folgen gestorben ist.


Aus: "Zum Tod des Publizisten Klaus Hartung: Der hellsichtige Demokrat" (02.01.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/zum-tod-des-publizisten-klaus-hartung-der-hellsichtige-demokrat/26764112.html (https://www.tagesspiegel.de/kultur/zum-tod-des-publizisten-klaus-hartung-der-hellsichtige-demokrat/26764112.html)

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Quote[...] Klaus Hartung war in den Sechzigern im SDS und später Redakteur bei der ,,taz" und der ,,Zeit". Eine ausführliche Version seines Essays erscheint im Mai in ,,Die Revolte. Themen und Motive der Studentenbewegung", ,,Ästhetik und Kommunikation", Heft 140/41

[Klaus Hartung (11.04.2008) ...]

Um 1968 liegt ein Vorhof von Imperativen. Etwas Unerledigtes dauert fort. Keine andere Episode der Bundesrepublik hat die Kraft, einen derart frisch gereizten Furor auszulösen. Ich kenne keinen Weggefährten von damals, der in der Siegestoga des 68er-Revolutionärs herumstolziert. Typisch sind eher Selbstironie, sarkastische Tonlage und – ja, doch! – gute Laune. Die narzisstische Mitgift von 68, die Selbstachtung, kann man dankbar eingestehen. Aber das Unerledigte interessiert hier. Was hält 68 aktuell, was löst immer noch Verurteilungszwänge aus?

In den vergangenen Jahrzehnten gab es nur einen, sehr ambitionierten Versuch, sich mit der 68er- Erbschaft kritisch auseinanderzusetzen: den Kongress ,,Prima Klima" 1986 in Frankfurt. Meine Erinnerung an die Vordiskussionen ist stärker als die an den Kongress selbst. Da war es wieder, das Gefühl der Teach-ins, der SDS-Debatten: die Intensität, die langen Redebeiträge.

Auf dem Kongress selbst, war der Appell zur Selbstkritik, ja doch, ein ceterum censeo. Von Anfang an gab es zwei gegenläufige Motive. Helmut Schauer beschwor das Gespenst einer zweiten Restauration: Der lange Marsch sei ,,nicht durch die Institutionen gegangen, er droht heute vollends in ihnen, in der brüchigen, destruktiven Normalität des Alltags zum Erliegen zu kommen". Die Gegenposition: Die Rede vom Scheitern der 68er und vom alles erstickenden Zeitgeist der BRD sei falsch. Dem Selbstkritikappell stellte sich allein Christian Semler. Ziemlich tonlos räumte er ,,unverzeihliche Fehler" ein und betonte, man habe die Demokratiebewegung in Osteuropa unterschätzt. Er war der Einzige, der Osteuropa überhaupt erwähnte.

Es war ein typischer 68er-Kongress: Die unerledigte Vergangenheit lastete wie ein Bann über ihm. Dass nur drei Jahre später das vertraute Gebäude unserer Welt zusammenbrechen und mit dem Mauerfall eine neue Zeitrechnung beginnen würde, schien kein Redner zu ahnen. Der Saal leerte sich, und übrig blieb die Frage, wer den Müll beseitigt.

Alle, die heutzutage meinen, die 68er seien an allem schuld, und sich jetzt anstrengen, den Mythos endgültig auszuradieren, sind nur Epigonen der 68er. Die Selbstliquidation begann schon 1969. Die K-Gruppen stellten sich ausdrücklich gegen alles, was vorher war. Die ,,kleinbürgerlichen" Studenten mit ihren ,,links- oder rechtsopportunistischen" Verirrungen mussten ,,überwunden" werden. Die Spaltung verschlang auch das Private, ich verlor mit einem Schlag Freunde. Die gerade noch langhaarigen Genossen kehrten im Namen des Proletariats zum Façonschnitt zurück und widmeten sich ihrer zwölfstündigen Parteiarbeit.

Welch traurige Grotesken die Linientreue hervorbringen konnte, zeigte die große Vietnamdemonstration im Januar 1973 in Bonn, zur Zeit der Tet-Offensive des Vietkong. Rudi Dutschke sollte erstmals nach dem Attentat auf ihn wieder reden. Die Demonstranten jubelten, als sie seine Stimme, die Stimme von 68, wieder hörten. Aber die K-Gruppen-Organisatoren hatten ihm das Ehrenwort abgezwungen, nicht wieder die Studentenbewegung auszurufen. Anstelle der ,,Sieg im Volkskrieg"-Arien warnte er vor der Möglichkeit einer Niederlage. Hinter ihm stand ein Partei-Aufpasser, der laut den Ablauf seiner Redezeit skandierte.

Ab 1969 trieb die Bewegung in die krude Alternative: Organisation oder Gewalt. Ich folgte der Aktionslinie, agierte lang, zu lang im Vorfeld des ,,illegalen Kampfes". Der Wirklichkeitsverlust der Haschrebellen- oder Tupamaro-Milieus konnte dabei mit den Kaderorganisationen durchaus mithalten. Hier beginnen die schwarzen Löcher meiner Biografie. Als sich die RAF gründete, gab es auch wieder richtige und falsche Genossen. Die Richtigen lieferten Geld, Wohnungen, Pässe; die Mehrheit machte aus gesunder Skepsis nicht mit. Aber viele hatten den Boden unter den Füßen verloren. ,,Die Bewegung" verarmte politisch, aus der Gesellschaft wurde das ,,Schweinesystem": Die politische Sprache infantilisierte oder erstarrte im Parteikauderwelsch. Radikalere Dementis der antiautoritären Lust an der Kritik sind kaum denkbar.

Problematisch ist dabei, dass der radikal-obsessive Bruch unbegriffene Kontinuitäten erleichterte. Tradiert wurden gleichwohl Solidaritätszwang, Feindbilder, Opferkult, Ausblendung der Mehrheitsgesellschaft und die Neigung, den Minderheitenstatus zu verewigen. Unerschütterlich auch die Links/Rechts-Trennung, verbunden mit der Überzeugung, links seien die besseren Menschen.

Ironie der Geschichte: Während in den Metropolen Berlin, Frankfurt und Hamburg die Linienkämpfe tobten, eroberte 68 die Provinz. Der Impuls der antiautoritären Bewegung zersetzte den Obrigkeitsstaat; die lebensreformerische Tendenz und ihre Institutionen, die WGs, Kinderläden und Stadtteilgruppen pflanzten sich ungebrochen fort. Als die alte Bundesrepublik zu Ende ging, erkannte die westdeutsche Linke, dass es immer ihre Republik gewesen war, die nun vergoldet in der Abendsonne aufleuchtete.

Die Datierungsfrage ist keine Pedanterie: ,,68" war 67. Bis dahin hatte links von der SPD das politische Nichts gelegen, der SDS besetzte diese Stelle. 1967 war noch alles zusammen: Die große Welle des Aufbegehrens, die Auseinandersetzung auf der Straße, Teilhabe an den weltweiten Protestbewegungen, neue Lebensformen. Auch die Gewaltfrage war präsent. Aber es ging noch um ,,Gegengewalt", und das wurde auch so verstanden. Der 2. Juni und der Tod von Benno Ohnesorg waren der große Schock. Nie wieder hat es soviel Kritik, Aufklärung und gemeinsame intellektuelle Anstrengung gegeben wie nach diesem Schock. Aus der antiautoritären Bewegung war unversehens eine politische Kraft geworden.

68 selbst war ein Jahr des Übergangs. Der internationale Vietnamkongress gab das Gefühl eines globalen Zusammenhangs.Das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April provozierte den Angriff auf die Springerzentrale. Die Osterunruhen wurden als emanzipatorische Gewalterfahrung gefeiert. Die SDS-Parole ,,Vom Protest zum Widerstand" mobilisierte die Provinz. Der Zulauf der ,,revolutionären" Lehrlinge und jungen Arbeiter wurde bejubelt, nun zählten allein die ,,Etappen" des Kampfes. Im November wurden bei der ,,Schlacht am Tegeler Weg" mehr Polizisten als Demonstranten verletzt. Die ,,Etappen"-Philosophie verlangte, das ,,Militanz-Niveau" festzuhalten. Hellmut Gollwitzer riskierte viel, als er die Trennung von ,,Gewalt gegen Sachen" und ,,Gewalt gegen Menschen" vorschlug. Die Angst war größer, dass die Chance, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, durch ein Innehalten vertan werde. Das große Gefühl war verflogen, die privaten Tragödien begannen.

Wir waren weder als narzisstische Egomanen determiniert, den Totalitarismus unserer Väter zu wiederholen, noch können wir uns vom bitteren Nachher distanzieren. Es waren die Erfahrungen von 67 selbst, das exzentrische Glück, die unverhoffte Möglichkeit einer besseren Welt, die uns überwältigt hat. Selbst die Gewalt hatte etwas zu tun mit dem gewalttätigen Festhalten an dem einzigartigen Gefühl, dass sich der Horizont öffnet. Dass es oft die besten Motive sind, die am schrecklichsten pervertieren können, dass vor allem aus dem Guten das Böse entspringt, ist noch heute schwer akzeptierbar. Selbstkritik muss beides zusammen sehen, die große Erfahrung und ihre bestürzenden Verwandlungen.

Das große Gefühl: Nein, kein Hedonismus. Die Männer erstrahlten in juveniler Virilität, aber die Frauen entdeckten schnell, dass sie in Wahrheit grüne Jungs waren. Die legendäre Kommune 1 war nicht hedonistisch, sondern leistungsorientiert. Genial, wie sie begriff, dass sie Projektionsfläche für die unruhige Jugend war, und damit politisch spielte.

Das große Gefühl war etwas anderes. Richtig ermessen kann es nur, wer den Gefühlsabsturz danach erlebt hat. Bis zum 2. Juni 67 waren unser Lebensgefühl und unsere zeitgeschichtliche Analyse ziemlich identisch: Als radikale Opposition hatten wir keine Chance. Die ,,Spiegel"-Affäre, die geplanten Notstandsgesetze, die Große Koalition, der erste Tote: Wir standen mit dem Rücken zur Wand. Und dann begann die Welt, sich um uns zu drehen. Plötzlich waren wir es, die die Politik zu Reaktionen zwang. Die Wende von der Ohnmacht zur Allmacht: Wir konnten tatsächlich unsere eigene Geschichte schreiben. Das Gefühl verstärkte sich, als die enthusiastische Erfahrung sexueller Befreiung hinzukam. Kein Wunder, dass unsere Augen blitzten.

Eine Doppelhelix der sich gegenseitig steigernden Revolutionserwartung bannte uns. Die Revolte in der ganzen westlichen Welt. Die Kulturrevolution. Dutschke proklamierte, Che sei aufgebrochen in den Urwald. Und wohin brechen wir auf? Wir waren frei vom Sog der Nazi-Vergangenheit, wir gehörten der Welt. Der ,,Viva Maria"-Film lehrte, dass die Inszenierung der Revolution die Revolution macht. Der revolutionäre ,,Prozess" ging auch in die Tiefen der Kindheit. Es galt, die ,,autoritäre Persönlichkeit" zu zerstören. Es war ein Trip. Die Realität zerschlug diesen großen Zusammenhang. Wir revidierten ihn nicht wirklich, sondern trugen eine Verlusterfahrung weiter. Vielleicht gab es eine Scham über den Abflug in den Trip.

Apologien sind langweilig. Die Erfolge von 68 liegen irgendwo zwischen dem Satz ,,Die 68er sind an allem schuld" und der These, dass 68 nur eine Randerscheinung eines gesellschaftlichen Umbruchs war. Dass unsere Kinder freilich mit einem Gefühl politischer Impotenz studieren, wenn sie an 68 denken, kann nicht froh stimmen.

Ohne Freude am Paradox ist eine ernsthafte Beschäftigung mit 68 allerdings kaum denkbar. Die List der Geschichte war mindestens so mächtig wie die Revolte: 68 scheiterte an dem, was es wollte, und war erfolgreich mit dem, was es nicht wollte. Wir bekämpften die repräsentative Demokratie und ernteten eine gestärkte repräsentative Demokratie. Wir bekämpften den Staatsapparat und bekamen eine liberale Staatsgewalt. Die obrigkeitshörige Beamtenschaft und der Untertanengeist verschwanden. Die Revolte strapazierte – und vitalisierte die formale Demokratie. Mithin ist die Rede von 68 als zweiter Gründung der Republik nicht ganz falsch, es ereignete sich so etwas wie eine nachholende Jugendzeit der Republik. Und Deutschland erlangte nebenbei eine europäische Normalität.

Natürlich sind da auch lineare Erfolgsgeschichten wie die Frauenbewegung oder die Veränderung der Kindererziehung, die mit den Kinderläden begann. Die größten Wirkungen von 68 finden sich bei Verhaltensnormen, Lebensformen, Bildung und Sozialpolitik. Hier entstand ein mixtum compositum aus alternativer Kultur und Sozialstaat. Der Staat sollte Kreativität freisetzen, jugendliche Delinquenten nur therapieren und Einzelfallgerechtigkeit herstellen; Ausländer retteten uns vor dem Deutschsein; Eltern versagten nicht, sondern brauchten finanzielle Zuwendungen, Schulschwänzen war keine Frage der Disziplin, sondern der Therapie. Ein unübersehbarer Teppich von Initiativen, Beratungen, Kommissionen, Forschungen breitete sich aus. Gegen den damit verbundenen Freiheitsverlust und die zunehmende Macht der Sozialbürokratie gab es kaum Proteste. So kann man streiten, ob die Linke größere Probleme mit dem unerledigten 68 oder mit ihren Erfolgen danach hat.

Generationenverantwortung – kann es so etwas geben? Vielleicht hätten Spott und Hohn über die Grand-Guignol-Performance des bewaffneten Kampfes Schlimmeres verhindert. Ich deutete damals in der Untergrundzeitschrift ,,883" verklausuliert an, die Baader-Befreiung sei nicht gerade der optimale Einstieg in den illegalen Kampf. Klartext hätte bedeutet, der Artikel wird nicht gedruckt. Hatte ich Angst, als Verräter verjagt zu werden, und zog die Selbstzensur vor? Ist das eine Frage der Schuld oder der Selbsterkenntnis?

Die bleierne Zeit habe ich verpasst. Als ich im Irrenhaus in Italien arbeitete, standen die Patienten Schlange für Psychopharmaka. Gleichzeitig zeigte das Fernsehen Schleyers Staatsbegräbnis mit Trauermarsch. Ich rief in Berlin an, ob ich kommen solle. Solidarität! Nein, hieß es, bleib', wir kommen! Als die ,,taz" den offenen Brief der Braunmühl-Brüder an den Mörder ihres Vaters abdruckte, trat die Bonner Redaktion in Streik. 1985! Der langanhaltende Solidaritätszwang.

Was fingen wir andererseits mit den Chancen an, die sich durch die Amnestie der sozialliberalen Koalition eröffneten? Ich kann mich an keine einzige Debatte erinnern, bei der – wenigstens theoretisch! – die ausgestreckte Hand prüfend berührt wurde. Als dann die Regierung Brandt in die Defensive geriet und ,,Berufsverbote" erteilt wurden, gingen die wieder verloren, die vorher durch die Amnestie gewonnen werden konnten. Ein historischer Moment, von beiden Seiten verspielt. So blieb das kritische Potenzial draußen, auch die SPD verlor eine ganze Generation. Es begann der lange Weg zur Gründung der Grünen, es begann die Erfolgsgeschichte der 68er bei der Umgestaltung der Gesellschaft.

Verblasst damit langsam die Generationsverantwortung? Ich glaube, es hatte Folgen, dass 68 zwar ständig negiert oder ,,überwunden", aber nie politisch beendet wurde. So entfalteten wir unser Gutmenschenparadies. Privat lästerten wir über die verbrauchte Luft und die sprachlichen Verrenkungen. Aber in diesem alternativen Milieu lebten wir auch ganz gern, in der die Generationen sich duzten. Es versprach uns andauernde Jugend und die Vermeidung der Realitätsprüfungen des Erwachsenseins.

Es ist also nicht verwunderlich, dass nach 68 keine neue Generation politischer Intellektueller angetreten ist. Noch immer bewachen die greisen Überlebenden der Gruppe 47 die Schützengräben der Political Correctness. Im Unterschied zu Frankreich, wo nach dem Pariser Mai André Glucksmann und andere einen Generationswechsel unter den Mandarinen durchsetzten, bestimmten in Deutschland nie die 68er die großen Debatten der Nation. Denn wo waren die intellektuellen Dissidenten unter den Maoisten, die die Verbrechen der Kulturrevolution und des Stalinismus auf die Tagesordnung setzten? Waren nicht die boat people unsere Sache – zu schweigen von Pol Pot und den killing fields? Die Kap Anamur entlastet da nicht. Warum suchten wir nicht den öffentlichen Streit? Etwa wieder die alte Angst vor dem falschen Beifall?

Nun hat sich der Zeitgeist gewendet. Es ist unser Schleier, der zerreißt, unsere Werte schlagen ins Gegenteil um. Die Kids sagen jetzt ,,Du Opfer!", wenn sie Blödmann meinen. Das ist das Ende unserer Opferkultur. Wir spüren, dass die soziale Kälte nicht von den Neoliberalen, sondern aus dem Herzen des Sozialen kommt. Unsere multikulturelle Toleranz lief zumeist auf Nichtwissen und Indifferenz hinaus. Und als die Mauer fiel, erkannten wir in den Bürgerrechtlern von 1989 zwar unseresgleichen wieder. Aber wir verübelten, dass sie unsere Welt zerstörten. Das gemeinsame Interesse wäre es gewesen, das große Thema der Wiedervereinigung zu debattieren: das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit.

Gewiss, die Geschichte ist geschehen. Dazu, dass es sich in Deutschland gut lebt, dass ein stabiles, pragmatisches, konsensorientiertes und außerordentlich demokratisches Land entstanden ist, haben wir viel beigetragen. Und für Revisionen unserer Geschichte ist es nicht zu spät. Diese Mühe erlaubt es dann auch, die schöne Seite dieser Zeit unverstellt zu erkennen.

Wie nervtötend ist es, dass die erinnerungsgeilen Medien immer wieder das schreckliche Paar Andreas Baader/ Uschi Obermaier aufrufen? Natürlich, Sex & Crime, das geht. Wir, die wir unsere Sache nicht erledigt haben, dürfen uns ärgern. Aber protestieren? An der Entsublimierung von Sexualität und Gewalt waren wir nicht ganz unschuldig.



Aus: "1968: Das große Gefühl" Klaus Hartung (11.04.2008)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/1968-das-grosse-gefuehl/1208548.html (https://www.tagesspiegel.de/kultur/1968-das-grosse-gefuehl/1208548.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 05, 2021, 07:19:05 PM
QuoteKate Mahoney@KateFMahoney

Lovely to come back to work with the news that 'Politics of Authenticity', the book I co-edited with Häberlen & Mark Keck-Szajbel, is now available in paperback from @berghahnbooks @BerghahnHistory


"The Politics of Authenticity"
Countercultures and Radical Movements across the Iron Curtain, 1968-1989
Edited by Joachim C. Häberlen, Mark Keck-Szajbel, and Kate Mahoney
Afterword by Sara Blaylock 308 pages
Following the convulsions of 1968, one element uniting many of the disparate social movements that arose across Europe was the pursuit of an elusive "authenticity" that could help activists to understand fundamental truths about themselves—their feelings, aspirations, sexualities, and disappointments. This volume offers a fascinating exploration of the politics of authenticity as they manifested themselves among such groups as Italian leftists, East German lesbian activists, and punks on both sides of the Iron Curtain. Together they show not only how authenticity came to define varied social contexts, but also how it helped to usher in the neoliberalism of a subsequent era. ...
https://www.berghahnbooks.com/title/HaeberlenPolitics (https://www.berghahnbooks.com/title/HaeberlenPolitics)

https://www.berghahnbooks.com/downloads/tocs/HaeberlenPolitics_toc.pdf (https://www.berghahnbooks.com/downloads/tocs/HaeberlenPolitics_toc.pdf)

3:27 nachm. · 4. Jan. 2021


https://twitter.com/KateFMahoney/status/1346100829732933634 (https://twitter.com/KateFMahoney/status/1346100829732933634)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 13, 2021, 12:39:06 PM
Quote[...] Die Essayistin und Publizistin Hannelore Schlaffer lebt in Stuttgart. Zuletzt von ihr erschienen: «Alle meine Kleider. Arbeit am Auftritt.» Verlag zu Klampen, 2015.

Unvergesslich bis zum heutigen Tag wird für alle, die im April 1969 zwischen 20 und 35 Jahre alt waren, die Szene im Hörsaal der Universität Frankfurt bleiben, wo Adorno eine Vorlesung über die «Einführung in das dialektische Denken» hielt. Nach einigen störenden Zwischenrufen aus dem vorwiegend männlichen Auditorium und einigen nervösen Ermahnungen des Professors stürmten drei Studentinnen in Lederjacke ans Pult, rissen ihre Jacketts auf – und hatten darunter nichts zu zeigen als den nackten Busen. Adornos (angeblicher) Aufschrei «Das mir!» machte ihn damals bekannter als all seine philosophischen Reden. Hier waren Frauen tatsächlich als die nackte Wahrheit vor den Philosophen hingetreten, vollbusig, wie Aletheia oder Veritas es nun einmal sind, jene seit je von den Männern genutzten weiblichen Allegorisierungen der Weisheit.

Der Aufstand gegen das «Kapital», den die Studenten, ihre eigentlichen Lehrer, mehr beschworen als erstrebten, bedeutete für die Frauen der Generation von 1968 die Entdeckung ihres Körpers und ihrer Sinne. Man könnte sie als Pendant zu den Arbeitern, deren Bewusstsein revolutioniert werden sollte, die «Proletarierinnen des Liebeslebens» nennen. Man wollte sie, wie das Proletariat aus der Unterdrückung durch das Kapital, aus der Prüderie befreien. Die «Waffen der Frau» waren auf einmal Waffen im Kampf um die Gleichberechtigung.

Viel erfolgreicher als die von den Männern avisierte ökonomische Revolution war diese erotische. Und sie ist es geblieben. Wer heute liebt, heiratet, Kinder zeugt, sich scheiden lässt, tut dies – unbewusst – im Bewusstsein jener sexuellen Freiheit, die damals im Zusammenspiel von Männern und Frauen verlangt und erlangt wurde. Die Emanzipation der Frau, eine Gemeinschaftsarbeit beider Geschlechter, hatte zwar im 19. Jahrhundert begonnen. Neu aber war nun, dass sie nicht von einzelnen Heldinnen, Frauen der Sozialdemokratie oder der Bohème, vorgelebt wurde, sondern dass eine relativ grosse Zahl junger Bürgerstöchter damit experimentierte. Die Forderungen der Studentinnen – acht Prozent der Frauen besuchten die Universität – wurden schnell auch von Mädchen und sogar von Ehefrauen übernommen, die nicht studierten. Im wahren Wortsinn entstand erst jetzt eine Frauenbewegung, in der auch die mitmachten, die nicht intellektuell und nicht besonders mutig waren.

Die Erfolge der Studentenbewegung, derentwegen man nun meint, sich ihrer erinnern zu müssen, waren nicht spektakulär. Intellektuelle und politische Parteien hatten Forderungen ähnlicher Art – die Abschaffung von ökonomischer Ausbeutung, die Gleichberechtigung beider Geschlechter – schon im 19. Jahrhundert erhoben. Neu an der Studentenbewegung von 1968 war, dass sich Bürgersöhne zusammentaten, um radikale Forderungen für das private Leben durchzusetzen. Die jungen Männer erschreckten ihre Eltern, das «Establishment», mit der Behauptung, sie seien die erste Generation, die nach den Verboten des Nationalsozialismus wieder frei denken dürfe und die dies auch von Tag zu Tag erproben müsse.

Wenn man also bedenkt, dass die Neuerungen vor allem auf die Durchsetzung aufgeklärter Ideen für das Alltagsleben zielten und nicht auf den politischen Umsturz, so verwundert es nicht, dass Frauen in die Bewegung einbezogen wurden: Die Studentenbewegung musste eine Studentinnenbewegung sein.

Vor allem galt es, das Verhältnis der Geschlechter neu zu überdenken. Die jungen Frauen, die Adorno brüskierten, waren in einer Umgebung aufgewachsen – es ist das Deutschland der Adenauer-Ära –, in der noch immer die traditionellen Vorstellungen einer bürgerlichen Moral galten. Immer noch gab es Männer, die Wert darauf legten, eine jungfräuliche Frau zu heiraten: Jungfräulichkeit – ein heute in der westlichen Welt ausgestorbenes Wort! Da Mädchen und Knaben nur in der Grundschule gemeinsam erzogen wurden, machte im Nachkriegsdeutschland eine Gymnasiastin mit einem fremden Mann ihres Alters erst in der Tanzstunde Bekanntschaft. Die Koedukation wurde in einigen Bundesländern 1950 eingeführt, in Baden-Württemberg erst 1966, in Österreich 1975.

Keusch zu bleiben, war so schwer also nicht. Die Zeit der Abwesenheit einer jungen Frau aus dem Haus wurde dennoch streng überwacht, selbstverständlich dies in einer Epoche, in der ein uneheliches Kind das Ansehen der ganzen Familie ruinierte. Die Praktiken der sexuellen Kontrolle erfuhren junge Frauen nicht nur an sich selbst. Auch ein Klinikdirektor oder ein Landrat konnte, wenn er sich scheiden liess, sein Amt verlieren.

Auch die berufstätige Frau unterlag schweren Einschränkungen. Das Lehrerinnenzölibat etwa wurde erst 1951 teilweise, 1956 endgültig aufgehoben: Gymnasiastinnen bekamen nur unverheiratete Lehrerinnen zu Gesicht. Konnte also eine Heranwachsende, die sich an der Universität für das Lehramt ausbilden liess, hoffen, dass sie dieses mit der Liebe zu einem Mann verbinden könne? Das Studium unter einer Schar von Männern begann paradoxerweise in der Furcht, einen Mann nicht heiraten zu dürfen. Die Freiheit, einen Beruf auszuüben, heute der Inbegriff von Gleichberechtigung, setzte also vor allem die sexuelle Aufklärung, und zwar die der gesamten Gesellschaft, voraus. Dies ist ein Faktum in der Geschichte der Emanzipation, das leicht übersehen wird.

Die Atmosphäre der fünfziger und frühen sechziger Jahre muss im Blick bleiben, um zu verstehen, was die Studentenbewegung für junge Frauen bedeutete. Allein schon das vertrauliche «Du», mit dem sie nun im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) mit den Männern verkehrten, erschien in einer Welt, in der sich Studenten «siezten», wie eine Brüskierung der guten Sitte. Das Marx-Studium, die Teach-ins machten es zudem geradezu zur Pflicht, ganze Nächte mit Männern zusammenzusitzen. Die Studentenbewegung hat für die Frau die Nacht entdeckt als die Zeit, in der sie nun auch in der Öffentlichkeit auftreten durfte.

Der Stil der Zusammenkünfte war anders als der in der Familie oder der mit Freundinnen. Man lümmelte herum, lag gar auf dem Boden und manchmal aufeinander. Dass bald ein Teil der Studentinnen, obgleich nicht verehelicht, in Wohngemeinschaften mit Männern zusammenwohnte, war eine Provokation selbst des Bürgerlichen Gesetzbuchs, da Eltern, Vermieter und Hoteliers noch bis etwa 1970 den Kuppelei-Paragrafen zu fürchten hatten, der ihnen, falls sie unverheirateten Paaren Unterkunft gewährten, vorhielt, «der Unzucht Vorschub zu leisten».

In dieser Atmosphäre der Prüderie war die Marx-Lektüre eine Möglichkeit, die bourgeoise Sprache der Erotik, Pikanterie und schlechten Witz im Umgang mit fremden Männern zu vermeiden. Über das Studium der Theorie führte der Weg in einen entspannten Umgang der Geschlechter, aus dem freilich Liebe entstehen konnte. Aber auch sie bezog ihre Legitimation aus dem Studium, aus der Lektüre von Sigmund Freud und Wilhelm Reich. Die Psychoanalyse lieferte ein Vokabular, mit dem es möglich war, sachlich über Sexualität zu reden. Man lernte Wörter kennen, die die Mutter nie in den Mund genommen hätte: Liebe war nun Geschlechtsverkehr, Keuschheit Verdrängung des sexuellen Begehrens.

Die Theorie lieferte nicht nur das Vokabular, um aufklärend und zugleich betroffen über das Verhältnis der Geschlechter zu sprechen, sie enthielt auch das Gebot zu handeln. Sexualität wurde, da Garant für die gesunde Seele, Pflicht. Die Erfüllung war nicht nur amüsant. Männer, für welche die Frau seit je ein Statussymbol gewesen war, mussten sich nun beweisen, dass ihre gesunde Seele unstillbar sei. Witzig, wie linke Studenten stets, riss in der Neujahrsnacht einer das Fenster auf und rief seine sexuelle Gesundheitslehre den Bürgern als Neujahrsgruss zu: «Ich wünsch mir reibungslose Weibergeschichten!»

Aber auch die Frauen durften nicht prüde sein; jedes «Nein» stand unter dem Verdacht einer nicht bezwungenen Verklemmtheit. Wie alles an der Emanzipation der Frauen, so war auch die zur freien Liebe nichts weniger als Vergnügen, sie war ein verquältes Experiment. Was brave Bürger, die gebannt das Treiben der Studenten verfolgten, als Orgie perhorreszierten, war oft nichts anderes als die mit schwerem Herzen vollzogene Bestätigung eines neuen Sittenkodexes.

Mit der Revolution der Liebesideologie, der erfolgreichsten der Studentenbewegung, wurden uralte Begriffe wie Unschuld, Reinheit, Jungfräulichkeit aus dem Wörterbuch der Frau gestrichen. Es lag nahe, nun auch an den Schulen die neue Sprache der Geschlechter zu lehren. Eine Folge der Studentenbewegung war die Forderung nach Sexualunterricht an Schulen. Da die Rede über Sexualität vor Kindern bis dahin nie erlaubt gewesen war, konnte sich die Elternschaft einen solchen Unterricht, in dem eine verbeamtete Autorität mit den Unschuldigen gemeinsam ein Sprachverbot brach, nur als praktische Übung vorstellen. Die aufgestörte Phantasie des Bürgers verstieg sich in die Vorstellung, dass bei diesem Unterricht die Jalousien des Klassenzimmers heruntergelassen werden müssten, um das peinliche Wissen möglichst geheim den Schützlingen beizubringen. Anders als unanständig konnte man sich sexuelle Aufklärung nicht vorstellen.

Die Schüler, misstrauisch gegenüber ihren unaufgeklärten Eltern, standen meist auf der Seite der Provokation. Ohnehin konnten sie sich der neuen Erotik leicht anschliessen, denn was bisher eine Schande für die Familie gewesen wäre, das uneheliche Kind, war mit der Antibabypille gebannt. 1961 war das erste Antikonzeptivum in Deutschland verkauft worden. Auch wenn es schon vorher Verhütungspraktiken gab, diese war unkompliziert und relativ sicher. Wenn schon Sexualität Programm war, Sorgen machte sie nicht mehr.

Zunächst verbanden die Frauen, noch ganz in der Tradition des Zölibats, den Gedanken an den Beruf mit Kinderlosigkeit. Kein Kind zu haben, war ein Stolz. Man hatte, wie die Männer, nun Kinder des Geistes, Reden, Aktionen, Schriften. Auch die Männer mieden die Verantwortung, und so musste der Staat die Rolle des Vaters übernehmen und den Nachwuchs mit Geld und Erziehungsinstitutionen unterhalten. In den siebziger Jahren aber hätten die meisten Studentinnen für ein Kind selbst sorgen müssen, was das Ende ihrer Karriere bedeutet hätte. Vorbilder waren deshalb kinderlose Frauen wie Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer. Letztere legte mit ihrer Zeitschrift «Emma» die erste Zeitschrift vor, die Frauen den Modeblättern abwarb und ihre beruflichen Probleme thematisierte.

In den siebziger Jahren allerdings setzte die Spaltung der Frauenbewegung ein. Es gab eine frühe Phase der Emanzipation und eine spätere des Feminismus, die bis heute dauert. In der ersten Phase wollten die Frauen nichts sein als frei und beweglich wie die Männer. Dann aber schien die Reflexion dringlich zu sein auf das, was denn das «spezifisch Weibliche» sei – und man fand es in der Aufgabe, zu gebären. Die beiden Gruppen opponierten gegeneinander und trugen ihren Standpunkt auch in der Öffentlichkeit zur Schau. Die Feministinnen erfanden das Säugen des Kindes in der Öffentlichkeit. Auch sie entblössten nun den Busen – nicht mehr um Adorno zu verwirren, sondern um «natürlich» zu sein. Die «Emanzen» hingegen zeigten mit Beinen in Hosen, wie flink, wie schnell sie hinter den Männern her waren, die Feministinnen schützten die nährende Brust mit einer Latzhose.

Heute sind die Grenzen zwischen den beiden Mustern der weiblichen Existenz verschwommen. Eine Studentin in Hotpants sieht einer Karriere entgegen und einer glücklichen Ehe, in der der Mann den Kinderwagen schiebt. Mehr Erfolg kann eine Bewegung, die neben der Befreiung des Proletariats herlief, an welche die Studenten glaubten, gar nicht haben.


Aus: "Die nackte Wahrheit für Adorno – Die Frauen-Bewegung war die wirkliche Revolution der 68iger" Hannelore Schlaffer (21.04.2018)
Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/frauen-1968-hannelore-schlaffer-ld.1376824 (https://www.nzz.ch/feuilleton/frauen-1968-hannelore-schlaffer-ld.1376824)

https://de.wikipedia.org/wiki/Hannelore_Schlaffer (https://de.wikipedia.org/wiki/Hannelore_Schlaffer)

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/die-elegante-germanistin-hannelore-schlaffer-wird-80-16319619.html (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/die-elegante-germanistin-hannelore-schlaffer-wird-80-16319619.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 19, 2021, 10:08:01 AM
Sturm auf das Kapitol in Washington 2021
Der Sturm auf das Kapitol in Washington, D.C. am Nachmittag des 6. Januar 2021 war ein gewaltsamer Angriff von Anhängern des amtierenden US-Präsidenten Donald Trump auf den Kongress, das Parlament der Vereinigten Staaten. Ihr Ziel war es, die formale Bestätigung des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl von 2020 zu verhindern, die Trumps Gegenkandidat Joe Biden gewonnen hatte. Die Randalierer drangen in das Parlamentsgebäude ein und unterbrachen für mehrere Stunden die gemeinsame Sitzung des Senats und des Repräsentantenhauses. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Sturm_auf_das_Kapitol_in_Washington_2021 (https://de.wikipedia.org/wiki/Sturm_auf_das_Kapitol_in_Washington_2021)


Quote[...] Jöran Klatt ist Politik- und Kommunikationswissenschaftler. Er war Redaktionsmitglied bei INDES – Zeitschrift für Politik und Gesellschaft und Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung. Klatt arbeitet im Deutschen Bundestag für einen Abgeordneten

Als ein kleiner Teil der Anhänger Donald Trumps das Kapitol stürmte, sorgte in den sozialen Medien und Kommentaren besonders ein Detail für viel Verwunderung: Warum erschienen so viele der an dem Sturm Beteiligten bunt kostümiert? Wie konnte es sein, dass ein so ,,ernstes" Ereignis von infantiler und ins Lächerliche anmutender Symbolik begleitet wird?

Um diese Frage zu beantworten, sollte sie zunächst einmal relativiert und kritisch gefragt werden, ob die Anzahl der Kostümierten in der Tat über dem gewöhnlichen Anteil an Menschen liegt, die bei derartigen Ereignissen kostümiert erscheinen. Denn schließlich sind ereignisgerechte Kleidung (zumindest was für solche gehalten wird) oder Kostümierungen auf Demonstrationen und Protestmärschen keine gänzlich neue Erscheinung.

Die meisten Organisatoren von Protestmärschen und Demonstrationen – aber eben auch viele Teilnehmer – sind sich der Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie sehr bewusst und stellen sich darauf ein. Eine extravagante Kleidung ist dabei eine der wenigen erfolgsversprechenden Strategien, um in der Bilderflut überhaupt in Erscheinung treten zu können. Fernab des Ereignisses, das uns über Bildschirme geliefert wurde, sollte aber immer auch von selektiver Wahrnehmung ausgegangen werden. Es ist eine Paradoxie des Medienzeitalters, dass – trotz der Allgegenwärtigkeit von Kameras und Aufnahmen – meist nur einige wenige aussagekräftige Bilder bei einem Großereignis auch ins kollektive Gedächtnis durchdringen. Gelungen ist dies beim Washingtoner Aufstand in jedem Fall Jake Angeli, der mit seinem bemalten Gesicht, dem nacktem Oberkörper und der Fellmütze zweifellos enorme mediale Reichweite erzeugte.

Angelis Auftritt zeigt, wie sich die Art und Weise kulturellen Konsums verändert hat. Angeli bediente sich diverser Symbolen und Metaphern, die er zu einem Ganzen verwob, das von der Adressatenseite relativ schnell interpretiert, gedeutet und damit gelesen werden konnte. Angelis Körper wurde somit zur Leinwand einer politischen Bildsprache, die sehr typisch ist für das Internetzeitalter. In diesem wird das Lese-Schreib-Verhältnis zwischen Kulturschaffenden und Publikum neu interpretiert. Kulturelle Produkte werden von den Rezipienten selbst zur eigenen Kommunikation aufgenommen und frei verwendet: wir sprechen von sogenannten Memes.

Ein Meme ist ein kurzes kulturelles Produkt, das sich aufgreifen, teilen und weitergeben lässt. Die meisten Menschen, die regelmäßig das Internet nutzen, kennen vor allem die sogenannten Social Memes, also meist Bilder, die beispielsweise ein besonders eingängiges Film- oder Serienzitat aufgreifen und damit für eine neue Botschaft verwendet werden. Memes haben den Vorteil, dass sie Kommunikation dort aufgreifen, wo sie am besten funktioniert: beim Vorwissen der Empfänger. Schließlich ist gerade in der politischen Kommunikation die wirksamste Botschaft, meist diejenige, die Menschen bei ihrem Vorwissen und am besten noch ihren Gefühlen abholt. Bilder werden daher bewusst eingesetzt, aufgegriffen, weitergeführt, verzerrt und verändert, um eine bestimmte Botschaft zu transportieren.

[...] Auch die Neue Rechte ist sich der Bedeutung visuell erzählerischer Medien bewusst und setzt diese immer bewusster und zielsicherer ein. Das Medium wird zur Message: Die Politologin Angela Nagle beschreibt in ihrem Buch Kill All Normies wie die Neue Rechte sich über die vergangenen Jahrzehnte verstärkt Techniken einer einst als links (oder in den USA ,,liberal") geltenden Protestkultur angeeignet hat. Sie beschreibt eine Haltung, die sie ,,Transgression" nennt, was man im Deutschen am ehesten mit ,,Überschreitung" übersetzen kann. Darunter beschreibt sie ein tabubrechendes, störendes Verhalten im Sinne der Sache. Einst hätten linke fortschrittliche Proteste versucht, die hegemoniale Kultur zu stören. Diese Protestkultur war und ist vor allem eine mediale. Insbesondere die Friedens- und Umweltbewegung, die Hippiekultur und die Neuen Sozialen Bewegungen prägten eine bunte Protestkultur aus störenden Inszenierungen, wie den Happenings. Auch Kunst, Kultur und Kleidung umfassten die politische Ebene. Wenn die Inszenierung von Jake Angeli daher heute als störend oder dem Ereignis gar nicht angemessen erscheint, so ist dies auch eine historische Parallele in die Zeit, als die Kleidung der Jugendkultur der 1968er auf die Elterngeneration besonders schockierend wirkte. Die politischen Zielsetzungen mögen gänzlich andere sein, aber die dahinterliegende Protestkultur ist ein direkter Nachfahre eben der 68er.

Auch wenn diese Protestkultur infantil und der Sache nicht angemessen zu sein scheint: genau diese Wirkung ist beabsichtig. Die Störung selbst ist eine Form von Wirksamkeit, die Erregung öffentlichen Ärgernisses ein kleiner Triumph. Im Kontext der Neurechten wird dieser wirksame Protest meist ,,Trollen" genannt. Im Fall des Washingtoner Protests hat zumindest die Trump-Bewegung nicht zum ersten und vermutlich auch nicht zum letzten Mal auf dieses Stilmittel politischer Inszenierung zurückgegriffen. Gerade weil mit Joe Biden ein Präsident folgt, der für derartige Späße nicht zu haben sein und damit für solche dann doch umso empfänglicher wird. Der Washingtoner Aufstand hat auf diese Weise noch einmal deutlich vor Augen geführt, wie die Neue Rechte immer stärker die Rolle des Provokateurs im politischen System einnimmt und für sich kultiviert. Und diese Entwicklung ist nicht allein eine US-amerikanische.


Aus: "Leinwand politischer Bildsprache" (17.01.2021)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/joeranlennart/batman-vor-dem-kapitol (https://www.freitag.de/autoren/joeranlennart/batman-vor-dem-kapitol)

Quote
goedzak | Community

Ich frage mich, woher diese blauäugige Vorstellung kommt, dass Alternativ-, Protest- oder Subkulturen, die mit eigens dafür produzierten kulturell-symbolischen Formen die "hegemoniale" Kulturen stören, immer (irgendwie) "links" sein müssen. Seit es die Jugendkulturen der industriellen und "postindustriellen" Moderne gibt - seit dem späten 19. Jh., jedenfalls in ersten Ansätzen - gab es auch immer retrospektive, de facto reaktionäre, patriarchalische, sexistische, rassistische, autoritär organisierte usw. Subkulturen bzw. Elemente davon in bestimmten Alternativkulturen. Da muss man gar nicht ins Mussolini-Italien oder in bestimmte Strömungen vor 1933 in Dtschl. schauen. Waren die Biker, die Meredith Hunter erstachen beim Altamont-Popfestival "links"? Natürlich nicht, aber waren sie und sind ihre Nachkommen deshalb etwa Vertreter einer "hegemonialen Kultur"?

Wer keine andere Erklärung dafür hat, dass faschistoide Typen wie Hippie-Schamanen oder 1980er-Spontis mit Palitüchern oder mit Hipsterbärten rumlaufen, als das die Rechte sich "linkes" Kulturgut angeeignet hätte, hat schon den Unterschied zwischen Zeichen und Zeichenträger nicht verstanden. Ganz zu schweigen davon, dass eine gruppenkulturelle Ästhetik immer beides ist: das Ergebnis eines praktischen Gestaltungsvorgangs mit Material ("Bricolage") UND eines Codierungsvorgang. Wer das nicht versteht, müsste einen Hippie mit Militärjacke für einen Militaristen und könnte ihn niemals für einen Pazifisten halten.

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 16, 2021, 03:51:31 PM
Quote[...] Anke Stelling: "Klasse durchdringt alles"

Die Schriftstellerin Anke Stelling schreibt so böse über das grün-liberale Milieu Berlins, dass sie sich mit ihm überworfen hat. Ein Gespräch mit einer Nestbeschmutzerin.
Interview: Philipp Daum (15. Februar 2021)

Anke Stelling, 49, aufgewachsen in Stuttgart, lebt in Berlin-Prenzlauer Berg. Das liest sich wie ein Klischee und darüber wollen wir sprechen. Stelling hat in ihren Romanen die Menschen dieses Bezirks beschrieben: Sie sind alternativ, tolerant, distinktionsbewusst – und haben von ihren Eltern viel Geld geerbt und ein schlechtes Gewissen deswegen. Stelling hat wütend und komisch über die Selbstwidersprüche des grünen Bürgertums geschrieben und sich damit viele Feinde gemacht. Das Gespräch findet Ende September am Helmholtzplatz im Prenzlauer Berg statt. Stelling hat sich dort bei einem Freund zum Schreiben eingemietet.

Philipp Daum: Frau Stelling, Sie haben vor ein paar Jahren ein Buch mit dem Titel Bodentiefe Fenster veröffentlicht. Es hat Ihren Freundeskreis halbiert. Wie kam es dazu?

Anke Stelling: Die Hauptfigur des Buches, Sandra, lebt in einem alternativen Wohnprojekt im Prenzlauer Berg, genau wie ich. Im Buch streiten die Bewohner über Kindererziehung. Was kriegen die Kinder zu Weihnachten? Die erzählen sich das gegenseitig. Eine Mutter wünscht sich, dass alle Eltern das Gleiche schenken. Damit es keinen Neid gibt. Und Sandra sagt: "Na, dann schenk meinen Kindern doch ein iPad." Aber so hatte ihr Gegenüber das natürlich nicht gemeint.

Philipp Daum: Klingt ein bisschen absurd.

Stelling: Stimmt, aber ich mag die Szene, weil sie von der Sehnsucht nach einer besseren, klassenlosen Gesellschaft handelt. Zumindest für die Kinder soll es eine heile Welt geben. Das ist der hilflose Versuch einer Umverteilung im Kleinen.

Philipp Daum: Und Ihre Bekannten haben Ihnen übel genommen, dass Sie darüber geschrieben haben?

Stelling: Ja. Ich hatte eine ganze Reihe von Gesprächen, in denen ich mich rechtfertigen musste. Die Leute haben mir alles Mögliche vorgeworfen: Geheimnisverrat, Verletzung von Persönlichkeitsrechten. Dass ich eine völlig einseitige Perspektive hätte. Dabei habe ich ja keine Reportage geschrieben, sondern einen Roman. Ich muss eine Romanhandlung und dessen Dialoge nicht autorisieren lassen. Es gab eine Mediation, die gescheitert ist, und seitdem bin ich nicht mehr gern gesehen im Haus. Ich wusste nicht, wie viel den Leuten an ihrem Selbstbild liegt. Und wie sehr es sie schmerzt, sich wiederzuerkennen und gleichzeitig falsch dargestellt zu sehen. Denn natürlich hat es die Nachbarin mit der Einheitsgeschenkidee nur gut gemeint! Natürlich war das ganz anders, als es im Roman dann rüberkam!

Philipp Daum: Warum hatten Sie das Bedürfnis, das zu schreiben?

Stelling: Ich kenne diese Sehnsucht nach einer gerechteren Welt ziemlich gut. Und ich habe sehr lange gebraucht, um zu begreifen, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist. Ich dachte: Ob ich es schaffe, hängt allein von mir ab. Inzwischen aber glaube ich, dass Klasse alles durchdringt. Dass der Kapitalismus die Welt in Gewinner und Verlierer unterteilt und die Menschen zu Opfern und Tätern macht. Dass der alte Brecht-Spruch tatsächlich stimmt: "Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich."

Philipp Daum: Wann haben Sie das gemerkt?

Stelling: Ich war sehr lange sehr naiv, wahrscheinlich bin ich es immer noch. Ich bin mit einer Clique aufgewachsen, in der alle in die Kreativbranche gegangen sind: Künstlerinnen, Schauspieler, Filmemacherinnen, so was. Irgendwann habe ich gemerkt: Wir machen zwar alle das Gleiche, aber nicht alle müssen davon leben. Also schon, aber manche müssen zum Beispiel keine Miete bezahlen. Die haben eine Eigentumswohnung von ihren Eltern oder sie werden irgendwann erben und müssen von ihren kläglichen Einkünften nicht auch noch vorsorgen. Sie können sich dieses Künstlerleben leisten. Eigentlich ist mir das mit voller Wucht erst aufgegangen, seitdem die Kinder da sind. 

Philipp Daum: Inwiefern? 

Stelling: Mir ist dadurch klarer geworden, wie ich selbst aufgewachsen bin. Ich bin im Grunde Aufsteigerin der zweiten Generation. Meine Eltern hatten wenig Geld, gleichzeitig war ihnen sehr wichtig, dass meine Schwester und ich eigene Zimmer haben. Also haben sie im Wohnzimmer geschlafen. Und mir selbst geht es jetzt genauso. Ich denke: Wenn das Kind kein eigenes Zimmer hat, dann ist das wirklich Unterschicht. Also gebe ich den Großteil meines Einkommens für die Miete aus und verzichte auf ein eigenes Zimmer, genau wie meine Eltern damals. Wenn ich das allerdings erzähle, kommt gerne der Einwand ...

Philipp Daum: ... das sind doch Wohlstandsprobleme?

Stelling: Genau. "Immerhin kannst du's dir überhaupt leisten, hier zu wohnen." Und: "Ach was, in Japan leben die Leute auf viel weniger Quadratmetern ..." Ich mag mir aber nicht von Leuten sagen lassen, was Luxusprobleme sind, die das, was sie als Luxusprobleme bezeichnen, selber gar nicht haben. (lacht) Das finde ich einfach doof.

Philipp Daum: Sie schreiben über den Prenzlauer Berg, der weit über Berlin hinaus für sein grünbürgerliches, linksliberales Milieu bekannt ist. Warum ignorieren ausgerechnet diese Leute die Klassenfrage?

Stelling: Es ist das Prinzip des Neoliberalismus, die Klassenfrage zu leugnen und zu behaupten: Jeder kann es schaffen! Und diese Vorstellung hat ja auch einen großen Reiz. Es ist einfach schön, kein Opfer zu sein. Die Erzählung des American Dream ist toll! Und sie ist außerdem eine Entlastung für diejenigen, die reich geboren sind. Weil dann nämlich alle, die wenig haben und es nicht schaffen, ja auch selbst daran schuld sind. Und diese Entlastung ist praktisch, wenn man Geld hat. Deswegen glauben viele Leute im Prenzlauer Berg an diese Geschichte.

Philipp Daum: Gehören Sie dort eigentlich noch dazu?

Stelling: Sicher, solange ich noch hier wohne, schon. Das Viertel ist ja auch viel weniger homogen, als es von außen scheint – trotz der steigenden Mieten und der Vertreibung durch die Gentrifizierung. Ich glaube, der Rest der Republik und die anderen Berliner Bezirke mögen das Klischee des Prenzlauer Bergs einfach sehr gerne. Und ich bin irgendwie zu dessen Chronistin geworden, zu einer, die es mal ausspricht und die Leute, die hier leben, auseinandernimmt. Aber ich bin selbstverständlich Teil dieses Milieus, auch wenn ich nicht an sein durchschnittliches Nettoeinkommen heranreiche. Ich will über ungleiche Verteilung und Voraussetzungen reden. Dass einige das als Angriff werten, nehme ich inzwischen in Kauf. Mir ist es wichtig.

Philipp Daum: Die Menschen, die Sie in Ihren Büchern beschreiben, sind sehr verschämt im Umgang mit Geld. Warum?

Stelling: Geld ist für alle, die ich kenne, mit Scham verbunden. Die, die Geld haben, schämen sich. Und die, die keines haben, auch. Es wäre am besten, es gäbe keines, oder alle hätten genau gleich viel und auch genau den gleichen Umgang damit. Dann könnten wir aufhören, die Unterschiede zu verschleiern.

Philipp Daum: Wie verschleiert man denn Unterschiede?

Stelling: Zum Beispiel durch Externalisierung: "Ja, die Wohnung haben uns unsere Eltern gekauft. Die wollten das unbedingt, die haben so ein Sicherheitsdenken." Oder: "Dass Aaron jetzt auf die Privatschule geht, finde ich selber ja doof, aber meine Schwiegermutter ist eben so drauf." Oder immer wieder: "Ja, kann sein, aber das machen doch alle." Und wenn ich antworte: "Das können doch gar nicht alle", dann bin ich irgendwann das wandelnde schlechte Gewissen der Leute mit Geld. Und was will man mit einem schlechten Gewissen? Man will es loswerden. Also kommen Argumente wie: "Du hättest ja Jura studieren können. Dann hättest du jetzt so viel Geld wie wir." Oder: "Du hättest hochheiraten können." Selbst meiner Romanfigur Resi, einer Schriftstellerin mit vier Kindern, gibt man solche Ratschläge!

Philipp Daum: Wie bitte?

Stelling: Bei einer Lesung in Potsdam. Da kam aus dem Publikum in der Fragerunde der Vorschlag, dass Resi, die Hauptfigur aus meinem Buch Schäfchen im Trockenen, doch einfach hätte Lehrerin werden können. Das sei doch ein schöner Beruf und auch viel leichter zu vereinbaren mit der Familie. Die Leute fangen an, für eine Romanfigur nach praktischen Lösungen zu suchen! Ist das nicht absurd? Um diese Scham und Ungerechtigkeit von sich wegzuschieben, überlegen sie: Was hätte die Romanfigur machen können, damit sie die Klappe hält!?

Philipp Daum: Frau Stelling, Ihre Eltern waren Buchhändler. Sie sind die erste in Ihrer Familie, die studiert hat. Wo fühlen Sie sich zugehörig?

Stelling: Hm. Dem Kreativprekariat? Ich habe kein Geld im Hintergrund und stark schwankende Einkünfte. Aber ich habe Bildungskapital, ich bin ja schließlich Diplomschriftstellerin. Und seitdem ich den Leipziger Buchpreis für Schäfchen im Trockenen bekommen habe, habe ich auch eine Menge Aufmerksamkeitskapital.

Philipp Daum: Viele sagen, Klasse bleibt kleben, man wird seine Herkunft nicht los. Merken Sie das auch?

Stelling: Ja, unbedingt. Ich bin durch die Erziehung meiner Eltern, durch ihr Leben, durch ihren Stand geprägt. Und deswegen traue ich dem Frieden auch nicht. Ich finde den Erfolg, den ich jetzt habe, alles andere als selbstverständlich. Ich besitze zwar momentan mehr Geld denn je, aber ich habe einen typischen Armutsumgang damit. Ich denke, ich muss dieses Geld so lange wie möglich behalten. Statt es zu investieren und zu noch mehr Geld zu machen, behandle ich mein Konto wie einen Sparstrumpf. Ich hoffe einfach, dass er dick bleibt.

Philipp Daum: Sie sind in Stuttgart in einem 68er-Haushalt aufgewachsen. Was haben Ihre Eltern Ihnen auf den Weg gegeben?

Stelling: Meine Eltern waren beide Buchhändler. Das ist ein 1-A-Beruf, um die Herkunft zu verschleiern. Der Buchhandel hat was Intellektuelles, obwohl es am Ende ums Verkaufen geht. Jedenfalls haben meine Eltern uns Kindern die Botschaft mitgegeben: Wir sind ganz nah dran an der besseren Gesellschaft. Und ihr werdet auf jeden Fall die sein, die es dann endgültig geschafft haben.

Philipp Daum: Eine Aufstiegsbiografie.

Stelling: Meine Mutter durfte nicht studieren, obwohl sie eine gute Schülerin war. Also war ihr wichtig, dass meine Schwester und ich auf jeden Fall studieren. Aber bei dem, was sie sich darunter vorgestellt hat, ging es, glaube ich, weniger um ökonomischen Aufstieg als um Selbstverwirklichung. Also darum, alles machen zu können, was man will und was die anderen auch machen können. Ich glaube, daher kommt meine Hybris. Dass ich wirklich dachte, ich könnte Künstlerin sein und davon leben. Meine Mutter hat mir das nicht geraten. Aber die Idee, dass es vor allem um Freiheit und Selbstverwirklichung geht, die Vorstellung, dass man ein Leben leben könnte, in dem Geld tatsächlich keine Rolle spielt ... Diese Idee hatten auch schon meine Eltern.

Philipp Daum: In Schäfchen im Trockenen wirft Resi ihren Eltern vor, zu viel über Träume gesprochen zu haben und zu wenig über Nebenkostenabrechnungen.

Stelling: Über Geld wurde auch bei uns zu Hause wenig gesprochen. Ich habe von meinen Eltern zwei Strategien übernommen. Meine Mutter hat mir beigebracht, dass man alles selbst machen kann, Kleider nähen, Sofas beziehen, Wände tapezieren. Und von meinem Vater weiß ich, dass man einfach behaupten kann, man würde das, was man sich nicht leisten kann, im Grunde gar nicht wollen. So wie der Fuchs in der Fabel von Äsop, der nicht an die Trauben rankommt: "Die sind mir zu sauer", sagt er, fertig. Mein Vater sagt: "Ich will gar keine größere Wohnung, ich brauche keine schönen Schuhe, und warum Fernreise, ich habe doch mein Seniorenticket vom Verkehrsverbund." Und das ist auch wirklich eine sehr gute Taktik!

Philipp Daum: Aber ...?

Stelling: Was, wenn es nicht mal mehr fürs Ticket und die Ein-Raum-Wohnung reicht? Oder wenn man krank wird. Bestimmte Sachen dürfen einfach nicht passieren. Ich war vor drei Jahren zum ersten Mal im Krankenhaus ...

Philipp Daum:  ... zum ersten Mal in Ihrem Leben? Vorher nie?

Stelling: Nee.

Philipp Daum: Nicht mal eine kleine Blinddarmoperation?

Stelling: Nee, nee, ich hatte nie was. Bei uns zu Hause war man nicht krank. Bei mir zu Hause auch nicht. Und da stellt sich doch dann schon die Frage: Warum eigentlich nicht? Weil man dann dem System hilflos ausgeliefert wäre. Wer kann sich ein Einzelzimmer leisten? Wer ist privat versichert? Wer wird vom Chefarzt operiert? Ich weiß das ja inzwischen alles. Aber ich umschiffe das elegant, indem ich einfach nicht krank werde.

Philipp Daum: Das klingt bitter.

Stelling: Je mehr mir das klar wird, desto schlimmer find ich es. Und deshalb verstehe ich jetzt auch, wie meine Eltern wahrscheinlich getickt haben: Sie haben sich das nicht eingestanden, als allerletztes vor uns Kindern. Ich habe inzwischen selbst drei Kinder, ich weiß, wie elend es ist, dieses "Du kannst alles schaffen" und "Du wirst's mal besser haben als ich" nicht weiterzugeben. Ich sehne mich oft in meine Kindernaivität zurück. Ich sehne mich nach der Do-it-yourself-Lüge, der Neoliberalismuslüge, der Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Lüge. Also, nein, ich mache meinen Eltern keinen Vorwurf. 

Philipp Daum: Haben die 68er grundsätzlich etwas falsch gemacht?

Stelling: Nein, die haben nichts falsch gemacht ... Die haben immerhin was probiert. Und ja auch was erreicht. Was den Wunsch nach einer anderen Gesellschaft betrifft, da waren sie wirklich vorne dran. Ich finde es billig, auf die 68er zu schimpfen, nur ... Nein, also, die Idee war echt gut. (kichert)

Philipp Daum: Das sagt man ja immer bei linken Projekten.

Stelling: Ja, genau. Und dann haut es wieder nicht hin, weil sich alle streiten und Vorwürfe machen. Genau wie ich. Und ich habe ja für Schäfchen im Trockenen dann auch Beifall von rechts bekommen.

Philipp Daum: Wie war das für Sie?

Stelling: Interessant. Es gab denjenigen recht, die mich für eine Nestbeschmutzerin halten. Die finden, dass ich linke Wohnprojekte schlechtmache und mich gegen antiautoritäre Erziehung wende und so weiter. Was gar nicht meine Absicht war. Im Gegenteil, ich dachte, ich diene den Ideen und Projekten, indem ich so viel von ihnen erzähle! Weil es doch genau um Auseinandersetzung geht. Aber dann ist da wohl doch mehr Ideologie im Spiel als geahnt. Und Ideologie verträgt keine Kritik. Aber Ideen müssen kritisierbar und veränderbar bleiben, man muss sie ausprobieren und infrage stellen dürfen. Bini Adamczak rät in Beziehungsweise Revolution, bei den drei Grundsätzen der französischen Revolution zu bleiben: Gleichheit, Freiheit und Geschwisterlichkeit. Aber nicht losgelöst voneinander. Nichts davon darf hinten runterfallen, sonst klappt es nicht mit der gerechteren Welt und dem besseren Leben.

Philipp Daum: Und was ist bei den 68ern hinten runtergefallen?

Stelling: Sie haben die Freiheit ins Zentrum gestellt. Aber Freiheit ohne Gleichheit führt zu Ausbeutung, und Freiheit ohne Geschwisterlichkeit zu Individualisierung.

Philipp Daum: Warum ist Berlin so ein Sehnsuchtsort für Ihre Generation geworden?

Stelling: Es ist eine echte Großstadt. Eine Spielwiese. Man kann sein und machen, was man will, und findet Gleichgesinnte. Das war das Versprechen, und das ist, glaube ich, heute noch so. Berlin macht alles mit. Und Berlin passt sich auch den sich verändernden Wünschen an. Viele sind ja aus dem Süden nach Berlin gekommen, weil sie großen Wert auf wild, laut und gefährlich gelegt haben. Und jetzt bekommen manche von ihnen, während sie älter werden, plötzlich Sehnsucht nach der Behaglichkeit einer süddeutschen Kleinstadt. Das ist hier auch drin. Auf dem alten Schlachthofgelände wurden vor ein paar Jahren Townhouses gebaut, wie in einer Reihenhaussiedlung. In Berlin kann man anders sein, ohne ausgegrenzt zu werden, und spießig sein, ohne es zugeben zu müssen.

Philipp Daum:  Wo wir von Spießigkeit reden: Wenn man hier aus dem Fester Ihres Schreibzimmers rausguckt, dann sieht man den Helmholtzplatz. Da laufen gerade viele kleine Kitakinder in gelben Westen vorbei. Ist doch auch ganz schön idyllisch, oder?

Stelling: Na ja, die Obdachlosenclique ist am Helmholtzplatz aber auch recht dominant.

Philipp Daum: Habe ich gar nicht mitbekommen.

Stelling: Nein? Schade, denn da ist der Platz echt stolz drauf. Weil: "Hier stimmt die Mischung noch!"

Philipp Daum: Warum legen Leute so viel Wert darauf, dass hier Obdachlose sind, denen es besser gehen würde, wenn man sich um sie kümmern würde?

Stelling: Das ist Armut als Folklore. Es geht nicht um die Menschen und ihre Lebensumstände, sondern um das Bild. Es ist schön, wenn ein paar Roma-Familien auf dem Nettelbeckplatz campieren und die Punks am Alexanderplatz sitzen. Das bestätigt, dass man nicht mehr in der süddeutschen Kleinstadt ist, sondern in Berlin. Zu Berlin gehören Obdachlose und Punks und Roma. Wichtig ist, dass sie sich im Rahmen halten – weil sie eben nur ein Bild sind. Die Obdachlosen hier am Platz können gerne ein bisschen rumgrölen, aber allzu betrunken sollten sie nicht sein. Und die Kinder der Roma-Familien sollen auch lieber nicht mit den eigenen Kindern zur Schule gehen, weil wie Schule aussehen soll, da gibt es dann schon wieder ein anderes Bild für.

Philipp Daum: Also, in diesem Milieu gibt es einen Wunsch nach Gleichheit ...

Stelling: ... und nach Toleranz. Toleranz ist extrem wichtig. Aber sie hat ihre Grenzen! Ein Migrant soll möglichst so sein wie man selber, nur halt Migrant. Dass der wirklich woanders herkommt und deshalb auch was anderes mitbringt, dass sein Freiraum meinen vielleicht berührt oder sogar beschneidet – das ist schwierig zu ertragen, wirklich. Denn dann geht es ja nicht mehr um mich und mein Bild von Diversität, sondern um den anderen und dessen Ideen. Da ist dann echte Toleranz gefragt, und die ist hart. Die kostet.

Philipp Daum: Sind da nicht die Leute ehrlicher, die in ihrem schwäbischen Reihenhaus bleiben und sagen: Klar will ich mich mit meinesgleichen umgeben, das ist leichter?

Stelling: Ja, bestimmt. Wobei: Die Berlin-Sehnsucht besteht ja eben in der Sehnsucht nach einem anderen Leben, einem freieren, aufregenderen, weniger engen Leben. Einem Leben mit möglichst vielen verschiedenen Menschen und Möglichkeiten. Wenn man das dann wirklich hat, entstehen Widersprüche. Dann merkt man, wie anstrengend das sein kann. Und dass man sich vielleicht nach etwas gesehnt hat, was man im Alltag gar nicht gut aushält. Und jetzt? Ehrlich wäre es, sich für das Reihenhaus in, weiß ich nicht, Trochtelfingen zu entscheiden. Aber die Sehnsucht bringt mich dazu, mich für das Reihenhaus mit Carport und Gasgrill zu entscheiden, das es auch im Neubaugebiet von Trochtelfingen gibt, aber nun eben auf dem Berliner Schlachthofgelände steht – weil ich dann sagen kann: "Hey, das ist immer noch Berlin."

Philipp Daum:  In Ihrem letzten Buch geht es auch um die Do-it-yourself-Lüge ...

Stelling: Für meine Großmutter und Mutter war die Mechanisierung des Haushalts ein echter Segen! Denn es ist vielleicht schön, mal zwischendurch die Hände in die Erde zu stecken oder Holunderblüten am S-Bahn-Graben zu sammeln und daraus Sirup zu kochen. Aber eine Familie wirklich nur von Selbstgekochtem und Selbsteingemachtem zu ernähren, das ist hart. Ich muss jetzt aufpassen, dass ich nicht zu böse werde, und ich finde ja auch nicht, dass industrielle Landwirtschaft oder Aldi die Lösung sind, aber diese Romantisierung von Handarbeit und Selbermachen geht mir echt auf die Nerven. Wenn ich wirklich jeden Tag kochen muss, finde ich billige Fertiggerichte plötzlich eine super Idee. Und wenn ich drei Stunden mit der Schaufel gegraben habe, fange ich an, von Baggern zu träumen. Die Überhöhung von Do it yourself lebt davon, dass man es halt nicht wirklich machen muss, nicht jeden Tag, nicht acht Stunden am Stück. Und dafür anderes auslagert.

Philipp Daum: Was meinen Sie?

Stelling: Woher nehme ich denn die Muße für die Achtsamkeit? Wer macht sich unfrei für meine Emanzipation? Ich meine Ausbeutungsketten wie die Care Chain. Die darf ich doch nicht leugnen, wenn ich wirklich ein besseres Leben will und behaupte, ich sei für Gerechtigkeit! Und ja, ich weiß schon, es gibt kein richtiges Leben im falschen und irgendwas kneift immer, aber dann neige ich halt dazu, übersprungsmäßig besonders radikal zu werden und meinen Kindern zu sagen, dass ab sofort alle Freunde, wo es zu Hause eine Putzfrau gibt, auf der roten Liste stehen.

Philipp Daum: Sie führen eine rote Liste?

Stelling: Nein, natürlich nicht! (lacht) Ich bin doch selbst hoffnungslos gefangen in Widersprüchen. Aber das Putzfrauenbeispiel ist halt so schön griffig: Wenn man findet, dass ruhig andere hinter einem selbst herräumen können, dann muss man jemanden finden, der das für einen tut. Also jemanden zwingen oder bezahlen. Ich kenne niemanden, der einfach so für andere putzt und hinter ihnen herräumt. Meine Kinder können ein Lied davon singen. Wehe, sie räumen nicht hinter sich her, wehe, sie vergessen, die Klobürste zu benutzen ...

Philipp Daum: Ich stelle mir das anstrengend für Ihre Kinder vor.

Stelling: Oh ja, ist es. Ich denke aber, dass es meine Pflicht ist, mit ihnen darüber zu reden, statt einfach eine Putzfrau anzustellen und zu sagen: "Lass ruhig stehen, Liebling, das macht Branka dann am Mittwoch." Vor allem kann ich nicht verstehen, wie man behaupten kann, es gäbe keine Klassengesellschaft mehr, solange man zu seinem Kind sagt: "Das macht Branka dann am Mittwoch!"

Philipp Daum: Warum schämt man sich in Ihrem Milieu dafür, eine Putzfrau zu beschäftigen?

Stelling: Da kollidieren Bequemlichkeit und Bewusstheit. Da beißt sich das Bedürfnis nach jemandem, der einem den Dreck wegmacht, mit dem Wissen, dass Frauen kein Sorge- und Saubermach-Gen besitzen und Leute mit dunkler Hautfarbe nicht die Diener derer mit heller Hautfarbe sind. Also kriegt man ein Rechtfertigungsproblem. Man muss zugeben: Ja, ich bin in der Position, jemanden für mich die Drecksarbeit machen zu lassen. Und dass ich die dann auch nutze, ist meine Entscheidung. Dafür bin ich tatsächlich verantwortlich.

Philipp Daum: Oder man denkt sich komplizierte Rechtfertigungen aus.

Stelling: Genau, deshalb ist es in meinem Milieu ja auch so wichtig, dass Branka immer gute Laune hat! Dass sie und ich die besten Freundinnen sind. Und es würde ihr, wenn ich sie nicht beschäftigen würde, ja noch viel schlechter gehen! Also schenke ich ihr mein abgelegtes Gucci-Kleidchen und werde Patentante von ihren Kindern ...

Philipp Daum: So was passiert tatsächlich?

Stelling:(zustimmendes Brummen) Mhmhm.

Philipp Daum: Sie kennen Leute, die ...?

Stelling: Von den Kindern ihrer Putzfrau, ja. 

Philipp Daum: Und das ist dann eine authentische Freundschaft?

Stelling: Tja, ich weiß nicht. Diese Leute würden sagen: Ja!

Philipp Daum: Und Sie?

Stelling: Ich würde sagen: Die Freundschaft hat vielleicht ein Gefälle. (lacht)

Philipp Daum: Frau Stelling, ist Deutschland heute mehr eine Klassengesellschaft als früher?

Stelling: Auf jeden Fall. Der Spitzensteuersatz ist gesunken seit Kohl, die Superreichen leben im Verborgenen und werden immer reicher, es gibt keine Sozialwohnungen mehr, es wird alles verscherbelt, die Privatisierung ist fortgeschritten, man kann nicht mal mehr Kaufhaus-Verkäuferin werden, weil es Kaufhäuser ja auch schon nicht mehr gibt, man kann nicht mehr von seiner Hände Arbeit leben, aber was anderes als Hände haben viele nicht, und auch die Chancen für Kinder aus bildungsfernen Haushalten haben sich nicht verbessert, und die Schwimmbäder schließen und ... (lacht verzweifelt)

Philipp Daum: Es gibt dieses Argument, dass die politische Linke verlernt hat, über Klasse zu reden und sie durch Identitätsdebatten ersetzt hat.

Stelling: Ich weiß, und ich verstehe das nicht. Als könnte man nur eines machen. Als gäbe es keine Mehrfachdiskriminierung. Und ja, die macht es jeweils kompliziert, aber es hilft ja nichts. Jeder Mensch hat Identitätspolitik nötig. Diesen ganz normalen, biodeutschen, straighten Mann, der einfach nur Anerkennung dafür sucht, dass er so hart arbeitet und nicht genug verdient und dazu dann noch furchtbar unter der Identitätspolitik für Homosexuelle und Frauen und Geflüchtete und so weiter leidet, den halte ich für ein Phantom.

Philipp Daum: Aber angenommen, Sie müssen jetzt aus der Berliner Innenstadt nach Marzahn oder Ahrensfelde ziehen, so wie Resi in Ihrem Roman ...

Stelling: ... dann treffe ich diesen Mann, ja ja. Aber ich glaube nicht so richtig an ihn. Also, es mag ihn ja geben und alles, aber vor allem wird dieser kleine Mann andauernd von Menschen beschworen, damit sie sich nicht mit ihren eigenen Vorurteilen beschäftigen müssen. Nee, nee. Wenn, dann bin ich selbst dieser kleine rassistische Mann.

Philipp Daum: Sind Sie?

Stelling: Ich suche seit Ostern nach einer neuen Wohnung. Und in dem Moment, an dem ich mich gegen fünfhundert Mitbewerber durchsetzen muss, denke ich: Was könnte wohl mein Vorteil sein? Puh, also immerhin habe ich einen deutschen Namen. Und diesen Vorteil werde ich jetzt nutzen, Gott sei Dank hat sich diese scheiß Identitätspolitik noch nicht durchgesetzt! Ich glaube: Abwertungen entstehen aus Bedrängnis. Die Bedrängnis macht uns zu Schubsern und zu Stänkerern, und die Bedrängnis hat ganz konkrete Ursachen. Man muss etwas gegen diese Bedrängnis tun, aber ich bin einfach nicht bereit, Probleme zu hierarchisieren. Der Transgender-Mensch, dem mit Unisextoiletten geholfen wäre, soll sie doch bitte haben.

Philipp Daum: Gibt es denn irgendetwas, das Ihnen politisch Hoffnung macht?

Stelling:(lange Pause) Nee. (lacht) Nee, ich habe Angst vor der Zukunft. Ich glaube, dass das alles ganz übel endet. (lacht leiser)

Philipp Daum: Ok, dann hören wir pessimistisch auf.

Stelling: (lacht) Ja. Aber dann denke ich wieder: Das ist doch gelogen! Denn wenn ich das wirklich so sehen würde ... dann könnte ich mir ja auch gleich die Kugel geben.



Aus: "Anke Stelling: "Klasse durchdringt alles"" Interview: Philipp Daum (15. Februar 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/mittelschicht-anke-stelling-schaefchen-im-trockenen/komplettansicht (https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/mittelschicht-anke-stelling-schaefchen-im-trockenen/komplettansicht)

QuoteFriedenstaube2019 #3

Ich finde dieses Interview unheimlich anregend und ich kann vieles als grünes Mitglied auch bestätigen. Man ist verbaler Antirassist, für Bildung usw. Aber mit der ökonomischen Ungleichheit, mit den Gesetzmäßigkeiten der Umverteilung nach oben beschäftigt man sich nicht, das könnte zu kritisch werden. Stattdessen beschäftigt man sich intensiv mit ökologischen Fragen und ignoriert dahinter liegende ökonomische Probleme und Ursachen. Diese Naivität wird sich noch rächen, wenn nämlich auch grüne Politik den Armen kein bisschen Hoffnung gibt, aus dem zerstörerischen Leben in Armut rauszukommen. Dann kommt der offene Faschismus und der Wirtschaft ist das egal, man kooperiert ...


QuoteDonez #3.1

... Was mich ja wirklich umgefräst hat, ist der Vorwurf der "Nestbeschmutzung" an die Adresse dieser Schriftstellerin. Man erträgt die Konfrontation mit der eigenen Verlogenheit nicht und grenzt die Kritikerin aus. Als ich jung war, ging der Vorwurf der "Nestbeschmutzung" an die Adresse der jungen Leute, die sich mit der Nazi-Vergangenheit befaßten. Das finde ich erschütternd. Wir haben wieder ein echtes bürgerliches Spießertum, welches in seinen Lebenslügen wohlig eingerichtet ist und die Wahrheit mit der gleichen Beschimpfung zurückweist wie ehedem die Altnazis.


Quoteah-jun #5

"Es ist das Prinzip des Neoliberalismus, die Klassenfrage zu leugnen und zu behaupten: Jeder kann es schaffen!"

Das wurde uns seit vielen Jahren ständig eingebleut und viele haben es verinnerlicht.
Zur weiteren Ablenkung vom sozialen Problem dient aktuell die Identitätsdebatte.


QuoteKönigX #5.1

Natürlich kann es jeder schaffen, aber nicht alle. Problem ist, andere Systeme hat man auch probiert und die sind noch schlimmer gescheitert.


QuoteinsLot #7

Das Problem des Freundeskreises dürfte vor allem darin liegen, dass die Wahrnehmung von innen heraus im Wesentlichen die Gleiche ist, wie sie sich den Menschen im ländlichen Raum von außen betrachtet darstellt. Sind die Vorwürfe von außen noch leicht abzutun, wird es von innen heraus bedeutend schwerer. Denn da handelt es sich ja um einen Insider! ...


Quoteder_joerg #8

"Ich würde sagen: Die Freundschaft hat vielleicht ein Gefälle. "

Der war gut, ...


QuoteWellenreiterin #12

Wie wahr sie schreiben, Frau Stelling. Für die gentrifizierten Altbaustadtteile in
Hamburg gilt so ziemlich genau das gleiche: Ottensen, Eimsbüttel, St. Georg. Es ist chic und hip, dort zu wohnen, aber nur für die Klasse der "Vermögenden", die sich auch noch als die Crème der Grünen Intelligenzia und kulturell Toleranten verstehen, aber nur zur Bewahung ihrer eigenen Privilegien unterwegs sind. Sie lügen sich in die eigene Tasche und den Tolerierten Minderbemittelten ins Gesicht.


Quoterumbati #17

Anke Stelling, eine Offenbarung,

in einer Gesellschaft, die tagein tagaus damit beschäftigt ist, sich selbst und anderen in die Tasche zu lügen, damit ihr kleines, banales und miefige Leben einen Sinn macht. ...


QuoteJadoo6 #18

Nur mal so neben bei, Berlin ist nicht Deutschland. Berlin ist eben auch nicht die Welt. Wer sich "grün-liberal" gibt, muss kein "Grüner" sein. Und liberal sein wollen heisst nicht liberal sein. So ist Lindner eher ein libertärer Ideologe als ein Liberaler. Und die Ideale einer bürgerlichen Republik heißen Freiheit (von Adligen und Geldadel), Gleichheit (vor dem Gesetz und bei Wahlen) sowie Solidarität (Gemeinschaft als Stadt, Gemeinde, Dorf oder eben auch Kirchengemeinde übertragen au Staatsebene). Diese Ideale galten den Monarchisten und Autoritaristen deshalb immer als liberal. Falsche Toleranz war noch nie wirklich liberal, die Ideologie der grenzenlosen individuellen Freiheit schon immer nicht liberal sondern eher libertär (Recht des Reicheren bzw. Stärkeren).

Selbst-Optimierung hat ebenfalls nichts mit liberaler Grundhaltung zu tun, sondern mit den sog. Zeitläuften und seinen Moden.

Und am Ende: es gibt auch Tübingen, Darmstadt, Münster, Hamburg, München, Stuttgart sowie viele kleine Gemeinden auf dem Land.

Das Interview verweist auf sehr persönliche Erfahrungen und Animositäten. Nicht mehr und nicht weniger. Die Pauschalisierung hier im Forum unter einigen Foristen sind schon selbst peinlich und auch eher selbst besserwisserisch.


QuoteBianca Vormbrock #21

Ein interessantes Interview, sympathisch auch, dass die Autorin vieles noch mit Humor nimmt. Irritiert hat mich, dass Frau Stellung so spät bemerkt hat, dass Deutschland eine Klassengesellschaft ist. ...


QuoteWadenkrampf #23

Ich bin tief beeindruckt von Frau Stellings Ehrlichkeit. Sie beschreibt im Interview ein ach so tolerantes Milieu kleiner Selbstdarsteller, das ich gerne als das Unter-den-Teppich-Kehr-Milljöh bezeichne, weil schnell Leute schief angesehen werden, die kritische Fragen stellen oder Dinge in einem unangenehmen Zusammenhang auf den Tisch bringen. Auch ich erlebe oft eine zweigeteilte Welt in meinem Umfeld. Die mir sympathischeren gestehen sich ihre eigenen Unfertigkeiten ein, arrangieren sich mit den Gegebenheiten des Lebens, und kämpfen auch für kleine Fortschritte. Die mir nicht immer sympathischen kleben allzu oft an irgendwelchen Lebenslügen und verwechseln manchmal mutige Toleranz mit feiger Gleichgültigkeit. Aber da beides äußerst menschlich ist, habe ich gelernt damit zu leben.


QuoteTordenskjold #25

Sehr geehrte Frau Stelling, Ihre Beobachtungsgabe und Ihre Fähigkeit das Beobachtete kurz und pointiert wiederzugeben ist beeindruckend. Sie legen gleich mehrere Finger in die offenen Wunden des (vermeintlich) linken Bildungsbürgertums. Sie zeigen auf Widersprüche, die man nicht wegdiskutieren kann.

Das schmerzt, denn als Sozialdemokrat entdecke ich solche Widersprüche auch bei mir selber. Mal musste ich beim lesen lachen und zustimmend nicken, mal fühlte ich mich auch durchaus ertappt. Und ich erkenne in Ihren Beobachtungen Freunde, Nachbarn und Bekannte. Und manchmal mich selbst.

Bei vielen sehe ich auch, dass sie sich für Toleranz und Naturschutz und alles mögliche Gute einsetzen, dabei aber nicht verstehen, dass viele Probleme im Kern auf einen marktradikalen Neoliberalismus zurückzuführen sind. Wer von seiner Arbeit kaum leben kann, der hat weder Zeit noch Geld sich schöne manuelle Oma-Küchengeräte bei Manufactum zu kaufen und der kann sich auch nicht immer Bio leisten.
Auf diese Menschen schaut die Klasse der linken Aufsteiger gern herab. Sie kritisieren ein System, von dem sie selber profitieren und an dessen Wesenskern sie nichts ändern wollen. Umweltschutz hat auch viel mit sozialer Gerechtigkeit zu tun. Man muss ihn sich leisten können. Das ist der Grund, warum ich mich noch nie für die Grünen erwärmen konnte. Erst kommt das Fressen...


Quotesummerquilt #63

Klasse Interview und eine Klasse Frau. Ich musste auch manchmal lachen und manchmal leiser lachen. ...


Quotecdiekhoff #68

Ich kenne die beschriebenen Milieus alle aus eigener Anschauung, vom verzweifelten Aufsteigertum bis zum verbohrten Hipstertum. Es ist alles so, wie die Autorin es beschreibt - und noch viel schlimmer. Hinzuzufügen sei, dass es inzwischen in anderen Großstädten genau dasselbe gibt. Auch in anderen europäischen Großstädten. Es ist eine neue Klassenfrage.  ...


QuoteKarf #70

Ein Blick auf ein Kernproblem unserer ganzen Gesellschaft, verdichtet im "Brennpunkt" Prenzlauer Berg. Danke für das Interview.


...
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 04, 2021, 01:03:01 PM
Pathetisch gesagt: Wir haben die abgespaltene Emotionalität zurückerobert.

Quote[...] taz FUTURZWEI: Lieber Herr Professor Sloterdijk, wir haben hier einen Brief von enttäuschten Lesern, die sich abwenden von dem, was wir als Vernunft verstehen, und zu den Corona-Protesten konvertieren. Wenn man das liest, denkt man, sie konvertieren von sich selbst zu etwas anderem. Uns interessiert, wie es genau funktioniert, dass angesichts einer krisenhaften Entwicklung Leute so wegkippen oder die Seite wechseln. Dem Sozialpsychologen fällt nichts dazu ein. Deshalb fragen wir den Philosophen.

Peter Sloterdijk: Ich fürchte, der Philosoph als solcher ist auch nicht imstande, hierauf sinnvoll zu antworten. Ich dürfte höchstens aus meiner eigenen Biografie schöpfen und mich daran erinnern, dass es in meiner Lebensgeschichte eine Periode gab, in der ich prekäre Erfahrungen gemacht habe, die ich nicht missen möchte, aber auch nicht festhalten konnte: das Glück, einer Sekte anzugehören, die im Besitz einer alternativen Wahrheit zu sein glaubt.

FUTURZWEI: Sie lebten um 1980 in dem Meditationszentrum des Bhagwan Shree Rajneesh im indischen Pune. Was suchten Sie?

Peter Sloterdijk: Damals gab es eine Phase, als bei uns die marxistisch codierten Rechthabe-Gefühle gegenüber dem Lauf der Welt am Verblassen waren, aber die Bereitschaft für eine alternative Wahrheit immer noch aktuell blieb, ob sie aus Indien kam oder von einem anderen Ende der Welt. Diese Neigung zu einer Konversion gegen das Gewöhnliche, so scheint mir, liegt auch heute wieder in der Luft. Jetzt wie damals wollen viele nicht glauben, dass die Vernunft bei der Mehrheit ist.

FUTURZWEI: Muss sie das denn?

Peter Sloterdijk: Nun ja. Lässt man sich auf die Annahme ein, dass Wahrheit auf die Dauer etwas mit Zustimmungswürdigkeit zu tun hat, so sollte es nicht falsch sein, wenn die Wahrheit sich um Mehrheit bemüht.

FUTURZWEI: Sind Sie damals auch aus der gesellschaftlichen Realität der späten 1970er-Jahre in eine alternative Wirklichkeit gewechselt?

Peter Sloterdijk: Nachdem das Wort »alternativ« so vergiftet ist, würde ich es anders ausdrücken. Die Fluchttendenz der späteren 70er-Jahre wies ja seltsamerweise in die Hauptrichtung der sozialen Entwicklung, sprich: Vermehrung der Freiheitsgrade, sexuelle Emanzipation, erhöhte Aufmerksamkeit für weibliche Werte. Was scheinbar als Orientalismus begonnen hatte, sollte sich als Vorschule zum kosmopolitischen Empfinden erweisen. 30 Jahre später wurde vom Mainstream eingeholt, was anfangs ins Abseits oder auf den Weg nach innen geführt hatte. Insofern hatten wir Poona-Reisenden Glück: Wären wir nicht vom Hauptfeld geschluckt worden, hätte sich die sektiererische Abspaltung vertieft. Das gilt vermutlich für die Vorhut meiner Generation insgesamt: Die 68er-Bewegung hatte die Form einer Sekte, die ironischerweise in den Mainstream mündete.

FUTURZWEI: Was ist denn damals mit Ihnen passiert?

Peter Sloterdijk: Mein Wechsel in die andere Wirklichkeit hatte damit zu tun, dass damals ein »alternatives« Wahrheitsverständnis aufgekommen war, vor allem dadurch, dass eine emotionale Komponente in die diskursiven Wirklichkeitsauffassungen eindrang. Die Sekte diente damals als ein Medium der emotionalen Vervollständigung. Pathetisch gesagt: Wir haben die abgespaltene Emotionalität zurückerobert. Mit bloß akademischen Mitteln, aber auch mit den Mitteln der traditionellen Psychoanalyse hätten wir sie nicht wiedergewinnen können. In den 70er-Jahren herrschte in der Subkultur eine gruppentherapeutische Euphorie. Die gipfelte in der Überzeugung, dass die Wahrheit im Gefühlsausbruch liegt und dass zur Authentizität eine gewisse Heftigkeit gehört.

FUTURZWEI: Das endete aber nicht zwangsläufig im Irrsinn.

Peter Sloterdijk: Sicher nicht. Doch warum? Weil wir damals in den inneren Grenzgängen den Unterschied zwischen Katharsis und Ausagieren kennenlernten. Wutausbrüche und Tränen sind manchmal Vorstufen zur Unterlassung von Verbrechen. Dadurch, dass die sektiererische Therapie- und Meditationsszene von damals eine Bewegung der menschlichen Vervollständigung war, musste sie eben nicht zur Abspaltung von der Gesamtgesellschaft führen. Diese Avantgarde-Idee, die damals mit einem gewissen Sektarismus verknüpft war, bedeutete ein Privileg, das Menschen in den 70er-, 80er-Jahren wahrnehmen konnten. Ich zähle mich zu den Begünstigten. Heute sehe ich hingegen mit Unruhe, dass auch viele Leute, die nicht zu denen mit den primitivsten Reflexen gehören, aus dem Gesprächszusammenhang der größeren Gesellschaft herausspringen, um ihre Wahrheiten nur noch subkulturell zu definieren. Diese Sezessionen zeigen eine riskante Dynamik auf. Man weiß nicht, ob diese Leute jemals zurückkommen.

FUTURZWEI: Versuchen Sie doch bitte eine Annäherung, was da genau passiert.

Peter Sloterdijk: Ich weiß nicht, wie die Matrix zu beschreiben wäre, aus der sich die sektiererischen Konversionen unserer Tage erklären ließen. Das allgemeine Schema von Krisenstress und Durchbruchsfantasie dürfte auch auf sie anwendbar sein. Hermann Broch hatte von den späten 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts an seine »Massenwahntheorie« formuliert, die ich in den 80er-Jahre studierte. Broch wusste, wovon er redet, er hatte die aufgepeitschten Massen der NS-Zeit vor Augen, und seine Faschismustheorie ist aktuell geblieben. Seiner Auffassung nach sind moderne Gesellschaften großformatige Ensembles in präpanischer Erregung, die unter dem Eindruck von Krisenstress mehr oder weniger plötzlich in akute Panikzustände versetzt werden können. Demnach wäre Panik der Stoff, aus dem die irrationalen Masseneffekte sind. Kollektivpaniken manifestieren sich in Massenflucht durch enge Ausgänge oder in der Zuflucht zu einem Retter. Der trägt das Mandat, das Volk wieder groß zu machen, indem er die befreiende Katastrophe herbeiführt.

FUTURZWEI: Werden die Leute, die jetzt abspringen, irgendwann wieder zur rationalen Betrachtung der Lage zurückfinden?

Peter Sloterdijk: Wenn ich Brochs Schema auf die aktuellen Verhältnisse in den USA anwende, sehe ich ein großes Segment der Population, das auf der Schwelle vom präpanischen zum panischen Zustand schwankt. Nachdem die panische Vorhut, die das Kapitol stürmte, zurückgeschlagen wurde, ist zu vermuten, dass zahlreiche Unterstützer sich zu milderen Formen von Sektarismus rekonvertieren werden. Auch fanatische Trumpianer werden wahrscheinlich nicht in der Dauerverrücktheit stehen bleiben. In Amerika sind die verschiedenen Formen des Irrationalismus sehr durchlässig und können jederzeit in weniger heftige Ausprägungen übergehen. Man weiß zum Beispiel, nicht alle, die sich bei Ron Hubbard und seiner Science-Fiction verhakt hatten, sind dabeigeblieben, obwohl man ihnen den Ausstieg schwer machte. Wer abfällt, kann sich dort drüben ziemlich leicht in mildere Formen des evangelikalen Separatismus einordnen.

FUTURZWEI: Die Frage ist doch, ob ein der Realität angemessenes wirtschafts- und klimapolitisches Rahmenprojekt überhaupt Konsens werden kann. Vielleicht sind die Lösungen für die aktuellen Probleme zu komplex, um populär zu werden, weswegen Radikalisierung und Irrsinn zunehmen.

Peter Sloterdijk: Eine Radikalisierung geschieht besonders in dem Augenblick, wo jemand sich selbst zum Medium des Zeitgeistes proklamiert, sagen wir etwa im »Modus Greta«. Radikalisierung liegt immer in der Luft, wenn Menschen die Flucht »aus der Angst in die Ekstase« vollziehen, um den Titel der bekannten klinischen Studie von Pierre Janet aus den 1920er-Jahren zu erwähnen.

FUTURZWEI: De l'angoisse à l'extase. [Von der Angst zur Ekstase. ... De l'angoisse à l'extase: études sur les croyances et les sentiments
Buch von Pierre Janet 1926]

Peter Sloterdijk: Konversionen sind für die kommenden Jahre und Jahrzehnte massenhaft zu erwarten; es ist sehr wahrscheinlich, dass immer mehr Menschen aus der Angst in die Ekstase aufbrechen, beziehungsweise aus der Ratlosigkeit in die Mission. Menschen als sinnsuchende Wesen sind leicht dazu zu bewegen, sich als Träger einer Mission zu verstehen, sobald sie spüren, wie der Appell eines Großproblems durch ihr eigenes Leben hindurchläuft.

FUTURZWEI: Wobei Greta Thunberg eine Zuwendung zu rationaler Politik repräsentiert und gerade nicht eine Abwendung.

Peter Sloterdijk: Sie wechselt aus der pubertären Ohnmacht in eine Ergriffenheit, aus der ihre Mission entspringt.

FUTURZWEI: Aber auf einer rationalen Grundlage: dass nur globale Politik in der Lage ist, die globalen Probleme zu lösen.

Peter Sloterdijk: In jeder Epoche werden andere Aufstiege in erweiterte Horizonte ausprobiert. Nach der Französischen Revolution führten die zeitgemäßen Konversionen regelmäßig zu liberalen oder zu sozialistischen Positionen. Wem dieses starke Entweder-oder zu anspruchsvoll schien – denn Liberalismus ohne Selbstlosigkeit ist ebenso undenkbar wie Sozialismus –, der konvertierte eher zur Nationalität und fand in der Behauptung des eigenen Kollektivs seine Mission. Was man als eine betrügerische Form der Selbstmission betrachten kann.

FUTURZWEI: Inwiefern?

Peter Sloterdijk: Dass man für das, was man durch Geburt sowieso ist, auch noch Partei ergreift, als ob die chauvinistische Selbstvergrößerung etwas Höheres sei. Dabei hatte der selige Nicolas Chauvin, der unter Napoleon diente, noch seine 17 Verwundungen, mit denen er prahlen konnte.

FUTURZWEI: Unsere Grundfrage lautet: Werden die Leute wirklich irre im Sinn einer Pathologie oder haben diese Formen von Wahrheitssuche im »alternativen« Bereich andere Ursachen? Sie haben jüngst in einem Essay über den »Zynismus des Pöbels« gesprochen und ihn als Reaktion auf den »Zynismus der Eliten« gedeutet. Zynischer Pöbel, das wären in den USA die Leute, die das Kapitol in Washington stürmen, bei uns sind es die Corona-Leugner, die keine Lust mehr haben, die Maske aufzusetzen, weil sie meinen, auf andere keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen, nachdem die anderen, scheinbar, auch keinerlei Rücksicht auf sie nehmen.

Peter Sloterdijk: Die Bilder vom Sturm aufs Kapitol werden uns noch eine Weile beschäftigen. Ich bin überzeugt, dass es keineswegs nur Unterschicht-Individuen waren, die sich da zusammengefunden haben. Es waren akademische Personen dabei, auch Militärs, Millionärssöhne und Staatsfeinde aller Couleur. In den USA läuft gerade eine interessante Diskussion darüber, ob es nicht »abwärtsmobile Intellektuelle« sind, zum Teil mit PhD – früher hätte man sie »deklassiert« genannt, die sich in den gegen den Konsensus meuternden Gruppen hervortun, weil sie dort Sprechrollen finden, wie sie sie als Hochschullehrer oder als Beiträger zu Feuilletondebatten nie und nimmer wahrnehmen könnten. Man sollte, scheint mir, solche Ereignisse immer auch mit dem Zynismus des geschulten Berufsberaters betrachten. Die Krise ist eine große Arbeitgeberin, und aus dem ideologischen Chaos entspringen immerzu wilde Karrieren, in die man nur im Modus der Selbsternennung gerät.

FUTURZWEI: Wenn ich bei der CDU nix geworden bin und zur AfD gehe, kriege ich dort eine beachtliche Rolle. Bekehrungen dieser Art sind sichtlich interessengeleitet. Aber es gibt unleugbar auch einen Teil der Gesellschaft, der es aufgegeben hat, an die Vertretung seiner Interessen im etablierten Parteienspektrum zu glauben. Der möchte jetzt einfach nochmal auf die Kacke hauen. Das ergibt seine alternative Wahrheit.

Peter Sloterdijk: Also hätten wir es nicht mit Wahrheitsuchern zu tun, sondern Wahnsinnssuchern, mit Krawallisten im Alternativengewand. Man kann das mit den grellen Posen in der Popkultur vergleichen. In der Multioptionsgesellschaft ist ein wenig Wahnsinn ein Geschäftsmodell. Man kommt vermutlich analytisch weiter, wenn man bei Phänomenen dieser Art eine Variante von politischem Existenzialismus als Deutungsschlüssel ansetzt, als wenn man beim Einzelnen tiefenpsychologische Motivforschung betreibt. Erweckungen gehören zu den elementaren Risiken von Lebensläufen, sie finden zu den ungewöhnlichsten Zeitpunkten statt. Oft geschehen sie zu Zeiten, wenn der äußere Druck zunimmt. Sektenforscher konnten zeigen, dass der Zustrom zu islamischen Gruppen sich verdoppelt, sobald die antiislamische Repression kulminiert.

FUTURZWEI: Das heißt?

Peter Sloterdijk: Das heißt, es gibt eine Dynamik der Gegenidentifikation. Wer der Mehrheit beitritt, löst sich auf. Mehrheit ist eine fade Bouillon. Meistens traut man sich nicht genügend Kompaktheit zu, um sich nicht in der Normalbrühe aufzulösen. In der Minderheit behält man Kontur. Wer verneint, spürt sich mehr. Im Übrigen muss man in diesem Zusammenhang auch an alte Soldatenweisheiten erinnern. Eine davon lautet: Noch immer hat der Krieg seinen Mann ernährt. Das heutige Äquivalent zum Krieg ist die andauernde Krise, auch die sorgt für die Ihren.

FUTURZWEI: Eine Sache, die auffällt, bei allem, was Sie schreiben oder in Interviews äußern: Die Medien, sagen Sie, sogar die Qualitätsmedien, seien Betreiber und Verstärker der Irrationalität. Weil das deren Geschäftsgrundlage ist?

Peter Sloterdijk: Ohne Zweifel. Die Medien sind in funktionaler Sicht Partner des Unfalls, des Verbrechens, des schlimmen Gerüchts. Sie bewirtschaften Ereignisse und Katastrophen. Die kurzfristige Katastrophenpublizistik hat naturgemäß einen irrationalen Anteil. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, die Medien kooperierten allesamt mit dem Irrsinn. Aber denken Sie an die Resonanz auf einen Terroranschlag im eigenen Land oder innerhalb der Europäischen Union: Regelmäßig wird jeder Angriff im Maßstab von eins zu einer Million vergrößert, bis sich alle bedroht glauben. Dabei sollte man längst wissen, dass Terrorismus eine Kommunikationstechnik ist, die nur funktioniert, wenn sie mit medialen Multiplikationen rechnen darf. In Lenins Dekreten über den roten Terror von 1918 wird verordnet, dass die Publikation der Listen der von Revolutionären Ermordeten in einem Umkreis von einhundert Werst bei denen, die als Nächste dran sein könnten, Furcht und Zittern bewirken muss.

FUTURZWEI: Sie haben gesagt, was sich als Information ausgibt, ist in der Sache oft nichts anderes als Erregung, Vergiftung und Zerstörung der öffentlichen Urteilskraft.

Peter Sloterdijk: Das kann man im Hinblick auf viele Abläufe bestätigen. Die Verknüpfung zwischen der Epidemiologie und der Semantik wurde übrigens schon durch Jean Baudrillard vor einem halben Jahrhundert hergestellt. Demnach soll man bei jeder Nachricht neben dem Content auch die emotionale Ladung in Betracht ziehen, weil sie es ist, die für die Ausbreitung sorgt. Nachrichten sind Vektoren, sie sind erfolgreich, wenn sie informatische Epidemien auslösen. Das moderne Nachrichtenwesen vollzieht sich im Modus von künstlichen Epidemien, die binnen 24 Stunden Millionenpopulationen infizieren. Ohne die Ansteckungsfaktoren können emotionale und thematische Synchronisierungen größerer Populationen nicht gedacht werden. Gelegentlich findet auch effektive Information statt, denn im Wettstreit zwischen dem Mitteilungswert und dem Erregungswert einer Nachricht kann gottlob so etwas wie Lernen und Abklärung geschehen. Wäre es anders, blieben uns nur Verhetzung und Verrücktmacherei.

FUTURZWEI: Abgedriftete Milieus lassen aufklärerische Informationen nicht mehr an sich heran.

Peter Sloterdijk: Das finde ich sehr beunruhigend. Auch die Tatsache, dass Trump hartnäckig den Wahlsieg reklamierte, spricht dafür, dass er nur noch den Spiegelungen seiner Fiktionen begegnete. Für Tatsachen gab es in seinem Weltbild keinen Platz mehr.

FUTURZWEI: Für knapp die Hälfte der Wählerschaft in den USA, 74 Millionen Menschen, scheinen unsere Rationalitätskriterien also nicht mehr konsensfähig. Aus historischer Sicht beobachten wir in den totalitären Systemen genau diesen Effekt: Was wir als moderne Demokraten als vernünftig verstehen, wird völlig suspendiert, und eine andere Form von kollektiver Wahrheit wird etabliert. Insofern ist die Frage nach dem Irresein letztlich auch eine Frage nach dem Verhältnis von Mehrheit und Minderheit. Bei einer knappen Minorität von 74 Millionen wird es schwierig.

Peter Sloterdijk: Wer heutzutage auf eine reine Konsensus-Theorie der Wahrheit setzen wollte, gerät in eine etwas problematische Situation, vorsichtig gesprochen. Der Konsensus ist offenbar nicht imstande, sich dem Schwerefeld des Wahns zu entziehen.

FUTURZWEI: Damit rühren wir an einem heiklen Punkt der Gegenwart.

Peter Sloterdijk: Aber auch an einem heiklen Punkt der Vergangenheit. Denken Sie daran, dass im 17. Jahrhundert jeder dritte Spanier sich entschlossen hatte, in einen Orden einzutreten. Was verrät, wie sehr die Lebensperspektiven für die meisten Menschen auf der Iberischen Halbinsel jener Zeit versperrt waren. Der Aufbruch in die Neue Welt, die man gerne mit der spanischen Seefahrt verbindet, war nur relativ wenigen zugänglich.

FUTURZWEI: Worauf wollen Sie hinaus?

Peter Sloterdijk: Das war die höchste Blütezeit der spanischen Kultur, die Wendung »Siglo de Oro«, Goldenes Jahrhundert, klingt uns ja immer noch in den Ohren. Gleichzeitig war der Faktor kollektiver Verrücktheit so immens wie später kaum jemals wieder. Um das an einem prominenten Beispiel zu erläutern: Würde uns Isaac Newton heute über den Weg laufen, auch er ein Geschöpf des 17. Jahrhunderts, würden ihn die meisten für einen illuminierten Verrückten halten. Seine Biografen berichten, dass er ein paar Hundert Bücher mit naturwissenschaftlichen Titeln besaß, der Schwerpunkt seiner Bibliothek bestand aber aus esoterischen Büchern, deren Inhalt wir längst als Hokuspokus betrachten. Sobald Newton der Mathematik den Rücken kehrte, schwelgte er in Irrationalismen. Wahrscheinlich neigen wir dazu, den Verrücktheitsindex für kollektive Zustände in der Vergangenheit zu unterschätzen und für die gegenwärtige Zeit zu überschätzen.

FUTURZWEI: Wenn wir uns der Gemeinde der modernen Vernunft zurechnen würden und bestimmte Rationalitätsunterstellungen machen, dann stellt sich angesichts der Hälfte der amerikanischen Wählerschaft doch die Frage: Trägt denn das noch, wozu wir uns bekennen? Oder stehen wir als selbsternannte Vernünftige längst mit dem Rücken zur Wand? In einem Essay zum Brexit im Handelsblatt haben Sie vor Kurzem einige diagnostische Denkfiguren vorgeschlagen: Sie deuten den Populismus als Aggressionsform der Simplifikation und die Demokratie als Ernstfall der Epidemiologie. Was heißt das?

Peter Sloterdijk: Wir sehen die Flammenschrift an der Wand doch schon seit längerer Zeit. Bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich vom April 2017 haben in der ersten Runde mehr als 41 Prozent der Wähler für links- und rechtsradikale Wahnsysteme votiert, die unter den Namen Le Pen und Mélenchon firmieren, zusammen über 14 Millionen Stimmen, während der spätere Präsident Macron in der ersten Runde achteinhalb Millionen Stimmen auf sich vereinte und froh sein durfte, die zweite Runde zu erreichen, um sie dann gegen Le Pen zu gewinnen; die erreichte bestürzende 34 Prozent. Die Bereitschaft von Menschen, mit ihren Wählerstimmen verrückte Dinge zu treiben, ist seit der Verkündung des allgemeinen Wahlrechtes sehr hoch, die Einführung der allgemeinen Vernünftigkeit erfolgte offensichtlich asynchron. Das ist, möchte ich meinen, eine geschlechtsneutrale Beobachtung.

FUTURZWEI: In dem oben erwähnten Brief lauten die zentralen Formulierungen, auf den Punkt gebracht: Hiermit trete ich aus der Wirklichkeit aus! Zugleich mache ich anderen das Angebot, mit mir aus der Wirklichkeit auszutreten. Auch angesichts der Entwicklungen durch die Pandemie stellt sich die Frage: Wächst das Bedürfnis nach dem Austritt aus der Wirklichkeit?

Peter Sloterdijk: Wenn man das wissen könnte! Sie rühren jedenfalls an dem sensitiven Punkt. Man könnte Heraklit zitieren, der bemerkte, dass schlafend jeder Mensch in seiner eigenen Welt sei. Es komme aber darauf an, der gemeinsamen Tageswirklichkeit zu folgen. Seit jeher werden viele Communities über Trauminhalte oder Fest- und Rausch-Zusammenhänge gestiftet. Es gibt wohl so etwas wie einen Sozialismus der Nacht. Wir Europäer haben zur Stunde Glück, dass die Wirklichkeitskonstruktion der Mehrheiten im Moment zumeist ohne allzu deutliche neurotische und psychotische Komponenten geschieht, zumindest was die westeuropäische und skandinavische Grundsituation anbelangt.

FUTURZWEI: Wie das?

Peter Sloterdijk: Nun ja, das Verlangen nach Wahnsinn scheint bis auf Weiteres noch bei den Minderheiten zu sein, obschon es an vielen Stellen köchelt. Von den irrationalen Wellen in Frankreich haben wir gesprochen; was soll man erst von den Polen sagen, die meinen, ihr Land sei der Christus unter den Völkern und der vor einigen Jahren mit dem Flugzeug abgestürzte Präsident ein Märtyrer?

FUTURZWEI: In Polen ist die Ansicht populär, ihr damaliger Präsident sei ermordet worden. Beobachter im Ausland gehen eher davon aus, er habe neunzig Leben auf dem Gewissen, weil er den Piloten der Unglücksmaschine nötigte, zum vierten Mal den Landeanflug zu versuchen, bei Sicht gegen Null.

Peter Sloterdijk: Die Formel vom »Austritt aus der Wirklichkeit« scheint mir sehr entwicklungsfähig. Gerade kommt mir der Satz von Joseph Beuys ins Ohr: »Hiermit trete ich aus der Kunst aus.« Er wollte in etwas eintreten, was wirklicher und verbindlicher sein sollte als Kunst in ihrer betriebsförmigen Verfasstheit. Man kann es auch so sagen, dass viele Menschen sich gern im spitzen Winkel zur Wirklichkeit aufstellen, wodurch die sogenannte Wirklichkeit an ihnen abgleitet wie am Bug eines Schiffes. Man geht im Keil auf das sogenannte Reale zu, Frontalität ist in der Regel unerwünscht. Das Austreten aus der Wirklichkeit ist übrigens zu einer Industrie geworden, seit die Menschen dank der Vierzigstundenwoche sehr viel Freizeiten erlangt haben. Seit der frühen »Kritischen Theorie« ist die Diagnose ausgesprochen und hingeschrieben, dass die Unterhaltungsindustrie auf ihre Weise den Ernstfall der Industriegesellschaft inkarniert. Ablenkung gehört zu den ernstesten Dingen – schon Pascal hatte das erkannt, als er notierte, ein König ohne Unterhaltung sei ein elendes Geschöpf. Zumeist treibt man Unfugsprävention, indem man den Unfug ritualisiert.

FUTURZWEI: Dazu gehört auch der heilige Unernst, mit dem häufig über Politik gesprochen wird.

Peter Sloterdijk: Könnte es nicht sein, dass die reale Realität die Summe der Eskapismen ist? Ich habe jüngst gelesen, die Lebenserwartung bei russischen Männern sei in den letzten 20 Jahren kräftig angestiegen. Gegen das Ende der Sowjetunion lag sie so niedrig wie zuvor nur bei steinzeitlichen Bevölkerungen. Viele Menschen im Osten hatten nicht den Übergang vom Kapitalismus in den Sozialismus erlebt, sondern den in den Alkoholismus. Diese Tendenz gehört im Übrigen zu den Modernismen, an denen die muslimische Welt sich nicht beteiligt. Wahrscheinlich hat die Erregungs- und Gekränktheitsbereitschaft von Muslimen etwas mit ihrer Abstinenzkultur zu tun. Das wichtigste Ventil der dionysischen Kulturen steht bei ihnen nicht offen. Dann nimmt auch die Religion leichter einen rauschhaften endomorphinistischen Zug an.

FUTURZWEI: Könnte der Evangelikalismus US-amerikanischer Prägung zu einem Rauschdefizit führen, der sich dann in die Exaltiertheit der Wirklichkeitsdeutung übersetzt und in fanatische Gemeinschaftsbildung im Sinn einer Trump-Gefolgschaft übergeht?

Peter Sloterdijk: Man darf einen Zusammenhang vermuten. Dafür spricht die Tatsache, dass die evangelikalen Rituale sich als außerordentlich exportgeeignet erweisen. In Lateinamerika, wo die katholische Kirche das religiöse Feld jahrhundertelang nahezu monopolisiert hatte, hat man den protestantischen Sekten aus dem Norden Tür und Tor geöffnet. Die Triade aus Jubel, Arbeit und Struktur war bei den Ärmeren erfolgreich implantierbar. Sie gibt eine Art von Halt, wie er in der Szene des herkömmlichen katholischen Pauperismus nicht zu finden war. Über Phänomene dieser Tendenz wird man im Lauf des 21. Jahrhunderts noch einiges hören, denn die Sekten wachsen schnell. Es gehört ja, wie Canetti in Masse und Macht gezeigt hat, zum Wesen der Sekte, dass sie expandieren muss. Die Sektenmasse erhält sich, indem sie immer mehr vom Außen in sich hineinzieht. Ihre Hymne heißt: Wir werden immer zahlreicher.

...


Aus: "Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch: Austritt aus der Wirklichkeit" Interview: PETER UNFRIED und HARALD WELZER (2021)
Quelle: https://taz.de/Philosoph-Peter-Sloterdijk-im-Gespraech/!5763709/ (https://taz.de/Philosoph-Peter-Sloterdijk-im-Gespraech/!5763709/)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 08, 2021, 11:17:36 AM
Quote[...] Die Beatles haben ihren letzten öffentlichen Auftritt zu viert, lösen sich aber nicht auf. Ihre nächsten Kompositionen sind Teil der 68er-Revolte

... Wer im Erfolg der Beatles ein nicht nur musikalisches, sondern auch politisches Phänomen sieht, wird gleichwohl die Jahre vor 1966 am interessantesten finden. Politisch? Sie taten doch nichts, als von Liebe zu singen. Immerhin machten sie außerhalb der Konzerte keinen Hehl daraus, dass sie etwa den Vietnamkrieg der USA missbilligten. In Manila, der Hauptstadt der Philippinen, spielten sie im Sommer 1966 vor 80.000 Menschen, weigerten sich aber anschließend, mit der Diktatoren-Gattin Imelda Marcos zu Abend zu essen. In den USA galt damals noch die Rassentrennung, auch bei Konzerten. Die Beatles bestanden jedoch auf deren Aufhebung und machten davon ihren Auftritt abhängig. ... An der letztgenannten ,,Nebensache" sieht man schon, was ihre ,,Politik" war, nämlich dass sie ungeheure Massen von Jugendlichen versammelten, denen sie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gaben. Wenn sie auch sonst nichts verlangten oder erwarteten – keine spezielle politische Botschaft vortrugen, wie das andere Bands taten –, eine Spaltung ihres Publikums ließen sie nicht zu. Und das Gefühl der Zusammengehörigkeit war keine Illusion.

... Wenn man die Lieder der Beatles durchgeht, ist All You Need Is Love wohl noch das politischste. Paradox genug! Denn hier wird nicht einmal von der Liebe, wie in anderen Liedern, viel erzählt (wie man auf sie hofft, was ihre Krisen sind, wie sie scheitert), sondern wir hören ,,love, love, love" und nur so viel wird deutlich, dass es auch um den Frieden geht. Sie singen nicht ,,Make love, not war", aber darauf läuft es hinaus. Wichtig die Nebenumstände: Da das Lied für eine Fernsehsendung bestellt worden war, die am 25. Juni 1967 per Satellit weltweit übertragen wurde und 600 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer fand – nicht weniger, eher mehr als die Mondlandung 1969 ...

... Vor 1968 indes hatten die Beatles zur Einigkeit und Freiheit und Selbstautorisierung einer riesengroßen Jugendbewegung beigetragen. Was war denn so besonders an ihrer Musik? An dem Lied, das Ende 1963 ihren Durchbruch zur weltweiten Berühmtheit bewirkte, lässt es sich vielleicht zeigen: I Want to Hold Your Hand. Man sieht schon, wieder nichts als Liebe. ,,Und wenn ich dich berühre, fühle ich mich glücklich", ,,ich glaube, du wirst verstehen" und so weiter. Bei ,,Ich kann meine Liebe nicht verbergen" haben die Mädchen am lautesten gekreischt. ...


Aus: "1966: Tanz über Abgründen" (Michael Jäger | Ausgabe 35/2021)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/1966-tanz-ueber-abgruenden (https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/1966-tanz-ueber-abgruenden)

Quote
man.f.red | Community (08.09.2021)

"There's nothing you can do that can't be done."

Gestern Abend etwas nachgedacht; ich will versuchen, das Geschehen der 60er und 70er einmal etwas beispielhaft zu verkürzen, auch mit drei Musikstücken, die den damaligen ,Geist der Zeit' aufzeigen mögen.

Die Bewegung im Westen, der 'Aufstand der Jugend' im weitesten Sinne, speiste sich im Wesentlichen durch drei kulturelle Quellen, die ich einmal so kategorisieren möchte:

- die ,Liebe und Frieden' Fraktion,

https://vimeo.com/252765355 (https://vimeo.com/252765355)

All you need is love Beatles 1967

- die ,Freiheits'-fraktion (antiautoritäre Bewegung),

https://www.youtube.com/watch?v=Yo1vipNAC6w (https://www.youtube.com/watch?v=Yo1vipNAC6w)

Born to be Wild Steppenwolf 1968/69

- die ,Widerstands'-fraktion' (APO, SDS, Initiativen, u.a.).

https://www.youtube.com/watch?v=XBHdTzuveww (https://www.youtube.com/watch?v=XBHdTzuveww)

Der Traum ist aus Ton Steine Scherben 1971/72

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Über die Jahre oszillierte Jung-Mann und Jung-Frau durch die Farben dieses Spektrums, vor und zurück, nur relativ wenige können wahrscheinlich nur einem Farbstrahl zugeordnet werden.

Graphisch dargestellt ist dies auf dem Album-Cover von

https://www.youtube.com/watch?v=1vw1pdjydp0 (https://www.youtube.com/watch?v=1vw1pdjydp0)

Dark Side of the Moon Pink Floyd 1973

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M.E. das Entscheidende in diesen Jahren war die tiefgehende Verschmelzung von ,Liebe-Freiheit-Widerstand' die enorme kreative und konstruktive Potenziale bei Jung-Mensch freisetzte.

Das war etwas wie ,der gerechte Zorn' (obwohl das auch nicht ganz greift).

Ich denke, an den Gestaltungsmöglichkeiten dieser emotionalen Amalgamation hat sich bis heute - im Prinzip - nichts geändert.

-

Der aufkommende Neoliberalismus und seine staatlichen Wächter/innen bogen diese ,Kategorien' (Farben des Spektrums) nach Gesichtspunkten der kapitalistischen Verwertbarkeit um, z.B. in das Ersatzprisma von ,Übersexualisierung – endlosem Konsum – geregeltem Aktivismus (e.g. Sport)' mit einer wesentlich strikteren Überwachung- und Ordnungsmacht.

"Shop till you drop."

Kaufen bis zum Umfallen.


...
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on September 15, 2021, 12:26:12 PM
Peter Brückner (* 13. Mai 1922 in Dresden; † 10. April 1982 in Nizza) war ein deutscher Kritischer Sozialpsychologe und Hochschullehrer. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Br%C3%BCckner (https://de.wikipedia.org/wiki/Peter_Br%C3%BCckner)

Aus dem Abseits ist ein deutscher Dokumentarfilm von Simon Brückner aus dem Jahr 2015. Darin porträtiert er seinen Vater, den Sozialpsychologen Peter Brückner, der in den 1970er Jahren zur Symbolfigur der Studentenbewegung wurde. Der Kinostart war am 3. Dezember 2015. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Aus_dem_Abseits (https://de.wikipedia.org/wiki/Aus_dem_Abseits)

Aus dem Abseits – Ein Film über Peter Brückner
Filmbesprechung von Klaus-Jürgen Bruder
Die Suche des Sohnes nach dem verlorenen Vater
(BRD 2015, Kinostart: 03.12.2015)
Regie, Buch: Simon Brückner
Filmbesprechung von Klaus-Jürgen Bruder  - Hamburg, 03.12.2015
http://www.film-und-politik.de/BRK-ADA.pdf (http://www.film-und-politik.de/BRK-ADA.pdf)

Aus dem Abseits (Trailer)- Kinostart: 03.12.2015
https://youtu.be/fErkfSg4mvU (https://youtu.be/fErkfSg4mvU)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 03, 2022, 11:42:56 PM
Der Neue Deutsche Film (auch Junger Deutscher Film, abgekürzt JDF) war ein Filmstil in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre. Prägende Regisseure waren Alexander Kluge, Hansjürgen Pohland, Edgar Reitz, Wim Wenders, Volker Schlöndorff, Werner Herzog, Hans-Jürgen Syberberg, Peter Fleischmann, Werner Schroeter sowie Rosa von Praunheim und Rainer Werner Fassbinder. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Neuer_Deutscher_Film (https://de.wikipedia.org/wiki/Neuer_Deutscher_Film)

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Quote[...] Rainer Werner Fassbinder (1945-1982) war wahrscheinlich die wichtigste Figur des deutschen Nachkriegsfilms. Ganz sicher kam ihm an Produktivität niemand gleich. Seine Filme sind nur noch selten zu sehen. Die frühen, die ihn sehr schnell bei der damals filmisch sehr interessierten politischen und kulturellen Avantgarde berühmt machten, sieht man so gut wie nie. Wer aber "Liebe ist kälter als der Tod", "Katzelmacher" oder "Warum läuft Herr R. Amok?" gesehen hat und mehr über Fassbinder erfahren möchte, der renne in die nächste Buchhandlung und kaufe "Fassbinder über Fassbinder", eine Sammlung von Interviews mit Fassbinder. Sie entstanden zwischen 1969 und 1982.

Er muss anfangen mit dem ersten Interview. Es entstand 1973 und wurde völlig zu Recht dem Band vorangestellt. Corinna Brocher wollte damals einen Film über Fassbinder drehen und unterhielt sich dafür mehrere Tage mit ihm. Diese Gespräche nehmen hier mehr als 150 Seiten ein. Sie sind nicht nur die beste Einführung in Leben und Werk Fassbinders, sie sind einer der besten Texte über 1968. Die Ursprünge und der Verlauf der Revolte werden selten so klar, so erschreckend klar wie hier. Natürlich hat das auch damit zu tun, dass kaum jemand sie so extrem gelebt hat wie Fassbinder. Wer damals gegen den Vietnamkrieg war und nur drei, vier Mal im Jahr gegen ihn demonstrierte, ansonsten aber Schule und Studium brav absolvierte, der war gefeit vor den selbstmörderischen Verrücktheiten, wie sie im Fassbinder-Clan gelebt wurden. Aber man versteht 1968 nicht, wenn man nicht begreift, dass es damals vor allem um diese Verrücktheiten ging. Man nannte das "Bewusstseinserweiterung". Darunter versteht man damals wie heute in erster Linie extensiven Drogenkonsum. Aber 1968 gehörte zur "Bewusstseinserweiterung" auch die Infragestellung aller überkommenen Ansichten. Je selbstverständlicher sie einem erschienen, desto heftiger wurden sie in Frage gestellt. Es war die Zeit, in der das Private öffentlich wurde und die Normalen für verrückt erklärt wurden.

Heute, da in langen Jahren heftigster Auseinandersetzung geklärt wurde, wie weit man mit den Gedanken gehen und wie kurz die Strecke ist, auf der man ihnen mit Taten folgen darf, ist einem das damals fast Selbstverständliche ganz fern gerückt. Die verzweifelten, selbstanalytischen Gespräche, die Hinterfragung einer jeden Handlung, sind wieder in die Intimität der Zweierbeziehung verschwunden. Damals waren sie ein paar Jahre lang wenn nicht öffentlich, so doch in den kleinen Öffentlichkeiten der sich politisch gerierenden Gruppen. Fassbinder erzählt zum Beispiel, wie er seine erste Theatergruppe bekam: Er schlief mit der Frau des Chefs. Der hieß übrigens Horst Söhnlein und war später bei den Kaufhausbrandstiftern in Frankfurt/Main dabei. Er sprang aber noch rechtzeitig ab, bevor die sich zur Roten Armee Fraktion entwickelten. Nicht anders - das wissen wir heute nach den Forschungen von Jane Goodall - geht es bei Schimpansengruppen zu. Vielleicht gibt es auch unter ihnen Männchen, die das mit ähnlich emanzipatorischen Floskeln garnieren, wie Fassbinder das tat. Das Großartige aber ist, dass je länger man das Interview liest, einem immer unklarer wird, ob Fassbinder seine Geschichten zur Verteidigung erzählt und ihm die Wahrheit - oder das, was wir dafür halten - nur so nebenbei entschlüpft, oder ob Fassbinder uns nicht doch die Wahrheit erzählen möchte, weil er besessen ist von ihr. So sehr besessen, dass er an ihr festhält, auch wenn sie gegen ihn spricht.

Er hat sich einfach mehr für die Wahrheit als für die Moral interessiert. Er zeigt sich als das Schwein, das er ist, nicht aus Demut, sondern weil er es interessant findet, dass jemand, der so begabt, so deutlich den anderen überlegen ist, nicht verzichtet auf die niedrigsten, verwerflichsten Mittel, um seine Begabung zu praktizieren und durchzusetzen. Wer heute glaubt, Fassbinder sei nur ein Meister der Darstellung des Psychoterrors gewesen - man denke nur an einen der großartigsten Filme der Filmgeschichte, an "Martha", für den Corinna Brocher übrigens das Script führte -, der wird hier eines Besseren belehrt. Fassbinder war Psychoterrorist. Wenn er filmte, dann filmte ein Täter. Ein Täter freilich, der seine Opfer sehr gut beobachtet hatte. Ein Folterer, der genau Bescheid wusste, wann es wo besonders weh tat. Gerade das macht Fassbinders einzigartige Stellung im Neuen Deutschen Film aus. Er war kein Sozialdemokrat.

...

"Fassbinder über Fassbinder". Hrsg. von Robert Fischer. Verlag der Autoren, Frankfurt/Main 2004. 673 Seiten, broschiert, ISBN 3886612686

Rainer Werner Fassbinder: "Im Land des Apfelbaums". Gedichte und Prosa aus den Kölner Jahren 1962/63. Hrsg. von Juliane Lorenz und Daniel Kletke. Schirmer/Graf, München 2005. 187 Seiten, farbige und s/w. Fotos, gebunden, ISBN 3865550193



Aus: "Kein Sozialdemokrat - Vom Nachttisch geräumt: Die Bücherkolumne. Von Arno Widmann" (06.02.2006)
Quelle: https://www.perlentaucher.de/vom-nachttisch-geraeumt/fassbinder-war-kein-sozialdemokrat.html (https://www.perlentaucher.de/vom-nachttisch-geraeumt/fassbinder-war-kein-sozialdemokrat.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 11, 2022, 01:00:56 PM
Hat ja niemand behauptet, dass der erst 1968 begann.

Quote[...] Die "Akte Seberg" hat hunderte Seiten. Jede davon ist voll illegal erhaschter Einblicke in das Leben, die Psyche und das Bett der Schauspielerin Jean Seberg. Die Akte beinhaltet ihren Tagesablauf und ihre Aufenthaltsorte, Mitschriften ihrer Telefonate und heimlich geschossene Fotos. Und dazwischen sind interne Memos der US-Ermittlungsbehörde FBI abgeheftet, die für all das verantwortlich ist. Denn Seberg engagiert sich gegen Rassismus und für die US-amerikanische Black Panther Party. Das Ziel ihrer Überwachung wird in der Akte mit einem einzigen Wort zusammengefasst: ihrer "Neutralisierung".

Die Kettenreaktion, die zu alldem führt, wird 1956 in Gang gesetzt. Jean Seberg ist erst 17 Jahre alt, als sie durch eine Talentsuche vom ländlichen Iowa nach Hollywood gerät. Blutjung und unerfahren wird sie für Rollen ausgewählt, die sie nicht ausfüllen kann. Die Kritiker sind gnadenlos, der Regisseur, der sie entdeckt hat, ebenso. Als sie in einer Szene auf einen Scheiterhaufen steigen soll, gerät dieser tatsächlich in Brand. Die Flammen erfassen ihren Körper. Fasziniert von ihrem unverfälschten Schrei verwendet der Regisseur ihn im Film. Mit nur 21 Jahren verlässt Seberg Hollywood. Die Traumfabrik hat sie beinah zermalmt.

Sie geht nach Paris und erhält dort eine der Hauptrollen in "Außer Atem". An der Seite von Jean-Paul Belmondo spielt sie eine amerikanische Studentin, die einem Kleinkriminellen erst zur Geliebten und dann zum Verhängnis wird. Der Film bricht mit den etablierten Regeln des Kinos, stößt erst auf Unverständnis und wird dann zu einem Klassiker der Nouvelle Vague. Seberg mit ihrem raspelkurzen Haar und dem bildschönen Gesicht wird zur Ikone. Das T-Shirt, das sie in ihrer Rolle trägt, wird bis heute als kultiger Merchandise gekauft.

Seberg ist plötzlich ein Star des französischen Kinos. 1962 bringt sie in Paris einen Sohn zur Welt, dessen Vater der Schriftsteller Romain Gary ist. Die beiden heiraten und führen eine offene, von einvernehmlichen Affären geprägte Ehe. Sebergs Erfolg bleibt auch in ihrer Heimat nicht unbemerkt. Die nächsten Jahre lebt und arbeitet sie beiderseits des Atlantiks. 1968 reist sie für ein Engagement zurück in die USA, wo die Bürgerrechtsbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg gerade ihren Siedepunkt erreichen. Und Seberg weiß, auf welcher Seite sie steht.

Sie unterstützt die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) und Indigene, die nahe ihrem Heimatort leben. Ihr Engagement spricht sich herum, und wohl nicht ganz zufällig lässt sich auf einem Flug neben ihr der schwarze Aktivist Hakim Jamal nieder. Als die beiden den Flieger verlassen, hat er sie als Unterstützerin gewonnen. Ab da setzt Seberg sich für die Black Panther Party ein, eine sozialistische Bewegung, die für die Rechte schwarzer Amerikaner:innen kämpft.

Die Black Panthers setzen dabei auf Selbstverteidigung. Bewaffnet patrouillieren sie durch Stadtviertel, um Polizeigewalt zu verhindern. Daneben führen sie Sozialprogramme ein, etwa ein tägliches Frühstück für armutsbetroffene Kinder. Dieses Frühstücksprogramm unterstützt Seberg mit einer Spende. Es ist das erste Mal, dass sie auf dem Radar des FBI auftaucht. Denn die Behörde versucht, die Black Panther Party mit allen Mitteln zu zerschlagen.

Die Vereinigten Staaten sind damals, zur Zeit des Kalten Krieges, von der "roten Angst" ergriffen. Panik vor kommunistischer Unterwanderung umspült Politik, Bevölkerung und Behörden. Das FBI unter J. Edgar Hoover lanciert das berüchtigte Programm "Cointelpro". Es soll "subversive" Organisationen und Menschen durch Überwachung, Psychoterror und Verfolgung mundtot machen. Viele der verwendeten Methoden werden Jahre später von einem Komitee des US-Senats als illegal eingestuft. Doch Jean Seberg trifft das Programm mit aller Wucht.

Als Prominente ist sie für die Black Panthers eine wertvolle Verbündete, für das FBI eine Bedrohung. Seberg hilft der Bewegung mit Geld und Presseauftritten und gewährt Aktivisten in ihrem kalifornischen Haus Zuflucht. Noch 1968 lanciert das FBI eine Kampagne gegen sie. Ihr Telefon wird abgehört, ihre Briefe geöffnet, ihr Haus ausspioniert und jeder ihrer Schritte überwacht. Das FBI ist stets über ihren aktuellen Aufenthaltsort informiert. Seberg merkt, dass etwas nicht stimmt. Wenn sie telefoniert, hört sie ein Klicken in der Leitung. Auf der Straße wird sie beschattet. Auch in ihren privatesten Momenten spürt sie immer den Blick fremder Augen auf sich. Ihre Psyche beginnt zu splittern, doch endgültig zerbrechen wird Seberg erst im Jahr 1970.

Durch die Überwachung weiß das FBI von ihrer offenen Beziehung und ihren Liebschaften mit Black-Panther-Aktivisten. All das – die freie Ehe, ihr Aktivismus, ihr Umgang mit schwarzen Menschen und insbesondere schwarzen Männern – reicht schon einzeln für einen Skandal aus. Doch im Frühling 1970 erwartet Seberg ein Kind. Ihre Schwangerschaft bietet die Chance zu einem letzten, unerbittlichen Schlag. Und so wird in FBI-Memos in nüchternen Worten die Vernichtung der Jean Seberg skizziert.

"Es wird Erlaubnis erbeten, die Schwangerschaft von Jean Seberg, bekannte Filmschauspielerin, publik zu machen", steht in einer direkt an Hoover adressierten Meldung. Es soll das Gerücht gestreut werden, dass der Vater des ungeborenen Kindes ein Black Panther sei. "Wir glauben, dass die mögliche Veröffentlichung von Sebergs Lage dazu führen könnte, sie bloßzustellen und ihr Image in der Öffentlichkeit zu entwerten." Der FBI-Direktor erteilt die Erlaubnis – mit der Anweisung, so lange zu warten, bis Sebergs gewölbter Bauch auch sichtbar ist.

Der falsche Tipp wird Klatschblättern in Hollywood gesteckt. Im Mai landet er auf dem Schreibtisch einer Kolumnistin der "Los Angeles Times", deren Klatschspalte in über hundert Zeitungen landesweit erscheint. Die fingierte Geschichte ist an diesem Tag ihr großer Aufmacher. Seberg wird nicht namentlich genannt, doch ihre Identität ist nur allzu leicht erkennbar. "Papa soll ein prominenter Black Panther sein", schließt das Stück über ihre Schwangerschaft in honigsüßem Ton. Wenig später greift das große Nachrichtenmagazin "Newsweek" die Story auf – und veröffentlicht Sebergs Namen.

Im siebenten Monat schwanger flieht sie vor der medialen Kampagne in die Schweiz. Doch sie ist nervlich so am Ende, dass viel zu früh die Wehen einsetzen. Ihre Tochter Nina wiegt bei der Geburt nur 1,8 Kilogramm und stirbt zwei Tage später. Seberg lässt ihr Kind in ihrem Heimatort beisetzen und zuvor öffentlich aufbahren. Hunderte Paparazzi fotografieren den kleinen Leichnam. Er ist weiß.

Danach zerbricht Jean Seberg endgültig. Sie leidet an Angstzuständen, Paranoia und Depressionen. An jedem Todestag ihrer Tochter versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Das FBI hat die Überwachung eingestellt. Doch Seberg, die in viele Scherben zersprungene Frau, wähnt ihre unsichtbaren Beobachter noch immer um sich. Sie verfällt Alkohol und Drogen und gerät immer wieder an Männer, die ihre Labilität ausnutzen.

Im Spätherbst 1979 verschwindet sie plötzlich aus ihrer Pariser Wohnung. Erst Tage später wird sie tot in einem geparkten Wagen entdeckt. Bei ihr wird ein kurzer Abschiedsbrief gefunden, die Pariser Polizei stuft ihren Tod als Suizid ein. Doch ein Jahr später nimmt sie wegen unterlassener Hilfeleistung Ermittlungen gegen unbekannt auf. Sebergs Blutalkohol lag bei fast acht Promille, einem Wert, den ein Mensch unmöglich selbst erreichen kann. Bis heute ranken sich verschiedene Verschwörungstheorien um ihren frühen Tod.

Nur Tage danach wird ein Antrag auf Dokumentenherausgabe an das FBI gestellt. Es muss die "Akte Seberg" veröffentlichen, die Zerstörung einer Frau liegt plötzlich offen da. Fassungslose Reporter:innen setzen die Scherben zusammen und erkennen die eigene Instrumentalisierung. Doch es ist zu spät. Jean Seberg wird auf dem Friedhof Montparnasse in Paris beigesetzt.


Aus: "Geradegerückt: Jean Seberg: Vernichtet vom FBI" Ricarda Opis (11.2.2022)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000133176570/jean-seberg-vernichtet-vom-fbi (https://www.derstandard.at/story/2000133176570/jean-seberg-vernichtet-vom-fbi)

Quote
edifier

Keine Verschwörungstheorie

Kann so absurd sein, wie die Realität. Danke für den Artikel, welcher u.a. das nahtlose Zusammebewirken der Medien mit der US Politik beschreibt. Deswegen habe ich den Eindruck, dass kaum ein Reporter "fassungslos" darüber ist, wie er " instrumentalisiert" wird. In den meisten Fällen gilt : Herr verzeihe ihnen nicht, denn sie wissen genau,was sie tun.


Quote
Zornica

Wir sind die Guten

Damals wie heute - geändert hat sich eigentlich nichts, auch die Öffentlichkeit hat nichts gelernt


Quote
Mags

Aber die Russen sind doch die bösen.


Quote
Ján Zelení

Der KGB war damals auch nicht zimperlich Dissidenten in die Psychiatrie zu sperren. Oder heutzutage mit Polonium oder anderen Substraten zu hantieren. Wobei sich auch die Russen damals (und heute) als die wahren "Guten" sehen.


Quote
#wemnütztes

Das Verbrechen der einen rechtfertigt nicht das Verbrechen der anderen


Quote
Tamimueller

Wenn man aus welchen Gründen auch immer, ins Fadenkreuz der Mächte gelangt, egal, ob Ost oder West, ist man ein armer Hund. Die gehen über Leichen. Skrupellos. Die Medien als Ausführungsgehilfen. Keine Entschuldigung, keine Veränderung, keine Verbesserung. Solche Fälle gibt es vermutlich immer noch.


Quote
Kreisky's Erben

Danke! Mich nervt das ewige ablenken auf andere.
In Russland ist es genauso falsch, wie überall anders auf der Welt. Nur spielen sich meiner Meinung nach die USA als die einzig wahren Verfechter der Demokratie auf und treten die Menschenrechte genauso mit Füßen, wie viele andere auch. Wenn sogar Schweden beim üblen Spiel gegen Assange mitgemacht hat, wie wird es dann in Staaten mit mächtigen Wirtschafts-und Geopolitischen Interessen sein.


Quote
fizzzzzz

Deswegen, liebe Medien denkt immer dran: die Hand, die euch füttert, weiss schon, warum Sie das tut....


Quote
Der Oley

zu Beginn des Kalten Krieges - der Kalte Krieg begann schon mit der Jalta Konferenz 1945. Nicht 1968. Soviel Geschichte muß sein.


Quote
Puritsche

Hat ja niemand behauptet, dass der erst 1968 begann.


Quote
Jene Grüne Straßenkatze

Danke für diesen Artikel. Er zeigt ganz gut, dass staatliche Intervention gegen unliebsame Personen nicht nur dann ein Problem ist, wenn die Mittel Pistolenkugeln, Giftpillen und Gefängnisstrafen sind. Es gibt so viele subtilere Methoden, jemanden zu "vernichten" (wie in Österreich manche Leute durchaus offen sagen, wenn sie wünschen, dass Karriere, Ruf und Privatleben einer Person zerstört wird). Und weil diese Methoden alle so soft sind, ist es viel weniger fassbar, was geschieht.


Quote
hilde peymann

heute dürfte sich seberg nicht mehr für schwarze einsetzen, weil cultural appropriation. so zynisch ist es inzwischen. rechts wie links im separierten identitätswahn statt solidarität. ...


Quote
Mark.Er

Fassungslose Reporter:innen setzen die Scherben zusammen und erkennen die eigene Instrumentalisierung.
Ist das Zynismus? Assange, Snowden.

Nein, wir sind nicht betroffen, wir machen da mit.
Ganz besonders UNSERE Journalisten. ...


Quote
Nada7791

Ein Dank an Ricarda Opis für diesen Artikel! Frau Seberg und ihr Schicksal ist, trotz des Kinofilms, vollständig an mir vorbeigegangen; es zeigt in voller Härte die Perversion eines in Angst erstarrten, von narzistischen Persönlichkeiten getriebenen Polizeistaats, der damals in den USA regierte. Die Figur Hoover ist von jeher umstritten, eine Aufarbeitung der Ära täte mehr als gut. Wer weiß, wie viele nicht so prominente Menschen das FBI unter dem Deckmantel des antikommunistischen Kampfes vernichtet und diskreditiert haben? Wer weiß schon, wie FBI (und wie die Dienste alle heißen) heute gegen unliebsame Menschen (müssen ja keine Aktivisten sein) vorgehen?


Quote
mauserle

Es war ja auch die McCarty-Ära, dem Senator, der sehr viel Prominente (auch Schauspieler wie Gary Cooper z.B.) vor den Untersuchungsausschuss zwangsvorgeführt hat, die dort wegen jeder noch so geringen Äußerung in Richtung Kommunismus streng verhört wurden, dann u.U. ihre Stelle verloren und Repressalien von Seiten der Regierung auf sich nehmen mussten.


Quote
fitzcarraldo

Leider fehlt den meisten Journalisten die Sensibilität für Beeinflussung durch Geheimdienste


Quote
Solomon Benvenisti

Jaja, die westlichen Werte, da muss man auch Opfer bringen.


Quote
Hattie Caroll

Jean Seberg hat alles richtig gemacht und wurde dafür vom FBI "vernichtet".
Die Methoden von J. Edgar Hoover standen den Methoden der Stasi um nichts nach und waren zudem auch noch illegal. Von offizieller Seite kam es bis heute nie zu einer Entschuldigung für derlei Machenschaften und wenn man an Guantanamo, George Floyd oder die drohenden 175 Jahre Haft für Julian Assange denkt, bekommt man nicht unbedingt den Eindruck, dass sich die Dinge in den USA seither zum Besseren verändert haben.


Quote
Puritsche

Das galt und gilt viel mehr für die UdSSR und Russland.
Im Westen wurde von 1968 bis jetzt der Staat viel kritischer gesehen.


Quote
Kommentatorin Frwdib527v

Die Macht des Staates gehört kontrolliert! Damals wie heute!
Wer glaubt, dass so etwas heutzutage nicht mehr möglich ist, der schaue sich die Schicksale von Edward Snowden, Julian Assange und Julian Hessenthaler an!


...
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 29, 2022, 11:45:53 AM
Quote[...] Götz Haydar Aly (* 3. Mai 1947 in Heidelberg) ist ein deutscher Politikwissenschaftler, Historiker und Journalist. ... In seinem 2008 erschienenen Buch Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück[22] analysiert Aly die Reaktion der Gegenseite auf die deutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre. Er greift dabei auf Akten deutscher Behörden und zeitgenössische Reaktionen, unter anderem von Joseph Ratzinger, Ernst Fraenkel und Richard Löwenthal, zurück. Er kommt zu dem Schluss, dass die 68er ihren Eltern – der nationalsozialistisch geprägten ,,Generation von 1933" – weitaus ähnlicher gewesen seien, als sie dies selbst wahrnehmen wollten.

Als Indizien für seine These benennt Aly den antibürgerlichen Impetus, die Gewaltbereitschaft, den Antiamerikanismus, den latenten Antisemitismus, das Ausblenden von Kritik an linken Despoten. Die 1968er seien als ,,Spätausläufer" nicht die Lösung des Totalitarismus-Problems, sondern ein Teil des Problems selbst. Auch bei der Liberalisierung der Moral und Sitten seien die 68er nicht die Auslöser, sondern lediglich Nutznießer eines Prozesses gewesen, der schon in den 1950er Jahren begonnen habe. ,,Es ist schwer, den eigenen Töchtern und Söhnen zu erklären, was einen damals trieb", so Aly angesichts seiner eigenen Biographie.[23]

Alys Buch über die politische Generation der 68er führte zu einer lebhaften Diskussion der Grundlagen der 68er-Bewegung.[24] Der Historiker Norbert Frei erklärte zu Alys Vergleich zwischen der ,,Generation von 1933" und den 68ern: ,,Ich meine, hier hat sich einer um des medialen Knalleffekts willen zu einer historiographisch völlig überzogenen Darstellung hinreißen lassen." Der 68er-Generation eine 33er an die Seite zu stellen, dient nach Freis Auffassung ,,allein der Provokation, nicht der historischen Erkenntnis".[25] Rudolf Walther wirft Aly vor, seine Gleichsetzung von 68er- und nationalsozialistischen Studenten sei ein Kurzschluss aufgrund lediglich gewisser äußerlicher Ähnlichkeiten.[26] ...


"Götz Aly"
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Quote[...] Dagmar und ich gehören demselben Jahrgang 1947 an, wurden 68er, trafen uns bei der Westberliner Roten Hilfe, gingen berufliche Umwege, beschäftigten uns seit den 1980er Jahren wieder mit dem Nationalsozialismus, wählten später eher CDU als Grüne und haben jeweils ein Kind bekommen, das etwas anders als erwartet wurde. Meine Tochter heißt Karline. Dagmars Sohn heißt Timm. Sie hat ihn geliebt und wollte für ihn möglichst viel Selbstständigkeit und Normalität. Das war ihr wichtig.

Dagmars Geburtsjahr 1947 fällt in die sogenannte schwere Zeit. Unsere Eltern standen 1945 mit fast nichts da: materiell, ideell und moralisch entwurzelt und meist schwer traumatisiert: der Bombenkrieg, die vielen Gefallenen, Flucht, Vertreibung, Hunger. Über dem Land derjenigen, die den Krieg begonnen und Europa mit 19 Millionen deutschen Soldaten verwüstet hatten, lagen Starre und Orientierungslosigkeit. In den frühen 1950er Jahren folgte die von geschichtsabgewandter Betriebsamkeit geprägte Periode des Wiederaufbaus. Dabei herrschte in den meisten Familien eine merkwürdige Kälte. Oft fehlte es den späteren 68ern an dem, was man Nestwärme nennt, eine Generation emotional frierender Kinder.

Dagmars Mutter Roswitha war 1943 mit 27 Jahren Witwe geworden. Ihr Mann, Kapitänleutnant Heinsohn, war mit seinem U-Boot samt 45-köpfiger Besatzung bei Neufundland versenkt worden. Da saß sie nun mit ihren beiden Söhnen, schwanger mit dem dritten, im besetzten Polen, in der Hafenstadt Gdynia, umbenannt in Gotenhafen. Im Sommer 1944 floh Roswitha Heinsohn mit den Kindern nach Blankenhagen in Hinterpommern, im Januar 1945 weiter nach Schleswig-Holstein. Dort wurden der Flüchtlingsfamilie eineinhalb Zimmer unterm Dach zugewiesen. Am 28. Dezember 1947 wurde Dagmar in diese Situation hineingeboren. Dagmars Vater war Dietrich Sigismund von Doetinchem de Rande, der Gutsherr von Blankenhagen, der ersten Fluchtstation der Mutter.

Mit dem Wirtschaftswunder kam 1955 Bruder Andreas zur Welt. Dagmar schloss die Schule mit Mittlerer Reife ab. Dann geschah etwas, worüber sie später nicht sprach: Dagmar wurde als ,,Maid" in die niedersächsische Landfrauenschule Obernkirchen gesteckt. Kaiser Wilhelm II. hatte dort seine Töchter hingeschickt, Richard Wagners Enkelin Verena und Hans-Dietrich Genschers Ehefrau lernten dort Hauswirtschaft, Gartenbau und Kleintierzucht – und eben auch, eingekleidet in Maidentracht samt Häubchen, unsere Dagmar, später von uns liebevoll ,,die Gräfin" genannt.

Klar ist, dass solche familiären Abgründe zur Rebellion herausforderten, zur Suche nach etwas Neuem, nach menschlicher Nähe. Dagmar fing damit früh an. Sie ging nach Westberlin, zog in die legendäre Kommune 1, dann in die Kommune 2, lernte dort ihren ersten Freund, Ulrich Enzensberger, kennen. Man kann über die Kommunen, über die Wege und Irrwege, die Verrücktheiten, Verblendungen und das Scheitern der ummauerten Westberliner 68er sagen, was man will: Das Aussteigen aus der alten, eingefrorenen, kalten und verlogenen Welt der bundesdeutschen 1960er Jahre war verständlich.

Die Um- und Rückwege, die wir dann genommen haben, endeten manchmal komisch, manchmal tragisch. Nicht wenige sind gescheitert, auf Abwege geraten oder psychisch krank geworden, manche haben sich das Leben genommen. Auch Dagmar hatte schwere existenzielle Krisen. Wie schnell die Revolte von 1968 jedoch gewirkt hat, kann man auch daran ermessen, dass die Landfrauenschule Obernkirchen 1970 geschlossen wurde, und zwar ,,infolge gesellschaftlicher Veränderungen der 1968er-Jahre".

Ich habe Dagmar 1971 bei der Roten Hilfe kennengelernt. Wir produzierten 1972 die schreckliche Broschüre ,,Vorbereitung der RAF-Prozesse durch Presse, Polizei und Justiz". Horst Mahler saß als Mitbegründer der RAF und Terrorist im Knast. Er erschien uns als eine Art Heiliger, seine groben Briefe hielten wir für diskussionswürdige Botschaften. Eine Erklärung, die Ulrike Meinhof 1972 als Zeugin im Mahler-Prozess vor dem Berliner Landgericht abgegeben hatte, fand in der Roten Hilfe kein kritisches Echo. Sie lautete: ,,Der Antisemitismus war seinem Wesen nach antikapitalistisch. (...) Ohne dass wir das deutsche Volk vom Faschismus freisprechen – denn die Leute haben ja wirklich nicht gewusst, was in den Konzentrationslagern vorging –, können wir es nicht für unseren revolutionären Kampf mobilisieren." Ein ähnlicher Satz ist von Dutschke überliefert.

Wer die Lebenserinnerungen Marcel Reich-Ranickis liest, erfährt dort: 1964 war Ulrike Meinhof die ,,erste Person in der Bundesrepublik", die, am Ende unter Tränen, ,,aufrichtig und ernsthaft wünschte", von Reich-Ranicki über dessen ,,Erlebnisse im Warschauer Ghetto informiert zu werden". Als sie sich 1976 im Gefängnis erhängte, wählte sie ausgerechnet die Nacht vom 8. zum 9. Mai. ,,Wäre es denkbar", fragte Reich-Ranicki, dass es zwischen der deutschen Vergangenheit und dem Weg zum Terror ,,einen Zusammenhang gibt"?

Aber es wird noch verrückter. Horst Mahler, der als Holocaustleugner und Rechtsradikaler jahrelang im Gefängnis saß, hatte sich 1967 zusammen mit Joseph Wulf, Heinz Galinski, Max Horkheimer, Nahum Goldmann, Léon Poliakov und Fritz Bauer dafür eingesetzt, die Wannsee-Villa in einen Ort zur Erforschung nationalsozialistischer Verbrechen umzuwandeln. Das Vorhaben scheiterte.

1968 war in der alten Bundesrepublik auch der verzweifelte Versuch der ersten Nachkriegsgeneration, der deutschen Geschichte zu entrinnen. Plötzlich sprachen wir nicht mehr vom Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, sondern vom internationalen Faschismus. Der hauste nicht so sehr in Deutschland, sondern in Washington, Saigon und Teheran, hieß Lindon B. Johnson, Reza Pahlewi, Nguyễn Văn Thiệu oder General Westmoreland. Der Vorteil: Sie alle hatten keine deutschen Namen und lebten Tausende Kilometer entfernt. Wir selbst schlugen uns auf die Seite der vermeintlich Guten, der Freiheitskämpfer, der Guerilleros.

Man kann diese Ausweichmanöver verstehen. Schließlich waren wir die Kinder der 1933er, wir mussten plötzlich, unvorbereitet und ungeschützt in die Abgründe deutscher Geschichte und unserer Familien blicken. Das Beste an der Roten Hilfe war, dass sie sich ziemlich schnell sang- und klanglos auflöste. Danach landeten viele von uns wieder im Morast deutscher Geschichte.

Dagmar wurde nicht, wie von ihr einmal gewollt, revolutionäre Lehrerin, sondern Hebamme. Damit markierte sie, dass sie sich von revolutionären Utopien verabschiedet hatte. In einem nächsten Schritt setzte sie sich mit der ihr eigenen Gründlichkeit mit dem Nationalsozialismus auseinander, plante die Ausstellung und schrieb die wesentlichen Teile des Buchs ,,Zerstörte Fortschritte. Das Jüdische Krankenhaus in Berlin".

Den Titel hatte Klaus Hartung gefunden, ihr geschiedener Mann, der ihr zudem die Einleitung schrieb. Klaus sprach darin von ,,einer merkwürdigen öffentlichen Stummheit", von ,,einer tonlosen Gegenwärtigkeit", die über dem Thema liege, dem man ,,nun endlich mit größerer Sorgfalt" nachgehe. Damit meinte er auch sich selber, unsere Generation, die damalige Neue Linke.

Das Jüdische Krankenhaus bestand bis 1945 – immer mehr der Gestapo und SS unterworfen. Dagmar schrieb am Ende ihres Buchs: ,,Die Geschichte des Jüdischen Krankenhauses im Dritten Reich ist weniger die Geschichte einer Institution als die von bedrohten und verfolgten Menschen." Um das möglichst genau darzustellen, hatte sie Überlebende in großer Zahl besucht: in Berlin und Mainz, in New York und Chicago, in Lugano, London, Haifa, Tel Aviv und Jerusalem. Sie befragte dem Holocaust Entronnene, hörte ihnen zu, verlieh ihnen in Deutschland eine Stimme.

Im Juni 1989 wurden Ausstellung und Buch im Jüdischen Gemeindehaus feierlich präsentiert. Dank Dagmars Arbeit waren etwa 40 Ehemalige des Jüdischen Krankenhauses nach Berlin gekommen, ältere Leute, teils hinfällig, ,,aber wache und energievolle Menschen sind es, die etwas wollen, voneinander und auch sonst". So schilderte Klaus Hartung den Eröffnungstag in der taz.

Als Dagmar zum Podium schritt, verhaspelte sich die sonst so selbstbewusst Auftretende, verlor den Faden und fand kein Ende. Aber es wäre falsch zu sagen, sie hätte eine schlechte Rede gehalten. Sie zeigte die tiefe, damals weit verbreitete Unsicherheit. Wir 68er hatten zu mehr als 90 Prozent Väter, die Soldaten der Wehrmacht gewesen waren. Etwa 30 Prozent waren Mitglieder der NSDAP, deutlich mehr hatten dem Führer zugejubelt. Dagmars Stimme versagte immer wieder vor so vielen ihr freundlich und offenherzig zugewandten Juden, die überlebt hatten und nun – dank ihrer Recherchen – nach Berlin gereist waren.

Dagmar lebt von nun an in unserer Erinnerung. Wir erinnern uns mit einem Lächeln und mit Freude an ihre Eigenheiten und an ihre großen Stärken.


Aus: "Nachruf auf Dagmar von Doetinchem: Erinnerungen an die Gräfin" Götz Aly (15. 2. 2022)
Quelle: https://taz.de/Nachruf-auf-Dagmar-von-Doetinchem/!5831941/ (https://taz.de/Nachruf-auf-Dagmar-von-Doetinchem/!5831941/)

Quotenzuli sana
16. Feb, 20:29

Aber die Rote Hilfe gibt es doch seit vielen Jahren mit zahlreichen Ortsgruppen.
Und eine Hebamme kann auch unter Linken zu finden sein. Zum Beispiel dem Netzwerk Solimed.
Seltsame Auffassungen.


...

Quote[...]  Anfang 2021 wird bei ihr ein seltener Tumor an der Speiseröhre entdeckt. ,,Man reißt sich zusammen", hieß es in ihrer Kindheit. Das tut sie jetzt auch. ,,Ach, ich will nicht rumjammern", sagt sie, wenn es allen Grund zum Jammern gibt. Als ihr klar wird, dass ihr Leben abhängig sein wird von Ärzten und immer neuen Therapieversuchen, schwindet ihr Lebenswille. Sie geht friedlich, als ihre Tochter auf der Palliativstation neben ihr am Bett sitzt und zeichnet.

Auf dem Friedhof in der Bergmannstraße liegen schon Steve und ihr Bruder Knut. Um ihn hat sie sich jahrelang gekümmert, als er, psychisch krank, in Berlin auf der Straße lebte. Nun ist sie zu den beiden in ihre letzte WG gezogen. ...


Aus: "Nachruf auf Dagmar Hartung von Doetinchem de Rande Die ,,Gräfin"" Lisa Seelig (25.02.2022)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/nachruf-auf-dagmar-hartung-von-doetinchem-de-rande-die-graefin/28080656.html (https://www.tagesspiegel.de/berlin/nachruf-auf-dagmar-hartung-von-doetinchem-de-rande-die-graefin/28080656.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 16, 2022, 02:59:31 PM
Themen Morrisons: die Befreiung von Autoritäten, insbesondere von Vaterfiguren, die Bewusstseinserweiterung, rauschhafte Triebbefriedigung, die Lebensreise und die Geburt eines neuen Menschen, den keine Zwänge mehr plagen. Es sind Themen, die das konservative Establishment fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Der Gesamtzusammenhang des Songs ist schwer nachzuvollziehen. Warum? Weil sich wohl poetische Experimente und psychedelische Drogen mal wieder bestens verstanden haben.

Quote[...] Es geht wahrlich fix in den Sixties. Wie das Aufbegehren einiger Subkulturen vollzieht auch die Rockmusik in nur wenigen Jahren gewaltige Evolutionsschritte. Eine weltweite Gegenkultur entsteht, und der Soundtrack dazu sprengt schon bald den üblichen dreiminütigen Songrahmen. Stile und Arrangements werden vielfältiger, musikalische und textliche Strukturen werden komplexer, experimenteller. Zu einer der ,,Königsdisziplinen" avanciert der amerikanische Psychedelic Rock, sein spektakulärstes Aushängeschild sind The Doors. Alles an dieser Band aus Los Angeles ist ungewöhnlich. Die Besetzung kommt ohne Bass aus, dafür dominiert eine Orgel; die zum Teil schwer zu deutenden Lyrics haben visionären Charakter; der exzessive Frontmann Jim Morrison, ein multimedial denkender Dichter und Ausnahme-Performer, hält nicht nur die Staatsmacht, sondern auch seine Bandkollegen in Atem: Die Songtexte rütteln auf, die Livekonzerte provozieren Polizeieinsätze und Tumulte.

Einer der berühmtesten und spektakulärsten Songs der Doors erscheint 1967 gleich auf dem ersten Album. The End, als simpler Trennungssong begonnen und dann über einen längeren Zeitraum hinweg zum psychedelischen Epos weiterentwickelt, dauert fast 12 Minuten und behandelt im Rahmen eines düster-dräuenden Klangszenarios die zentralen Themen Morrisons: die Befreiung von Autoritäten, insbesondere von Vaterfiguren, die Bewusstseinserweiterung, rauschhafte Triebbefriedigung, die Lebensreise und die Geburt eines neuen Menschen, den keine Zwänge mehr plagen. Es sind Themen, die das konservative Establishment fürchtet wie der Teufel das Weihwasser. Der Gesamtzusammenhang des Songs ist schwer nachzuvollziehen. Warum? Weil sich wohl poetische Experimente und psychedelische Drogen mal wieder bestens verstanden haben.

Zu Beginn des Stücks erklärt das Song-Ich, dass etwas zu Ende ist. Auch ein wunderschöner Freund wird besungen, und fast scheint es, als sei mit diesem Freund besagtes Ende selbst gemeint: ,,This is the end, my only friend, the end." Aussagen Jim Morrisons zufolge ist das Ende der Tod. Und dieser Tod habe überhaupt nichts Beängstigendes, sondern sei als Freund anzusehen, weil mit ihm doch alle Schmerzen endeten. Und wenn es heißt: ,,I'll never look into your eyes again", dann klingt – Auf Wiedersehen, Ende! – vielleicht schon ein Neubeginn an. In den darauf folgenden Versen ist von grenzenloser Freiheit die Rede, aber auch von einer römischen Wildnis des Schmerzes, von wahnsinnig gewordenen Kindern, merkwürdigen Szenen in der Goldmine und von einem archaischen See im Westen, den man auf einer Schlange erreicht: ,,Ride the highway West, baby / Ride the snake, ride the snake / To the lake, the ancient lake, baby ..." Schon etwas nachvollziehbarer klingt da die Ankündigung einer spirituelle Reise ins Unbekannte, die später in einem blauen Bus fortgesetzt wird: ,,The blue bus is callin' us ..." Ein Kreativtrip nach der Wiedergeburt? Vielleicht in einem Bus wie dem der ,,Merry Pranksters", die als Hippie-Aktivisten durch die USA fuhren, um Drogen-Events zu veranstalten? Na, wenn das so ist – da kann man schon mal zusteigen.

Aus dem Ich ist inzwischen ein Wir geworden, das aber schnell in einer neutralen Erzählung aufgeht. Und dann folgt eine der berüchtigtsten Songpassagen der Rockgeschichte. Es ist die Passage, in der ein Mörder morgens aufwacht, in seine Stiefel steigt, dann wie die Darsteller der griechischen Tragödie eine Maske wählt (,,He took a face from the ancient gallery") und seine Familie aufsucht. Die Geschwister verschont er. Doch den Vater droht er zu ermorden, und der Mutter kündigt er an, mit ihr schlafen zu wollen: ,,He walked on down the hall / And he came to a door, and he looked inside / Father ... – Yes, son? – I want to kill you / Mother, I want to ..." Es folgt kaum identifizierbares Geschrei, aber das ,,fuck you" ist da, es wird aus Gründen der Selbstzensur klanglich zugekleistert und erst später in Remixes offenbart. Die Passage nimmt Bezug auf die Ödipussage und, nicht nur im Motiv der Befreiung von der Autorität des Vaters, auf Sigmund Freuds Theorie des Ödipus-Komplexes.

Die Mitglieder der Doors sehen hier weniger den Skandal, sondern eine theatralische Inszenierung frei nach Sophokles – auch wenn der griechische Tragödiendichter wohl etwas weniger direkt formuliert hätte und ohne Four-Letter-Words ausgekommen wäre. Vielleicht sind die Ablösung von Vaterfiguren und das lustvolle Ausleben der eigenen Sexualität eine existenziell wichtige Etappe auf der angedeuteten spirituellen Reise? Auf jeden Fall kehren die Lyrics rasch zum blauen Bus zurück – ,,C'mon, baby, take a chance with us" – und dann schließt sich der Kreis mit der erneuten Feststellung, dass etwas unausweichlich zu Ende sei: ,,This is the end, my only friend, the end / It hurts to set you free / But you'll never follow me / The end of laughter and soft lies / The end of nights we tried to die / This is the end." Einmal mehr scheint dieses Ende den Beginn von etwas Neuem zu markieren ...

Der Text ist multiperspektivisch angelegt. Ich, Du, Er, Wir – alles fließt hier zusammen, einen logischen Zusammenhang sucht man vergebens. Aber vielleicht wird, ganz im Sinne der griechischen Tragödie, ein kathartischer Effekt angestrebt, eine seelische Reinigung? Schwierig. Der Rockexperte Tom Noga erkennt hier ,,die eklektische Struktur von Jim Morrisons Lyrik", die Mischung aus griechischem Drama, aztekischer Mythologie und ,,einer Prise Kerouac. Ödipus trifft auf die große Weltschlange und die Freiheitsprosa des Beatnik-Schriftstellers." Das US-amerikanische Musikmagazin ,,Rolling Stone" macht es sich einfach und sieht in dem Song ,,a goodbye to childhood innocence". Jim Morrison selbst war überzeugt, The End biete die unterschiedlichsten interpretatorischen Anknüpfungspunkte. Er sollte recht behalten. Es wurde ein Song, in dem sich viele jugendliche Hörerinnen und Hörer der Sixties – die Suchenden, die Zweifelnden, die Experimentierfreudigen, die Frustrierten und die Rebellischen – auf unterschiedlichste Weise wiederfanden. Und der das gesellschaftliche Establishment komplett verstörte.

Im Rockclub ,,Whisky A Go-Go" in Los Angeles gaben The Doors eine Zeit lang die Hausband. Doch nachdem sie das erste Mal The End komplett samt skandalöser Ödipus-Passage gespielt hatten, war damit Schluss. Grund genug für Elektra Records, die Combo unter Vertrag zu nehmen. The Doors wurden immer erfolgreicher – und Jim Morrison immer seltsamer: Er litt unter dem Erwartungsdruck, soff, nahm Drogen und zeigte, wie seine Mitstreiter mutmaßten, Anzeichen von Bewusstseinsspaltung. Gleichzeitig glaubte Morrison tatsächlich an die bewusstseinsverändernde Kraft von Musik und Drogen – an eine positive Transformation der Gesellschaft, ein Break on Through to the Other Side, wie es ein anderer berühmter Doors-Song formulierte. Passend dazu war er begeistert von den Ideen der anarcho-pazifistischen Theatertruppe The Living Theatre, die mit bewusster Manipulation und Entkleidungsaktionen arbeitete, um das Publikum zu unerwarteten Reaktionen zu bewegen. Und so provozierte Morrison nicht nur Ordnungshüter, die sich zunehmend alarmiert bei Doors-Konzerten einfanden, sondern auch Teile der Fans, die nicht jeder seiner Aktionen folgen konnten. Künstlerische Strategie oder persönliche Tragödie? Das war nicht immer auszumachen. Doch Verhaftungen, Freilassungen und die Beobachtung durch das FBI sind verbürgt.

Legendärer Höhepunkt dieser Dynamik war ein Auftritt am 1. März 1969 in Miami. Ganz offensichtlich zugedröhnt beschimpfte Morrison das Publikum und stachelte zum Umsturz auf. Zusätzlich simulierte er an seinem Gitarristen Fellatio – ein seinerzeit gewagter Bühnen-Stunt, den später David Bowie als Ziggy Stardust mit Mick Ronson zum Standardelement von Rockshows machen sollte. Darüber hinaus hantierte Morrison mit einem verstörten lebenden Lamm, um es schließlich, wie er ins Mikro nuschelte, ,,doch nicht zu ficken". Und dann nestelte er auch noch an seiner schwarzen Rockerjeans und setzte dazu an, seinen Penis zu zeigen. Ob ihm das tatsächlich gelang? Oder ob er das Ganze sowieso nur andeuten wollte? Die Antwort kennt nur die Lederhose – denn eindeutige Belege für diesen letzten Akt der Provokation fehlen. Auf jeden Fall wurde Morrison irgendwann von der Bühne gedrängt und kurze Zeit später vor Gericht gestellt. Konzerte wurden abgesagt, Demonstrationen organisiert – gegen die Doors im Speziellen und gegen den Sittenverfall an sich. Die gerichtlichen Auseinandersetzungen dauerten Monate, teils entzog sich der Star, teils war er auf freiem Fuß. Bis er 1971 unerwartet mit nur 27 Jahren verstarb. Die genauen Umstände seines Todes in einer Pariser Wohnung sind bis heute ungeklärt. Morrison galt vielen als gefallener Engel und Prophet, als Kämpfer für die individuelle Freiheit und Opfer eines Systems, das mit überharter Verfolgung ein Exempel an ihm statuierte. Der Stoff, aus dem Rockmythen sind.


Aus: "1967 Was für ein Theater! - The Doors: The End" Michael Behrendt (2021)
Quelle: http://archiv.faustkultur.de/4648-0-Michael-Behrendt-The-Doors-The-End.html (http://archiv.faustkultur.de/4648-0-Michael-Behrendt-The-Doors-The-End.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 20, 2022, 01:36:38 PM
Quote[...] Für eine Gesellschaft der befreiten Arbeit und Liebe. Dušan Makavejevs Film ,,W.R. – Die Mysterien des Organismus" ist eine Hommage an Wilhelm Reich.

... ,,Liebende Kameraden, fickt frei, eurer Gesundheit zuliebe! Der Krebs ist die Hysterie von Zellen, die zum Tode verurteilt sind. Krebs und Faschismus gehören zusammen. Der Faschismus ist ein Rausch sexuell verkrüppelter Menschen!" So spricht eine Stimme aus dem Off über Aufnahmen aus einem sexualrevolutionären Aufklärungsfilm aus dem Jahr 1931.

So ist der Ton gesetzt für Dušan Makavejevs Film ,,W. R. – Die Mysterien des Organismus", der zwischen 1968 und 1971 in den USA und Jugoslawien gedreht und vor vierzig Jahren auf der Berlinale gezeigt wurde, weswegen er dort nun wieder zu sehen ist.

,,Die Mysterien des Organismus" ist eine ernste, traurige, radikale, humorvolle und lebensbejahende Hommage an Wilhelm Reich. Dieser setzte sich mit der Funktion des Orgasmus auseinander, weil er annahm, dass mit jeder psychischen Erkrankung eine Störung der sexuellen Erlebnisfähigkeit einhergehe.

Dieser Film ist ein Klassiker, der nichts von seiner Relevanz verloren hat, abgesehen davon, dass niemand mehr an Revolutionen glaubt.

Makavejev vermerkt auf einer der Texttafeln, die den Film einleiten, Reich habe die Wurzeln der Angst vor der Freiheit, vor der Wahrheit und vor der Liebe im Menschen aufgedeckt. ,,Reich kämpfte für eine Arbeitsdemokratie, glaubte an eine Gesellschaft der befreiten Arbeit und Liebe."

So kann man das zusammenfassen. 1931 hatte Reich den Deutschen Reichsverband für Proletarische Sexualpolitik, kurz Sexpol, gegründet. Aus der KPD wurde er wegen seines Buches ,,Massenpsychologie des Faschismus" hinausgeworfen. Schon 1936 kritisierte er die reaktionären Entwicklungen im Stalinismus scharf.

Die Kirche der Psychoanalytiker schloss ihn später unter anderem wegen seiner Theorie der Lebensenergie aus, die er in Orgonakkumulatoren auf den menschlichen Körper wirken ließ. In den späten 1950ern verbrannten die amerikanischen Behörden seine Bücher und sperrten ihn ein. 1957 starb er vor der Zeit, Opfer der Angst vor der Freiheit und der Liebe.

In den 1960ern hatten seine Ideen großen Einfluss auf die Studentenrevolte, offenkundig nicht nur im Westen, sondern auch im sozialistischen Jugoslawien, wo sie unter anderem Dušan Makavejev inspirierten.

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Aus: "Ohne Orgasmus keine freie Gesellschaft: Die Angst vor der Liebe" Ulrich Gutmair (20. 2. 2020)
Quelle: https://taz.de/Ohne-Orgasmus-keine-freie-Gesellschaft/!5662832/ (https://taz.de/Ohne-Orgasmus-keine-freie-Gesellschaft/!5662832/)

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Quote[...] Reichs damalige Lebensgefährtin, die Tänzerin Elsa Lindenberg, hatte ihr Domizil in der Berliner ,Künstlerkolonie', einer Hochburg des Widerstands gegen Hitler. Reich war Mitglied der dortigen kommunistischen Zelle, der u. a. der Schriftsteller Arthur Koestler, der Philosoph Ernst Bloch und der Schauspieler-Sänger Ernst Busch angehörten. Nur wenige Tage nach dem Reichstagsbrand kam es zu einer Großrazzia, über die der Völkische Beobachter am 15. März 1933 berichtete: ,,Heute Vormittag wurde durch eine Bereitschaft Schutzpolizei [...] der große Block am Südwestkorso in Wilmersdorf, der den schönen Namen ,Künstlerkolonie' führt, abgeriegelt und durchsucht. Dieser Gebäudekomplex beherbergte seit seinem Bestehen eine Auslese übelster Intellektueller und Kommune-Blutredner, die dort in luxuriösen Wohnungen, im Schutze eisenbeschlagener Türen, ihre Haßgesänge gegen das erwachende Deutschland verfaßten." Zu diesem Zeitpunkt war Wilhelm Reich schon nicht mehr in Berlin. Denn er gehörte zu den ,,österreichischen Staatsangehörigen", die wegen ,,ihrer Betätigung in der kommunistischen Bewegung" auf einer Liste standen, die die Gestapo im Mai 1933 der Bundespolizeidirektion Wien übermittelte. Dorthin war Reich geflohen, um seiner Verhaftung zu entkommen. Dass Reich in Gefahr war, das wusste auch Max Eitingon, der Vorsitzende der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG), der im Sommer 1933 (nach Palästina) emigrierte. Er ließ Wilhelm Reich ,,mitteilen", das Berliner Psychoanalytische Institut (BPI) ,,nicht mehr [zu] betreten, damit, falls er verhaftet werden würde, dies nicht in unseren Räumen geschehen könne". So steht es in einem der Berichte, die Felix Boehm – der im November 1933 als ,arischer' Nachfolger Eitingons das Amt des DPG-Vorsitzenden übernahm – für Ernest Jones, den Präsidenten der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) anfertigte, um ihn über das ,Schicksal' der Psychoanalyse unter Hitler auf dem Laufenden zu halten.

... Wilhelm Reich war – neben Otto Gross als Vorläufer und Erich Fromm als Zeitgenosse – einer der Pioniere der Erforschung der autoritären Persönlichkeit. Die 1933/34 in Szene gesetzte Ausgrenzung Wilhelm Reichs aus den psychoanalytischen Organisationen erfolgte nach Lesart der vereinspolitisch motivierten Geschichtsschreibung jedoch nicht wegen dieser – aus heutiger Sicht – begrüßenswerten Pionierleistung, sondern deshalb, weil aus Reich ein ,schlechter' Psychoanalytiker wurde. Robert Waelder, ein vormaliger Lehranalysand Anna Freuds, der 1934 beim Luzerner Kongress an der Sitzung des IPV-Gremiums teilgenommen hatte, das den 1933 beschlossenen DPG-Ausschluss Reichs absegnete, formulierte in einer Besprechung der von Reich herausgegebenen Exil-Zeitschrift harsch: ,,So muß denn in aller Klarheit gesagt werden, daß die hier vorliegenden ,wissenschaftlichen' Bestrebungen mit der Psychoanalyse nichts mehr zu tun haben, daß niemand, der Reich auf seinem Weg folgt, mehr Recht hat, sich noch auf die Psychoanalyse zu berufen [...]."

Am 17. April 1933, also nur zehn Tage, nachdem Reich seinen Vortrag über die Massenpsychologie der nationalen Bewegung in Wien gehalten hatte, traf dort Boehm mit Freud zusammen, um mit ihm die weitere Politik der DPG zu besprechen. ,,Die Unterredung verlief sehr herzlich", heißt es in einem Bericht Boehms für Jones (dem auch die folgenden Zitate entnommen wurden). Bei der Verabschiedung habe Freud u. a. den ,,Wunsch" geäußert: ,,befreien Sie mich von Reich". Nachdem Eitingon (vermutlich durch Boehm selbst) von diesem ,,Wunsch" erfahren hatte, schrieb er an Freud, sollte Boehm tatsächlich ,,den Auftrag bekommen [haben], Reich hinauszuwerfen, so wird er das mit dem Takt machen, der uns sicher die Freude an der vollzogenen Tatsache ganz verderben würde". Und dann setzte er noch hinzu: ,,Wir sollten Reich nicht gerade jetzt hinauswerfen [...]."

... Reichs spätes Eintauchen in die Welt des Kosmischen ist vor dem Hintergrund einer von zahlreichen Verlusterlebnisse und Traumatisierungen geprägten Lebensgeschichte zu beurteilen (s. Bernd Nitzschke: Familiäre und gesellschaftliche Gewalt und Verfolgung im Leben Wilhelm Reichs. In: Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft, Heft 42, 2017). Anfang der 1960er Jahre konnte man in einer psychoanalytischen Fachzeitschrift einen Beitrag lesen, der den Titel trug: ,,Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?" Der – polemisch zugespitzten – Formulierung lag die Frage zugrunde, ob die psychische Erkrankung eines Überlebenden nationalsozialistischer Gewalt und Verfolgung als Traumafolgestörung anzuerkennen sei oder aber als anlagebedingt zu gelten habe. Im letzteren Fall konnte man die Forderung nach ,Wiedergutmachung' zurückweisen. Unter der Zwischenüberschrift ,,Trauma und Psychose" schrieb Kurt R. Eissler, der Autor dieses Beitrags, dass ,,die Widerstandskraft gegen psychotische Erkrankungen" bei jedem Menschen ,,durch die Umwelt gestärkt oder geschwächt werden kann". Auf Wilhelm Reich bezogen heißt das: bei der Beurteilung seines Spätwerkes wären neben den lebensgeschichtlich frühen auch die Traumata zu berücksichtigen, denen er nach seiner Flucht aus Deutschland ausgesetzt war.

Nach seiner Emigration kurz vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs im August 1939 wurde Wilhelm Reich in den USA erneut zum Objekt der Beobachtung – durch das FBI (Federal Bureau of Investigation) – und der Ausgrenzung – durch die FDA (Food and Drug Administration). Anfang der 1950er Jahre wurde seine ,Orgon'-Medizin als Quacksalberei verurteilt. Seine Schriften wurden zum zweiten Mal verbrannt (s. Philip B. Bennet: The persecution of Dr. Wilhelm Reich by the government of the United States. In International Forum of Psychoanalysis, 2009). Schließlich kam er wegen Missachtung des Gerichts ins Zuchthaus Lewisburg, Pennsylvania, wo er kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag am 3. November 1957 einsam und verlassen an Herzversagen – beziehungsweise an gebrochenem Herzen – starb.

Reich hatte sich in eine scheinbar bessere Welt gerettet, die er in den ,Orgon'-Schriften beschwor, während er die schlechte Welt, in der er Verfolgung und Vertreibung, Diffamierung und Verurteilung erlebte, mehr und mehr aus den Augen verlor. Bei einem 1951 unternommenen ORANUR-Experiment (abgeleitet von: ORgone Against NUclear Radiation) jagte er die Welt um sich herum buchstäblich in die Luft. Das in einen ,Orgon'-Akkumulator eingebrachte Radium hatte eine Explosion ausgelöst, bei der Mitarbeiter Reichs, seine Tochter Eva (aus erster Ehe) und seine zweite Ehefrau, Ilse Ollendorff, zu Schaden kamen, die sich kurz darauf (1954) von ihm scheiden ließ. Der Versuch, DOR (abgeleitet von: Deadly Orgon = radioaktive Strahlung) mit Hilfe heilsamer ,Orgon'-Energie unschädlich zu machen, war gescheitert. In einem Brief an Alexander Neill beschrieb Reich die Katastrophe mit diesen Worten: ,,Es war eine schreckliche und zugleich sehr aufregende Erfahrung, so als hätte ich den Grund des Universums berührt."

Verworfen und ausgegrenzt geriet Wilhelm Reich bald nach seinem Tod in Vergessenheit. Ein Jahrzehnt später erinnerten sich dann aber die 68er-Rebellen an ihn, denn einige Titel seiner Bücher klangen so, als hätte er sie eigens für sie geschrieben: Die Funktion des Orgasmus (1927), Die sexuelle Revolution (1966). In Westdeutschland kam die Auseinandersetzung der Söhne und Töchter mit den Eltern, die ihnen nicht erklären konnten oder wollten, warum sie sich 1933 einer Diktatur beugten oder sie sogar enthusiastisch begrüßten, noch hinzu. Die 68er interessierten sich deshalb nicht nur für Marx und Freud, sondern auch für einen marxistischen Psychoanalytiker, der als Gegner der Nationalsozialisten im Exil ein Buch mit dem Titel Massenpsychologie des Faschismus veröffentlicht hatte.

Wollte man bisher die von Wilhelm Reich 1933 formulierte Analyse des realen Faschismus beziehungsweise der Gläubigkeit der Anhänger und Befürworter autoritärer Herrschaft (kirchlicher, politischer oder sonstiger Gruppierungen) nachvollziehen, musste man auf einen der ,Raubdrucke' der Massenpsychologie zurückgreifen, die in der Folge der Wiederentdeckung Reichs durch die 68er-Bewegung erschienen sind, oder man nahm eine Neufassung zur Hand, in die Reich die ,Orgon'-Theorie umfangreich eingearbeitet hat. Bis heute zitierten geschichtsvergessene Autoren, die Reich kritisieren wollten, immer wieder spätere Überarbeitungen, ohne auf die Unterschiede zur Originalausgabe der Massenpsychologie zu achten, geschweige denn darauf hinzuweisen. Nun aber hat Andreas Peglau eine sorgfältig editierte Neuausgabe des Originaltextes der Massenpsychologie des Faschismus von 1933 vorgelegt, ergänzt durch das Nachwort zur 2. Auflage von 1934, eine Zeittafel mit den wichtigsten Lebens- und Werkdaten zu Wilhelm Reich sowie einen biographisch-zeitgeschichtlichen Abriss, in dem der Kontext des Werkes vorzüglich erläutert wird. Diese Neuausgabe ist allen Lesern zu empfehlen, die nachvollziehen wollen, wie sich ein jüdisch-marxistischer Psychoanalytiker 1933 in einer Exil-Publikation mit dem sich abzeichnenden Unheil nationalsozialistischer Macht- und Gewaltpolitik auseinandergesetzt hat.

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Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933.
Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2020.
280 Seiten , ISBN-13: 9783837929409




Aus: "Die Wiederkehr eines Verdrängten" Bernd Nitzschke (Nr. 1, Januar 2021)
Die Neuausgabe von Wilhelm Reichs ,,Massenpsychologie des Faschismus" lädt zur wissenschaftshistorischen Rekonstruktion eines epochalen Werkes ein
Quelle: https://literaturkritik.de/reich-massenpsychologie-des-faschismus-die-wiederkehr-eines-verdraengten,27469.html (https://literaturkritik.de/reich-massenpsychologie-des-faschismus-die-wiederkehr-eines-verdraengten,27469.html)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 24, 2022, 08:57:05 PM
Quote[...] [Es] haben [ ] antitotalitäre Autoren in den 1990er Jahren vor allem in Frankreich in direkter Anspielung auf historische Schwarzbücher zum Faschismus ein Schwarzbuch des Kommunismus erstellt, das seinerzeit auf große Resonanz und geharnischte Kritik gestoßen ist und zahlreiche Ungenauigkeiten und Übertreibungen, aber auch einen wahren Kern enthielt. Im Anschluss an ex-kommunistische Dissidenten und sog. ,,Renegaten" schon seit den 1930er und 1940er Jahren wurden Menschheitsverbrechen kommunistischer Regime vor allem gegen Kritiker:innen und Gegner:innen angeprangert, die lange aus einem falsch verstandenen Anti-Antikommunismus, wie man die reflexhafte Übersprungreaktion auf den grobschlächtigen Antikommunismus westlicher Provenienz bezeichnen kann, ignoriert, geleugnet oder beschönigt worden waren.

Eine sympathetische Variante der Kommunismuskritik bietet [ ] der Antistalinismus, der sich von allen Perversionen und Gewalttaten kommunistischer Potentaten distanziert und zum Teil einen unkontaminierten Kern der kommunistischen Idee zu retten versucht.

... Dass der Kommunismus erinnerungswürdig ist, sollte unbestritten sein. Eine Idee, die Millionen Menschen in ihren Bann geschlagen und mobilisiert hat, und eine machtvolle Bewegung, die zugleich Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, sind schwerlich zu ignorieren. Es geht darum, wie man ohne die lange vorherrschende Hagiografie und Mystifizierung auskommt und die von den Gegnern und Feinden betriebene Propaganda vermeidet. Es bleibt das Spannungsverhältnis zwischen einem auf humanistischen Kategorien aufbauenden Menschenbild und diesen völlig zuwiderlaufenden Praktiken, die an jedem Ort eines ,,realexistierenden Sozialismus" aufgetreten sind.

... Was ist also ,,Kommunismus", dieses Gespenst, das einst in Europa und der Welt umging, heute: ein antiquarisches Studienobjekt, ,,nur so eine (in Schönheit gestorbene) Idee"? Oder das Monster, das für immer mit dem GULag assoziiert bleibt? Ein Untoter, der immer wieder idealistische Begeisterung hervorruft? Oder ein Mutant, der gerade die Gestalt des russischen Imperialismus angenommen hat? Von allem etwas wohl. Doch wie sagte Christian Semler, 68er, ex-KPD/AO und graue Eminenz der taz, gerne: Kein Kommunismus ist auch keine Lösung. [https://taz.de/fileadmin/static/pdf/2013-05-02_PM-Semler-Buch.pdf (https://taz.de/fileadmin/static/pdf/2013-05-02_PM-Semler-Buch.pdf)]


Claus Leggewie ist Ludwig Börne-Professor an der Universität Gießen und hat 2011 mit Anne Lang das Buch ,,Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt" bei C.H. Beck/München veröffentlicht.


Aus: "Wie erinnerungswürdig ist der Kommunismus? Zur geplanten Rekonstruktion des Revolutionsdenkmals von Mies van der Rohe" Claus Leggewie (26. Juni 2022)
Quelle: https://geschichtedergegenwart.ch/wie-erinnerungswuerdig-ist-der-kommunismus-zur-geplanten-rekonstruktion-des-revolutionsdenkmals-von-mies-van-der-rohe/ (https://geschichtedergegenwart.ch/wie-erinnerungswuerdig-ist-der-kommunismus-zur-geplanten-rekonstruktion-des-revolutionsdenkmals-von-mies-van-der-rohe/)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on August 31, 2022, 12:41:39 PM
Hans-Christian Ströbele, Horst Mahler und Otto Schily Anfang der 70er Jahre. Mahler ist der Angeklagte, die beiden anderen sind seine Verteidiger. ... Der Film [,,Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte" (Birgit Schulz, 2009)] verfolgt die Biografien von drei Männern, die einer Generation angehören und die sich in der selben bundesdeutschen Wirklichkeit entwickelt haben. Regisseurin Birgit Schulz untersucht, was diese Männer geprägt hat, was sie in Bezug auf ihre politischen Ideale verbunden hat, und an welchen Punkten die drei unterschiedliche Wege eingeschlagen haben, um am Ende Gegner zu werden ... Was in den einzelnen Biografien auf den ersten Blick widersprüchlich aussieht, ist für die Beteiligten logisch. Denn in sich haben alle drei Lebensläufe eine gewisse Konsequenz. Und zumindest behauptet jeder, sich treu geblieben zu sein ... | Zu: ,,Die Anwälte – Eine deutsche Geschichte" (08.09.2015)| Quelle: https://www1.wdr.de/fernsehen/wdr-dok/sendungen/die-anwaelte-124.html (https://www1.wdr.de/fernsehen/wdr-dok/sendungen/die-anwaelte-124.html) // " ... ,,Die Gemeinsamkeit, die bei den drei früheren ,,Linksanwälten" über alle Gräben in dem Film spürbar wird, ist eine Lust an der Dissidenz. Darin sind sie nicht nur Erben der Revolte von 1968. In ihren Biographien entfalten sich auch die verschiedenen Facetten, Triumphe wie Abgründe, eines libertären Freiheitsverständnisses, das sich aus Gesinnungsethik und Widerstandsgeist speist. Es ist das Verdienst dieses irritierenden, hochspannenden Dokumentarfilms, dass er die Fragen an diese Biografien an uns weiterreicht." – Rüdiger Suchsland (2009)..." —> https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Anw%C3%A4lte_%E2%80%93_Eine_deutsche_Geschichte (https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Anw%C3%A4lte_%E2%80%93_Eine_deutsche_Geschichte) (04. Juli 2020)
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Michael Sontheimer (31.8.2022): " ... Der junge Ströbele war ein schlechter Schüler und Elvis-Presley-Fan; kein an Politik interessierter Linker, sondern Leser von Springers Tageszeitung Die Welt. Erst bei der Bundeswehr erwachte sein rebellischer Geist, er schrieb zahlreiche Beschwerden für Kameraden und verweigerte seine Beförderung zum Gefreiten. Andererseits gewann er bei einem Schießwettbewerb einen Hubschrauberflug über der Lüneburger Heide. Sein Jurastudium in Heidelberg und West-Berlin betrieb er nicht übereifrig, schon vor dessen Abschluss heiratete er 1967 die Diplomatentochter und Schauspielerin Juliana Gregor, mit der er bis zuletzt zusammenlebte. Der entscheidende Wendepunkt seines Lebens war der 2. Juni 1967 in West-Berlin. Nachdem bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien der Student Benno Ohnesorg von dem Kriminalbeamten Karl-Heinz Kurras erschossen worden war [–> https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Heinz_Kurras], heuerte der Justizreferendar Ströbele bei dem bekannten Anwalt Horst Mahler [–> https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Mahler] an, der linke Studenten verteidigte. Zwei Jahre später gründete er mit ihm und Klaus Eschen das erste ,,Sozialistische Anwaltskollektiv". ... Bei den Grünen zählte Ströbele zu den ,,Fundis" oder ,,Fundamentalisten" und lieferte sich harte Kämpfe mit dem Ober-Realo Joschka Fischer und dessen Anhängern. Die Realos wollten so schnell wie möglich in die Regierung, Ströbele wollte an grünen Prinzipien festhalten. ... Der Einmarsch der Russen in der Ukraine hat ihn zuletzt schwer erschüttert. Das hatte er Putin nicht zugetraut. Aber er hätte auch seiner eigenen Partei, den Grünen nicht zugetraut, sich an die Spitze derer zu stellen, die mit schweren Waffen die Ukraine verteidigen wollen. Am Montag ist Christian in seiner Wohnung in Moabit am Ufer der Spree gestorben. ..." | https://taz.de/Christian-Stroebele-ist-gestorben/!5878473/ (https://taz.de/Christian-Stroebele-ist-gestorben/!5878473/)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on November 07, 2022, 04:00:10 PM
Quote[...] Das Manifest der 2000 Worte (vollständiger Titel: Zweitausend Worte, die an Arbeiter, Landwirte, Beamte, Künstler und alle gerichtet sind; tschechisch: Dva tisíce slov, které patří dělníkům, zemědělcům, úředníkům, umělcům a všem) ist einer der wichtigsten Texte des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei von 1968.

... Es beleuchtete nicht nur die Rolle der Kommunistischen Partei im Prozess des ,,Prager Frühlings" sehr kritisch und forderte eine unbedingte Weiterführung der Reformpolitik, gegen die reaktionären Kräfte im In- und Ausland, sondern übte auch allgemein heftige Kritik an den ,,Irrtümern des Sozialismus". Die Führung der Kommunistischen Partei lehnte das Dokument als eine Misstrauenserklärung gegenüber ihrer Politik ab. Die Bevölkerung, insbesondere auch die bis dahin eher passive Arbeiterschaft, begrüßte das Manifest hingegen in einem ,,stürmischen Echo". Generell führten die ,,2000 Worte" zu einer weiteren Radikalisierung sowohl der konservativen als auch der reformorientierten Kräfte, während die Regierung Černík und die Mehrheit der Parteiführung unter Dubček sich gezwungen sahen, zwischen beiden Seiten zu lavieren.  ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Manifest_der_2000_Worte (https://de.wikipedia.org/wiki/Manifest_der_2000_Worte)

Einträge in der Kategorie ,,Prager Frühling"
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Quote[...] Die meisten, die hierzulande ,,68" sagen, meinen damit die Protestbewegungen von Berkeley und Paris über Frankfurt und Berlin bis Tokio. Die weltweite Bewegung wurde von unterschiedliche Motiven gespeist. Der Kalte Krieg, Opposition gegen den Krieg in Vietnam sowie die Suche im Westen nach Alternativen zum kapitalistischen Produktions- und Konsummodell spielten sicher eine große Rolle. Vergessen wird dabei aber zumeist der zeitgleich stattfindende Aufbruch im Osten.

Der ,,Prager Frühling" von 1968 war das Fanal oder ,,Geschichtszeichen", um einen anderen Sozialismus als den des ,,realexistierenden" und polizeistaatlichen Sowjetmodells in Osteuropa durchzusetzen. Mit dem Prager Frühling verband sich 1968 vorerst letztmalig die globale Hoffnung auf einen Sozialismus mit ,,menschlichem Antlitz", einem sogenannten Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Staatskommunismus.

Das Wort ,,Geschichtszeichen" stammt von Kant. Er charakterisierte mit dem Begriff die Französische Revolution, in der er – trotz Jakobinismus und Terror – eine Tendenz für ,,das Fortschreiten zum Besseren" und ,,eine Revolution ... in den Gemütern aller Zuschauer" und ihrer ,,Denkungsart" sah. Oft sind es jedoch nicht erfolgreiche Revolutionen, die ,,das Fortschreiten zum Besseren" anzeigen, sondern Niederlagen, Rückschläge und Katastrophen. Das trifft im besonderen Maße auf den 21. August 1968 zu, dem Tag der militärischen Vernichtung des Experiments ,,Sozialismus mit menschlichem Antlitz".

Mit Kant kann man darin nichts Geringeres als den Beginn ,,einer Tendenz des menschlichen Geschlechts im Ganzen" sehen – nämlich die Befreiung von Völkern und Staaten, sich entscheiden zu müssen zwischen Pest und Cholera – kapitalistischer Entmündigung oder leninistisch-stalinistischer Diktatur. Der 21. August 1968 war eine Katastrophe für die direkt Betroffenen und eine Niederlage für alle nicht leninistisch-stalinistisch verblendeten Linken – ein ,,Geschichtszeichen": Denn ,,das Fortschreiten zum Besseren" ist möglich, sofern sich die politisch-moralischen Energiepotenziale, die die Ereignisse in der ČSSR bargen, auch in der ,,Denkungsart" der Zuschauer außerhalb des Landes verbreiten.

Was die westliche Presse ,,Prager Frühling" taufte, in Analogie zur Tauwetterperiode in der Sowjetunion, benannt nach dem Roman ,,Tauwetter" (1946) von Ilja Ehrenburg, begann schon Anfang der 1960er Jahre. Die ČSSR befand sich in einer wirtschaftlichen Stagnation, die Reformen unumgänglich machte. Der Ökonom Ota Šik (1919–2004) wurde zum Promotor dieser Reformen. Er lancierte das Projekt einer Verbindung von Markt und Plan zu einer ,,sozialistischen Marktwirtschaft". Nach seiner Flucht in die Schweiz wurde er zum Theoretiker des ,,Dritten Wegs" zwischen Kapitalismus und Sozialismus.

Wichtige Impulse verdankte der Prager Frühling auch dem Kultursektor. Im Mai 1963 fand unter Leitung des Literaturwissenschaftlers Eduard Goldstücker (1913–2000) eine internationale Konferenz zur Rehabilitierung Franz Kafkas statt. Der galt im Osten als Dichter der bürgerlichen Dekadenz. Die literarische Avantgarde um Ivan Klima, Pavel Kohout und Václav Havel wurde ab Mitte der 1960er Jahre zum Zentrum der Reformbewegung, die die politische Führung zunächst zur Lockerung der Zensur und im März 1968 zu deren Abschaffung zwang.

Mit der Abwahl des Stalinisten Antonin Novotný und der Wahl des Slowaken Alexander Dubček zum Ersten Sekretär der KPČ im Januar 1968 übernahm die Partei die Führung der Reform und legte ein Programm vor, das für einen Sozialismus stand, der ,,ohne selbsternannte Führer und ohne gefühllose Bürokratie" (Otfrid Pustejovsky) auskam und Pluralismus und Meinungsfreiheit garantierte. In Moskau, Warschau, Budapest, Sofia und Pankow schrillten die Alarmglocken. Gut einen Monat vor der militärischen Intervention vom 21. August 1968 warnten die interventionsbereiten ,,Bruderländer" am 15. Juli vor der ,,Gefahr einer Lostrennung der Tschechoslowakei von der sozialistischen Gemeinschaft".

Zum Scheitern des leninistisch-stalinistisch fundierten Sozialismus trug bei, dass er sich an vermeintlich wetterfesten Wissensbeständen über den Lauf der Geschichte und vermeintlich prall gefüllten Reservoiren an historischen Sinnvorräten orientierte, als deren wichtigste Quelle eine teils von Hegel, teils von Marx inspirierte Geschichtsphilosophie fungierte. Hegel wie Marx zehrten von der jüdisch-christlichen Tradition des göttlichen Offenbarungsversprechens (Apokalypse).

Wie die Glaubensgewissheit in der Religion funktioniert die Geschichtsphilosophie politisch als Transmissionsriemen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und ungewisser Zukunft. Ihre prinzipielle Unvorhersehbarkeit wird religiös sowie historisch-spekulativ und politisch-propagandistisch unterlaufen oder wegdisputiert. In der Geschichtsphilosophie wird das religiöse Erlösungsversprechen ersetzt durch die Beschwörung des Glaubens an ,,gesetzmäßigen" Fortschritt.

Dieser bildet das angeblich letzte Ziel der Geschichte, sie selbst wird zum Motor und Subjekt ,,der" Geschichte geadelt und zur Stellvertreterin des allwissenden Schöpfergottes. ,,Die" Geschichte als Super-Subjekt ist das Leitmotiv des fortschrittsgewissen Historismus ebenso wie des Leninismus-Stalinismus.

Marx ersetzte vor allem in seinen frühen Werken den Weltgeist Hegels durch das Proletariat. Lenin und seine Adepten überboten den Meister beträchtlich, als sie behaupteten, es existiere mit dem Proletariat eine soziale Klasse, die über einen privilegierten Zugang zur Gesellschaftstheorie, über den Schlüssel zum Gang ,,der" Geschichte und – mit ihren Universalwerkzeug ,,Partei" – Zutritt zur Wahrheit verfüge.

Mit dem Geschichtszeichen vom 21. August 1968 ist die Orientierung von Sozialismus an solchen Konzepten obsolet geworden. Linke Politik kann nicht länger mit spekulativ erschlossenen Sinnbeständen und Glaubensreservoiren rechnen, sondern muss ihr Handeln und Denken an den politisch-moralischen Energiepotenzialen von Geschichtszeichen ausrichten. Die Niederlage der Pariser Kommune von 1870/71 beförderte die Einsicht, dass die Arbeiterbewegung nicht ohne Organisation auskommt, wenn sie erfolgreich sein will.

Der kontinuierliche Aufstieg der SPD zur stärksten Partei im Kaiserreich begann mit Bismarcks Sozialistengesetz und der Einsicht, wie man die Willkür und das orchestrierte Zusammenspiel von Politik, Polizei und Justiz mit Fantasie, Vorsicht und Beharrlichkeit unterläuft, erschüttert und schließlich überwindet.

Mit der Absage linker Politik an geschichtsphilosophisch oder auf andere Weise spekulativ erschlossene Ziele und der Orientierung an Niederlagen und Katastrophen ist weder ein konturloser Pragmatismus verbunden noch die Option, dass nur weitere Niederlagen und Katastrophen die Wende zum Besseren bringen würden. Geschichtszeichen sind keine mit abstrakten Hoffnungen aufgeblasenen Ereignisse und keine Kopiervorlagen für Nachgeborene. Geschichtszeichen sind aber auch keine Vehikel, um ,,aus der Geschichte zu lernen", wie es im Volksmund heißt. Geschichte lehrt gar nichts.

Sie taugt nicht länger als ,,magistra vitae", als ,,Lehrerin fürs Leben", seit sich der soziale, politische und wirtschaftliche Wandel beschleunigt und dynamisiert hat. Versuche, Problemen und Umwelten mit den Mitteln und Methoden früherer Generationen zu begegnen, sind zum Scheitern verurteilt. Herkunft und Tradition kommen in Geschichte und Politik nur noch Nebenrollen zu. Nachspielen geht in der Politik nur noch für Narren und Narzissten.

Geschichtszeichen sind also nicht als Rezepte zum Denken und Handeln zu verstehen. Sie enthalten aber ein durch Erfahrungen gesättigtes politisch-moralisches Energiepotenzial. Kant nannte dieses Potenzial ,,Enthusiasm", der aus der ,,Teilnehmung am Guten mit Affekt" resultiert. Ob politisch-moralische Energiepotenziale von Geschichtszeichen aktualisierbar sind, ist nicht vorab auszumachen, sondern wird erst im Vollzug bestätigt oder widerlegt.

Sich an den politisch-moralischen Energiepotenzialen zu orientieren, wie sie das Geschichtszeichen vom 21. August 1968 in Prag enthält, ist auf jeden Fall rationaler und aussichtsreicher als ideologisch fundiertes Vertrauen auf den ,,objektiven Gang der Geschichte", auf vermeintliche Lehren daraus oder ihr spekulativ zugeschriebene dogmatische Ziele.


Aus: "Niederschlagung des Prager Frühlings: ,,Das Fortschreiten zum Besseren"" Rudolf Walther (21. 8. 2020)
Quelle: https://taz.de/Niederschlagung-des-Prager-Fruehlings/!5702939/ (https://taz.de/Niederschlagung-des-Prager-Fruehlings/!5702939/)

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Quote[...] In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 marschierten Truppen der UdSSR und der Volksrepubliken Bulgarien, Polen und Ungarn in die Tschechoslowakei (ČSSR) ein. Sie besetzten das Territorium eines "Bruderlandes", um die Umsetzung der von ihnen als konterrevolutionär bezeichneten Ideen der Prager Reformer vom Frühjahr des Jahres zu stoppen. Die DDR, so stellte sich nach 1989 heraus, war mit ihrer Nationalen Volksarmee für Versorgungsleistungen und wichtige Logistik im Umfeld der Besetzung außerhalb des tschechischen Territoriums eingesetzt.

Dass die Ideen des "Prager Frühlings" in der DDR für große Besorgnis in der politischen Führung sorgten, lässt sich auch an den Stasi-Unterlagen ablesen. Der mögliche "Riss" im sozialistischen Lager, in den das Ausscheren der Prager Kommunisten durch den Versuch eines demokratischeren Sozialismus umgewidmet wurde, wurde mit großer Sorge, fast Panik betrachtet. Für kein anderes Ostblockland war der Zusammenhalt des sozialistischen Staatenbündnisses von so existentieller Bedeutung wie für die DDR.

... Neben der aktiven Nachrichtenbeschaffung zur Lage in der ČSSR hatte das MfS zudem die Aufgabe, jede Art von Solidaritätsbekundung mit den tschechischen Reformern im eigenen Lande zu unterdrücken. Nach Analysen der DDR-Staatsanwaltschaft wurden allein bis Oktober 1968 1.189 Personen in der DDR wegen ihrer Sympathiekundgebungen für den Prager Frühling strafrechtlich belangt. Selbst innerhalb der SED wurden gegen 3.358 Mitglieder aus diesem Grunde Parteiverfahren eingeleitet. ...


Aus: "Die Stasi und das Ende des "Prager Frühlings"" (Abgerufen am 07.11.2022)
Quelle: https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/die-stasi-und-das-ende-des-prager-fruehlings/ (https://www.stasi-unterlagen-archiv.de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/die-stasi-und-das-ende-des-prager-fruehlings/)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 05, 2023, 04:55:35 PM
Quote...  Die Euphorie, mit der sie den umherschweifenden Schizo als eine gegen jegliche Ordnung aufbegehrende ,,Wunschmaschine" beschrieben, atmete zugleich zutiefst den Geist der antiautoritären Rebellion von 68, und wie noch jedes im Elan des Aufbruchs und der Veränderung verfaßte Werk wirkt, in der Rückschau betrachtet, auch dieses Buch in vielen seiner Hoffnungen naiv. ... Mathias Bröckers (31.10.1992)

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Quote[...] Gilles Deleuze und Félix Guattaris Text richtet sich zunächst und unter anderem gegen den zeitgenössischen psychoanalytischen Diskurs. Der Vorwurf lautet, dass mit dem Ödipus-Komplex eine Interpretationsfolie der Psyche angelegt wird, die ebenjene notwendigerweise auf einen theatralisierten Familienkonflikt reduziert, diesen ahistorisch als anthropologische Konstante totalisiert, die Struktur des Unbewussten auf Sprachlichkeit verpflichtet und – last but not least – eine Komplizenschaft mit dem Kapitalismus eingeht. Man mag die Kritik des Philosophen Deleuze und des Psychiaters Guattari stellenweise für überzogen wahrnehmen, doch ihre Produktivität lässt sich nicht leugnen. ...


Aus: "Lektüre-Klausur: Gilles Deleuze / Félix Guattari: Anti-Ödipus" Julian Werlitz  (21. Oktober 2020)
Quelle: https://ethik-der-textkulturen.de/etk/lektuere-klausur-gilles-deleuze-felix-guattari-anti-oedipus/ (https://ethik-der-textkulturen.de/etk/lektuere-klausur-gilles-deleuze-felix-guattari-anti-oedipus/)


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QuoteSchizoanalyse ist ein kritischer Gegenentwurf zur Psychoanalyse. Die Schizoanalyse wurde von Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem gemeinsam verfassten Werk Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie (französisch Capitalisme et schizophrénie. L'anti-Œdipe) (1972/1980) entwickelt. ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Schizoanalyse (https://de.wikipedia.org/wiki/Schizoanalyse)

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Quote[...] Wunschmaschine (im Original französisch machine désirante ,Begehrensmaschine') ist ein Neologismus, der von Gilles Deleuze und Félix Guattari 1972 in ihrem Werk Anti-Ödipus: Kapitalismus und Schizophrenie Bd. 1 für das Konzept eines produktiven maschinellen Unbewussten eingeführt wurde. Der Begriff wurde im philosophischen und psychologischen Diskurs international und im deutschen Sprachraum aufgegriffen, zum Beispiel bei Henning Schmidgen: Das Unbewußte der Maschinen und bei Klaus Theweleit: Männerphantasien, sowie – bei Verlust der philosophischen Bedeutung – in die Alltagskultur und Konsumkultur übernommen. An seiner Stelle verwenden Deleuze und Guattari 1980 in ihrem Werk Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie Bd. 2, philosophisch neu definiert, den Begriff ,,Assemblage". ...


https://de.wikipedia.org/wiki/Wunschmaschine (https://de.wikipedia.org/wiki/Wunschmaschine) (24. August 2018)

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Quote[...] Vor zwanzig Jahren, im Sommer 1972, erschien der ,,Anti-Ödipus", ein Buch, zu dem sich Gilles Deleuze, Philosophie-Professor in Vincennes bei Paris, und der Psychoanalytiker Felix Guattari zusammengetan hatten und dessen Name Programm war: Es blies zum Sturm auf Ödipus, die Galionsfigur der Freudschen Theorie. Mit einem ungeheuren Erfolg: 20.000 Exemplare des schwierigen theoretischen Werks wurden allein im ersten Jahr verkauft, Übersetzungen sorgten in Europa und auch in den USA für eine Verbreitung weit über Spezialistenkreise hinaus. Aufsehen erregte der ,,Anti- Ödipus" in vielfacher Hinsicht: Er war das erste aus der Studentenbewegung gewachsene theoretische Werk und gleichzeitig alles andere als eine neue Theorie: ,,Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise", bekundeten Deleuze und Guattari, ,,es gibt keinen Tod des Buchs, sondern eine neue Art zu lesen. In einem Buch gibt's nichts zu verstehen, aber viel, dessen man sich bedienen kann. Nichts zu interpretieren und zu bedeuten, aber viel, womit man experimentieren kann." Trotz solcher ungewöhnlichen Leseanweisungen feuerten viele den ,,Anti-Ödipus" nach wenigen Versuchen als ,,unlesbar" in die Ecke. Wie eine schräge Frank-Zappa- Komposition gegen die Hörgewohnheiten des ,,Musikantenstadels" verstieß, so verstieß dieses Buch gegen die Lese- und Reflexionsgewohnheiten des akademischen Betriebs.

Mit dem Netz, das Deuleuze/ Guattari geknüpft hatten – in atemloser, provokanter Sprache, mit neuartigen Begriffen und tänzelnd assoziativem Stil –, sollte nicht nur der Ödipuskomplex von seinem Sockel gezerrt werden. ,,Kapitalismus und Schizophrenie" lautete der Obertitel des Buchs – es ging also um mehr als nur um eine Abrechnung mit Freud: Jedwede Verrücktheit allein auf den frühkindlichen Dreiecksstreß mit Mama und Papa einengen zu wollen – dies war nur eine von vielen Pressionen, an deren Beseitigung den Autoren gelegen war. Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe beschrieb Michel Foucault den ,,Anti-Ödipus" als Einführung in eine neue Lebenskunst: anti-ödipal zu sein, so Foucault, ,,ist ein Lebensstil geworden, eine Art und Weise zu denken und so zu leben. Wie kann man sich davor bewahren, ein Faschist zu sein, auch wenn man sich für einen revolutionären Militanten hält? Wie können wir unser Sprechen und unser Tun, unsere Herzen und unsere Lüste vom Faschismus befreien? [...] Deleuze und Guattari verfolgen die leisesten Spuren des Faschismus im Körper."

Die These des ,,Anti-Ödipus", daß die Gesellschaft von einem schizophrenisierenden Potential durchzogen ist, dem letztlich niemand entkommen kann, es also nur zu ,,normal" ist, an der Verrücktheit der Welt irre zu werden, mit dieser bedrohlichen Perspektive des Buchs korrespondierte gleichzeitig eine befreiende: Mit der Verrücktheit gehen kreative, befreiende Momente einher, der Wahnsinn ist ein Akt der Freiheit, und ein Top-Agent dieser Freiheit ist der Schizophrene, der Schizo, wie ihn die Autoren liebevoll nannten, ein revolutionäres Subjekt. Die Euphorie, mit der sie den umherschweifenden Schizo als eine gegen jegliche Ordnung aufbegehrende ,,Wunschmaschine" beschrieben, atmete zugleich zutiefst den Geist der antiautoritären Rebellion von 68, und wie noch jedes im Elan des Aufbruchs und der Veränderung verfaßte Werk wirkt, in der Rückschau betrachtet, auch dieses Buch in vielen seiner Hoffnungen naiv.

Deleuze und Guattari selbst sehen das so: ,,Der Anti-Ödipus war erfolgreich, aber dieser Erfolg wurde von einem noch größeren Scheitern begleitet. Der Anti-Ödipus wollte auf die Verwüstungen hinweisen, die Ödipus, das ,Mama- Papa' in der Psychoanalyse, in der Psychiatrie und selbst in der Anti- Psychiatrie, in der Literaturkritik und im allgemeinen Bild, das man sich vom Denken macht, anrichtet. Wir haben davon geträumt, Ödipus den Garaus zu machen. Aber diese Aufgabe war zu groß für uns. Die Reaktion auf 68 hat gezeigt, wie stark Ödipus noch in der Familie war und wie er weiterhin in der Psychoanalyse, in der Literatur und überall im Denken sein Regime der kindlichen Weinerlichkeit ausübte. [...] Im Anti-Ödipus gibt es drei Hauptthemen:

1) Das Unbewußte arbeitet wie eine Fabrik und nicht wie ein Theater.

2. Wahngebilde oder Romane gibt es überall auf der Welt und in der Weltgeschichte, und sie gehören nicht zur Familie – man deliriert Rassen, Stämme, Kontinente, Kulturen...

3) Es gibt eine Universalgeschichte, aber sie ist eine Geschichte der Kontingenz...

Der Anti-Ödipus war von Kant geprägt, er sollte eine Art Kritik der reinen Vernunft auf der Ebene des Unbewußten sein. ,Tausend Plateaus' beruft sich dagegen auf nach-kantianische (und überdies entschieden anti-hegelianische) Bestrebungen. Dieses Vorhaben ist ,konstruktivistisch': Es geht um eine Theorie der Mannigfaltigkeiten als solche."

,,Tausend Plateaus" war die Fortsetzung und der Schluß von ,,Kapitalismus und Schizophrenie" und erschien in Frankreich 1980. Beim Publikum hinterließ es eher Ratlosigkeit. Daß Kritiker und Leser mit dieser Theorie der Mannigfaltigkeiten so wenig anfangen konnten, ist allerdings keine Überraschung. Was soll das Publikum schon von einem Boxer halten, der seine niederschmetternden Qualitäten plötzlich ins ,,Konstruktive" wendet? Eben dies taten Deleuze und Guattari in einem zweiten Band: Statt sich im Ring einen Gegner zuzurichten, eröffneten sie neue Felder, tausend Plateaus, Ereignisfelder, auf denen vielfältige Auseinandersetzungen stattfinden. Ein Kaleidoskop der Menschheitsgeschichte, aufgehängt an scheinbar willkürlichen Daten und Ereignissen. Doch auch diese Anti-Struktur hat Methode: Es gibt keine aufsteigende Linie der Geschichte, keine Linearität vom Wilden zur Kultur: Statt der im ,,Anti- Ödipus" noch bewahrten Reihenfolge Wilde-Barbaren-Zivilisierte geraten nun alle möglichen gleichzeitig existierenden Gebilde in den Blick: primitive Gruppen wie hochorganisierte Apparate, das Tierwerden des Menschen ebenso wie seine Anpassung an Maschinen und Medien. Diese Theorie der Mannigfaltigkeiten ist auch eine der Gleichzeitigkeiten, der Vermischungen und Unschärfen, der Dissonanzen und der Vielstimmigkeit.

Der Philosoph Wittgenstein hat einmal gesagt: ,,Was auf einer Leiter erreichbar ist, interessiert mich nicht." Dieser Satz könnte als eine Art Konstruktionsprinzip dieser ,,Tausend Plateaus" gelten: axiomatische Ableitungen Schritt für Schritt, eine mechanische Philosophie, die von der komplexen Oberfläche der Dinge durch Ableitung zu immer einfacheren Gesetzen gelangt (und schließlich zur alles erklärenden Weltformel), interessieren Deleuze und Guattari nicht. Nicht die Oberfläche ist komplex und die Bausteine einfach, sondern umgekehrt: Je mikroskopischer die Wahrnehmung, desto komplexer, vielfältiger werden die Wechselwirkungen. Mit simpler Kausalität und Logik zum Wesen der Dinge zu kommen – diese Illusion haben diese Autoren hinter sich gelassen, nicht das Wesen, das Ereignis der Dinge ist Gegenstand ihrer Philosophie.

In einem Gespräch anläßlich des Erscheinens der französischen Ausgabe hat Gilles Deleuze das so ausgedrückt: ,,Dieses Buch ist wie eine Ansammlung von zerbrochenen Ringen. Jeder kann in die anderen eindringen. Jeder Ring oder jedes Plateau sollte seine eigene Atmosphäre haben, seinen eigenen Ton und seine eigene Stimmlage. Dies Buch ist ein Buch der Ideen. Die Philosophie hat sich immer mit Ideen beschäftigt: Philosophie machen bedeutet den Versuch, Begriffe zu erfinden und zu erschaffen. Nur haben die Begriffe viele mögliche Aspekte. Man hat sie lange benutzt, zu bestimmen, was eine Sache ist, das Wesen, das An-Sich-Sein. Wir dagegen interessieren uns für das Ereignis einer Sache, ihre Umstände [...], für uns muß das Konzept das Ereignis nennen und nicht umgekehrt, von daher die Möglichkeit, erzählerische, sehr einfache Verfahrensweisen in die Philosophie einzuführen. Zum Beispiel muß uns ein Konzept wie das des Ritornells sagen, in welchen Fällen wir das Bedürfnis verspüren, leise vor uns hin zu singen. Oder nehmen wir das Gesicht: Wir glauben, daß das Gesicht ein Produkt ist und daß nicht alle Gesellschaften Gesichter produzieren, aber daß bestimmte es nötig haben. In welchen Fällen und warum? Jedes Plateau muß deshalb eine Karte der Umstände aufstellen, deswegen hat jedes ein Datum, ein fiktives Datum, und jedes eine Zeichnung. Es ist ein illustriertes Buch. Was uns nämlich interessiert, sind die Arten der Individuation, die nicht mehr diejenigen einer Person oder eines Objektes sind. Zum Beispiel die Individuation einer Stunde des Tages, einer Region, eines Klimas, eines Flusses, eines Windes, eines Ereignisses. Vielleicht glaubt man zu Unrecht an die Existenz von Dingen, Personen oder Themen. Der Titel ,Mille plateaux' weist auf diese Individuationen hin; sie sind weder personaler noch dinglicher Natur."

Keine Person und kein Ding – auf tausend Plateaus umkreist dieses Buch die Sphäre des ,,Dazwischen": die Pole nicht mehr dualistisch denken, sondern interaktiv und vermittelt, als Intermezzo. Gegen die alten Dualismen setzen Deleuze und Guattari ihre neuen Begriffe, ein Denken nicht mehr in Abstammungslinien – Stammbäumen –, sondern in offenen Systemen, ,,Rhizomen"; nicht mehr in Familien, sondern in Meuten, Horden, Banden; nicht als hautverkapseltes ,,Ich", sondern als ,,organloser Körper"; nicht mehr staatlich, sondern ,,nomadologisch"; nicht seßhaft, sondern ,,vagabundierend"; nicht mehr in Grenzen, sondern in unscharfen Mengen, fraktalen Rändern, Wellen.

Dieses Buch ist das Gegenteil einer traditionellen philosophischen Abhandlung. Doch würden sich die Autoren hüten, diese Gegensätze zu nennen, ihre Anti- Begriffe didaktisch und pädagogisch zu präsentieren, sie praktizieren sie. Das Buch ,,Tausend Plateaus" hat keinen Anfang und kein Ende, keine aufsteigende Logik, keine kausalen Verkettungen, kein System im klassischen Sinne. Und doch, so Gilles Deleuze, ist es alles andere als ein unsystematisches Buch: ,,Das Versagen der Systeme ist heute eine geläufige Bemerkung geworden, die Unmöglichkeit, ein System zu schaffen wegen der Verschiedenheit des Wissens. Diese Idee hat zwei Nachteile: Man faßt nur noch ernsthafte Arbeiten über kleine, sehr lokale und bestimmte Themen ab, und, schlimmer noch, man vertraut alles Umfassende einer schwärmerischen Nicht-Arbeit an, wo jeder alles mögliche sagen kann. In Wirklichkeit haben die Systeme überhaupt nichts von ihrer lebendigen Kraft verloren. Heute gibt es in der Wissenschaft und in der Logik den Anfang einer Theorie der sogenannten ,offenen Systeme', die auf Interaktion begründet sind, die nur lineare Kausalitäten ablehnen und den Begriff der Zeit verändern. Was Guattari und ich Rhizom nennen, entspricht genau einem offenen System. Die Antwort auf die Frage: ,Was ist die Philosophie?' müßte sehr, sehr einfach sein. Alle wissen, daß die Philosophie sich mit Begriffen beschäftigt. Ein System ist die Gesamtheit von Begriffen. Es ist ein offenes System, wenn die Begriffe mit Ereignissen verbunden werden und nicht mehr mit dem Wesen. Aber auf der einen Seite sind die Ideen nicht vorgegeben, sie existieren nicht von vornherein: man muß Begriffe finden, schöpfen. [...] Neue Begriffe schaffen, die von Bedeutung sein würden, das ist immer das Anliegen der Philosophie gewesen. Auf der anderen Seite sind die Ideen keine Verallgemeinerungen, in der Atmosphäre der Zeit, sondern im Gegenteil, sie sind Einmaligkeiten, die auf die Flut des einfachen Denkens reagieren: Man kann sehr gut ohne Konzept denken, aber sobald es ein Konzept gibt, existiert wirklich eine Philosophie. Das hat nichts mit einer Ideologie zu tun. Ein Konzept steckt voller kritischer und politischer Kraft und Freiheit. Es ist ja gerade die Kraft des Systems, die alleine herausfinden kann, was gut, was schlecht ist, was neu oder nicht neu, lebendig oder nicht lebendig in einer Ideenkonstruktion ist. Nichts ist absolut gut, alles hängt vom systematischen Gebrauch und der Klugheit ab. In ,Tausend Plateaus' versuchen wir zu sagen: Das Gute ist niemals sicher – zum Beispiel bedarf es nicht nur eines ,glatten Raums', um die Einfurchungen und Engen zu überwinden, nicht bloß eines Körpers ohne Organe, um die Organisation zu überwinden. Man wirft uns manchmal vor, komplizierte Worte zu benutzen, um ,auf schick zu machen'. Das ist nicht nur bösartig, sondern auch idiotisch. Ein Konzept braucht manchmal ein neues Wort, um bezeichnet zu werden, manchmal bedient es sich eines gewöhnlichen Worts, dem es einen einmaligen Sinn gibt. Auf jeden Fall glaube ich, daß das philosophische Denken niemals eine solche Rolle gespielt hat wie heute, weil sich ein ganzes, nicht nur politisches, sondern auch kulturelles und journalistisches System bildet, das einen Angriff auf jedes Denken darstellt."

Gegen diesen systematischen Angriff auf das Denken setzen Deleuze und Guattari ihr Anti-System der Philosophie, ihre Zungenbrecher wie das Wort ,,Deterritorialisierung", das einem schon im ,,Anti-Ödipus" den Nerv raubte. Wie hört sich das an, wenn man auf die Frage nach dem Inhalt eines Buchs antwortete: ,,Es geht um Deterritorialisierungen". Im besten Fall kann daraus ein Woody- Allen-artiger Monolog werden, in dessen Verlauf klar wird, daß es auch um moderne Kunst und Kosmos, Fluchtlinien des Begehrens, um Maschinen und Apparate, Stickereien und Patchwork, Bergbau und Viehzucht, Kriegsmaschinen und Beethoven, Ordnung und Gewalt, Steinzeit und Postmoderne geht, sowie – womit Woody dann zu Potte käme – um die Wünsche, die Energie, die Körper – und vor allem ihr Verschmelzen. Deterritorialisierungen eben.

Deleuze und Guattari betreiben eine fröhliche Wissenschaft. Sie lassen die Bedeutungen ihrer Begriffe schon auf der Zunge zerplatzen und stellen das symbolische Territorium der Worte in Frage: ,,Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern mit Vermessen, mit Kartenmachen, selbst von noch unbekannten Gegenden." Philosophie als Landvermessung. Die Schwierigkeit, ,,Tausend Plateaus" zu lesen und zu verstehen, löst sich auf, wenn wir sie nicht als Abhandlung, sondern als Atlas lesen. Nicht als Bedienungsanleitung, sondern als Werkzeugkasten. Nicht als Lehrbuch, sondern als Wanderkarte. ,,Geologie der Moral" ist eines der Plateaus überschrieben, eine ironische Anspielung auf Nietzsches ,,Genealogie der Moral", auf das alte, lineare Denken in Abstammungsreihen.

Was aber haben geologische Formationen und menschliche Moral miteinander zu schaffen? ,,Für wen hält sich die Erde?" fragen Deleuze und Guattari und zeigen, daß die Art, in der Menschen im Raum verteilt sind, sehr wohl damit zu tun hat, wofür sie sich halten. Es waren Nomaden, die das Gefüge Mensch-Tier-Waffe, Mensch-Pferd-Bogen erfanden – die erste Kriegstechnik. Und es waren die Staaten und Städte, die sie pervertierten. Der Bau einer raumübergreifenden Kanone erfordert eine Investition, die nur ein Staatsapparat tätigen konnte. Derart sind die Geschichten, die Ereignisse, mit denen Deleuze und Guattari die Gegenwart konfrontieren, eine Gegenwart, in der Vergangenheit nicht auf eine tote Ahnengalerie reduziert ist, sondern virulent und wirksam, aktiv in einem mannigfaltigen Prozeß des Werdens.

,,Es geht um das Modell, das unaufhörlich entsteht und einstürzt, um den Prozeß, der unaufhörlich fortgesetzt, unterbrochen und wieder aufgenommen wird. Nein, kein neuer oder anderer Dualismus. Ein Problem der Schrift: Man braucht dringend anexakte Ausdrücke, um etwas exakt zu bezeichnen. Und zwar keineswegs, weil man da hindurch müßte, weil man nur durch Annäherungen weiterkäme, die Anexaktheit ist eben keine Annäherung, sondern genau eine Durchgangsstelle dessen, was Werden ist. Wir ziehen den einen Dualismus nur heran, um den anderen zu verwerfen. Wir benutzen den Dualismus von Modellen nur, um zu einem Prozeß zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen wird [...], um zu der Zauberformel zu kommen, die wir alle suchen: Pluralismus=Monismus, und dabei durch alle Dualismen hindurchzugehen, die der Feind sind, aber ein unbedingt notwendiger Feind, das Mobiliar, das wir immer wieder verschieben."

In einer labyrinthischen Bibliothek, in der die Bücher dauernd verstellt und verschoben werden, kann man sich nicht auf herkömmliche Art zurechtfinden, sie verweigert sich jeder Registrierung, geschweige denn einer Inhaltsangabe. Vielmehr ergeben sich in den einzelnen Abteilungen der Bibliothek ständig neue Kombinationen, ethnologische Werke tauchen unter Ökonomie auf, politische Fragen werden musiktheoretisch beantwortet, unter Linguistik finden sich Bücher über Handarbeit, in der Abteilung Philosophie über Geometrie und mittelalterliche Technik. Nichts ist mehr, wo es war– und nichts ist mehr– alles fließt, ist in ständigem Werden. In einem Katalog der Bibliothek müßten jedem Schlagwort Verweise auf sämtliche anderen folgen – er wäre unbrauchbar. Nichts ist mehr, denn gegen das Verb ,,sein" setzen Deleuze und Guattari die Konjunktion des ,,und... und... und" – die überbordende Vielfalt, die bizarre Kombinatorik und die vom Kirchenvater Augustinus bis zum rosaroten Panther polyphonen Stimmen dieses Buchs sind kein Zufall, sondern Methode. Und wollte man diese Methode bezeichnen, dann am ehesten mit einem Terminus der Computersprache: konnektionistisch.

Konnektionistische Maschinen, aus vielen Rechnern zusammengeschaltete sogenannte Neuralnetzwerke, treffen ihre Entscheidungen nicht auf der Grundlage binärer Logik, fragen also nicht, ob etwas absolut richtig oder falsch ist, vielmehr hat jede einzelne Behauptung ein Gewicht. Auf die Frage, ob es sich bei einem Gegenstand mit der Seitenlänge von 4 mal 4 mal 3,9 Zentimeter um einen Würfel handelt, wird jeder digitale Rechner sofort ein ,,Nein" ausspucken, während ein Neuralnetzwerk einen Moment später zu dem Ergebnis kommt: ,,Das Ding sieht einem Würfel verdammt ähnlich". Eine Antwort, wie sie auch von den Fuzzy-Logikern Deleuze und Guattari sein könnte.

Die Parallele der ,,Tausend Plateaus" zur Parallel-Intelligenz trägt noch weiter: Für einfache Aufgaben ist die hierarchische, binäre Hackordnung von Digital- Rechnern nach wie vor unverzichtbar. Je komplexer aber die Probleme werden, als desto überlegener erweist sich die dynamische Interaktion der neuralen Netzwerke. Wer einfache Antworten sucht, wird sich auf den Hochebenen und in den Schwarzen Löchern dieses Buchs verirren. Je komplexer aber die Gegenwart wird, desto überlegener könnte sich das multiple Denken dieser beiden wilden Philosophen noch erweisen.



Gilles Deleuze, Felix Guattari: ,,Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie". Aus dem Französischen von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé. Merve Verlag 1992, 716 Seiten, 98 DM


Aus: "Und... und... und..." Mathias Bröckers (31.10.1992)
Quelle: https://taz.de/!1645739/ (https://taz.de/!1645739/)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on June 28, 2023, 12:03:07 PM
"Rechtsextremismus in Ostdeutschland: 60 Prozent der Ostdeutschen halten Deutschland für "überfremdet""
Eine repräsentative Studie für Ostdeutschland zeigt: Viele wünschen sich "autoritäre Staatlichkeit". In einem Bundesland ist Ausländerfeindlichkeit besonders groß.
Von Jona Spreter, 28. Juni 2023
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-06/ostdeutschland-rechtsextremismus-efbi-studie (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-06/ostdeutschland-rechtsextremismus-efbi-studie)

Quote
Kacma

Schade, dass die Studie nur auf die ostdeutschen Bundesländer beschränkt war. Der Vergleich mit Westdeutschland wäre erhellend gewesen. So liefert die Studie nur begrenzt Aussagen zu ostdeutschen Eigenheiten.


Quote
Jeremiah J.

60% der Ostdeutschen befremden mich.


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Manuel-Aldo 444 Liebenow @Maschinello 27. Juni
...Wir hörten von Eltern, GrEltern, Lehrern, Alten, Richtern..: "es war doch nicht alles (im "3.Reich) schlecht"... Bis 1968, dann wurde das etwas geklärt.

Tiniko @CNikolajew 27. Juni
... Die ,,bösen" 68er waren im Westen, trotz Springer, der Anfang vom Ende dieser Haltung.

Quote...

Superb *wildgewordene Userin
@batcatsupiwoman 1:32 nachm. · 26. Juni 2023
Sagt mir bitte nicht dass ihr tatsächlich überrascht seid?! Ich komme aus dem tiefsten Sachsen. Ich bin irgendwas zwischen 25 und 37 Jahre alt und ich kann euch erzählen wie der Großteil von uns erzogen wird. Erstmal bekommt man von klein auf den Satz zu hören damals (DDR) war es besser. Es wird hart auf den Westen geschimpft, über die Arroganz und Überheblichkeit. Warum u was "der Westen" genau gemacht hat, weiß ich nicht. Was ich weiß ist dass plötzlich viele arbeitslos waren,viele Immobilien wurden in den Westen verkauft.
Es wird einem eingetrichtert dass Ausländer böse sind, es gibt jedoch auch "gute Ausländer " was aber nicht heißt dass diese genauso toll sind wie Deutsche. Sämtliche beleidigende Betitelungen je nach Herkunftsland. Wenn du dich dann beim heranwachsen nicht selbst Hinterfragst warum oder ob das denn nicht alles Blödsinn ist u dass sich die Welt weitergedreht hat,bleibst du in dem Gedankengut. Es sind immerhin deine Eltern, Großeltern. Bekannte und Freunde die so reden,kann ja nicht falsch sein. Ich schätze viele sind in der DDR aufgewachsen, unter Propaganda. Mit Einschränkungen, Stasi kaum Freiheit. Es gab nur den einen bestimmten Weg, kaum Möglichkeiten sich selbst finden zu müssen,es gab Arbeit,man musste arbeiten. Die Freiheit wie wir sie haben in einer Demokratie ist noch nicht allzu lang für Die viele aus dem Osten. VIELLEICHT ist die Freiheit die ,die afd wähler wollen in Wahrheit einen vorgegebenen Weg um sich nicht selbst kümmern zu müssen um Grenzen zu haben da man sich sonst verlieren kann und man selbst verantwortlich ist. Freiheit muss man aushalten können.
Das ist absolut keine Rechtfertigung für die Rechten,Nazis usw. Will damit nur aufzeigen dass es mich nicht wundert. Propaganda läuft da wie gehabt. #Sonneberg
https://threadreaderapp.com/thread/1673293228408291331.html (https://threadreaderapp.com/thread/1673293228408291331.html)

https://twitter.com/batcatsupiwoman/status/1673293228408291331 (https://twitter.com/batcatsupiwoman/status/1673293228408291331)


...


iris @memories2019_12 26. Juni
Und wie kommt man dann an diese Leute ran? Wir haben keine Zeit zu warten, bis das Denken durchbrochen wird, zumal das ja schon etliche Generationen sind.

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 26. Juni
Ich glaube fast dass es nicht möglich ist. Nur wenn die Erfahrung wird lehren.

LieseLotte Müller
@Lieselotte2604 26. Juni
Unpopuläre Meinung, aber ich kann diese "Arroganz des Westens" nachempfinden.
Immer noch...und ich bin aus den "alten Bundesländern"...
Da braucht sich keiner rausreden...
Die Situation ist beschissen, aber mit dem Finger braucht da keiner deuten, alles fleißig mitverzapft ...

Tobias Lange @lange_tobias_hh 26. Juni
Es ist richtig, das wir nach 89 die kapitalistische Naivität des Ostens gnadenlos ausgenutzt haben und es nie um die Menschen ging. Sie waren egal und es war egal, dass sie mit Kapitalismus überfordert waren. Man wollte ihr Geld und wer nicht klarkam, egal!

Micha @Wasglbtsneues 26. Juni
Ich bin in der DDR aufgewachsen, Sachse und habe meine Kinder niemals rassistisch erzogen. Bitte nicht einfach verallgemeinern!

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 26. Juni
Wenn man bitte den Text lesen würde und sich nicht nur empören,Da steht nirgends ALLE uff

hexlein_le @HexleinL 27. Juni
Der Grundtenor klingt aber so.

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 27. Juni
Wenn man das so lesen will.

hexlein_le @HexleinL
Nein. Ich WILL es nicht so lesen, ich lese es so.

Chris @chgeese
Die Aussage ist ganz klar, dass das die persönliche Erfahrungswelt ist. Also subjektiv wahrgenommen ein grundsätzliches Problem. Also haben beide etwas recht: es ist eine Verallgemeinerung, aber deutlich als subjektiv und nicht statistisch bewiesen deklariert.

Superb *wildgewordene Userin @batcatsupiwoman 27. Juni
Ich möchte klarstellen dass es meine Erlebnisse sind,keine Analyse oder Studie,so bin ich aufgewachsen. Hinterfragst habe ich alles auch Zusammenhänge kenne ich jetzt. Und schon gar nicht pauschalisier ich! Bitte lest den ganzen Text!

@SoRi_Roe
Was mich dabei immer ein bisschen wundert: die Wiedervereinigung ist jetzt 33 Jahre her... Fast so lange wie vorher das DDR-Regime geherrscht hat... Braucht es wirklich genauso viel Zeit die alte Denkweise zu überwinden, wie es vorher gebraucht hat um sie in die Leute einzutrichtern? Sorry wenn ich mich vielleicht unglücklich ausdrücke .. waren die ~40 Jahre Kommunismus so prägend dass es fast genauso lange braucht sich davon zu erholen?

Linus Schroeder @SchroederLinus 26. Juni
Ich kann das nur unterschreiben. Erst mein Weggang aus Thüringen hat mir gezeigt, dass diese Denkweise überhaupt nicht so normal ist. Es war im Westen eine andere Welt.

Hoffnungslos @BigHoffnungslos 26. Juni
Kenne ich auch so aus meiner Zeit im Osten. Tiefster Rassismus, Antisemtismus und Misogynie als Grundeinstellung ohne jegliche Erkenntnis oder Verständnis das etwas untragbares gesagt wird.
Nach Selbsteinschätzung war kaum einer menschenfeindlich.

mandywe89 @mandywe89 26. Juni
Kann ich bestätigen, wir sind damals 1994nach Hessen gezogen, weil er dort besser verdient hat, seine Brüder waren entsetzt. Wenn ich heute fast 30 Jahre später mit meinen ostdeutschen Verwandten am Tisch sitze, fühle ich mich wie 1994. Nichts hat sich in den Köpfen bewegt.

Pandemiearzt @stegmeyer 26. Juni
Was ich mich aber zunehmend frage, weshalb in der alten BRD es die Nazis kaum je in die Parlamente geschafft haben. Bis weit in die 70er waren ähnliche Sprüche bzgl.  ,,Ausländer", Juden, Farbige völlig normal. ,,Unter Hitler gab es wenigstens noch Ordnung." Und die Autobahnen!

onezerotripleseven @10777_berlin 26. Juni
FAZ, 30.05., S. 7 Die Gegenwart. Frau Geipel beschreibts: "Noch immer halten die DDR-Kriegskinder das Binnenkollektiv Ost in ihrem Bann. Die jüngeren Generationen kreieren eine nach außen verlagerte Entlastungserzählung und versuchen, den Westen zum großen Buhmann zu machen."

UliLarike @ULarike 26. Juni
ja ich sehe das auch so, bin in Thüringen geboren, mit der Wende und Ausbildung nach Hessen, ich ertrage Klassentreffen nicht mehr, diese Ignoranz und Selbstgefälligkeit ist mega anstrengend, die Menschenverachtung wurde vorgelebt und nie aufgearbeitet.

Torsten Schreiter @TorstenSchreit1 26. Juni
Bin Dresdner und 40, bestätige diese Aussagen 100%.

Thomas Forget @Forget1962 26. Juni
Ich bin in Ost-Berlin aufgewachsen. Aber schon 1978 habe ich als Lehrling mitbekommen, was latenter Ausländerhass ist. Es ging schon damals gegen Vietnamesen und Kubaner, obwohl die ja nach ihrer Lehr- und Arbeitszeit meist nach 3-5 Jahren wieder in ihre Länder zurückgingen.

hann_sanne @HannSanne 26. Juni
Ich bin aus dem tiefsten Sachsen weggegangen, als Du geboren wurdest. Es ist sehr weit verbreitet, was Du schreibst.
Und viele haben Angst, sich dagegen zu äußern. Die Saat ist schon aufgegangen.

Tilhelm Well @TilhemWell 26. Juni
Die Ursachen für den Wahlerfolg sind vielschichtig und warum es gerade im Osten passiert und warum gerade eine Menge Ossis diesen Rattenfängern (wo die Spitzen mehrheitlich aus dem Westen stammen) nachrennen, die sie zuvor verteufelt haben, lässt sich nicht in 240 Zeichen packen.

ℕ𝕒𝕤𝕔𝕙𝕜𝕒𝕥𝕫𝕖 @niwolfi 26. Juni
Fast meine komplette Verwandtschaft aus der ehemaligen DDR (Thüringen und Brandenburg) ist leider auch, sehr fremdenfeindlich. Teils waren sie Stasi Mitarbeiter, teils nicht aber entnazifiziert sind irgendwie alle nicht... schlimm! ... ich habe zu keinem mehr Kontakt.

Die Bürokrateuse @Integrateuse 26. Juni
So sieht's aus. Mein Vater war immer rechts, heute wählt mein Bruder AfD. Dass das nicht normal ist, hab ich erst während des Studiums gemerkt, als ich das erste Mal mit Menschen aus den alten BL in Kontakt kam. Nichts an dieser Wahl überrascht mich.

Lukas Abegg @Dubio_ 26. Juni
Soziokulturell war die ,,Wiedervereinigung" eben viel mehr eine Annexion des Ostens durch den Westens. Aus dieser Perspektive gibt es einen klaren Sieger und klaren Verlierer, was die grossen Leitmedien aber nie so offen ansprechen.

Homo Sapiens @JunoWega 26. Juni
Auch aus Sachsen. Kann das Gesagte nicht teilen. Es gibt eine gewisse Trägheit. Aber die Leute sind nicht generell unerreichbar. Am wichtigsten ist es nicht einfach weg zuhören im Alltag, immer wieder auch im Kleinsten sachlich Kontra geben und zum Nachdenken anregen.

Stefan vom Lande @StefanH38016719 26. Juni
Meine Meinung ist, dass man dem Osten das rechtsextreme Gedankengut immer hat durchgehen lassen, immer beschwichtigt hat, das seien ja nur paar Querköppe. Seit 30 Jahren. ...

Tiniko @CNikolajew 27. Juni
Interessant, Ähnliches hörte man auch im Westen in der Nachkriegszeit, nur bezog sich die Relativierung da auf die Politik die 1933 ermöglichte. Die ,,bösen" 68er waren im Westen, trotz Springer, der Anfang vom Ende dieser Haltung.

Mascha & der Schrödi @Mascha66973759 27. Juni
Nun bestand die DDR aber nicht nur Sachsen, Entschuldigung! In den anderen neuen Bundesländern lief das offenbar etwas anders. Was also ist in Sachsen passiert? Ich kann das so nicht gelten lassen! Sorry!

Sündenziege @sundenziege 27. Juni
Ich bin in Sachsen aufgewachsen und stimme dir uneingeschränkt zu. Ich hab einen Wessi geheiratet (was lustig ist, weil wir beide nach der Wende geboren wurden) und bin ausgewandert.
Es erschreckt mich, wie lange ich diese Denkweisen selbst inne hatte.

Lotti ist Laut @Letustalk9 27. Juni
Eine Zeit lang wohnte ich in Leipzig und war beruflich viel in Sachsen und Thüringen unterwegs. Ich war ziemlich überrascht, wie sehr das Wessi/Ossi-Denken dort verankert ist, wie viel geschimpft und gefremdelt wird und wie winzig klein der Horizont ist.

COBE @Eyetwinkle79 27. Juni
Was mein Mann sagte: wir (Ost)Deutschen sind Untertanen. Haben nie gelernt, was Freiheit ist und bedeutet. Niemand kann damit umgehen, wenn keiner von Oben sagt, wo es lang geht. Und weil man abgehängt wurde, schimpft man auf die , die noch unter einem selbst sind.

Random Dude @xSoulHunterDKx 27. Juni
Das sind fast 1 zu 1 die Erlebnisse, die Freunde und Familien aus dem Osten dort erlebt haben. Einer meiner Freunde dort ist stramm rechts und seine ganze Familie auch. Nichts als Hass, Stammtischgelaber und inhaltlose, unrealistische Fantasien. Der ach so böse Westen und linke.

Nix wie weg! @KaznaSunstorm 27. Juni
Meine Frau kommt aus Brandenburg und jedes mal, wenn man mit der Familie dort Kontakt hatte, hörte ich das selbe. Am Ende lief es immer darauf hinaus, dass #dieAnderen Schuld sind am eigenen Leid. M.E. ging das mit der Freiheit anscheinend zu schnell. ...

Guru D. Safak @Politguru 27. Juni
Leider konnte ich vieles davon auch in NRW beobachten, auch bei ehemaligen Freunden.

StreuselkuchenmitSahne @Streuselkuche11 27. Juni
Ich lebe in Sachsen- Anhalt, war Teenager, als die Wende kam. Weder im Freundeskreis, noch Bekannte haben diese Denkweise. Ich ebenso wenig u so wurde mein fast erwachsenes Kind auch kein ewig gestriger Nachwuchs-Ossi.

BamBam1976 @BBam1976 27. Juni
Ja du triffst den Nagel auf den Kopf. In Brandenburg auch. Das erklärt die 25% AfD Wähler in total. Aber es erklärt nicht, warum 50% nicht wählen. ...

Frau in Blau @Frau_in_blau 27. Juni
Ich hab immer gehört: "In der DDR war nicht alles schlecht." Die Mär vom arroganten Wessi kenne ich auch (habe einen geheiratet und jetzt ist Ruhe), aber gegen Ausländer wurde nicht hergezogen. Im Gegenteil, Nazis wurden zutiefst verachtet.

тöт тип @sheepdog85 27. Juni
Digger, eine Umarmung. Von mir. Für dich. Ist in vielen postkommunistischen ländern so. Ich komme aus Russland, und habe das Glück dass mein Umfeld gut mit der Freiheit umgehen kann. Aber genau diese Hilflosigkeit sehe ich auch oft.

Manuel-Aldo 444 Liebenow @Maschinello 27. Juni
Moin zusammen, so wird also in D-Ost aufgewachsen. Das kennen wir "Wessis" zu 100%, nur in meinem Alter (>60) genau umgekehrt. Wir hörten von Eltern, GrEltern, Lehrern, Alten, Richtern..: "es war doch nicht alles (im "3.Reich) schlecht"... Bis 1968, dann wurde das etwas geklärt.

RandomChickBunchOfNumbers @ChickOfNumbers 27. Juni
Ich kann das so unterschreiben! Die gefühlte Demütigung durch die ,Besserwessis' sitzt tief, die wollen nur das schlimmste, wissen alles besser. Meine gesamte erweiterte Familie halt null Kontakt zu Marginalisierten, lebt komplett in einer weißen cis Blase ...

Grzegorz Brzęczyszczykiewicz @_eMaX_ 27. Juni
Es war ja nicht alles schlecht damals.

B H @HendrikKlarname 27. Juni
Also das mit der Wut auf Wessis ist halt nachvollziehbar.

angel on a rampage @cowgirlietina 27. Juni
Und genau dort ist eines der Probleme, nach 34 Jahren immer noch von Wessi und Ossi zu schreiben.

Trying my best @PosSumGame 27. Juni
Ich habe es satt! Warum denken dann Polen, Litauer, Letten, Esten, Tschechen, Slowaken, Rumänen, Kroaten nicht so? Warum gibt es hier nur diese eine Insel mitten in Europa, die sich nach russischem Imperialismus, Diktatur, Stasi, sogar Nazizeit zurücksehnt?

Edeldruide @edeldruide 23 Std.
Genau so sieht's aus. Als Thüringer kann ich zu all den Punkten ja sagen. Und es ärgert mich bis heute wie viele meiner Freunde und Bekannten mit 25-36 nicht über diese anerzogenen Dinge nachdenken.

Sazzy @Sazzylein
Genau das! Ich bin gleiche Altersgruppe wie du und genau so aufgewachsen.
Meine große Schwester war mit Nazis befreundet, meine Mutter war ähnlich gestrickt. Als ich als Teenie in den Westen gezogen bin, habe ich langsam verstanden wie "verkorkst" meine Familie eigentlich ist.

HeyNeira @HeyNeira
Bin krass deiner Meinung. Wohne auch in Sachsen, komme aus Sachsen Anhalt, bin Mitte 20 und kenne alle diese Sprüche.
Was aber nicht heißt, dass hier wirklich alle so sind und so denken. Aber leider sind es dennoch zu viele, die so denken. :(

electrolite @electrolite83
Ich kann das nicht bestätigen. Aufgewachsen in Sachsen-Anhalt, heute 40. Was ich mitbekommen habe, war ein tiefes Misstrauen jedweder Regierung gegenüber. "Die bescheißen uns sowieso alle." Sie gingen trotzdem wählen, fanden es wichtig, wählten wechselnd, aber niemals rechts.

Kl op Kyke @klonkyke
Ich bin nur wenig älter und nicht so aufgewachsen.. Meine Eltern waren immer Linken-Anhänger (bewerte ich jetzt nicht) und selbst da bemerkt man Tendenzen, wo man versteht, warum manche direkt von links nach rechts kippen. Eltern (noch) nicht aber quasi das halbe Dorf.

Didi @WinterD22
Wir sind aus dem Ruhrgebiet und unsere Familie ist bunt. Einmal waren wir in Dresden und Polen zum Urlaub. NIE Wieder. Die übelsten Blicke und eindeutig ablehnende Haltung gegenüber uns. Das ist so traurig und macht wütend.

Andi beth Nahrin @AndiMesoPott
Es gibt aber auch gute Ossis.

Daniela aka Alsbeth @alsbeth82
Komme aus Brandenburg, bin 41. In meiner Familie gabs das nicht. In vielen anderen Familien meiner Mitschüler aber schon. Ich war die einzige linke Zecke in der Klasse, 3 offene Faschos und der Rest hat den Kopf eingezogen und genickt. Selbst Lehrer waren teils so drauf.

verkehrswendebergstrasse @verkehrswendeb2
Ein Bekannter von mir zieht aus Dresden weg nach Norddeutschland, weil er es nicht mehr aushält bei dem ganzen Nazigedankengut im Alltag dort und seine Kinder dort nicht aufwachsen lassen möchte. Und er ist Ur-Sachse!

tomy @tomybee81
Das rechte Gedankengut war schon vor der Wende da, und den 90ern, den Baseballschlägerjahren, kultiviert. Zur Wahrheit gehört aber auch das Vakuum, über Nacht Millionen Arbeitslose, geschlossene Jugendclubs, keine ausgeprägte Vereinskultur, Leere in vielen Köpfen weil der Sinn Aufeinmal fehlte. Viele sind da glaub ich nicht rausgekommen. Die 90er waren wild für uns Jugendliche. Die Eltern gucken wie sie den Arsch an die Wand kriegen sollen und wir Kids mehr oder weniger vogelfrei. So empfinde ich das rückblickend zumindest War halt nur die Frage was man damit macht.  Ich bin eher in eine linke Richtung gegangen weil ich unbedingt Songs von nirvana lernen wollte in der 6. Klasse. Andere sind mit wütend mit baseballschlägern losgezogen und haben die gerade entstandenen dönerbuden angezündet Und das hat sich verfestigt bei vielen die geblieben sind ...


...

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 05, 2023, 03:01:52 PM
... Ein irritierter Blick zurück ... Götz Aly, Politikwissenschaftler und Historiker ...

Quote[...] Der Titel der Sammlung seiner Vorträge und Aufsätze zum Thema lautet ,,Unser Nationalsozialismus". Gemeint ist beides: der Nationalsozialismus unserer Väter und Vorväter und unser Umgang mit ihm. Gleich in seiner Einleitung zitiert Götz Aly den israelischen Historiker Yehuda Bauer: ,,Das Fürchterliche an der Shoah ist eben nicht, dass die Nazis unmenschlich waren; das Fürchterliche ist, dass sie menschlich waren – wie Sie und ich." ,,Ebendas", meint Götz Aly, ,,die Nähe, erklärt das weitverbreitete Bedürfnis nach maximaler Distanz."

Wie recht er hat, weiß ich nur zu gut. Ich habe, wenn ich mich richtig erinnere, meinem Vater – er war Soldat in Frankreich und Russland gewesen – zwar häufig vorgeworfen, ,,mitgemacht" zu haben, wobei mir genügte zu wissen, dass er einer von Hitlers Soldaten gewesen war. Genaueres interessierte mich nicht. Niemals habe ich ihn gefragt nach dem, was er getan hatte.

Jahrzehntelang habe ich auch sonst niemanden befragt. Täter nicht und Opfer nicht. Vor der Nähe floh ich als 18-Jähriger in Hannah Arendts ,,Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", mit 20 dann in die Debatten zur Faschismustheorie. Das war eine Flucht, die sich als Aufklärung ausgab.

So wichtig es ist, systemische Ursachen aufzuspüren, so verfehlt ist es doch, wenn man darüber vergisst, dass solche ,,Systeme" von ganz konkreten Menschen gemacht und von ganz konkreten Menschen am Leben gehalten wurden.

Der Historiker Götz Aly, geboren 1947, war lange ein Außenseiter. Zu sehr bestand er darauf, seinen Beruf ernst zu nehmen und wissen zu wollen, wer wann wo was getan hatte. Er klärte uns darüber auf, dass nicht nur der NS-Staat von eingezogenen jüdischen Vermögen profitiert hatte, sondern auch die ,,Volksgenossen", die in die frei werdenden Wohnungen eingezogen waren, die Nachbarn, die Wertsachen und Mobiliar aus ihnen stahlen. Sie durften sich einbilden, keine Diebe zu sein. Die Juden waren enteignet. Ihr Gut war, soweit der NS-Staat es nicht beanspruchte, herrenlos. Natürlich gab es eine Grauzone, von der unsere Vorväter und Vormütter gerne Gebrauch machten. Wie viele jüdische Familien werden vor ihrer Flucht oder später noch vor ihrem Abtransport das eine oder das andere ihren arischen Freunden und Nachbarn in Verwahrung gegeben haben?

Götz Alys Generation wuchs in Häusern, in Wohnungen heran, von denen sie nicht wusste, wer vorher darin gewohnt hatte. Stammte das Silberbesteck, das 24-teilige Service wirklich von den Großeltern? Wir wussten es nicht und die meisten von uns zogen es vor, der eigenen Herkunft und der der sie umgebenden Dinge nicht nachzuforschen.

Diese Dimension fehlte in ,,Der gewöhnliche Faschismus" (1965) des sowjetischen Filmemachers Michail Romm ganz und gar. Auch die DDR-Genossen ließen die Profitgier der Volksgenossen der 30er und 40er Jahre, soweit ich weiß, ununtersucht.


Das Buch
Götz Aly: Unser Nationalsozialismus – Reden in der deutschen Gegenwart, S. Fischer Verlag, 304 Seiten


Aus: "Aufsätze von Götz Aly: Ein Glücksfall für die Wahrheitsfindung" Arno Widmann (26.06.2023)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/aufsaetze-von-goetz-aly-ein-gluecksfall-fuer-die-wahrheitsfindung-92365334.html (https://www.fr.de/kultur/aufsaetze-von-goetz-aly-ein-gluecksfall-fuer-die-wahrheitsfindung-92365334.html)

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Quote[...] Götz Aly im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 13.05.2018

Dirk-Oliver Heckmann: Herr Aly, im Mai 1968, da kam es in Paris zu tagelangen Straßenschlachten. Auslöser war bekanntlich die Schließung der Universität von Nanterre und der Sorbonne wegen fortgesetzter Unruhen. Und bei der Räumung der Barrikaden, da gab es Hunderte zum Teil Schwerverletzte, zahllose Festnahmen natürlich. Die französischen Gewerkschaften, die riefen zum Generalstreik auf und weltweit gab es eine Solidarisierung mit den Studenten. Sie, Herr Aly, waren damals 21 Jahre alt, wenn ich richtig gerechnet habe. 50 Jahre ist das jetzt her. Welchen Eindruck haben diese Unruhen in Paris auf Sie gemacht?

Götz Aly: Ja, also wir waren furchtbar aufgeregt damals, überall diese Ereignisse, und haben die französische Polizei für die Ausgeburt des Faschismus gehalten und Leute wie Cohn-Bendit als junge, agitatorisch wirksame Führer einer solchen Massenbewegung bewundert. Nicht ich, aber einige meiner Freunde und Altersgenossen sind sofort nach Paris gefahren. Der eine kam begeistert zurück, ein Künstler, der sich später totgetrunken hat, Harald hieß er. Dieser Mann erzählte dann: ,,Ich habe die Pariser Börse brennen gesehen!" Also mit dieser Emphase hat sich das in Deutschland gespiegelt und natürlich hier die schon beginnende 68er-Revolte verstärkt.

Heckmann: Und diese Unruhe, die waren ja ein Höhepunkt der 68er-Bewegung in Europa oder auch weltweit, aber entstanden ist diese Bewegung ja auch schon früher. Was war denn Auslöser für Sie, dort sich zu beteiligen?

Aly: Das ging noch am Ende der Schulzeit los mit der Diskussion um die Notstandsgesetze. Das war ein mich politisierender Vorgang, und ich habe dann Kontakt gewonnen auch zur SDS-Gruppe, also dem Sozialistischen Hochschulverband in München der Deutschen Studentenschaft. Da gab es eine für die Schüler zuständige Agitatorin, und da wurde einem zum ersten Mal die Internationale zu Gehör gebracht und vorgesungen. Da gab es dann aber auch so Schriften als Raubdruck wie die Funktion des Orgasmus von Wilhelm Reich, und damit konnte man in bayrischen Schulen sehr viel bewirken damals noch. Das musste man nur auf den Tisch legen und schon war der Teufel los.

Heckmann: Wie würden Sie denn die Atmosphäre in der Bunderepublik damals beschreiben? Wie war das?

Aly: Gemischt, also extrem gemischt. Wir hatten in der Oberstufe in München sehr aufgeklärte CSU-Lehrer, die auf andere Formen des Unterrichts Wert legten und sich vollständig unterschieden von den Lehrern, die wir vorher hatten, die alle den Zweiten Weltkrieg noch mitgemacht hatten, die einen Arm, ein Bein oder ein Auge verloren hatten und auch entsprechend waren, unberechenbar im Durchschnitt und cholerisch. Das kann man ihnen nicht übelnehmen, aber so war die Situation im Nachkriegsdeutschland. Das hat sich verändert in der Oberstufe, in den späten 1960er Jahren in liberaler Weise, und es kam noch etwas hinzu. Wir wurden auf einen Schlag in diesen bayrischen Schulen über die deutschen Naziverbrechen aufgeklärt, und zwar das geschah so: Wir wurden in den Filmkeller geführt, da kriegte man normalerweise diese komischen Lehrfilme gezeigt, mit denen man heute keinen Schüler mehr hinter dem Ofen hervorlocken könnte, und da kriegten wir diese Filme von Erwin Leiser zu sehen mit den Szenen von der Befreiung von Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, also mit diesen Leichenbergen, Sterbenden, und es hat uns vorher kein Lehrer darüber informiert und auch hinterher keiner etwas gesagt. Die führten uns schweigend, weil es war offensichtlich eine Aufforderung des Kultusministeriums, also des Staates, das zu tun, und es geschah weiter nichts und beim Abendessen zu Hause kam dann diese bekannte doofe Frage: ,,Wie war es denn in der Schule?" ,,Interessant." ,,Ach", das war eine unerwartete Reaktion. ,,Erzähle doch mal." Und meine Eltern, die waren versteinert. Und das hat sich damals in Zehntausenden Familien ganz ähnlich ereignet.

Heckmann: Das heißt, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit war dort, an dieser bayrischen Schule, bei Ihnen schon im Gang, auch bevor Sie richtig in der '68er Bewegung eigentlich mitgemischt haben.

Aly: Ja, aber natürlich, und das Interessante ist, dass der Staat diese Aufarbeitung vorangebracht hat und die Schwierigkeiten, und das weiß ich von Dutzenden meiner Altersgenossen, im Privaten, in den Familien lagen. Die Familien bildeten die Schweigekartelle, nicht so sehr der Staat. Wir haben uns dann später gegen den Staat gewandt.

Heckmann: Und zwar durchaus militant. Sie sind im Wintersemester '68 nach Berlin gegangen. Zwei Jahre später sind Sie als studentischer Vertreter in den Fachbereichsrat des Otto-Suhr-Instituts an der FU Berlin gewählt worden – als Vertreter der ,,Sozialistischen Arbeitskollektive", so hieß es damals. Sie waren Mitbegründer, Redakteur der Zeitung ,,Hochschulkampf. Kampfblatt des Initiativkomitees der Roten Zellen in West-Berlin", so der vollständige Titel, und 1971 beteiligten Sie sich an einer Aktion, bei der Aktivisten der Roten Zellen in ein Seminar eindrangen und mit Gewalt gegen den Professor vorgingen. Dafür sind Sie auch mit einer Geldstrafe belegt worden. Sie haben mal geschrieben, es sei schwer, den eigenen Kindern zu erklären, was einen damals trieb. Was ist Ihre Erklärung?

Aly: Also natürlich war es die Lust, irgendwelche wilden Umtriebe zu machen, die sind altersentsprechend, und es war die Lust an der Revolte. Das bringt viel durcheinander und bringt auch Menschen zusammen, die sich sonst ganz fremd sind und natürlich auch eine altersentsprechende Rechthaberei. Wir haben uns ja sehr stark also dem Marxismus zugewandt damals. Das war in den Schulen natürlich tabuisiert. Dort haben wir niemals etwas von Karl Marx erfahren, und der Kommunismus war nur der Generalfeind, also, das würde ich alles in den Bereich der Normalität nehmen, Gegenpositionen eingenommen und hatten plötzlich das Glück, eine eindimensionale Welterklärung zu finden.

Heckmann: Aber war es nicht auch die Empörung über eine total verstaubte Gesellschaft, die durchsetzt war mit Eliten, die aus der Nazi-Zeit kamen?

Aly: Nein, das hat uns damals nicht so sehr berührt. Die Frage Globke spielte keine Rolle. Kiesinger, gut, darüber wurde gesprochen, aber man muss sich klarmachen: Das damalige Kabinett Kiesinger hatte acht ehemalige NSDAP-Mitglieder.

Heckmann: Eben.

Aly: Ja, das hat uns aber nur im Fall Kiesinger interessiert. Die vier von der SPD haben uns gar nicht interessiert. Nein, was ich sagen wollte: Ich glaube, etwas spielt jedenfalls für mich und auch für viele andere eine große Rolle, auch für Rudi Dutschke, das hat ja nun gerade auch wieder Gretchen Dutschke betont: Wir sind aufgewachsen in einer schweigenden, kalten Nachkriegswelt, die auch gewalttätig war, die unangenehm war. Die Eltern, die Lehrer wussten im Grunde überwiegend, dass sie keine Vorbilder sein konnten mehr nach dem, was sie in diesem Krieg gemacht hatten und nach dem, was vorangegangen war und nach dem, wie sehr sie sich überwiegend mit Adolf Hitler und diesem Regime identifiziert hatten, und aus heutiger Sicht denke ich, das ist ganz normal, das musste so sein. Dann hat es begonnen mit der Verhaftung von Eichmann, an die ich mich lebhaft erinnere, dann mit dem Auschwitz-Prozess. Ich bin in Veranstaltungen von Fritz Bauer gegangen bei der ,,Humanistischen Union". Ich habe alle Nachrichten über NS-Prozesse gelesen und wir hatten damals etwa 30 Schwurgerichtsprozesse im Jahr, in denen meistens Männer angeklagt waren, die so alt waren wie unsere Väter, unsere Vorbilder, unsere Lehrer, die vorher und nachher normal waren und wir sind mit der '68er Bewegung aus diesem Land geflohen. Und wer das sofort erkannt hat, das habe ich in meinem Buch ja auch geschrieben, ,,Unser Kampf" heißt es ja, wer das sofort erkannt hat, war Kurt Georg Kiesinger. Kurt Georg Kiesinger hat damals intern gesagt seinen Beratern, und das ist protokolliert: ,,Diese jungen Studenten benehmen sich uns gegenüber heute genauso wie wir uns, die Nachkriegsgeneration, nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg 1932 gegen die damaligen Eliten und Regierung benommen haben."

Heckmann: ... Ihr Buch ... ist [2008] erschienen. Der Titel: ,,Unser Kampf 1968 – ein irritierter Blick zurück". Das ist natürlich eine bewusste Anspielung auf Hitlers ,,Mein Kampf" und Ihre These ist ja, wenn ich das so zusammenfassen darf, die '68er waren ihren nationalsozialistisch geprägten Eltern, die Sie die 33er nennen, ähnlicher, als sie es selbst wahrnehmen wollten und Sie führen ein paar Beispiele an, die anti-bürgerliche Haltung beispielsweise, die Gewaltbereitschaft, der Antiamerikanismus, latenter Antisemitismus, das Ausblenden von Kritik an linken Gewaltherrschern. Daraufhin wurden Sie wüst beschimpft von Ihren Kritikern, kann man, denke ich, sagen, als Renegat, als Verräter, als Konvertit. Hat Sie diese Reaktion überrascht?

Aly: Nein, überhaupt nicht, interessant finde ich natürlich, dass die '68er, da meine Altersgenossen, dass die, die so alles infrage gestellt hatten, die Kritik zum Mittelpunkt ihrer Daseinsberechtigung gemacht hatten und die auch übrigens ja gelegentlich zu humoristischen Aktionen fähig waren, derartig versteinert und ablehnend und abwehrend auf etwas reagiert haben, was sie nun mal selber betrifft. Sie haben urdeutsch reagiert und insofern auch die These dieses Buches vollständig bestätigt. Sie sind die Kinder ihrer Eltern.

Heckmann: Aber das ist ja auch kein Wunder, wenn empörte Reaktion darauf kommen, wenn Sie da hergehen und Braun gleich Rot setzen beispielsweise.

Aly: Habe ich doch nicht gemacht.

Heckmann: Sie haben aber geschrieben, dass der Begriff ,,Linksfaschismus" ein passender Begriff sei. Das ist in Ihrem Buch zu lesen. Norbert Frei, der Historiker, der hat gesagt, das Ganze sei eine historiografisch völlig überzogene Darstellung von Ihnen um des medialen Knalleffekts willen, und auch Wolfgang Kraushaar, der sich da viel mit dem Thema '68er Bewegung beschäftigt hat, hat deutliche Kritik geübt, viele andere auch. Würden Sie vielleicht zehn Jahre später sagen, der Vergleich war doch ein bisschen überzogen?

Aly: Nein, überhaupt nicht, es steht da gar nicht drin. Und übrigens: Herr Frei sagt immer, ich würde irgendwas wegen medialem Knalleffekt tun, aber meine zentrale These ist die: Wir sind aufgewachsen als die Kinder unserer Eltern, und es ist völlig normal. Wissen Sie, als '68er haben Sie eine 95%ige Wahrscheinlichkeit, dass der Vater bei der Wehrmacht war und da schreckliche Dinge mitgemacht und erlebt hat. Sie haben eine mehr als 30%ige Wahrscheinlichkeit, dass er Mitglied der NSDAP war und Sie haben eine weit über 60%ige Wahrscheinlichkeit, dass er das Nazi-Regime toll fand, vielleicht nicht am Ende, aber zwischendrin. Dass sich etwas von diesem alten Gift, was unsere Eltern, was unsere Lehrer prägte, auf uns übertragen hat, das harte Freund-Feind-Denken, das ja auch im Kalten Krieg noch verstärkt worden ist bzw. fortgeführt wurde, das ist doch völlig klar.

Heckmann: Aber andererseits wurden die '68er natürlich auch als Gegenbewegung immer interpretiert. Man selber hat es ja auch so interpretiert und die Unterschiede, die es ja zwischen diesen beiden Bewegungen ergibt, die man ja so bezeichnen kann, die lassen Sie unter den Tisch fallen, nämlich der Rassismus, der fanatische Antisemitismus der Nationalsozialisten, das Führerprinzip, um drei Beispiele zu nennen.

Aly: Also, zum Führerprinzipe will ich einmal Folgendes sagen. Wir haben Mao Zedong verehrt, wir haben Hồ Chí Minh verehrt. Wir haben alle gejubelt über die Revolution in Kambodscha. Wir wussten darüber nicht viel, aber wir fanden es ganz toll und wir haben Führungsfiguren wie Rudi Dutschke abgöttisch verehrt. Wir haben Führungsfiguren wie Daniel Cohn-Bendit abgöttisch verehrt. Es war eine Männerbewegung, also dass wir da so rein antiautoritär gewesen wären, '67, '68, '69, '70, das hat sich später dann erst langsam geändert. Das ist eine Lüge. Es hat überall diese klassischen Leitungsstrukturen gegeben und auch diese Bewegungen in Richtung Parteigründung und so weiter, egal, ob das jetzt Trotzkisten waren, ob das die Kommunistische Partei – Aufbauorganisation oder ML oder eine proletarische Linke war, die waren alle autoritär auch durchstrukturiert. Insofern ist auch da das alte Gift. Aber ich will noch einmal etwas sagen. Das Problem an der '68er Generation in Deutschland ist auch das. Wenn ich meinen Vater nehme, der ist 1912 geboren und sein Vater kam 1918 als Artillerieoffizier völlig zerschlagen und ruiniert mit einer Niederlage zurück, Artillerieoffizier bei Verdun, das war keine angenehme Sache. Da werden sie nämlich auch dauernd beschossen. Und mein Vater sagt und seine fünf Geschwister, das war reiner Terror, als der zurückkam und in dieser '68er Generation spiegeln sich sehr ungünstig beide Kriegsniederlagen und setzen sich in ihr auch in dieser Gewaltverherrlichung, auch in diesem Autoritarismus, auch in dem Revolutionarismus, den man schon 1932 sieht, fort, ohne dass das jeweils dasselbe ist, aber das muss man sehen als eine besondere deutsche Geschichte, und ich kann meine Altersgenossen nur auffordern, das auch an den eigenen Familien nachzuvollziehen und zu sehen, wie befangen sie sind.

Heckmann: Ihre Kritiker sagen auf der anderen Seite, Sie differenzieren überhaupt nicht, diese '68er Bewegung war nicht die Bewegung, sondern es gab unterschiedlichste Kreise und die kann man nicht alle in einen Topf werfen. Ich möchte aber einen anderen Punkt noch einmal rausgreifen: ,,USA, SA, SS!" – das war eine Parole, die Furore gemacht hat. Eine andere Parole war: ,,Schlag die Zionisten, wo ihr sie trefft!" Welche Rolle spielten Antiamerikanismus und Antisemitismus '68?

Aly: Ja, das verstehe ich nur gar nicht, warum Sie mich das fragen. Das ist ja nun genau der Punkt, von dem ich handele, von den Kontinuitäten. Wir waren die erste Generation im Unterschied zu Ihnen, die ungeschützt und unvorbereitet in den Abgrund von Auschwitz gucken musste. Dabei hat uns niemand geholfen, wir wurden hart damit konfrontiert. In den späten 1960er Jahren, in einem Alter, in dem man besonders auch empfindlich ist und auch ratlos sein kann und '68 war in Deutschland auch eine Ausweichreaktion, eine notwendige Ausweichreaktion. Was die Leute ja gar nicht begreifen: Ich verteidige in diesem Buch '68, wir waren überfordert mit der gesellschaftlichen Situation in Deutschland, mit den Schweigekartellen, mit dem Nicht-Sprechen, mit der Kälte, auch mit der Gewalt, die es noch gab. Die Prügelstrafe ist in den Schulen offiziell erst 1972 langsam abgeschafft worden, vor allem in Süddeutschland, während in der DDR zum Beispiel 1952, und wir sind ausgewichen. Was haben wir gemacht? Wir haben gesagt: ,,Wir bekämpfen nicht den Nationalsozialismus, das haben uns vorher die deutschen Richter und Staatsanwälte und Kriminalbeamte und Israel mit dem Eichmann-Prozess schon bekannt gemacht. Wir bekämpfen jetzt den Faschismus und der Faschismus ist ein internationales Phänomen!" Der hat keine deutschen Namen mehr. Und die Faschisten wohnen in Teheran, beim Schar von Persien, sie wohnen in Saigon und sie wohnen in Washington, allesamt sehr, sehr weit weg.

Heckmann: Also eine Schuldverschiebung?

Aly: Eine Schuldverschiebung, eine Ausweichreaktion, aber eine Ausweichreaktion, die man auch noch verstehen kann, dass junge Leute vor diesem Deutschland flüchten wollen. Und das hat ungefähr zehn Jahre lang für viele gedauert, das können Sie an der Biografie von Joschka Fischer, aber auch an meiner nachvollziehen. Das ist eine völlig verständliche Ausweichreaktion gewesen. Sie müssen sich ja klar machen. Willy Brandt hat eine wunderbare Rede 1964 in New York gehalten über die Verfolgung der deutschen Juden und was die Deutschen den Juden angetan haben. Er hat in Deutschland niemals darüber gesprochen, weil er wusste, wenn er das täte, könnte er nicht Kanzler werden.

Heckmann: Willi Winkler hat mal geschrieben: Die Studentenbewegung hat durch ihr verbales Liebäugeln mit der Gewalt die Saat für die ,,Rote Armee Fraktion", die RAF, gelegt. Ist da was dran?

Aly: Ja, aber sicherlich ist da was dran. Die RAF ist natürlich ein Kind der '68er Bewegung auch. Wie in jeder größeren Verwandtschaft haben Sie auch da natürlich ganz gefährliche Elemente. Man kann nicht sagen, die '68er Bewegung als solche hat das hervorgebracht, aber es gehört dazu. Wir haben uns nächtelang unterhalten über Gewalt gegen Sachen, Gewalt gegen Personen und wenn Gewalt gegen Personen, gegen welche Personen? Das spielte eine große Rolle. Und ich kenne ja auch Leute, die mit mir studiert haben, die 20 Jahre im Untergrund waren, an deren Resozialisation ich dann versucht habe, mitzuwirken. Ich fühle mich da auch in der Verantwortung. Ich war Mitglied der ,,Roten Hilfe" eine Weile. Ich finde, man muss darüber reden, auch über den eigenen Blödsinn, die eigenen Fehltritte, um einigermaßen klar auch anderen sagen zu können, wie es dazu kam, auch andere davor warnen zu können, eindimensionalen Weltbildern anzuhängen. Und unsere Hauptgegner waren ja damals – und das ist in Deutschland eine zentrale Krankheit und verbindet auch die '68er mit der NS-Bewegung – das waren die Liberalen.

Heckmann: Herr Aly, springen wir ins Heute. Viele Kritiker sagen ja: ,,Die '68er, die schreiben uns das Denken vor, auch jetzt noch." Alexander Dobrindt von der CSU sagt, es gäbe eine linke Meinungsführerschaft, die ihren Ursprung habe in der '68er Bewegung. Er spricht von ,,Meinungsverkündern", von ,,Volkserziehern" und es brauche eine ,,bürgerlich konservative Wende", eine ,,bürgerliche Revolution". Stimmen Sie zu?

Aly: Also, man hört ja diese Sachen auch von der AfD. Das halte ich alles für eine Überschätzung. Diese Überschätzung geht teilweise, ging – jetzt sind wir ja nicht mehr richtig satisfaktionsfähig – ging von den '68ern auch selbst aus, aber ich glaube, dass diese Minderheit auch von Intellektuellen die Bundesrepublik zwar beeinflusst hat insgesamt dann, wenn man einzelne Biografien sich anguckt. Dazu rechne ich mich auch, in einem durchaus positiven Sinn. Dass sie aber die Meinungsführerschaft übernommen hätte, dass sie Deutschland nachhaltig geprägt hätte, das glaube ich nicht, weil die Liberalisierung des Landes hat vorher begonnen. Wir waren Profiteure der Liberalisierung. Da sind Leute wie Ralf Dahrendorf und junge CDU-Leute, wie zum Beispiel Helmut Kohl – der die '68er verteidigt hat als junger Ministerpräsident und gesagt hat, da ist einiges wahr an dem, was die hier sagen und wollen – die sind für das Gesamtklima in der Bundesrepublik deutlich wichtiger, auch natürlich führende Sozialdemokraten.

Heckmann: Aber es gab doch einen wirklich gesellschaftlichen, kompletten Umbruch in dieser Zeit, der mit der '68er Bewegung in Verbindung gebracht wird!

Aly: Wo sehen Sie den Umbruch?

Heckmann: Sexuelle Revolution.

Aly: Ach, das ist doch völlig albern.

Heckmann: Sexuelle Befreiung, Liberalisierung der Gesellschaft, reden Sie die Verdienste der '68er Bewegung nicht etwas klein?

Aly: Ja, das sind eingebildete Verdienste. Sehen Sie: Wir waren die erste Generation, die die Pille hatte. Also die Frauen hatten sie, das muss man ja auch sagen. Männer haben das ausgenutzt. Das ist nicht unser Verdienst. Der Aufklärer zum Beispiel Oswalt Kolle mit seinen Filmen war wesentlich menschlicher und wesentlich massenwirksamer als die Parole von uns linken Männern '68: ,,Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!" Frauen haben sich später dagegen gewehrt, aber ich weiß, dass das durchaus Praxis war.

Heckmann: Sie würden sagen, die Verdienste der '68er Bewegung waren so überschaubar, wie Sie es gerade gesagt haben?

Aly: Sie sind deutlich kleiner, als es sich viele '68er einbilden. Wir haben nichts getan für die Aufklärung der NS-Verbrechen. Das ist eine Lüge, wenn das immer wieder behauptet wird. Wir haben uns davon abgewandt aus guten Gründen, die erklärbar sind. Die sexuelle Revolution – das bilden wir uns ein. Auch die Rock'n'Roll-Generation, 10, 15 Jahre vorher her, wusste schon sehr gut, wie es geht und was man so alles machen kann miteinander. Das ist nichts Neues gewesen. Und ansonsten natürlich, es gibt dann sozusagen im späteren Verlauf Dinge wie die grüne Bewegung. Aber das hat erst einmal nichts mit '68 zu tun, das entsteht später. Natürlich auch die Emanzipation von Frauen, die Veränderungen an den Universitäten. Aber auch diese Veränderung an den Universitäten, die Reformuniversitäten sind alle vorher geplant worden. Konstanz, Bochum, Bremen, das sind keine Erfindungen von '68. Wir haben das ausgenutzt, und viele von uns sind dort dann irgendetwas geworden und haben noch ein paar Jahre ihre wilden Theorien mit öffentlichen Geldern sozusagen verbreitet.

Heckmann: Das heißt, 68 war eigentlich überflüssig?

Aly: Als Historiker würde ich weder sagen, es war überflüssig noch notwendig. Es war so und ich versuche zu erklären, warum es in Deutschland so war, wie es war. Es ist sehr viel härter verlaufen als in Frankreich. In Frankreich war das nach zwei Jahren verschwunden und die Leute waren wieder im französischen Bürgertum, wie vorher auch ihre Familien. Da hat sich nichts geändert. Es war eine kurze romanische Revolte. In Deutschland ging das sehr viel länger und in allen Staaten, die den Zweiten Weltkrieg begonnen und vom Zaun gebrochen hatten – und das sind Deutschland, Italien und Japan. Das scheint mir ganz entscheidend. Und da spiegelt sich eben diese negative Kontinuität, mit der wir uns auseinandersetzen mussten. Das Positive an 68, das ich sehe, ist das, dass uns in aller Wildheit, in aller Irrationalität, die wir damals an den Tag gelegt haben, die Möglichkeit gegeben wurde, dieses Alte auch zu überwinden. Das ist aber kein Verdienst, das ist keine Heldentat, das ist auch ein unangenehmer Prozess. Wir haben das sozusagen versucht ,,auszuschwitzen". Das riecht auch nicht besonders gut. Das kann man verstehen, das kann man erklären, das kann man auch begründen, aber man muss nicht hinterher sagen: ,,Wir waren die Tollsten!"

Heckmann: Herr Aly, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Aly: Bitte.


Aus: "50 Jahre 68er-Bewegung,,Verdienste der 68er sind deutlich kleiner, als es sich viele einbilden"" (13.05.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-68er-bewegung-verdienste-der-68er-sind-deutlich-100.html (https://www.deutschlandfunk.de/50-jahre-68er-bewegung-verdienste-der-68er-sind-deutlich-100.html)
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on July 17, 2023, 01:21:06 PM
QuoteHab da so meine Zweifel

"Je t'aime, moi non plus"

Erinnerungen.

Ich war damals noch ein Kind. Weiss aber noch wie heute, dass einer meiner aelteren Bruder auf dem Balkon Lautsprecher installiert hatte und alle unsere Nachbarn mit dem Gestoehne dieses Liedes unterhalten wurden - zum Aerger unseres Vaters, der das dann ganz schnell beendet hat.

Das Lied hat mich damals schwer beeindruckt und das tut es immer noch.


Quotede.bear

Sie hat mit dem Lied meiner Generation beigebracht, dass solche Gefühle ganz normal sind und nicht versteckt werden müssen. Im Gegenteil . . . !

Ich verdanke ihr viel!

RIP


Quote
Tom Hardy

Lief damals auf jeder Fete.

Klingt mir wieder in den Ohren.

R. I. P.
JANE


Quote²


Ich war immer in sie verliebt...

RIP


...

Kommentare zu: https://www.zeit.de/kultur/musik/2023-07/saengerin-und-schauspielerin-jane-birkin-ist-tot (https://www.zeit.de/kultur/musik/2023-07/saengerin-und-schauspielerin-jane-birkin-ist-tot)
Title: Re: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on January 30, 2024, 02:29:11 PM
Quote[...] Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger ...

Der von den Achtundsechzigern propagierte »Tod der Literatur« hat eine lebendige Debatte ausgelöst, die mehr enthält als die kulturpessimistischen Klagen über das Ende von Schrift und Buch.

Der Band enthält die Vorträge des Symposiums »Belles lettres / Graffiti«, das 1998 im Rahmen der Marbacher Jahresausstellung »Protest! Literatur um 1968« im Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar stattfand. Helmuth Kiesel, Eberhard Lämmert und Klaus R. Scherpe hatten es in Zusammenarbeit mit Ulrich Ott vorbereitet.
Mentalitäten, Strategien und Schreibweisen von »Achtundsechzigern« wurden beleuchtet und in ihren Nachwirkungen sowie in ihrem Verhältnis zur Postmoderne beurteilt. Der daraus hervorgegangene Tagungsband versammelt Beiträge aus ideengeschichtlicher, linguistischer, System- und medientheoretischer Perspektive. Klaus Bogdal führt vor, wie man Sinn produzieren kann und Identität finden wollte, Christoph König schildert die problematische Suche nach dem Positiven und Andreas Huyssen profiliert die Unterschiede zwischen der amerikanischen und der deutschen »Erinnerungspolitik« im Hinblick auf »1968«. Helmuth Lethen beschreibt eine unheimliche Begegnung mit Carl Schmitt, Michael Rutschky erinnert sich an die Wiedereinsetzung der Großväter und Jürgen Link geht den Störungen des Normalen nach. Klaus J. Mattheier zeigt die soziale Einbettung von Politjargon und »dirty speech« auf, Fritz Hermanns wundert sich über den damaligen Reiz der Schwerverständlichkeit, Joseph Kopperschmidt fragt, warum die Studenten »so große Ohren« hatten, und Ulrike Haß-Zumkehr geht der »widerständigen Sprache« nach. Roman Luckscheiter skizziert die »unsichtbare Religion« der Bewegung und Manfred Lauermann erläutert den Begriff des Religioiden. Wolfgang Kabatek ruft Peter Handkes subversives Spiel mit Fernsehformen in Erinnerung und Ingrid Münz-Koenen macht deutlich, wie das Fernsehen zur Emotionalisierung des politischen Empfindens beigetragen hat.

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Roman Luckscheiter, geboren 1970, wurde an der Universität Heidelberg mit einer Arbeit über den postmodernen Impuls von 1968 promoviert.

Ulrich Ott, geb. 1939, war von 1985 bis 2004 Direktor des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar. 2004 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz für sein Engagement für das literarische Erbe deutscher Schriftsteller ...

Zu: Belles Lettres / Graffiti - Soziale Phantasien und Ausdrucksformen der Achtundsechziger
Herausgegeben von Ulrich Ott und Roman Luckscheiter
168 S., ISBN 978-3-89244-472-5


Aus: "Belles Lettres / Graffiti" (2001)
Quelle: https://www.wallstein-verlag.de/9783892444725-belles-lettres-graffiti.html (https://www.wallstein-verlag.de/9783892444725-belles-lettres-graffiti.html)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on February 05, 2024, 04:56:33 PM
Quote[...] Alexander Kluge, Jurist, SPD-Mitglied, Autorenfilmer, damals Mitte dreißig, war im Mai 1968 in der Frankfurter Universität. Es herrschte kreatives Chaos. Studenten hatten die zur Karl-Marx-Uni umgetaufte ehrwürdige Institution besetzt, Türen waren zerbrochen. Die Studenten, so Kluge, neigten ,,zu auf dem Konkurrenzprinzip fußenden, sich gegenseitig steigernden radikalen Formulierungen". Extremer geht immer – die fatale Dynamik der akademischen Linken. Mittendrin hielt Oskar Negt, damals Assistent von Jürgen Habermas, als ruhender Pol Vorlesungen über Philosophie. ,,Er integrierte durch die Herstellung von Zusammenhang, nicht durch Beschneiden", so Kluge.

Die Neue Linke richtete sich bald darauf in einer Phantasiewelt ein, in operettenhaften Reinszenierungen der Weimarer Republik mit einer imaginären Arbeiterklasse. Negt tat das Gegenteil. Er veröffentlichte 1968 sein – wie er fand – einflussreichstes Buch. ,,Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung". Das war der geglückte Versuch, Kritische Theorie mit Gewerkschaftsarbeit in der Bundesrepublik der sozialliberalen Ära zu verbinden, die IG Metall mit Adorno. Es war Ausdruck einer fundamentalen Überzeugung: Es geht darum, lebendige Zusammenhänge herzustellen. Recht haben ist schön, aber zweitrangig.

Während in Seminaren um die korrekte Auslegung von Gramscis Begriff des organischen Intellektuellen gerungen wurde, gründete Negt in Hannover eine experimentelle neue Schule, speiste seine Ideen in die gewerkschaftliche Bildungsarbeit ein und war spiritus rector des ,,Sozialistischen Büro". Das war nicht nach Kadern, sondern nach Berufssparten organisiert, weil die konkrete Erfahrung mit Arbeit im Zentrum stehen sollte. In den 70er und 80er Jahren verkörperte Negt jenen organischen Intellektuellen, nach dem in den neuen Elfenbeintürmen sehnsüchtig gefahndet wurde.

Viele 68er wie Hans Magnus Enzensberger oder Peter Schneider beugten sich später verwundert über das, was sie damals so gedacht hatten. Manche wurden vor Schreck Konservative. Negt nicht. Er hatte nichts zu bereuen. Er verfügte immer über ein klares politisches Unterscheidungsvermögen. 1972, als viele Linke Gewalt für eine diskutable Möglichkeit hielten, kündigte er der RAF jede Solidarität auf. Das erforderte, heute schwer vorstellbar, Mut.

Negt war und blieb Marxist. Nicht in der eisernen, leninistischen Façon, sondern in der flüssigen, offenen Art von Karl Korsch, einem mittlerweile in Vergessenheit geratenen kommunistischen Philosophen. Negts Denken kreiste um den Begriff Arbeit, den er aus den Verengungen der fordistischen Fabrikgesellschaft und der ,,Wenn Dein starker Arm es will"-Bilderwelt befreite und zu allen humanen Tätigkeiten öffnete, vor allem Bildung und Wissensproduktion.

Er schrieb Dutzende Bücher, über Intellektuelle und Gewerkschaften, Europa und Philosophie, die SPD und die Romantik, und seine Leitsterne Marx und Kant. Ein Kritiker hat ihn als Theoretiker mal ungnädig mit einem Ackergaul verglichen, zuverlässig, aber langsam.

Negt war als Denker immer solide, nie genial. Das war nicht schlimm – an unsoliden Genies war in der Linken kein Mangel. Er war ein Erfahrungswissenschaftler, mehr als ein Theoretiker. Ein Glücksfall war die Zusammenarbeit mit Alexander Kluge, dem Meister des Assoziativen. ,,Wir arbeiten zusammen, weil wir unvereinbare Gegensätze sind", schrieb Kluge dazu gewohnt paradox. Geistiges Abenteurertum und Bodenständigkeit waren bei dem Duo so klar verteilt wie bei Marx und Engels.

Das Opus Magnum erschien 1981: ,,Geschichte und Eigensinn". Eine solch wilde Collage von Theorie und Märchen, Wissenschaft und Comic, ein solches Dickicht von Material hatte es noch nie gegeben. Gleichzeitig war das 1300 Seiten Werk eine komplexe, konzentrierte Studie zu Negts immer wiederkehrender marxistischer Frage: Woher stammte unser Arbeitsvermögen? Der Leserschaft, die ebenso fasziniert wie verwirrt nach Halteseilen suchte, beschieden die Autoren: ,,Mehr als die Chance, sich selbständig zu verhalten, gibt kein Buch."

In den 80er Jahren formierte sich in Frankreich eine radikale Kritik der Moderne und eine vehemente Aufklärungsskepsis, vertreten von Foucault, Deleuze, Derrida, die sich mit Habermas, dem Rationalisten, bekämpften. ,,Geschichte und Eigensinn" war in diesem Battle eine listige Antwort, die quer zu allem stand. Sie löste gängige, sinnstiftende Erzählformen hin zu radikaler Subjektivität auf, und doch waren Kluges kalter juristischer Verstand und Negts Marxismus die Grundmelodie. Eine Art grundvernünftiger Vernunftkritik. ,,Geschichte und Eigensinn" blieb ein Solitär, ohne Vorgänger und Nachfolger.

Oskar Negt stammte aus kleinen Verhältnissen. Er war ein Bildungsaufsteiger mit unstillbarem Wissensdurst. Wer sein weiches, ostpreußisches Idiom einmal gehört hatte, vergaß es nicht wieder. Er war 1945, noch als Kind, mit seiner älteren Schwester aus dem Osten geflohen. Eine Odyssee am Rand des Todes. In ,,Überlebensglück" beschrieb er 2016, warum er das Grauen der langen Flucht ohne Folgeschäden überstanden hatte. Ihn schützte das aus dem Elternhaus stammende Grundvertrauen, das ihn befähigte, noch im Schrecken Sinnvolles zu erkennen.

Sein Werk spiegelt diese Erfahrung wider. Es ist durchzogen von historischem Optimismus, nie naiv, immer materialistisch begründet. Es verströmt ein ansteckendes Vertrauen in die Möglichkeiten des Menschlichen. Es gibt immer eine Lösung. Oskar Negt ist am Freitag mit 89 Jahren gestorben.


Aus: "Nachruf auf Oskar Negt: Es gibt immer eine Lösung" Stefan Reinecke (3.2.2024)
Quelle: https://taz.de/Nachruf-auf-Oskar-Negt/!5989935/ (https://taz.de/Nachruf-auf-Oskar-Negt/!5989935/)

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Quote[...] Nach langer, schwerer Krankheit ist gestern der Sozialphilosoph Oskar Negt im Alter von 89 Jahren verstorben. Der Publizist und Filmemacher Alexander Kluge gehörte zu den längsten Weggefährten von Negt, zusammen veröffentlichten sie mehrere Bücher. Im Gespräch erinnert sich Alexander Kluge an einen Freund und großen Denker.

Peter Neumann:  Alexander Kluge, Sie haben Oskar Negt einmal als ihren "älteren Bruder" bezeichnet. Dabei sind sie zwei Jahre älter als er. Wer war er für Sie?

Alexander Kluge: Man nennt in China einen Menschen, den man sehr achtet, einen "älteren Bruder". Spirituell ist er der Ältere von uns beiden. Bei unseren gemeinsamen Büchern stand Negt immer an erster Stelle, auch wenn im Alphabet K vor N kommt. Ich habe zu ihm aufgeschaut.

Peter Neumann: Negt war eine zentrale Gestalt der Studentenproteste 1968: Studium bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Assistent von Jürgen Habermas in Frankfurt, dann Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Wie haben Sie sich kennengelernt?

Alexander Kluge: Ich bin noch ein Vor-68er. Wir Filmemacher saßen da und waren erstaunt und verblüfft. Ich war es nicht gewohnt, jede Woche Pamphlete zu schreiben oder politische Programme für die nächsten 800 Jahre zu entwickeln. Das war mir fremd. Nachdem der Studentenprotest 1968 seine Hochphase durchlaufen hatte, zerfiel der Sozialistische Deutsche Studentenbund, er war zerstritten und löste sich auf. Oskar Negt eröffnete damals einen Runden Tisch, wo alle Leute, die untereinander verzankt waren, noch einmal zusammenkamen. Das hat mir imponiert. Da haben wir uns kennengelernt. Wir haben dann 52 Jahre lang zusammengearbeitet. Ich hing sehr an diesem Gefährten. Wenn ich sage, dass Oskar Negt mein Bruderherz ist, dann meine ich das wörtlich.

Peter Neumann: Es gab starke Auseinandersetzungen: Als Habermas 1967 vor einem "linken Faschismus" der APO warnte, der zu einer Gewalteskalation führen könnte, gehörte Negt zu seinen Kritikern. Er hat sich später dafür öffentlich entschuldigt. War die Sache damit vom Tisch?

Alexander Kluge: Negt war lebenslänglich loyal zu Habermas. Kritisch sein und loyal sein sind keine Gegensätze. Eine Mitte zu bilden, um die sich alle versammeln können, ist nicht ein Gegensatz zu Gründlichkeit, mit der man Dinge an der Wurzel fassen muss, wenn man radikal sein will.

Peter Neumann: Ihr erstes gemeinsames Buch, Öffentlichkeit und Erfahrung, erschien 1972. Was war Öffentlichkeit für Oskar Negt?

Alexander Kluge: Jeder Mensch macht Erfahrung. Aber ob diese Erfahrung mit Selbstbewusstsein verbunden ist oder ob sie einfach nur individuell, also robinsonistisch ist, hängt davon ab, ob man sie mit anderen austauscht. Wenn ich das, was ich denke und fühle, eichen kann an anderen Menschen, ist das Öffentlichkeit. Diese Öffentlichkeit entsteht im Zeitalter der Aufklärung, zwischen 1933 und 1945 gibt es sie gar nicht. Und 1968 erobern diese Jungen sie noch einmal zurück. Nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 ist das eine zweite Republikgründung. 

Peter Neumann: Negt dachte über den Wert der Arbeit und die menschliche Würde nach, über gewerkschaftliches Engagement und die Lebensform Demokratie. Er selbst stammte aus einfachen Verhältnissen, einer Familie von Bauern in Ostpreußen. Was war er für ein Denker? 

Alexander Kluge: Oskar Negt war kein Soziologe, aber auch kein Fachphilosoph. Er war Theoretiker. Ein theoros bezeichnet im alten Griechenland jemanden, der beim Besuch einer Stadtdelegation in der Fremde die Aufgabe hat, aufzupassen, ob die Fremden oder die Eigenen lügen. Er soll nicht verhandeln. Er soll nur aufpassen, dass niemand lügt. Das ist die Rolle des Mediators. Negt war also beides: Theoretiker und Mediator. Er war jemand, der Diskussionen wieder in die Wirklichkeit zurückführte, der Bodenhaftung herstellte. Er war ein Wirklichkeitshersteller.

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Peter Neumann: Aktuell gehen Zehntausende Menschen in Deutschland gegen rechts auf die Straße. Wie hat Negt die Erosion der Demokratien in den vergangenen Jahren erlebt?

Alexander Kluge: Die Frankfurter Schule fängt 1932 an, aktiv zu werden. Beim Streik bei der Berliner Verkehrsgesellschaft verbünden sich Nationalsozialisten und Kommunisten gegen die Republik. Und da merken Horkheimer und Adorno, das geht schief. Sie warten nicht bis 1933, sondern bringen schon ein Jahr zuvor das Institutsvermögen in die Schweiz und verlagern das Institut, die hauseigene Zeitschrift und die Gruppe in die USA: Tatsache ist, dass diese Deviation, diese Desorientierung periodisch ist, wellenartig wie das Wetter. Auch heute müssen wir wachsam sein. Ich versetze mich jetzt in Negt, der würde sagen: Rede nicht so allgemein, sondern nimm das Jahr 1990. Da haben wir den Mauerfall hinter uns, den alle gut fanden, und dann kommt ein nüchternes Jahr der Steuerberater, der Glücksritter, der Sanierer. Und es wird eine ganze Wirtschaft abgewürgt, eine Öffentlichkeit wird zerstört. Hier liegt sicher einer der Gründe für einen Großteil der AfD-Wähler. Jetzt ist es zu spät. Aber es ist nicht zu spät, es zu verstehen. Wenn wir nicht wollen, dass 2029 der Rechtsruck in Frankreich und Deutschland absolut wird, dann können wir wenigstens an einigen Punkten aus diesen Fehlern lernen. 

...

Peter Neumann: Haben Sie einen Satz von Oskar Negt im Ohr, wenn Sie an ihn denken?

Alexander Kluge: Ich habe nur die Bedächtigkeit im Ohr, mit der er Sätze aussprach. Wenn er sagt, der "zärtliche Keim der Vernunft", dann ist das etwas, was ich im Ohr behalte. Das Ohr merkt sofort, wenn einer es gut meint. Noch vor dem ABC lernen wir die Unterschiede in der Tonart.

Peter Neumann: Das Tragische an der Arbeit ist, dass sie ein ständiges Anarbeiten gegen die Natur ist. Gegen das Verfallen. Gegen unsere Endlichkeit. Ist der Tod das Ende der Arbeit? 

Alexander Kluge: Zwischen den Generationen arbeitet es weiter. Und das ist nicht spiritistisch gemeint. Eine Seelenwanderung mit Oskar Negt wäre etwas sehr Reales. Schon in ihm bewegen sich andere Philosophen: Der alte Sokrates ist mit einem Spurenelement in ihm. Und so werden die 20 Werkbände, die er hinterlässt, auch in anderen Generationen weiterarbeiten. Da gibt es etwas, das ihm nachruft. Ich habe die Hoffnung, dass etwas von seinen Spuren maulwurfähnlich in die Zukunft durchdringt.

...


Aus: "Alexander Kluge über Oskar Negt: "Die Hierarchie war klar: Er sagte, wo es langgeht"" (3. Februar 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2024-02/oskar-negt-alexander-kluge-philosophie-sozialwissenschaft-nachruf/ (https://www.zeit.de/kultur/2024-02/oskar-negt-alexander-kluge-philosophie-sozialwissenschaft-nachruf/)

QuoteKäpt'n Haddock

Ich mag Alexander Kluge. Ich würde mir nicht anmaßen zu behaupten, dass ich je etwas von dem, was er gesagt hat, verstanden hätte, aber ich mag ihn.


QuoteDagmar Schön

Sehr berührend, dass es heute noch einen Mann gibt, der einen anderen 'Bruderherz' nennt. Auch Schwesterherzen gibt es nicht mehr oft. ...


QuoteAkool

Oskar Negt hat es gut gemeint mit den Menschen und mich mit seinen Büchern und Gedanken 50 Jahre begleitet.
Dafür bin ich sehr dankbar.

Andreas Kohlmeyer


QuoteSchattenumarmerin

Flügel spreizen sich, der Dino in mir freut sich und ich (1968 16 Jahre alt) sage von ganzem Herzen Dank für dieses Gespräch!


QuoteWinfield

Alexander Kluge. Man darf nicht vergessen, daß dieser alte weiße Mann mit seiner Haltung zum Überfall auf die Ukraine das faschistische Terrorregime im Kreml unterstützt.

Und damit unsere Demokratie und Sicherheit gefährdet.


QuoteHaliflor

Ja, leider hat er sich im Alter sehr verirrt. Es gibt da auch persönliche Hintergründe, die ich jetzt aber nicht ausbreiten möchte.


QuoteDisordersystems

Das unterstützt er gar nicht. In Zukunft genauer lesen,.. Und sorry, aber ,,unsere Demokratie und Sicherheit gefährden" ganz andere alte weiße Männer.... Und ihre weiblichen Pendants. Dass jemand mit Weltkriegserfahrung nicht dafür ist bzw. war, in Europa nochmals Krieg zu führen, finde ich als erste Reaktion sehr nachvollziehbar. Und im übrigen Teil demokratischer Prozesse, zu einer konstruktiven Haltung zu finden. Wie eilfertig hierzulande immer gleich zu den Waffen gerufen wird und selbige finanziert, davon konnte man die bitteren Konsequenzen in den Jugoslawienkriegen sehen, und an anderen Orten der Welt. Das Recht auf Selbstverteidigung hat Kluge in einem Interview dazu gar nicht infrage gestellt, sondern nur überlegt, was der Ausweg wäre, der am wenigsten Leid, Tote und Quälerei mit sich bringt und Kräfte des Widerstands stärkt. Und Überlegen und (öffentlich, nicht geheim) einen Vorschlag machen, das gefährdet gar nichts in einer Demokratie. ... Da haben Kluge & Negt neue Standarts gesetzt. ,,Wir arbeiten zusammen, weil wir sich ausschließende Gegensätze sind". (Kluge Zitat über Negt in der taz:)


QuoteRunkelstoss

Sehr schönes Interview, danke.

Hier widerspreche ich.

    Die SPD braucht keine Theorie. Sie wird durch Zufuhr von Theorie auch nicht besser.

Seit dem die SPD "theorielos" ist, ist sie auch orientierungslos und das merkt man.


...
Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on March 27, 2024, 11:03:46 AM
Quote[...] In der Technischen Universität Berlin begann am 27. Januar 1978 der dreitägige TUNIX-Kongress mit etwa 15.000 TeilnehmerInnen. Dies war der Versuch verschiedener Basisinitiativen und unorganisierter Linken, die zerstreute neue Generation nach der 68er-Bewegung zu versammeln, die einen Gegenpol zum Politikverständnis der maoistischen K-Gruppen und der DDR-orientierten Organisationen bildeten.

Thematisch war der Kongress breit gefächert, so wie die Initiativen, die daran teilnahmen. So ging es nicht nur um die damals schon angesagte Themen wie Ökologie. Stadtzerstörung oder Neonazis, sondern auch um welche, für die es außerhalb der Linken kaum ein Bewusstsein gab. Themen wie Missbrauch der Psychiatrie, Aufbau einer eigenen Nahrungsmittelkette, alternative Energiegewinnung, Feminismus, der Kampf von Schwulen für ihre Rechte oder die Geschichte als Grundlage zur Einschätzung der eigenen Situation im Land.

In der Folge des Treffens begann bundesweit eine alternative Gründungswelle von Projekte, Gruppen und Kollektiven. Anders als bei der dogmatischen Linken ging es nicht mehr darum, die bestehende Gesellschaft umzustürzen oder sich nur auf den Widerstand gegen die Staatsmacht zu konzentrieren, sondern Alternativen zu schaffen.

Im Rahmen des TUNIX-Kongresses wurden auch zahlreiche Projekte vorgestellt, die es teilweise heute noch gibt. Zu nennen sind da vor allem die TAZ (die acht Monate später erstmals erschien) sowie das Konzept einer ökologischen Partei, aus der dann die Grünen wurden. Und auch die Frauen- sowie die Schwulenbewegung fanden hier den entscheidenden Aufschwung.


Aus: "Der TUNIX-Kongress" Aro Kuhrt (19. März 2024)
Quelle: https://www.berlinstreet.de/18858 (https://www.berlinstreet.de/18858)

Das Treffen in TUNIX fand vom 27. bis 29. Januar 1978 in der Technischen Universität (TU) in West-Berlin statt und war der kurzfristige Versuch einiger Initiativen von ,,Unorganisierten", die noch zerstreute neue Generation nach der 68er-Bewegung zu versammeln, die einen Gegenpol zum Politikverständnis der maoistischen K-Gruppen und der DDR-orientierten Organisationen wie der SEW bildeten. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Treffen_in_Tunix (https://de.wikipedia.org/wiki/Treffen_in_Tunix)

Title: [1968 (Afterglow) // Notizen... ]
Post by: Textaris(txt*bot) on April 02, 2024, 12:40:34 PM
Quote[...] [Andreas Petersen ist Dozent für Zeitgeschichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Leiter der Geschichtsagentur zeit&zeugen in Zürich und Berlin. Soeben ist sein Buch "Der Osten und das Unbewusste – Wie Freud im Kollektiv verschwand" (Klett-Cotta) erschienen.] In der DDR war die Tiefenpsychologie verpönt. Das blockierte die Aufarbeitung der NS-Geschichte, sagt der Historiker Andreas Petersen.

[...]

Dr. Peter Neumann: [...] In Ihrem jüngst erschienenen Buch Der Osten und das Unbewusste geht es um die fehlende Vergangenheitsbewältigung nicht nur in der Sowjetunion und Osteuropa, sondern auch in Ostdeutschland. Und Sie machen dafür vor allem auch den Umgang mit der Tiefenpsychologie verantwortlich. Warum?

Andreas Petersen: Der erste Band mit Schriften von Sigmund Freud, dem Gründungsvater der Psychoanalyse, erschien 1982 in der DDR. Man muss sich klarmachen, was das heißt: kein Theodor W. Adorno, kein Max Horkheimer, kein Erich Fromm, keine Frankfurter Schule, keine Studien zum autoritären Charakter, keine echte Gesellschaftskritik. Ich bin in Nordrhein-Westfalen, in Köln sozialisiert worden. Dort war alles völlig durchtränkt von tiefenpsychologischen Therapieangeboten und von Faschismusaufarbeitung: Wer waren unsere Väter eigentlich? Was haben die in der Wehrmacht gemacht? Warum waren sie zu solchen unvorstellbaren Verbrechen fähig gewesen? Was ist Gehorsam? Da gab es Filme, Buchhandlungen, die WGs. Ein ganz zentraler Text für uns war Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt. Also die Frage: Was verbindet uns mit Adolf Eichmann, dem Mann, der die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Millionen Juden organisierte. Die Tiefenpsychologie war ungemein wichtig für den Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. 20 Millionen Zuschauer verfolgten 1969 im Fernsehen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der mit seiner Frau Margarete zwei Jahre zuvor eines der einflussreichsten Bücher der deutschen Nachkriegsgeschichte geschrieben hatte: Die Unfähigkeit zu trauern. Im Osten hingegen, so formulierte es der DDR-Regisseur Achim Freyer erst kürzlich, war die Seele das Kitschwort aus dem Westen.

[...]

Dr. Peter Neumann: Sie meinen, dass das aus den USA nach Westdeutschland zurückgekehrte psychoanalytische Denken die Gesellschaft wieder zu sich selbst zurückbrachte?

Andreas Petersen: Ohne Freud und die Tiefenpsychologie wäre diese Öffnung nicht zu denken gewesen. Und dann gab es mit den Achtundsechzigern eine Generation, die wirklich wissen wollte, was mit ihren Eltern im Faschismus war. Diese junge Generation hatte Lektüreangebote, man konnte sich belesen und informieren. Ich erinnere nur an das Buch des Psychoanalytikers Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, 1941 im amerikanischen Exil veröffentlicht. Fromm untersuchte, wie der Individualismus der Moderne auf unbewusste Weise zur Flucht ins Autoritäre, Destruktive und Konformistische geführt hatte.

Dr. Peter Neumann: Sie schreiben in Ihrem Buch aber auch, dass die therapeutische Nabelschau im Westen bald zu einer Art Mode wurde. Bewegungen wie das hinduistische Hare Krishna, der Zen-Buddhismus, Taoismus, Tai-Chi-Chuan und Tantra wurden populär. Plötzlich ging es nicht mehr um Faschismus und Aufarbeitung, sondern nur noch um persönliches Glück und Selbstoptimierung. Hat die Durchpsychologisierung der Gesellschaft auch zu einer Vereinzelung ihrer Individuen geführt?

Andreas Petersen: Heute ist vielfach das Argument zu hören: Für mich stimmt's, nach meinem Empfinden verhalten sich die Dinge so und so. Und das war's. Ich halte das in der Tat für eine völlige Fehlentwicklung. Wenn alle das eigene Befinden zum Maßstab erheben, ist das für eine Gesellschaft fatal, weil sie damit auseinanderfällt. Dann fragt sich: Was verbindet Gesellschaften überhaupt? Verbundenheit entsteht über gemeinsame Werte. Lange Zeit hat die Religion noch die Funktion übernommen, eine verlässliche Basis für viele zu schaffen. Aber dieser Wertekonsens ist heute aufgebrochen, was einerseits natürlich gut ist, weil es mit einer Pluralisierung der Lebensstile einhergeht. Gleichzeitig haben wir eben das Problem, dass wir im Zuge der Individualisierung nicht mehr genau wissen, was eine Gesellschaft noch zusammenhält. Und da hat diese Durchpsychologisierung eben zwei Seiten: Auf der einen Seite hat sie eine große Öffnung bewirkt, für die man dankbar sein kann. Auf der anderen Seite hat sie zu einer starken Singularisierung geführt, in der man vor allem auf sich selber fokussiert ist und nicht mehr auf die Gesellschaft als Ganzes.

Dr. Peter Neumann: Die Psychoanalyse fehlte im Osten nahezu vollständig. Freud galt als westlich, bourgeois, dekadent. So etwas wie das Unbewusste, Triebhafte durfte es im Sozialismus nicht geben. Man unterrichtete vielmehr den russischen Verhaltensforscher Iwan Pawlow, dessen Lehre von der klassischen Konditionierung besser ins Bild des neuen Sowjetmenschen passte. Wusste die DDR, wer sie war?

Andreas Petersen: Nicht nur die DDR, sondern alle osteuropäischen Gesellschaften wussten nicht, wer sie waren. Wenn bestimmte Sachen gesellschaftlich nicht verhandelt werden können, wenn sie nicht in der Zeitung, nicht im Feuilleton, nicht in der öffentlichen Diskussion vorkommen, höchstens im privaten Kreis, in Kirchen oder Kliniknischen auftauchen, dann gibt es darüber auch keine Verständigung in der Gesellschaft. Es bleibt eine Lücke in der Kommunikation. Man darf sich die Kerngruppe der Achtundsechziger gar nicht so groß vorstellen. Das sind 2.000 Leute, und dann gibt es noch einen Sympathisantenkreis mit ein paar Tausend Unterstützern. Mehr sind es nicht. Aber im hinterletzten bayerischen Dorf erzählen die Leute zwanzig Jahre später, dass sie Achtundsechziger gewesen sind. Die haben das medial mitbekommen, haben sich identifiziert, haben an dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung teilgenommen. Im Osten brauchte es schon sehr viel Energie, um solche Gespräche praktisch von Mensch zu Mensch, von Görlitz nach Leipzig zu transportieren.

Dr. Peter Neumann: Für die DDR war klar, woher das Unheil kam. Man lagerte das Problem einfach aus und zeigte mit dem Finger über die Mauer: Die Faschisten sitzen drüben im kapitalistischen Westen. Man selbst war das "bessere Deutschland". So blieb auch in den Familien die Aufarbeitung meist aus.

Andreas Petersen: Die Achtundsechziger haben letztlich ihre Vergangenheit nicht am Familientisch verhandelt. Sie haben nicht ihre Eltern befragt, das war zu heiß. Sie haben es gesellschaftlich verhandelt, das ist das Besondere. Es wäre zum Beispiel sehr einfach gewesen, über die Wehrmachtauskunftstelle an Informationen zu kommen: Man konnte einen Antrag stellen und wusste zwei Monate später alles über den eigenen Onkel oder Vater: Wo haben die gedient, welche Einheit, sind sie verwundet gewesen? Anders gesagt: Wenn man wissen wollte, was die Männer damals im Krieg gemacht haben, dann gab es dafür öffentliche Stellen. Diese Stellen gab es in der DDR nicht, aber vor allem gab es keine gesamtgesellschaftliche Fragestellung. Dass die Aufarbeitung auch im Westen nicht lückenlos verlief, sehen wir heute im Umgang mit dem Ukraine-Krieg, den "Bloodlands", jenem Gebiet zwischen Zentralpolen und Westrussland, wo die Wehrmacht damals ihre Verbrechen verübt hat, neue Verbrechen geschehen, aber die notwendige Unterstützung ausbleibt.

Dr. Peter Neumann: Wie meinen Sie das?

Andreas Petersen: Es gibt Sätze, die inzwischen zu Plattitüden geworden sind: Man sagt "Nie wieder", und man fragt sich, was heißt das, jetzt, hier, konkret in dieser Situation. Wenn man dieses "Nie wieder" ernst nehmen würde, müsste man jetzt Waffen an die Ukraine liefern. Es gab die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion, und einer der Hauptschauplätze war die Ukraine. Und wenn wir einen ehrlichen Umgang suchen, dann müssen wir auch eine Diskussion über die deutsche Schuld in der Ukraine führen.

Dr. Peter Neumann: Warum hat sich der Gefühlsstau nach 1989 im Osten nicht einfach entladen?

Andreas Petersen: Schon die Beschäftigung mit der NS-Diktatur im Westen war ja unheimlich schwierig. Und im Osten kam bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte nun noch die zweite Diktatur hinzu. Das wäre dann wirklich sehr viel gewesen. Das Ausbleiben einer nachholenden Bewegung nach 1989 hat aber auch mit der Entwicklung der Tiefenpsychologie selbst zu tun. Es sind nicht mehr die Siebziger-, Achtzigerjahre mit ihrem utopischen Aufbruchsgedanken. Es ist jetzt die integrierte Verhaltenstherapie, die Menschen im Burn-out auffängt. Die Fragen "Wer bin ich?", "Wer sind meine Eltern?", "Woher komme ich?", "Was bedeutet das für mein Leben?" rücken in den Hintergrund. Auch in den Therapien geht es jetzt vor allem um Effizienz und Selbstoptimierung. Es gibt heute nur noch zwei psychoanalytische Lehrstühle in Deutschland, alles andere ist Verhaltenstherapie.

Dr. Peter Neumann: Einerseits ist die deutsche Schuld heute so präsent wie lange nicht mehr. Nicht nur in der Ukraine, auch im Nahen Osten, wenn es um die deutsche Staatsräson und die Frage geht, wie viel deutsche Kritik an Israel zulässig ist. Andererseits gibt es gerade aus dem Globalen Süden Stimmen, die von dieser deutschen Schuld nichts wissen möchten. Die sie sogar verantwortlich machen für gegenwärtiges Unrecht in Gaza. Propalästinensische Aktivisten skandieren "Free Palestine from German Guilt" ("Befreit Palästina von deutscher Schuld"). Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Andreas Petersen: Zur Aufarbeitungsdiskussion gehört das Wissen darum, was war. Es geht am Ende um die Fakten. Das gilt auch für den Vernichtungskrieg der Deutschen. Wo waren diese Wehrmachtssoldaten eigentlich? Ich habe neulich eine Veranstaltung mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel gemacht, der sagte: Gehen Sie in Berlin in die Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, im Keller gibt es im Rahmen einer Ausstellung eine Landkarte für deutsche Soldaten in Stalingrad, darauf alles Städte, die heute wieder Kampfgebiet sind: Sumy, Kramatorsk, Charkiw, Orte, an denen auch Schlögels Vater war. Diese Art von harter Erkenntnis meine ich, wenn ich von Aufarbeitung spreche. Meine Hoffnung ist, dass wir eine gemeinsame Basis finden. Die Interpretationen können dann immer noch unterschiedlich sein, aber wir sollten mindestens davon ausgehen können, dass wir über dieselben Fakten sprechen.


Aus: ""Nimmt man 'Nie wieder!' ernst, müsste man der Ukraine Waffen liefern"" (1. April 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2024-03/andreas-petersen-osten-freud-psychologie-ukraine (https://www.zeit.de/kultur/2024-03/andreas-petersen-osten-freud-psychologie-ukraine)