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[Kulurgeschichte oder Research on the history of media art and culture... ]

Started by Link, July 31, 2008, 11:45:06 AM

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",,Aktenzeichen XY": Mehr als Verbrechen" Jens Müller (13.8.2023)
Dokumentarfilmerin Regina Schilling hat in den ZDF-Archiven von ,,Aktenzeichen XY ... ungelöst" gegraben – und mit dem Material den Zeitgeist analysiert. ... ,,Ich gehöre zur ersten Generation Kinder, die mit dem Fernseher im Wohnzimmer aufwuchs." Aus dieser Erfahrung schöpft sie nicht zum ersten Mal. Vor fünf Jahren berührte ihr Film ,,Kulenkampffs Schuhe" viele Menschen. Jeder, dessen Kindheit irgendwie in die 60er bis 80er Jahre gefallen war, konnte die von ihr rekapitulierten Seherfahrungen mit Hans-Joachim Kulenkampff, Hans Rosenthal und Peter Alexander bestätigen.
Die Verknüpfung der Lebensgeschichten der einstigen Showgrößen mit der ihres eigenen Vaters gelang ihr virtuos, zumal Schilling nicht einfach ein nostalgisches Bedürfnis bediente, sondern das Kriegstrauma, die Schuld, die Verdrängung der Elterngeneration in deren so scheinbar harmlos und lustig daherkommender Fernsehunterhaltung offenlegte. ,,Kulenkampffs Schuhe" war nicht weniger als ein Psychogramm der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Und genau das ist nun auch ihr Film über ,,XY". ,,Was faszinierte unsere Eltern damals so? War es die Lust an der Angst?", fragt Schilling. ...
https://taz.de/Aktenzeichen-XY/!5949799/

Von Michael Meyer | 05.10.2023 - Einst umstritten und schon lange ein Quoten-Hit – seit mehr als 50 Jahren läuft die ZDF-Sendung ,,Aktenzeichen XY ... ungelöst". Geprägt wurde sie von Eduard Zimmermann, der auch eigene Moralvorstellungen unterbrachte. Das zeigt die neue Doku ,,Diese Sendung ist kein Spiel". ... Die Dokumentation ,,Diese Sendung ist kein Spiel" von Regina Schilling arbeitet ausschließlich mit Bildern und Originaltönen von damals, kein Fernsehredakteur, Polizist oder Experte kommt zu Wort. ... Die offiziellen Zahlen gaben Zimmermann recht: Es gab mehr Drogenopfer, und auch die Rate an Mordfällen, Raub- und Totschlagsdelikten war seinerzeit angestiegen. Trotzdem diskreditierte die Sendung ganze Bevölkerungsteile, so zumindest bewertet es Regina Schilling in ihrem Film.
Für Zimmermann moralisch zweifelhaft waren demnach etwa Frauen, die ungebunden lebten, oder Homosexuelle, die seine Sendung fast gänzlich in ein kriminelles Milieu rückte. Schon 1970 machte der damalige Südwestfunk eine sehr kritische Sendung zu ,,Aktenzeichen XY ... ungelöst", man lud Zimmermann ein und attestierte dem neuen Format, die Bevölkerung zu Paranoikern und Denunzianten umzuerziehen.
Später, in den siebziger Jahren haderte Eduard Zimmermann erkennbar auch mit der Grünen Partei und Bewegung, einmal rückte er zwei Morde sogar in jene Ecke – die Täter könnten aus der radikalen Atomkraftgegnerbewegung kommen, behauptete er.
Regina Schillings Film spannt einen Bogen von 1967 bis zur letzten Sendung 1997, die Eduard Zimmermann moderierte, parallel entwickelte er sogar auch eine reißerische, ähnlich konzipierte Sendung für SAT.1 – heute wäre das undenkbar, bei beiden Sendern gleichzeitig zu arbeiten.
Bei aller Kritik, die die Sendung ,,Aktenzeichen XY ... ungelöst" in all den Jahren abbekam – zu konservativ und streng sei sie gewesen, so lauteten die Kritiken – sie gehört untrennbar zu jener Generation, die in den sechziger und siebziger Jahren geboren wurde. Diese setzte sich Freitagabends gerne dem Grusel des realen Verbrechens aus, denn die Sendung klärte nicht nur Verbrechen auf, sie war auch spannend.
https://www.deutschlandfunk.de/doku-aktenzeichen-xy-100.html

http://www.reginaschilling.de/

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"Wir haben "Mit Schirm, Charme und Melone" wiedergesehen" Doris Priesching (11. Februar 2024)
Diana Rigg und Patrick Macnee schrieben als Mrs. Emma Peel und John Steed Fernsehgeschichte. Kann man die Serie heute noch sehen? Man muss!
An Mit Schirm, Charme und Melone hege ich liebevolle Erinnerungen an meine Kindheit. Es war in den 1980ern, als John Steed und Emma Peel sich in die Wohnzimmer der Familien wagten, natürlich abends. Um welche Uhrzeit genau, weiß ich nicht mehr, jedenfalls so spät, dass ich es nicht mehr sehen durfte.
... Fernsehen war damals unfassbar. Man konnte Sendungen tatsächlich nur zu einer bestimmten Zeit sehen – aus heutiger Sicht unglaublich! Eine erste Befreiung vom Programmdiktat brachte der Videorekorder. Man nahm Filme auf ziegelsteingroßen Kassetten auf und gewöhnte sich daran, den Schluss von Filmen nicht zu sehen, weil man sich beim Geheimcode VPS wieder einmal bei der Aufnahmezeit geirrt hatte.
https://www.derstandard.at/story/3000000206664/wir-haben-mit-schirm-charme-und-melone-wiedergesehen


QuoteRoky Erickson

Meiner Erinnerung nach lief diese Serie bereits in den 70ern im ORF. Sie war eine meiner Lieblingsserien als Teenager.


QuoteKommentator2

Der Umgang mit Medien war in den 80ern wirklich sehr einfach. Es gab bestimmte Filme und Serien, die so wichtig waren, dass jemand eine teure Videokassette selbst im Handel gekauft hat und zum Zeitpunkt, wenn es dann im Fernsehen lief, auf den Aufnahmeknopf drückte (Amazon oder andere Online-Shops gab es nicht, weil es auch kein Internet gab)

Und als Bonus hat man dann nach dem Schauen meist viel Zeit und Gesellschaft gehabt, um das Gesehenen zu verarbeiten. ...


Quotetheflower

Ach ja!
Ende Volksschule Beginn zur Hauptschule schwarz-weiß Fernseher. Ich denke, es war immer Sonntag Abends -
Pflichttermin.
Am nächsten Tag in der Schule Endlosdiskussionen über das Gesehene.
Schön wars!


QuoteJenesaisquoi

Sorry, aber das waren nicht die 80-er, als sich Emma Peel und Patrick Steed ,,in die Wohnzimmer wagten", sondern schon 20 Jahre früher. Ich bin Anfang der 60-er geboren und erinnere mich genau, dass ich maximal ein Volksschulkind war. Der Trailer der Serie hat mich fasziniert, aber ich durfte sie mir niemals ansehen, sondern musste ins Bett. Krimis - auch lustige - hielt man damals für Kinder ungeeignet.


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Quote[...] Nicht nur die Liebesdramen und Freundschaften der Schüler und Schülerinnen der Beverly High beeinflussten uns, auch die Sexualmoral und die Modetrends hinterließen bleibenden Eindruck.

... Für Menschen, die mit Serien wie Sex Education aufwachsen, mag das noch immer verklemmt und sehr antiquiert wirken, aber für ein bosnisches Dorf war das revolutionär. Und für Beverly Hills offenbar auch.

Nicht nur selbstbestimmte Entscheidungen in Sachen Sex, auch jene in Sachen Mode lebten uns die Serienheldinnen vor. Als ich das erste Intro der Serie nach einigen Sekunden anhielt, wurde mir schlagartig klar, wieso mein erster Kauf in der ersten, frisch eröffneten Boutique des Nachbardorfes eine glänzende Leggings in Lila war. Und wieso ich unbedingt Stirnfransen wie Kelly haben wollte.

... Ein Segen war es übrigens, dass die Serie in Jugoslawien bereits 1991 lief und in Österreich wohl etwas später startete. So konnte ich, seit Sommer 1992 in Wien lebend, ältere Folgen nochmal sehen. Diesmal aber auf Deutsch, synchronisiert. Beim Nachschauen der späteren Folgen stelle ich fest, dass ich mich kaum mehr an den Inhalt erinnere, aber umso mehr an die Konflikte, die die Darsteller miteinander und mit der Produktionsfirma hatten. Die Skandale, die dazu führte, dass Brenda (Shannen Doherty) Beverly Hills, 902010 verließ, sind mir eher in Erinnerung geblieben als der Plot der Folgen ab 1994.

... Es ist also eine nette, sentimentale Reise in die eigene Kindheit und Jugend, aber mehr gibt Beverly Hills, 90210 heute nicht her. Für die Gen Z wäre allerdings die Ästhetik der frühen 1990er-Jahre eine nette Inspiration, auf die sich ein neuer Blick lohnt. (Olivera Stajić, 25.2.2024)


Aus: "TV-Serien: Erster Sex und lila Leggings: Wir haben "Beverly Hills, 90210" wiedergesehen" Olivera Stajić (25. Februar 2024)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/3000000208620/erster-sex-und-lila-leggings-wir-haben-beverly-hills-90210-wiedergesehen

QuoteVerbatim

Und ich dachte immer dass der Trend "glänzende Leggings in Lila" aus Jugoslawien kommt... ;-)


Quoterecycle it

Die Klamotten und Frisuren. Was soll ich sagen, alles ausprobiert.


QuoteDer Häuptling

Mir hatten es damals schon die Autos angetan. Alter Mustang, Porsche 356, Corvette, ...


Quotebienesumsi

Da werden Erinnerungen wach: Ich hab fast alle Folgen gesehen - aber die Serie hat, wie so viele, ab Staffel 4 (oder 5?) viel zu viele neue Charaktäre rein- und wieder rausgeschrieben. ...

Die erste Kelly Frisur (mit den langen Haaren und Stirnfransen) hatte ich nicht. Aber eine andere dann.
Und dann bin ich zu Melrose Place gewechselt :)


QuoteHansSolo

1991 ist inzwischen 33 Jahre her, omg, omg, omg...


Quoters212

Offiziell hab ich damals natürlich nur Twin Peaks geschaut, für 902010 war ich ja als gerade nicht mehr Teen schon zu alt (und bin natürlich auf die Andrea gestanden - intellektuelle Girls fand ich immer schon sexy...)


QuoteIchhabdaneide

Diese Serie sagt v.a. viel über die Seher aus die sich das angesehen haben.


QuoteZentralnervöse Berichterstattung

Ja, nämlich dass sie in den späten 70er oder frühen 80er Jahren geboren wurden.


QuoteLydiaB

Was ich mir immer wieder gerne ansehe ist BOSTON LEGAL.

Themen erschreckend topaktuell nach 20 Jahren. Dazu Chauvinismus und Sexismus auf die charmantest mögliche Art und so selbstironisch lustig, dass ich auch als Feministin mehr lachen kann, als bei jedem aktuelleren TvFormat oder bei sonstigen alten Serien, die im Rückblick meist einfach nur trashig u/o aus der Zeit gefallen wirken (Beverly Hills...) Wer schaut mit mir alle Staffeln und wir schreiben dann für den Standard ein Resümee?


Quoterosaantiheld

Ich erinnere mich: meine um zwei Jahre jünger e Cousine hat es geliebt. Ich war einmal zu Gast und sie hat geschaut.
Mich als zehnjährigen Buben hat's gegängstigt: ich bin mir so wertlos vorgekommen und so unzulänglich. Wie sollte ich es jemals schaffen, auch nur ansatzweise so zu werden mit meinen grünen und pinkfarbenen Bubenstrumpfhosen, die meine Oma oder Mama für mich beim Hofer gekauft hatten, mit meiner besten Freundin und ich, die in unserer Heckenhöhle Ronja Räubertochter spielten oder mit meiner Liebe zu "Nils Holgersson" und anderen Zeichentrickserien.
Heute hab ich Mitgefühl mit dem kleinen Buben von damals, der niemanden hatte, der ihm diese Serie und viele andere Dinge einzuordnen geholfen hätte.


QuoteMance Rayder

Ich war damals im Team "Melrose Place".


QuoteAußen schön und innen Community

Danke für die Zeitreise.

Die Stirnfransen wollte ich auch haben. Hab mir dann selbst welche geschnitten. Vergessend, dass ich Naturlocken habe. Im trockenen Zustand (der Haare) lief das Teenager-Ich dann mit 1 cm langen Stirnfransen rum. ;-)


Quoterobert o.

Ist jetzt der letzte Schrei...


QuoteMichelangelo_1971

"Man kann, muss aber nicht...."

... die Abenteuer von Brenda, Kelly, Brendon und Dylan heute noch sehen.
Diese epochale Erkenntnis lässt nun wieder mein Gewissen zur Ruhe kommen und so die Möglichkeit sich bietet, mal wieder ab und zu eine Folge aus dieser Serie mir zu Gemüte führen und in postpubertären Erinnerungen schwelgen.

*seufz*


QuoteA Smart Gold Fish called GriGri

Im Vergleich zu Serien wie 90210 ist Buffy sehr gut gealtert. Ich hab im Vorjahr die Staffeln 4 bis 7 nochmal gebinged und es ist genauso gut wie vor 20 Jahren.


QuoteStephen Morrissey

Die Schreibweise von Brandon Walsh in diesem Artikel wechselt häufiger als die politische Affiliation von Robert Lugar.


Quotehauptsoch

Ich mochte eigentlich keinen der Charaktere wirklich (am ehesten noch Brenda), hab es aber trotzdem gerne geschaut, weils einfach eine andere Welt war. Allerdings hat mich das doch auch Moralisierende genervt, Brandon trinkt ein paar Drinks zu viel, und muss davor bewahrt werden, Alkoholiker zu werden, Donna bleibt Jungfrau ( was bleibt ihr auch anderes übrig mit dem Bübchen als Freund ;-) ), und so weiter. Andrea war mir die Unsympathischte von allen, so anbindernd pseudocool.
Die späteren Folgen nach dem Ausstieg von Shannon Doherty hab ich nur noch zufällig gesehen.
Trotzdem eine nette Erinnerung an eine schöne Zeit.


QuoteDr.Schuh

Wer ältere Schwestern hatte, hatte damals gar keine Wahl. Die haben gezwickt und gebissen um die Fernbedienung zu verteidigen....


QuoteLe Bird

...als Screen-Time noch ein absurdes Konstrukt war...
Ich glaub wir haben damals als Jugendliche
alle ziemlich viel Zeit vor dem Fernseher verbracht. Und keinen hat's interessiert. :-)


QuoteFetterKlovn

Stimmt. Ich habe von 14 bis 17 zu viel ferngesehen und zu viel Computer gespielt. Dann irgendwann den Rappel bekommen und verstanden, dass ich 1. Serien schaue, die von der Dramaturgie auf die Werbepause ausgerichtet sind, 2. keinen Spannungsaufbau in Filmen habe, weil auch Werbepause, ich 3. nichts vollständig sehe, weil ich herumzappe, und 4. weil mir die Sender die Filme bis zur Unkenntlichkeit zusammenschneiden. Lebe seither fernseherlos und besser.

Aber ein Unterschied zu heute ist schon: Fernseher war zu Hause. Handy und Handyzeit ist immer und überall. Alleine die Leerläufe, die wir früher hatten (Warten auf den Bus oder auf Freunde oder so) waren im Endeffekt Gold wert. Haben die heute nicht mehr.


Quoteundefinierbar

Ja, total irre. Nach der Schule den ganzen Tag bis zum Abend. Al Bundy, 2x Simpsons, taff, irgendwelche bullshit Talkshows (Arabella), Galileo, was weiß ich, noch anderer Trash.
Unglaublich was man in der Zeit vernünftigeres hätte machen können;) naja bin heute beruflich erfolgreich und hab Kinder. wird schon gepasst haben ..


QuoteNeoNovalis

Das war fuer mich damals schon trash. Soap fuer teenager... mit Schauspielern um die 30 die College-Studenten spielen.


QuoteHardcastle & McCormick

Hab die Serie erst Ende der 90er gesehen, als sie der ORF zusammen mit den Austria Top 40 MusicVideos (meiner Erinnerung nach einer Art Austria MTV) sendete. Jennie Garth die erste große frühpubertäre Liebe. Der Kleidungsstil von Steve - weite Chinos, Shirt und Hemd drüber - musste natürlich nachgemacht werden und war megacool. Zumindest fühlte ich mich so.


QuoteA. Sethnacht

Bosnia Herzegowina 90210


QuoteOlivera Stajić

hahaha

auch wenn 1991 auf einem anderen kanal gerade der kroatien-krieg ,,übertragen" wurde :(((


Quotebullchopper

Dylans 356er Speedster Porsche war am schärfsten.


QuoteMichael H

Ich würde mir eine solche Rückschau sehr für Wonder Years wünschen, liebe Redaktion! Meiner Meinung die beste TV Serie und praktisch zeitlos, meine Kinder lieben sie ebenfalls.


QuoteHolger am Waldsee

ogottogott. bitte nicht.
bei magnum wär ich dabei.


QuoteHugin01

Meine Güte! Ich erinnere mich noch genau, wie süß ich Dylan fand - lange vor meinem Outing. Und prinzipiell gefiel mir natürlich die ganze Serie. Jede Episode wurde sehnsüchtigst erwartet.
Damals bot mir die Serie immer wieder einen kurzen geistigen Ausstieg aus einer sehr belasteten Familiensituation. Allein dafür bin ich dankbar.


QuoteTom. Luther

Danke fur den Artikel
Ich könnte es nicht besser beschreiben!
Als 1980 geborener war es damals für mich auch Magisch...
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QuoteCandy Corn

Ich liebe die Serien der 90er.
Vielleicht weil es meine Kind/Jugend war. Aber auch weil damals nur eine Geschichte erzählt wurde (ob man sie mag oder nicht). Heute ist alles verkrampft und eine Wiederholung der Wiederholung. Vielleicht waren es die 90er auch. Aber Es war "meine" Wiederholung.


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Quote[...] 25 Jahre ist es nun schon her, daß die ersten DVDs in Amerika veröffentlicht wurden, darunter moderne Filmklassiker wie Blade Runner: Director's Cut, Goldeneye, Interview with a Vampire, The Fugitive, und Twister, gefolgt von weiteren Veröffentlichungen in Japan und später auch in Europa.

Die DVD war das erste Medium, das der VHS den Erfolg streitig machen konnte und das, trotz der eingangs deutlich höheren Kosten für Filme auf DVD und auch für die zum Abspielen notwendige Hardware. Auch das weitverbreitete – wenn auch illegale – Kopieren von Filmen war auf DVD nun erst einmal nicht mehr möglich, ebenso wenig das einfache und noch verbreitetere Mitschneiden von Fernsehsendungen.

Dennoch trat die DVD unaufhaltsam ihren Siegeszug an. DVDs waren nicht nur weitaus handlicher als die wesentlich größeren Videocassetten, sie waren auch zuverlässiger und boten auch fast immer die Möglichkeit, den jeweiligen Film nicht nur in der Synchronfassung, sondern auch in der Originalfassung und auch zusätzlich meistens mit Untertiteln in verschiedenen Sprachen und auch mit Untertiteln für Hörgeschädigte, anzuschauen. Später wurde der zusätzlich verfügbare DTS 5.1 Mehrkanalton standard. Auch die Bildqualität der DVD war erheblich besser als die der VHS und Probleme wie ,,Bandsalat" und andere mit dem mechanischen, analogen Medium zusammenhängende Ärgernisse waren schnell Geschichte. Und die Bild- und Tonqualität der Filme blieb immer gleich gut, vorausgesetzt man ging mit der DVD pfleglich um und zerkratze die Oberfläche nicht. Im Gegensatz zur VHS sind DVDs nicht anfällig für bandspezifische Arten der Materialermüdung, die sich derartig schnell bemerkbar machen, daß sich erste Spuren schon nach dem einfachen, mehrmaligen Gebrauch zeigen. Gut erhaltene DVDs der ersten Stunde werden auch heute noch so abspielbar sein, als hätte man sie gerade erst gekauft.

Doch in der Zwischenzeit sind noch die Blu-ray Disc und die Ultra HD Blu-ray auf den Markt gekommen. War das das Ende der DVD? Keinesfalls! Allein für die USA verzeichnet der DVD & Blu-ray Release Report aktuell immer noch mehr als 250.000 veröffentlichte Einheiten pro Woche allein auf dem Medium DVD! Trotz Streaming bleibt die DVD eine Erfolgsgeschichte und das nicht ohne Grund. In einer immer weniger greifbaren, digitalen Welt wächst das Bedürfnis etwas in der Hand zu haben, sei es als Geschenk oder als Sammelobjekt oder auch aus ganz praktischen Gründen. Gerade Eltern bevorzugen es, ihren Kindern eine Episode einer Kinderserie auf DVD vorzuspielen, weil die DVD nicht zum ,,Binge Watching" verleitet und nicht einfach ungebremst weiterläuft.

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Aus: "25 Jahre DVD und kein Ende in Sicht" (Stand: 2024)
Quelle: https://www.eurotape.de/aktuelles/25-jahre-dvd-und-kein-ende-in-sicht/

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Quote[...] Wer seine private Filmsammlung in Form von Scheiben pflegt, wird es wohl bald schwerhaben. Zumindest in Australien und Neuseeland, denn dort leitet der Hollywood-Riese Disney offiziell das Ende des Filmvertriebs auf physischen Datenträgern ein. In Zukunft wird man die eigenen Werke dort nicht mehr auf DVD und Blu-ray anbieten, berichtet news.com.au.


... Nur 20 Prozent der 4.000 Befragungsteilnehmer verfügen überhaupt noch über eine Möglichkeit, DVDs abzuspielen, 14 Prozent nennen einen Blu-ray-Player oder ein kompatibles Laufwerk in PC, Laptop oder Konsole ihr Eigen.

Der Nutzungsanteil, gemessen in täglicher Zeit für Film- und Serienkonsum, ist an einem Tiefpunkt angekommen. Er stagniert über alle Altersgruppen hinweg seit 2021 bei 1,8 Prozent. Diese Zahl umfasst nicht nur DVDs, sondern auch Blu-rays und andere physische Träger wie etwa Videokassetten. Angekündigt hatte sich das schon länger. Bereits die Blu-ray vermochte nie an die Popularität der DVD anzuschließen. Die Ultra-HD-Blu-ray, für welche die Anschaffung neuer Player nötig war, entwickelte sich zum Flop. (gpi, 1.8.2023)


Aus: "Disney leitet das Ende der DVD- und Blu-ray-Ära ein" (1. August 2023)
Quelle: https://www.derstandard.de/story/3000000181258/disney-leitet-das-ende-der-dvd-und-blu-ray-aera-ein

QuoteAchmo Ledbid

endlich alle kunden entmündigt..


QuoteWhere's my Cow?

Die Macht von Streaminganbietern haben wir erst unlängst erlebt, als eine Serie, die wir geschaut haben, von einem Tag auf den anderen, ohne Ankündigung, verschwunden ist. Mittendrin.


QuoteDer_Peter

Streaminganbieter haben die Rechte auch nur auf Zeit "gekauft" sofern sie es nicht nicht selbst produziert haben ...


QuotePrometheus77

Traurige Entwicklung. Wann merken die Menschen, dass niemand irgend einen Film oder Serie auf einem Streamer besitzt und die vom einen auf den anderen Tag nicht mehr verfügbar sein können??


QuoteOtto Maximalverbraucher

Das ist den meisten Menschen leider völlig egal. Früher wollte auch niemand Bonanza "besitzen". Man hat sich einfach gefreut, wenn es wieder einmal gelaufen ist.


QuoteDarktowerX

Eine m.E. schlechte Entwicklung. Ich schätze es sehr, die Filme, die mir so gut gefallen, dass ich sie immer wieder gerne schaue, physisch zu besitzen. Gleich wie bei Musik und Büchern.


QuoteI. M. Kidding

Aktuelle Streaming-Erfahrung: Ich war positiv überrascht, bei Prime den Western-Klassiker ,,The Wild Bunch" im Director's Cut zu entdecken. Nur Deutsche Tonspur, aber erstaunlicherweise Kommentarspur. Aus familiären Gründen musste ich den Film unterbrechen; als ich ein paar Tage weitersehen wollte, war der Film in den Bezahlbereich gewandert. Ich hab mir jetzt die Blu-Ray geholt mit voller Sprach- und Kommentarauswahl und weiteren Extras und bin nicht von den Launen eines Streaming-Anbieters abhängig. Dass einer davon zB die Ausstattung meiner Criterion-Ausgabe von Fanny und Alexander toppen kann, halte ich für höchst unwahrscheinlich.


QuoteDie Antwort ist_42

Die größte Gefahr sehe ich darin, dass beim Streamen jederzeit politisch nicht korrekte Inhalte gelöscht oder modifiziert werden können. Passiert jetzt schon beim Nachdruck von Büchern.


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Quote[...] Während es immer noch viele Sammler (wie den Autor dieses Artikels) gibt, die auf physische Medien schwören, gab es in den vergangenen Jahren immer wieder klare Anzeichen dafür, dass die Nachfrage nach DVDs, Blu-rays und Co. immer weiter zurückgeht – und es wohl nur noch eine Frage der Zeit sein dürfte, bis Discs endgültig Nischenprodukt verkommen. Eine für viele Cinephile einschneidende Entwicklung, die nun einen weiteren Höhepunkt erreicht.

Mit dem amerikanischen Technik-Riesen Best Buy stellt eine der weltweit größten Elektronikmarkt-Ketten bereits in wenigen Monaten den Verkauf von physischen Medien komplett ein. DVDs, Blu-rays und 4K-Blu-rays sollen nur noch bis Anfang 2024 vertrieben werden – und dann restlos aus dem Sortiment verschwinden. Sowohl digital als auch in den Läden.

Das hat nun unter anderem Variety in Erfahrung gebracht. Ein Best-Buy-Pressesprecher bestätigte gegenüber dem Branchenblatt, dass dieser Schritt notwendig sei. ,,Es ist offensichtlich: Die Art und Weise, wie wir Filme und Serien heute schauen, ist ganz anders als vor Jahrzehnten", heißt es unter anderem in dem Statement. Man schaffe für die Kundschaft damit nun stattdessen ,,mehr Platz und Möglichkeiten, um neue und innovative Technologien zu erkunden und zu erleben."

Diese Neuigkeiten dürften viele Filmfans wie ein Schlag treffen, an dem sie erst einmal zu kauen haben. Allzu überraschend kommt jener (dennoch drastische) Schritt allerdings nicht, hat sich in den vergangenen Monaten doch ein Umbruch abgezeichnet.

Bereits im Januar warfen wir einen Blick auf aktuelle Kino-Produktionen, die gar nicht mehr auf Blu-ray erscheinen – etwa ,,The Woman King", der zwar als 4K-Stream erhältlich ist, physisch allerdings bloß als DVD in den Handel kam. Wer den gefeierten Historien-Actionfilm in der bestmöglichen Version (Ultra-HD) erleben will, hat also gar keine andere Wahl, als auf die digitale Version zurückzugreifen – oder aus dem Ausland zu importieren, wo der Film immerhin auf Blu-ray und 4K-Blu-ray erschienen ist.

Im März folgte dann die Nachricht, dass Netflix seinen DVD-Lieferdienst nach ganzen 25 Jahren einstellt. Während das rote ,,N" in Deutschland vor allem für seine Streaming-Plattform bekannt ist, war Netflix in den USA ein Vierteljahrhundert lang im postalischen Videotheken-Geschäft tätig – mit gewaltigem Erfolg, der zuletzt allerdings derart eingebrochen ist, dass ein Schlussstrich gezogen werden musste.

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Aus: "Bereits 2024: Eine der größten Elektronikmarkt-Ketten stellt den Verkauf von DVDs & Blu-rays ein" Daniel Fabian (16.10.2023)
Quelle: https://www.filmstarts.de/nachrichten/1000046678.html

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/36724/umfrage/umsaetze-im-deutschen-dvd-markt-seit-2002/

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/76380/umfrage/preisentwicklung-von-dvds-seit-2002/

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Quote[...] Der Mensch ist ein geselliges Wesen. Von Kindesbeinen an sucht er Geborgenheit, Zuspruch, Nestwärme, Schutz bei Gleich- und Wohlgesinnten. Auch deshalb widmen sich laut Daniel Lieberman von der Universität Washington D.C. ,,Großteile des Gehirns dem Aufbau sozialer Beziehungen". Er meint damit allerdings nicht nur Personen aus Fleisch und Blut, sondern Pixel und Bits. Denn Filmcharaktere, ,,zu denen wir eine parasoziale Bindung haben", schreibt der Verhaltensforscher, ,,sind ein Spiegel, um eigene Emotionen und Erfahrungen zu untersuchen oder zu reflektieren".

Fiktive Fernsehfiguren sind uns daher oft so nah wie echte. Sie wie Freunde zu behandeln und ihren Kontakt zu suchen, wird in Fachkreisen auch Re-Watch genannt. Das Wort beschreibt unsere Sehnsucht, parasoziale Beziehungspartner immer und immer wieder zu besuchen. Wobei diese Sehnsucht nur einer der vielen Gründe dafür ist, warum Wiedersehen auch am Flatscreen Freude macht. Andere reichen von Gewöhnung über Wissbegier, Denkfaulheit oder Ironie bis hin zu echter Liebe.

Wir rewatchen, was uns beim fünften Seriengenuss schon emotional bewegen konnte. Woraus der zweite Antrieb privater Wiederaufführungen entsteht: Nostalgie. Mithilfe liebgewonnener Stoffe holen wir ein Stück gestern ins Heute, frischen überholtes Wissen auf und füllen damit Verständnislücken. Vielleicht versteht man ja im vierten Anlauf von ,,Dirk Gentlys Holistische Detektei" bei Netflix endlich, wie die vielen Dimensionssprünge dort möglich sind.

So wie ,,unser Lied" Paare nach langjähriger Beziehung zum Anfang ihrer Beziehung beamt, spüren sie 20 Jahre später beim gemeinsamen Binge-Watchen der ,,Sopranos" womöglich nochmal die Schmetterlinge im Bauch. Dank einer Episode ,,Wickie" landet die Generation X entsprechend gedanklich in der Kita, wofür Millennials nur dieselbe Dosis ,,Alf" benötigen. Je nach Alterskohorte und Lebensphase funktioniert der Zeitsprung mit fast jedem TV-Format.

Dabei stört es kaum, dass besonders die ersten Besuche der ,,Lindenstraße" – aktuell allesamt bei ARD Plus – ähnlich schlecht altern wie die Achtziger-,,Tatorte" der Mediathek. Gegenwartsskeptiker durchsuchen ihr Kopfarchiv jedoch selten nach Güte, sondern dem guten Gefühl von Geborgenheit im Schoß vertrauter Figuren. Benannt nach dem Gastgeber des Sesamstraßen-Vorläufers ,,Neighbourhood" spricht Robert N. Kraft hier vom Mister Rogers Effect. Wobei der Psychologie-Professor aus Ohio nicht nur bei Kinderhelden ,,Vertrautheit und Neuigkeiten" findet.

Dafür schaut er regelmäßig ,,Und täglich grüßt das Murmeltier". Wie der Wetterfrosch Phil durchlebt Kraft dabei nämlich ,,einen Tag im Leben nochmals mit kleinen Veränderungen", stößt also auf ,,Details persönlicher Interaktionen", die ihm entgangen sind. Re-Watch dient somit auch als autobiografisches Antiquariat, das man beizeiten durchstöbert wie Opas Dachboden. Das Hauptmotiv hinaufzusteigen, ist angesichts der Vielzahl Erstausstrahlungen aber ein anderes.

Allein Marktführer Netflix hat voriges Jahr 165 neue und 81 Fortsetzungen alter Serien gestreamt; mehr als die Konkurrenz von Disney oder Apple bis RTL+ und joyn zusammen. Ein Mahlstrom der Neuveröffentlichungen und doch nur ein Aktenschrank unter vielen im Digitalarchiv aller Streamingdienste, seit Netflix vor 25 Jahren die Flatrate für Video-on-Demand erfunden hat. Kein Wunder, dass viele Zuschauer angesichts der Flut Fluchtreflexe zeigen.

Festhalten am Geläufigen, sagt die Psychologin Sabrina Romanoff von der New Yorker Yeshiva-Universität, ,,kann uns vorm Stress unendlicher Auswahl und daraus resultierender Energieverluste bewahren". Wobei ausgerechnet die Schuldigen für Auswege vom Hauptstrom der Aktualität sorgen. Musste man einst aufs Weihnachtsprogramm warten, um ,,Drei Nüsse für Aschenbrödel" zu sehen, laufen Portale aller Art – nachzuprüfen mit www.werstreamtes.de – nun vor Gebrauchtware bis tief in die Stummfilm-Zeit über.

Nur so konnten Wiederholungen der Endlosserie ,,CIS" nach Daten des Medienkonzerns Bloomberg die Top-Ten der Serienstreamings 2023 anführen, dicht gefolgt von ,,Gilmore Girls" oder ,,The Big Bang Theory". Ein anderes Ranking stellt ,,Dexter", ,,Grey's Anatomy" und – passenderweise – ,,Friends" aufs Podium. Alle drei character driven, wie Storys heißen, die durch Persönlichkeit Verbundenheit erzeugen. Von Amazon bis Arte finden Fans deshalb staffelweise Verflossene parasozialer Beziehungen.

Und je öfter sie das alte Zeug sehen, desto positiver wird ihr Bild davon – in der Soziologie auch Mere-Exposure-Effect genannt. Dem wesensverwandten Conjuring Effect zufolge erlangen wir beim Re-Watch bekannter Stoffe sogar ein Stück Handlungskontrolle – die auch ein aktueller Trend mit sich bringt: Re-Live. So konnten wir uns beim ZDF tagelang in Echtzeit versichern, dass es im Viertelfinale der Fußball-EM ein Handspiel war. Ganz sicher! Beruhigend schön.


Aus: "Warum alte Serien und Filme so gut laufen: Wiedersehen macht Freude" Jan Freitag (29.07.2024)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/warum-alte-serien-und-filme-so-gut-laufen-wiedersehen-macht-freude-12090899.html

Jan Freitag - Jan wurde 1970 in Hamburg geboren, studierte in Kiel/Dublin/Hamburg, hat als Politologe gearbeitet: nirgendwo, volontierte in Rostock, erster Redakteursposten: ebd., Er ist Freiberufler seit 2002 und schreibt u.a. für Die Zeit, Journalist, div. Tageszeitungen und Online-Medien sowie nicht allzu zähneknirschend: ein paar PR-Magazine.
https://hamburg.mitvergnuegen.com/author/jan/

https://freitagsmedien.com/


Link

"Philipp Sarasin: 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart - taz Talk"
Der Historiker Philipp Sarasin widmet sich in seinem neuen Buch "1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart" (Suhrkamp Verlag) unterschiedlichen, von Esoterik, Neoliberalismus und Identitätspolitik gezeichneten, gesellschaftlichen Ereignissen aus dem Jahr 1977. Mit taz-Redakteur und Moderator Ulrich Gutmair geht er der Frage nach, was die soziokulturellen und technologischen Entwicklungen von 1977 für die Moderne bedeuten - damals und heute. ...
https://youtu.be/A6euidM6DfU

Philipp Sarasin (* 1. Oktober 1956 in Basel)ist ein Schweizer Historiker, Professor für Neuere Allgemeine Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich und Buchautor. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Philipp_Sarasin

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Quote[...] Gerade im Fragmentarischen liegt aber ein besonderer Reiz. Es gibt in diesem Buch [1977] zahlreiche Anknüpfungspunkte für ein Nachdenken über die Geschichte unserer Gegenwart.


Aus: "Was das Jahr 1977 für die Gegenwart bedeutet" Lea Haller (16.07.2021)
Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/abschied-vom-allgemeinen-ld.1787982

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Quote[...] ,,Eine kurze Geschichte der Gegenwart" nennt der Schweizer Historiker Philipp Sarasin sein Buch ,,1977" im Untertitel. Binnen zwölf Monaten sah sich die Welt ,,Gleichzeitigkeiten ohne Zusammenhang" ausgesetzt. Den Voyager-Expeditionen in den Weltraum, den Mordserien der RAF, dem Aufkommen des Hip Hop, der Deklaration der Menschenrechte durch den US-Präsidenten Jimmy Carter, der Eröffnung des Pariser Centre Pompidou, der Gründung der Zeitschrift ,,Emma", dem Debüt des Punk und der Apple-II-Marketingoffensive. Angesichts dieses ,,Geflechts" von Gleichzeitigkeiten steigerte sich die Erfahrung einer beunruhigenden Unübersichtlichkeit, zumal 1977 das Jahr des Auftritts des Internets war – weiteres Indiz für eine ,,irritierende Gegenwärtigkeit".

Was an Disparatem geschah, hatte eine Gemeinsamkeit: die Schwächung des Allgemeinen, an die Stelle der Solidarität mit umfassenderen Normen traten, so Sarasin in Anlehnung an Andreas Reckwitz, ,,Singularitäten". Mit ihnen artikulierten sich partikulare Interessen, und sie taten es so selbstbewusst wie selbstverliebt, bis hin zur Selbstfeier.

Im besten Sinne stoisch sondiert der Autor in einem außergewöhnlichen ,,Situationsdurcheinander" (Sarasin) eines einzigen Jahres. Eine äußert reizvolle Herausforderung bereits für Florian Illies, sein ,,1913" wurde ein Bestseller. Hans Ulrich Gumbrecht widmete sich dem Jahr 1926, Christian Bommarius konzentrierte sich auf das ,,lange deutsche Jahr" 1949, Frank Bösch auf grundstürzende Ereignisse von 1979. Zäsur oder doch bloß vom Zufall ausgewählte zwölf Monate? Für seinen Befund trägt Sarasin fünf ,,Nekrologe" zusammen, handelte es sich doch bei den ,,Lebensthemen der Toten", bei allen erheblichen Unterschieden, ,,allesamt um große Themen der Moderne".

Mit dem Tod des marxistischen Philosophen Ernst Bloch am 4. August des Jahres verbindet sich der Abschied von den Verheißungen einer proletarischen Revolution – so verbissen Teile der radikalen Linken an dem Konstrukt auch weiterhin festhielten. Während sich die deutsche Linke von der RAF eine Gewaltdebatte oktroyieren ließ und in Agonie versank, fand es die französische chic, in Hegel bereits einen Vordenker des Totalitarismus auszumachen.

Über den Tod der schwarzen US-Bürgerrechtlerin Fannie Lou Hammer am 14. März hinaus setzte sich der Kampf gegen die ihr widerfahrene rassistische und sexistische Unterdrückung fort. Gleichzeitig entwickelte sich so etwas wie ein neuer Enthusiasmus für die Durchsetzung der Menschenrechte, nachdem diese vom US-Präsidenten Jimmy Carter bei seiner Amtseinführung zum Maßstab seiner Politik erhoben, zugleich vom Amnesty International unermüdlich eingeklagt wurden.

Der Tod der Tagebuchautorin Anaïs Nin am 14. Januar, die in einer rückhaltlos ausgelebten Sexualität ihre eigene Wahrheit zu finden glaubte, folgte nicht nur einer radikalen Strategie der Avantgarde. Vielmehr macht Sarasin darin den Aufbruch einer ,,Reise zu sich selbst" aus, wie sie sich in den Praktiken einer neuen Körperkultur ankündigte, in einem Psychoboom, spirituellem Hardcore, in Fitnessprogrammen bis hin zu Selbstkasteiung. In dem Autor, Drehbuchschreiber und Nachfahren des Surrealismus, dem am 11. April gestorben Jacques Prévert sieht er eine Ikone des ,,Unsinns", einer frei flottierenden Sinnproduktion. Gleichzeitig war 1977 das Jahr, in dem die neuen Kulturmaschinen auf den Plan traten, angefangen mit dem Personal Computer. Die VHS-Kassette zog in die eigenen vier Wände ein, für die weltumspannende Kommunikation wurde das Internet auf den Weg gebracht, erst recht ,,identitätsbildend", nicht zwangsläufig einen Horizont aufreißend. Denn im globalen Dorf trat die Schrebergartenperspektive ihren Triumphzug an.

Schließlich der Tod des Protagonisten der ,,freien Marktwirtschaft", des ehemaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard am 5. Mai. Jahrelang in seiner Partei, der CDU, marginalisiert, markiert sein Tod so etwas wie die Reinkarnation des Liberalismus. Der Industriekapitalismus, erschüttert von einem ,,Strukturbruch", suchte nach Alternativen und Auswegen, einer Transformation, auf die der Marktradikalismus einer Margaret Thatcher mit eiserner Hand reagierte.

Historische Virulenz, Latenz über Jahrzehnte, Brisanz bis heute, deutlich ablesbar an der Konjunktur des Begriffs Identität, damals entdeckt auf der Linken, in Stellung gebracht von Rechtsextremen. An die Stelle des (von Rudi Dutschke) proklamierten Marsches durch die Institutionen trat der Marathon durch das eigene Ich. Mit dem Zugewinn an Verschiedenheit, an Differenz, wurde ein genereller Konsens aufgekündigt, in der Diversität die Konfrontation zwischen Kulturen gesucht. Identität entwickelte sich zu einem Motto, nicht zuletzt zu einem Kampfbegriff, bei dem ein Ego tatsächlich quer steht zu ideologisch abgesteckten Lagern. Der Gedanke der Identität, aufgebracht durch Vertreterinnen eines radikalen Feminismus, beschäftigte bald eine breitere Öffentlichkeit, zumal die Frauenbewegung, trotz esoterischer oder sektiererischer Eskapaden, die Sarasin für das Jahr 1977 notiert, durch ihr Engagement immer breitere Zustimmung fand.

Im Rahmen seiner beeindruckenden Analyse auf so diversen Feldern wie Recht und Revolution, Sexualität, Medien und Wirtschaft kommt Sarasin immer wieder auf einen Meisterdenker der Selbstsorge zurück, Michel Foucault. Er ist der Philosoph der Neupositionierung aus der Personalperspektive, die allerdings, das macht den sozialen Zusammenhalt umso anspruchsvoller, auf zahllosen multiplen Weltsichten und Lebensstilen beharrt. Die Entwicklungslinien, die 1977 angelegt wurden, melden sich heute als Echo oder haben sich als Erbe durchgesetzt. Ende 1977 war die künstliche Empfängnis in einem Glas gelungen, so dass ein Menschenkind als Retortenbaby im Juli des darauffolgenden Jahres zur Welt kam.

Endgültig beerdigt wurde die nonchalant mit Blut verfasste Vision einer proletarischen Revolution von Hardlinern weiterhin nicht, auch wenn der Eurokommunismus in Frankreich, Spanien und Italien die ersten Nekrologe auf die Diktatur des Proletariats verfasste, misstrauisch verfolgt von den Regimen in Moskau und Ostberlin, während in Uganda und in Kambodscha Genozide an der Bevölkerung vollstreckt wurden. Neben erstaunlichen Gleichzeitigkeiten entsetzliche.

Die Linke so verbalradikal wie orientierungslos, Konservative so konsterniert wie autoritätsfixiert. John Travolta aber war in ,,Saturday Night Fever" die strahlend weiße Kunstfigur, die scheinbar wusste, wo es lang zu gehen hatte. Sarasin kommt immer wieder zurück auf die Äußerungen des Pop. Der Song ,,1977" von The Clash war purer Sarkasmus, wenn sie von einem Jenseits sangen – jenseits von Arbeitslosigkeit und einer Existenz auf Stütze. Die Sex Pistols gefielen sich im Hohn: ,,God save the queen / the fascist regime". Für einen Reim wurde eine Demokratie an einen infamen Anarchismus verkauft.

Natürlich ließe sich kühl über eine antibürgerliche Attitüde, die Inszenierung der ungebärdigen Traditionen des Rock'n'Roll und seine durchtriebene Vermarkung sprechen. Aber vielleicht auch über Querdenker-Aggressionen, 1977 schon. Der Chic des Infamen ist von irritierender Gegenwärtigkeit.


Aus: "Fortan in der ersten Person Singular" Christian Thomas (06.11.2021)
Quelle: https://www.fr.de/kultur/literatur/philipp-sarasin-1977-fortan-in-der-ersten-person-singular-91097786.html

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Quote[...] 1977 war ein Wendepunkt in der Geschichte, ein besonderes Jahr, eines, dem man ein eigenes Buch widmen sollte, der Beginn unserer Gegenwart! Diese Aussage überrascht auf den ersten Blick. Sicherlich, wer hat nicht den Deutschen Herbst vor Augen mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, der Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut und der Todesnacht der RAF-Terroristen in Stammheim.

Manche erinnern sich auch noch an den Erdnussfarmer Jimmy Carter. Wer dabei war, wird auch den Beginn der Star Wars-Filme im Kino auf dieses Jahr datieren und natürlich ,,Saturday Night Fever" mit John Travolta. Aber sonst? Und was hat das mit unserer Gegenwart zu tun?
Zudem hat der Potsdamer Zeithistoriker Frank Bösch vor zwei Jahren ja gerade erst behauptet, ,,1979" habe die Welt von heute begonnen – mit Thatchers Neoliberalismus und der Islamischen Revolution im Iran. Andere Historiker verweisen auf 1973, als die internationale Währungsordnung von Bretton Woods zusammenbrach und die Ölkrise die wirtschaftliche Rezession beschleunigte. Es scheint einen Wettbewerb der Jahreszahlen zu geben. Warum nun 1977?
,,1977 startete die RAF ihre ,Offensive 77', wurde in Paris das Centre Pompidou eröffnet, in Kalifornien der Apple II lanciert – und das Internet erfunden. Was bedeuten diese merkwürdigen Gleichzeitigkeiten? Warum sprachen zur selben Zeit Jimmy Carter von den ,human rights', Schwarze Aktivistinnen von ,identity politics', Esoteriker von ,New Age' und Architektinnen von ,symbolischen Formen? Warum gleichzeitig Punk, Disco und Hip-Hop? Und warum sagte Michel Foucault 1977: ,Wir müssen ganz von vorne beginnen'?"

Das Internet und die Digitalisierung, Identitätspolitik und Esoterik und Foucault als Verweis für das Gefühl, in der Postmoderne zu leben – das sind gewichtige Elemente, die Sarasin anführt, um 1977 zu exponieren. Aber führt die Geschichte eines Jahres, das mit einer Zahl verbunden ist, nicht zu Zahlenmystik, die den Zufall und historische Kontingenz eliminiert, nach der immer auch alles anders kommen kann? Skepsis ist also geboten, wenn Ereignisse aus verschiedenen Kontexten in einen Zusammenhang gebracht werden.
Dennoch muss man, wenn man kein langweiliger positivistischer Chronist sein will, über Zusammenhänge von Gleichzeitigkeiten (und auch von Ungleichzeitigkeiten) nachdenken, wenn man etwas über den sogenannten ,,Zeitgeist" oder die ,,Lage der Zeit" oder schlicht: über ,,Geschichte" herausfinden will. Ansonsten würden wir uns ja ohne Sinn und Verstand in einem Chaos und Gewimmel von Begebenheiten bewegen. Ein bisschen Spirit und Spukgeschichten für Erwachsene können also durchaus klüger und sehender machen.
Maßgeblich für das Gelingen einer kohärenten Erzählung ist die überprüfbare und kritisierbare Argumentation, die sich unter anderem darauf stützt, welche Perspektive der Erzähler oder die Erzählerin einnimmt und welche Ereignisse denn nun ausgewählt worden sind. Sarasin begründet sein 1977er-Buch so:
,,Im Fall des Jahres 1977 und mit Blick auf die westlichen Gesellschaften entsteht ein Bild von tiefgreifenden Verschiebungen, Veränderungen und Brüchen im Gefüge der Gegenwart. Die Gewissheiten der Moderne und der Glaube an die fortgesetzte ,Modernisierung' durch sozialstaatliche Steuerung waren ebenso in eine tiefe Krise geraten wie der Glaube an die Revolution. Zeitgleich aber entstand eine neue technische Kultur, die personal und ,vernetzt' sein sollte, während unruhige Geister begannen, jenseits der traditionellen Deutungsangebote von Massenmedien, Wissenschaft und konfessionalisierter Religion nach ,Sinn' zu suchen."

Die 1970er-Jahre waren laut Sarasin ein Jahrzehnt der Verunsicherung. Ganz Europa wurde von einer Wirtschaftskrise erfasst, und doch stieg der Wohlstand: Immer größere Autos wurden angeschafft, endlich kam ein Farbfernseher ins Haus, dann eine Hi-Fi-Anlage und für die Mutter ein Geschirrspüler, ein Wäschetrockner und jede Menge Tupperware, die bis heute gehalten hat.
Globale Erschütterungen wie der Zusammenbruch des Wirtschaftssystems von Bretton Woods oder die Entindustrialisierung der Kohl- und Stahlländer Westeuropas beendeten die Phase des Wohlfahrtskapitalismus, während die Wellnessgesellschaft im Westen gleichwohl prosperierte und die Institutionen des demokratischen Kapitalismus stabil wie Beton waren. Eher gingen diejenigen, die 1968 von Spätkapitalismus gesprochen hatten, im ,,roten Jahrzehnt" in marxistisch-leninistischen-maoistischen Sekten oder eben der RAF den dogmatischen Bach hinunter.
Dabei unterwanderte der antiautoritäre Impuls gleichwohl die westlichen Gesellschaften. Alles war unübersichtlich, instabil, komplex – die ,,neue Unübersichtlichkeit" eben, die Jürgen Habermas wenig später konstatierte. Am Ende der 1970er also sprach man über die Orientierungslosigkeit und fühlte man sich in der ,,Postmoderne" angekommen. Sarasin nennt dieses Empfinden einen ,,Strukturbruch".

... [es] sind [ ] weniger die weltpolitischen Ereignisse als vielmehr die tiefen gesellschaftlichen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen und technologischen Verschiebungen und Brüche in Westeuropa und Nordamerika, die Sarasin interessieren und die sich in seinen Augen im Jahr 1977 bündeln und verdichten. Der Autor macht einen Schnitt durch den Strom der Zeit, einen Querschnitt der Regelmäßigkeiten, um ein Standbild zu erzeugen. Sarasins Inspirator bei all dem ist Michel Foucault.

,,Es gibt keine Machtbeziehung, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld etabliert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert."

... Tatsächlich markiert ,,1977" eine Zäsur, nämlich das Ende der Neuen Linken in Westdeutschland, wobei zu diesem Zeitpunkt ohnehin nur noch wenige der ,,68er"- und SDS-Nachfahren noch an eine Revolution glaubten und die Hoffnung auf den Sozialismus ebenfalls im Schwinden begriffen war. Insofern folgt Sarasins Diagnose eines Strukturbruchs einer Binnenperspektive dieser deutschen und auch der französischen und italienischen Neuen Linken in der hochkapitalistischen Gesellschaft.

... ,,Die Geschichte der Moderne war eine Geschichte der ungelösten Spannung zwischen der Erfindung der Menschenrechte als dem Versprechen universeller Gleichheit und den schmutzigen Realitäten von Rassismus und Sexismus. Die Schwarze Frau, die von den Zwanziger- bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts im black belt lebte, wusste jedenfalls, wie schwierig es sein konnte, sich auf die Universalität des Rechts zu beziehen."

... Aber auch die Vordenker der Neuen Rechten und heutigen Identitären orientierten sich in jenen Siebzigern neu und fanden um den französischen Intellektuellen Alain de Benoist ein Substitut für den nicht mehr legitimen Rasse-Begriff, nämlich ,,Kultur", um die Vorherrschaft der weißen Nationen, soziale Hierarchien und autoritäre Denkmuster zu verteidigen. Der Unterschied zwischen rechter und linker Identitätspolitik – auch das wird in diesem Buch deutlich – besteht freilich in der Frage, wie sie es mit der Gleichheit der Menschen halten: Die rechte will die Ungleichheit zementieren, die linke sich dagegen wehren (verliert aber meistens das bessere Ziel: die Aufhebung von Gruppenidentitäten aus den Augen).
,,Es zeichnete sich mithin schon in dieser diskursiven Konstellation des Jahres 1977 ab, dass der politische Antagonismus zwischen einerseits der Anerkennung, andererseits der Leugnung von Gleichheit und Nichtterritorialität aller Menschen künftig zur entscheidenden Demarkationslinie zwischen ,links' und ,rechts' werden würde, zur Trennlinie, die den alten Klassengegensatz in dieser Rolle ablöst. An ihr würden sich künftig daher auch der Wunsch nach Befreiung und der Wille zur Macht scheiden."

... New Age. Hier sieht man, wie sehr das politische Identitätsdenken geistige und spirituelle Unterströmungen hatte. Die neue Subjektivität, der Psychoboom, Esoterik und eine globalisierte Spiritualität schufen nicht nur neue Märkte, sondern auch Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten, die mit Achtsamkeit gehegt und gepflegt wurden – bis heute.
,,1977" besticht zudem mit faszinierenden Ausflügen ins kalifornische Sillicon Valley, mithin in die Gründerzeit des Personal Computers und des Internets – also dorthin, wo der westlichste Westen und der östlichste Osten sich trafen, wo sich die allerausgeklügelste Physik mit der östlichen Mystik vereinte wie Kathode und Anode, Yin und Yang, These und Antithese. Ganzheitlichkeit plus Authentizität plus Selbstverwirklichung hinzugenommen – und die wundersame Reise ins New Age, wo alles mit allem zusammenhängt, zeigt, wo so manches herkommt, was heute unsere Lebenswelt bestimmt, beseelt und verdinglicht. Eine solche Ich-Suche erlebte zum Beispiel der revolutionäre Hippie Jerry Rubin:
,,In fünf Jahren, von 1971 bis 1975 habe ich jede Menge Erfahrungen gesammelt mit Erhard Seminar Training, Gestalttherapie, Bioenergie, Rolfing, Massage, Jogging, Gesundheitsnahrung, Tai Chi, Esalen, Hypnose, Modern Dance, Mediation, Silva Mind Control, Arica, Akupunktur, Sextherapie, Reich'sche Therapie – mit einem bunten Strauß von New Consciousness-Kursen. Ich stand um 7 Uhr morgens auf, joggte zwei Meilen, eilte dann vom Modern-Dance-Kurs zu den Tai-Chi-Übungen, gefolgt von einer Stunde Yoga und Schwimmen, um danach ein ,organic meal' einzunehmen."

Sarasins Matrix seiner Geschichte von ,,1977" besteht aus den Elementen Revolution, Recht, Sex, Kultur und Markt. Sein Pendel schlägt immer dann an, wenn es um Kraftfelder der westlichen Moderne geht, deren Abgesang die postmodernen französischen Philosophen in jenen Jahren begonnen hatten anzustimmen. Mit einigem Recht, denn die großen Erzählungen, die Geschichtsphilosophien, die linearen Zeitvorstellungen verloren in diesen Jahren entscheidend an Legitimation, wahrscheinlich unwiderruflich.

Sarasin nennt dies ,,das Ende der modernen Allgemeinheiten". Die Revolutionsutopien der Neuen Linken zerbarsten – nicht allerdings woanders, etwa im Iran der Islamischen Revolution und in Nicaragua mit der sandinistischen Revolution 1979, von den Revolutionen im sowjetischen Machtbereich ab 1989 ganz zu schweigen.
Der Kapitalismus allerdings erlebte in jenen 1970ern tatsächlich einen Formwandel, der bis in die Gegenwart reicht: Neoliberalismus und Finanzkapitalismus sind hier die Stichworte, Marktradikalismus und Monetarismus. Denn darum geht es Sarasin ja gerade: um eine Vorgeschichte der Gegenwart.

...

Zu: Philipp Sarasin: ,,1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart"
Suhrkamp Verlag, Berlin. 502 Seiten



Aus: "1977 als Beginn der GegenwartJedi-Ritter der Kritik" Jörg Später (26.06.2021)
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/1977-als-beginn-der-gegenwart-jedi-ritter-der-kritik-100.html

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Quote[...] Er beginnt jedes Kapitel mit einem Nachruf auf eine 1977 gestorbene Persönlichkeit, von Anaïs Nin bis Ludwig Erhard. Sie stehen jeweils für Bereiche, die 1977 oft schon ein langes Leben haben, sei es die sexuelle Selbstverwirklichung oder die kapitalistische Wirtschaftspolitik. Damit scheint er die Lesart vom Wendejahr 77 selbst zu entkräften: Das alles gab es schon viel länger. Und tatsächlich macht er kein Hehl daraus, dass seine Entscheidung für das Jahr ziemlich beliebig war.

Es geht um alle möglichen kulturellen, medientechnischen, ökonomischen und politischen Entwicklungen, die nicht nur über eine lange Dauer verfügen, sondern in entscheidender Weise die Physiognomie der globalen Gegenwart prägen. Kalifornische Hippie-Esoterik beginnt ihren Erfolgszug spätestens mit der Gründung des Esalen-Instituts um 1960, das Internet entsteht je nachdem viel früher oder später als 77; um Hip-Hop schon 77 beginnen zu lassen, muss man hingegen einen Embryo von einer klandestinen Szene gewaltig aufblasen. Schwarze "Identitätspolitik" fängt dafür spätestens bei W.E.B. Du Bois im frühen 20. Jahrhundert an - und so fort.

Die kontingente Aufladung von Sarasins Suche nach Anfängen und Vorläufern gegenwärtiger Lagen durch die dramatische, Spannung erzeugende Verengung der Perspektive auf ein einziges Jahr wird stattdessen geologisch begründet: Tiefenbohrungen sollen freilegen, was zu einem gegebenen Zeitpunkt gleichzeitig läuft. Und jedes hier freigelegte Flöz hat eben auch dramatische Momente im Jahr 1977. Von diesen berichtet der Schweizer Historiker und Foucaultianer dicht, engagiert - obwohl man nie genau weiß für was, und dieses Nichtwissen ist durchaus einer der Sogkräfte der Lektüre - und voller Pointen. Dabei besitzt er die Großzügigkeit, auch das Material auszubreiten, das seinen Behauptungen eher widerspricht. Es trägt aber auch ein bisschen zu einer gewissen Bröseligkeit der Erzählung bei, was sich andererseits natürlich ganz gut damit verträgt, dass die Zerbröselung der wohlbekannten "großen Erzählungen" seine übergeordnete Idee besser trifft als Einschnitt, Ende oder Untergang.

Ein Problem dieser vergnüglichen Tiefenbohrungen ist aber, dass die jeweils entdeckten Bewegungen und Verschiebungen auch eher geologisch konstatiert werden, als dass handelnde Subjekte auftreten, die das, was sie tun, für und gegen etwas unternehmen. Der mit viel Gespür zu Recht als symptomatisch hervorgehobene Song "No Compassion" von der [ ] LP "Talking Heads 77" bleibt unvollständig erzählt, wenn man dessen kalte Absage an Psycho- und Selbsterfahrungsgelaber als ernstgemeinten Sozialdarwinismus liest und nicht ganz konkret als Angriff auf eine Kultur, die gerade hegemonial zu werden droht und die Sarasin ein paar Seiten weiter ebenfalls freilegt - die Therapie und Meditationswelt zwischen Buddha und Bhagwan. Würde er aus manifesten Gründen geführte Kämpfe sehen können und nicht nur das Auseinanderdriften des alten Allgemeinen, käme nicht immer wieder eine Nähe zum Kulturpessimismus auf, die ihm selbst erkennbar unangenehm ist und gegen die er auch immer wieder angeht.

So referiert er durchaus zweifelnd Baudrillards Graffiti-Theorie, die Tags [https://en.wikipedia.org/wiki/Tag_(graffiti)] als Aufstände der Zeichen gegen jeden Sinn liest, die sich nicht auf reale Personen und Verhältnisse beziehen ließen. So stehen bei Sarasin dieser Aufstand und seine Unverständlichkeit in die Welt setzenden Separierungen und die Relativierung von Baudrillards Darstellung nebeneinander: Wollten die, die sich per bizarre Tag-Pseudonyme auf U-Bahn-Wagen eintrugen, nicht vielleicht doch ganz klassisch von sich und ihrer Existenz reden? Müsste man aber nicht viel weiter gehen? Baudrillard hat nicht nur übertrieben und zugespitzt, er liegt grundfalsch.

Solche Graffiti-Writer sind eben gerade nicht auf dem von Sarasin immer wieder beschriebenen Exodus aus dem Allgemeinen, sondern definieren als immer schon Ausgeschlossene ihre Beitrittsbegründungen: Erst mal brauchen wir eine neue Orthografie. Sie machen sich lesbar, aber zu ihren Bedingungen, die nicht das Wissen des weißen französischen Soziologen sein können. Schon 1969 erzählt der amerikanische Erziehungswissenschaftler Herbert Kohl in einem der ersten Texte, die je über Graffiti erschienen sind, von dem lernschwachen Johnny Rodriguez, der keine Sätze richtig lesen kann, wohl aber Hunderte Tags, Graffiti-Pseudonyme und Codes dechiffrieren und seinem Lehrer ihre Grammatik erklären kann.

Sich die Teilhabe am Allgemeinen zu eigenen Bedingungen zu erkämpfen ist nicht nur nicht dasselbe wie Essenzialismus und eine Politik des Identitären: Es ist das Gegenteil. Sarasin unterscheidet zwar afroamerikanische "Identitätspolitik" sorgfältig von rechtem Ethnopluralismus, sortiert jene aber dennoch bei Politik der Differenz ein. Dabei sind Bezugnahmen auf eigene (individuelle oder kollektive) Ausschluss- oder Benachteiligungserfahrungen seit Jahrhunderten das täglich Brot emanzipativer und damit aufs Allgemeine bezogener Bewegungen - nur dass sie nicht vom universalistischen Ideal ausgehen, sondern von dessen bezeichnenden Misslingen unter den konkreten Machtverhältnissen - um sich so aber in doppelter Negation wieder auf das Ideal zu beziehen.

Sarasin macht es sich allerdings im Einzelfall nie leicht und ist immer bereit, solche und andere Differenzierungen aufzunehmen. In diesem rundum spannenden Buch werden keine Großmütter für die Knackigkeit von Thesen verkauft. Im Hintergrund rumoren allerdings eher monolithische Grunddiagnosen. Über weite Strecken unterscheiden die sich nicht so sehr von dem, was man schon 1990 oder 2002 über die Zeit nach der Moderne, über Neoliberalismus, Gig-Ökonomie, Sub- und Nischenkulturen (die Vorläufer der Filterblasen) dachte.

Eher unverbunden treten später Problemhorizonte hinzu, die man als jüngere Reaktionen auf die rechten Machtübernahmen (Bolsonaro, Duterte, Trump, Putin, Erdoğan, Orbán) und die Pandemie deuten kann: dass die Gleichwertigkeit von wissenschaftliche Fakten und (religiösen oder verschwörungstheoretischen) Glauben mittlerweile durchgesetzt sei und dass selbst große Mächte von Personen und Institutionen gesteuert werden, die in einem epistemologischen Niemandsland leben. Doch kann man das nicht mehr dem Jahr 1977 in die Schuhe schieben, da müsste dann noch ein anderes Schwellenjahr her. Gegen die heute vorherrschende schlechte Alternative aus Neotraditionalismen (Evangelikalen, Trumpisten, Islamisten etc.) und neoliberalem, aufgeklärtem Zynismus könnte helfen, dass aus dem unter Wert als "Identitätspolitik" verkauften dekolonialen Denken eben kein Tribalismus und kein Ethnozentrismus geworden ist, sondern von Sylvia Wynter bis zu Saidiya Hartman ein neues Denken des Allgemeinen.


Aus: "Philipp Sarasins Buch "1977" - Eine kurze Geschichte der Gegenwart":Gegen den Bhagwahn" Diedrich Diederichsen (17. September 2021)
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/kultur/geschichte-der-gegenwart-philipp-sarasin-1.5413064

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Quote[...] ,,Work-Life-Balance", ,,Nachhaltigkeit", ,,Ich-AG". Viele Begriffe, die in der Gegenwart zirkulieren, haben eine lange, mittlerweile gut 50-jährige Geschichte. Und sie sind in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskussionen in der Gegenwart auch Reibebaum in Debatten um politische Ausrichtungen. Nicht nur eine Generation hat diese Konzepte mittlerweile verinnerlicht – was daran erinnert, dass die Ansprüche der Gegenwart, auch die Sorge um Umwelt und Nachhaltigkeit, eine sehr lange Geschichte erzählen.

... vom ,,Goldenen Zeitalter" spricht Eric Hobsbawm in Bezug auf die Phase des Wiederaufbaus von 1945 bis 1974, in der der Kapitalismus vor allem im Westen für gesellschaftlichen Aufschwung – und damit für den Verlust von ,,Überlebensängsten" – gesorgt habe. Dort, wo die Ängste einer Gesellschaft schwinden – und auch die Entbehrungen der Jahre bzw. Jahrzehnte davor durch eine neue Generation ,,vergessen werden" –, da entstehe eine neue Werteorientierung.

Diese These stützen große Sozialforscher, etwa der US-Politologe Ronald Inglehart, der die Thesen seines 1977er-Klassikers ,,The Silent Revolution" bis zu seinem Tod in verschiedenen Publikationen wiederholte, unter anderem im Band ,,Cultural Evolution" aus dem Jahr 2018. Inglehart blickte weiter in die Gegenwart hinauf als Hobsbawm, der seine Thesen in den 1990er Jahren mit Wissen um den Fall des Ostblocks entfaltet hatte – der das digitale Zeitalter aber in seinen vollen Dimensionen nicht mehr sehen konnte.

,,Es ist eine Revolution auf dem Weg", schrieb der Yale-Professor Charles Reich in seinem 1970er-Buch ,,The Greening of America". Das heute vergriffene Werk war in den frühen 70er Jahren ein Bestseller mit mehr als einer Million verkauften Kopien: ,,Die neue Revolution wird nicht wie die der Vergangenheit sein. Sie wird beim Einzelnen und mit der Kultur beginnen und sie wird die gesamte politische Kultur als finalen Akt bestimmen." Aufbruch und drohender Kollaps der bisherigen Welt halten sich bei Reich noch die Waage. Viele andere Publikationen sprechen von Veränderungen aus dem Geist nahender Katastrophen.

,,Five years, that's all we've got" singt David Bowie 1972, in dem Jahr, als der Club of Rome seine legendäre und wirksame Publikation ,,The Limits of Growth" herausgibt. Wenn das Streben nach einer reinen Natur das neue Ziel sei, so wie es die Zeitschrift ,,Life" schon 1970 postulierte, dann, so die Essayistin Susan Sontag, werde das ,,Streben nach einer reinen Rasse von einem Streben nach einer reinen Natur" abgelöst – der ,,Ökofaschismus", so ein neuer Begriff, stehe vor der Tür.

Dass die 70er nicht zuletzt auch einen Schub an pädagogischen Diskursen rund um die Neuausrichtung, ja Erziehbarkeit der Welt mit sich brachten, daran erinnerte jüngst der ehemalige ,,Frankfurter Allgemeine Zeitung"-Feuilleton-Chef Ulrich Raulff in seinem launigen Band ,,Wiedersehen mit den Siebzigern: Die wilden Jahre des Lesens": ,,Natürlich musste eine Zeit, die an die Veränderbarkeit des Menschen glaubte, erzieherischen Lehren generell positiv gegenüberstehen. Aber der Zulauf, den die pädagogischen Fächer in jenen Jahren verzeichneten, trug Züge einer intellektuellen Epidemie."

Man habe damals auch an die übergroße Bedeutung von Begriffen und Begrifflichkeiten für die Bewältigung des Lebens geglaubt, so Raulff, der an einen Satz des Philosophiehistorikers Manfred Frank erinnerte: ,,Ohne diesen Begriff nicht geklärt zu haben, kann man nicht weiterleben."

... In Frankreich etwa verweisen Soziologen auf die späten 1970er und 1980er Jahre, also den Übergang von Giscard d'Estaing zu Francois Mitterrand an der Spitze des Staates, als eine Umbruchszeit. Eine ,,seconde revolution francaise" ortet der Soziologe Henri Mendras – und zielt mit seiner Modernisierungsthese zur Veränderung Frankreichs auf Prozesse, die auch für andere Länder gelten: Die ,,Malocher-Gesellschaft" (so ein bundesdeutsches Schlagwort) habe sich gerade in den 1970ern zur Dienstleistungs-, vielleicht sogar schon frühen Wissensgesellschaft (so Daniel Bell mit seinem Werk ,,The Coming of Post-Industrial Society", 1973) gewandelt.

Mit dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderung gehen aber auch neue Werteausrichtungen einher. Die Vertreter der Modernisierungstheorie argumentieren seit Karl Marx und Max Weber, dass der Aufstieg der Industriegesellschaften und damit die Weiterentwicklung des Wohlstandes einen Shift weg vom traditionellen Wertesystem bringe. Für den Politologen Inglehart hätten vor allem die jüngeren Generationen ab den 1970er Jahren keine ,,Überlebensängste" mehr, weswegen sich ihr Wertesystem auch von materialistischen Orientierungen, also Werten, die eng an die Absicherung des eigenen Aufstiegs gekoppelt sind, weg bewegt habe.

Umweltthemen, Work-Life-Balance, das Eintreten für die gleichgeschlechtliche Ehe sind für Inglehart typisch für diesen Werteorientierungsprozess. In den 1970er Jahren entspreche das auch einer Emanzipation der Jüngeren weg von den Haltungen der Älteren. In der Zeit danach übernähmen, so Inglehart, auch die Jungen die Werte ihrer Vorgängergeneration. Der Generationenbruch wie Anfang der 1970er blieb in den Jahrzehnten danach im Westen jedenfalls aus.

Was freilich unterhalb dieses Werteshifts passiert, sind ökonomische Veränderungen, die nicht oder noch nicht in den neu orientierten Gruppen durchschlagen. War in Österreich etwa ein neues Universitätenorganisationsgesetz Mitte der 1970er Jahre das große Thema, so hält sich der gesellschaftliche Anspruch nach Mitbestimmung, er wurde freilich etwa an den Unis in den 1990er Jahren aber schon zurückgedrängt, wie die Schriftstellerin und frühere Uniaktivistin Marlene Streeruwitz vor Monaten in einem ORF.at-Interview erinnerte.

Während, verkürzt gesagt, die Wertekultur seit dem Wertewandel der 1970er hin zu postmateriellen Einstellungen in vielen Gruppen und westeuropäischen Ländern weiter verbreitet ist, ist die ökonomische Basis gerade für die Mitte, wo diese Ansprüche in den 1970ern formuliert wurden, brüchiger geworden. ,,Das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft seit der Gründung der Bundesrepublik, wer hart arbeite, steige auf, mit stetig mehr Geld und Doppelhaushälfte – es wurde brüchig", schrieb der Journalist Alexander Hagelüken in der ,,Süddeutschen Zeitung" zur ökonomischen Situation Deutschlands am Vorabend der Bundestagswahl 2021.

Die Agendapolitik von Schröder konnte zwar im Effekt die Arbeitslosigkeit halbieren, und Merkel konnte zunächst eine auf Hinterlassenschaftsverwaltung abgestellte Wirtschaftspolitik fahren. Der Effekt freilich, dass mehr Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu mehr Wachstum führen, blieb in Deutschland in den letzten Jahren aus. Die Steuerpolitik der letzten 30 Jahre, so meinte etwa der Duisburger Ökonom Achim Truger, habe die Ungleichheit verstärkt. Oder gezeigt, dass es zumindest für Deutschland keine ,,Trickle down"-Wirkung gab, also eine Belebung der Konjunktur durch Entlastung der oberen Einkommen bei Stagnation der Maßnahmen unten und in der Mitte.

70 Prozent der Deutschen zahlen nach gemeinsamer Politik von Union und SPD in der Gegenwart abzüglich Inflation mehr Steuern als Ende der 1990er Jahre. Entlastet wurden effektiv die oberen Einkommen. Die Umverteilungswirkung des progressiven Steuersystems läuft für Stefan Bach, einen Ökonomen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), mehr auf eine Glaubensformel hinaus – belegen lasse sie sich jedenfalls nicht mehr.

Der seit 2018 laufende ,,Demokratie-Monitor" für Österreich (durchgeführt vom SORA-Institut auf einer breiten Befragungsbasis) zeigt ein Bild einer noch nie da gewesenen Systemunzufriedenheit: Derzeit (Stand Ende 2021) seien beinahe sechs von zehn Menschen (58 Prozent) davon überzeugt, ,,dass das politische System in Österreich weniger oder gar nicht gut funktioniert". Ein Drittel fühlt sich vom politischen System abgehängt und von diesem nicht mehr repräsentiert.

Neben der brüchiger gewordenen sozialökonomischen Basis kommen im Lauf der 1970er Jahre aber noch weitere Aspekte hinzu, die man auch als eine Aufsplitterung der Weltsichten sehen kann, wenn man etwa das Finale von Sarasins Zusammenschau im ,,1977"-Buch in den Blick nimmt. Ist in der Linken im Westen spätestens Ende der 1970er Jahre die Idee von der ,,Möglichkeit der Gestaltbarkeit der Geschichte" brüchig geworden (mit dem Nebeneffekt, dass den Zusammenbruch des Kommunismus jene als Erfolg einer aktiven Dissidentenpolitik feierten, die in den 1970er Jahren eben noch eine frühe Unterstützung der Chartabewegung der CSSR heftig kritisiert hatten), so führe die Aufsplitterung der Post-1970er-Welt, so Sarasin, zum Verlust eines Anspruchs auf Allgemeinheit. Allgemeinheit war wenn eine dominante Haltung des Westens gegenüber Entwicklungsländern.

Während sich in den westlichen Demokratien die Identitätspolitik in und für einzelne Gruppen durchsetzte, habe die Kritik an der Vorstellung, ,,dass Menschen eine irgendwie feste, ,einheitliche' Identität bewahren könnten", so Sarasin, in den 1990er zu den etablierten Denkwerkzeugen feministischer und postkolonialer Theoretikerinnen und Theoretiker gehört. Seit der Jahrtausendwende sei auch dieses schon im Ansatz ,,gewissermaßen dekonstruktive Verständnis von ,Identität'" erneut unter Druck gekommen. Es habe einem Konzept Platz gemacht, ,,das keinerlei Ansatz bietet, das Allgemeine zu denken: Die buchstäblich verstandene ,Identität'".

Der Algorithmus von Social-Media-Plattformen bestätigt demgemäß das Verhalten einzelner oder bestimmter Gruppen, gemeinhin und unscharf auch ,,Bubbles" genannt, die in ihrer Bestätigung letztlich die Vereinzelung zum Allgemeinheitsanspruch erleben. Das Allgemeingedachte erzählt die Geschichte des eigenen Nutzungsverlaufes, der mehr oder weniger zufällig an anderen Positionen ankommt, tatsächlich aber immer das Eigene bestätigt, das aber als allgemein verbindlich gedacht wird.

Umgelegt auf den Arbeitsmarkt und die darauf geäußerten Positionen bleibt eine gewisse Unvermittelbarkeit der Standpunkte. Während die einen in ihrer Anspruchswelt leben und diese in bestimmten Berufssegmenten (vor allem dort, wo die eigene Bildung und Ausbildung dem Markt entgegenkommt) auch als neue Jobperspektive durchsetzen können, wird ein immer größerer Teil der Bevölkerung abgehängt. Dazwischen steht eine Wirtschaft, deren Vertreter auf die Wohlstandsgeschichte des Landes verweisen, die es weiter zu verteidigen gelte – während sich die Wertewelt in unterschiedlichen Gruppen ganz anders ausdifferenziert hat. Wie zwischen diesen Welten zu vermitteln sei, ist in Zeiten fehlender verbindlicher Medien eine der zentralen Gestaltungsfragen von Politik.

Die Politik der Gegenwart muss mit dem Prozess der Moderne umzugehen lernen. Das hieße, diese zunächst als Rahmen zu akzeptieren, anstatt Vorschläge zu entwickeln, die die Komplexität der Aufgabe mit simplen Identitätsschablonen unterlaufen wollen. Beispielsweise im Fall des Brexit. Die Moderne, so der Soziologe Niklas Luhmann, kenne ,,keinen Abschlussgedanken, (...) auch keine Autorität, (...) sie kennt keine Positionen, von denen aus die Gesellschaft in der Gesellschaft für andere verbindlich (!) beschrieben werden könnte". Für Luhmann gibt es in diesem Setting ohnedies keine Emanzipation ,,zur Vernunft, sondern Emanzipation von der Vernunft". Und: ,,Diese Emanzipation ist nicht anzustreben, sondern bereits passiert."


Aus: "Die 1970er und ihre Folgen: Die Geburt der Work-Life-Balance" Gerald Heidegger (23. Oktober 2022)
Quelle: https://orf.at/stories/3290407/

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Twin Peaks (Alternativtitel: Das Geheimnis von Twin Peaks) ist eine US-amerikanische Fernsehserie aus den Jahren 1990, 1991 und 2017, entwickelt von David Lynch und Mark Frost. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Twin_Peaks

Mystery - Wie David Lynch "Twin Peaks" erfand
Vor fast 35 Jahren suchte das TV-Publikum mit Agent Dale Cooper den Mörder von Laura Palmer. Autor Adrian Gmelch über die Serie, die nicht altert
Interview Doris Priesching (25. September 2024)
https://www.derstandard.at/story/3000000237694/wie-david-lynch-twin-peaks-erfand

Twin Peaks ACTUALLY EXPLAINED (No, Really) [4:35 Stunden (!)] (21.10.2019)
Garmonbozia, the Black and White Lodges, Mike, Bob and the Little Man, Judy, Audrey and Charlie, Season 3's ending... The mystery of Twin Peaks has survived for nearly 30 years... until now. You may have heard some of the ideas in this video before, but never with this amount of depth and supporting evidence. Are you ready to fully KNOW what Twin Peaks was really about? "Watch, and see what Rosseter teaches." ...
https://youtu.be/7AYnF5hOhuM