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[Aufklärung (Notizen) ...]

Started by Link, October 18, 2020, 05:22:45 PM

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"Je weniger Aberglaube, desto weniger Fanatismus, und je weniger Fanatismus, desto weniger Unheil."  Voltaire

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Quote[...] Die politischen Grundlagen der europäischen Moderne findet er [Paul Hazard], weit hinter die Aufklärungsforschung seiner Zeit zurückgreifend, im kaum ausgeleuchteten späten 17. Jahrhundert. Gegen den Klassizismus der Ära Ludwigs XIV. trete seit 1680, so Hazards These, eine Generation von Künstlern und Wissenschaftern an, die nicht mehr auf Tradition, Hierarchie und Metaphysik, sondern auf den Zweifel, auf die intellektuelle Unruhe, auf die Gestaltung einer gerechten Gesellschaft gesetzt hätten.

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Marcel Lepper (22.04.2023) | Quelle: https://www.nzz.ch/feuilleton/paul-hazard-ueber-die-krise-des-europaeischen-bewusstseins-ld.1734270

https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Hazard

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Quote... Intellektuelle Redlichkeit fordert, zwischen Gefühlen und Gedanken zu unterscheiden, zwischen Klischees und Fakten. Das sind die Prämissen der Aufklärung. ...


Sieglinde Geisel (27.07.2017)

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Quote[...] Wie geht geistige Unabhängigkeit? Geht sie überhaupt angesichts der äußeren Zwänge? Bedarf man ihrer überhaupt? Und wie geht man geistig unabhängig miteinander um? Die Entdeckung der Unmündigkeit stellt zentrale Fragen, die Martus an konkreten Beispielen abhandelt.

... Politik, Wirtschaft, Religion, Philosophie – Martus' Blick auf das 18. Jahrhundert hat einen weiten Horizont. Bei aller Konzentration auf poesieferne Institutionen holt den Literaturprofessur sein Fach dann doch wieder ein, wenn er die zentrale Strategie zum Zugang in die Köpfe als narrativ beschreibt. Erzählte Geschichten vermitteln Ideen, Episoden von verschiedener Herkunft aus einer komplexen Welt, die in den einzelnen Köpfen und in der Selbstwahrnehmung einer Gesellschaft prägend und handlungsauslösend werden. Man solle nicht vergessen, schreibt Martus, dass das 18. Jahrhundert auch das Zeitalter des Romans war: ,,Keine Gattung war in diesen Jahren erfolgreicher; in keiner Gattung konnte die Aufklärung besser einen Menschen darstellen, der Fehler macht, sich deswegen entwickelt und aufgrund seiner Defizite lernt". Dass auch eine akademische Abhandlung spannend wie ein Roman sein kann, beweist der Autor mit seinem Epochenbild.

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Steffen Martus: Aufklärung. Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild.
Rowohlt Verlag, Berlin 2015.
1035 Seiten, ISBN-13: 9783871347160



Aus: "1.000 Seiten Aufklärung" Anett Kollmann (2016)
Quelle: https://literaturkritik.de/id/21910

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Der Begriff Aufklärung bezeichnet die um das Jahr 1700 einsetzende Entwicklung, durch rationales Denken alle den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden. Es galt, Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen. Seit etwa 1780 bezeichnet der Terminus auch diese geistige und soziale Reformbewegung, ihre Vertreter und das zurückliegende Zeitalter der Aufklärung (Aufklärungszeitalter, Aufklärungszeit) in der Geschichte Europas und Nordamerikas. Es wird meist auf etwa 1650 bis 1800 datiert. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Aufklärung


Als Vordenker der Aufklärung (französisch (les) philosophes des Lumières, englisch Enlightenment figures, niederländisch Verlichtingsdenkers) werden Personen der europäischen und nordamerikanischen Geistesgeschichte im Zeitalter der Aufklärung bezeichnet, die das Denken mit den Mitteln der Vernunft von Vorurteilen und Aberglauben zu befreien suchten. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Vordenker_der_Aufkl%C3%A4rung


Denis Diderot (* 5. Oktober 1713 in Langres; † 31. Juli 1784 in Paris) war ein französischer Abbé, Schriftsteller, Übersetzer, Philosoph, Aufklärer, Literatur- und Kunsttheoretiker, Kunstagent für die russische Zarin Katharina II. und einer der wichtigsten Organisatoren und Autoren der Encyclopédie.  ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Denis_Diderot

Kategorie:Aufklärung (Literatur)
https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Aufkl%C3%A4rung_(Literatur)

Die Säkularisierung (von lateinisch saeculum ,Zeit', ,Zeitalter'; auch: ,Jahrhundert') bedeutet allgemein jede Form von Verweltlichung, im engeren Sinne aber die durch den Humanismus und die Aufklärung ausgelösten Prozesse, welche die Bindungen an die Religion gelockert oder gelöst und die Fragen der Lebensführung dem Bereich der menschlichen Vernunft zugeordnet haben. Soziologisch wird dieser Prozess als ,,sozialer Bedeutungsverlust von Religion" interpretiert. Während eine Säkularisierung in der jüngeren Geschichte vor allem in westlichen Gesellschaften zu beobachten gewesen ist (,,Entchristlichung"), sind säkularisatorische Tendenzen auch in vielen anderen Gesellschaften feststellbar. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%A4kularisierung

Quote[...] Bereits im Dezember 1864 hatte Papst Pius IX. die Idee eines Konzils entwickelt und anschließend eine vorbereitende Zentral- und fünf Sachkommissionen eingerichtet. Die erarbeiten 65 Dekretentwürfe – unter anderem mit dem Vorschlag, die kirchliche Lehrautorität auf die Tagesordnung zu setzen und den Katechismus zu vereinheitlichen. Schließlich und nicht zuletzt aufgrund der theologischen Debatte drängte sich die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit für das Konzil auf. Zu den Kritikern zählten vor allem die deutschsprachigen und französischen Theologen, die bereits von der Aufklärung beeinflusst waren. ...


Aus: "150 Jahre Erstes Vatikanum: Das Ringen um die päpstliche Unfehlbarkeit" Simon Oelgemöller (Rom - 08.12.2019)
Quelle: https://www.katholisch.de/artikel/23845-150-jahre-erstes-vatikanum-das-ringen-um-die-paepstliche-unfehlbarkeit

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#1
Quote[...] ,,In allen kritischen Augenblicken des sozialen Lebens des Menschen sind die rationalen Kräfte, die dem Wiedererwachen der alten mythischen Vorstellungen Widerstand leisten, ihrer selbst nicht mehr sicher. In diesen Momenten ist die Zeit für den Mythus wieder gekommen." So schrieb der Philosoph Ernst Cassirer in seinem Buch ,,Vom Mythus des Staates", das 1946, ein Jahr nach seinem Tod, in den USA erschien.

...  ,,Es war, im entgeisterten Blick auf die nationalsozialistische Herrschaft in Europa, auf den Vernichtungskrieg und den Völkermord an den Juden, als Erklärungsansatz gemeint für das Denken, das dem totalitären Staat zugrunde liege."

Und diese Grundlage erkenne Cassirer im ,,mythischen Denken", auf das die Menschen in Krisenzeiten leichter zurückfielen: Das mythische Bewusstsein sei ,,durch die Intuition unmittelbarer Beziehungen zwischen Mensch und Dingen charakterisiert", so Recki, ,,und damit gibt es auch keine Abstraktions- und keine Reflexionsdistanz. Mythisches Bewusstsein ist besessen von der Macht der Bilder, der Macht der Namen und von der Macht der von ihren Eindrücken ausgelösten Emotionen."

Im Ahnenkult und der Rassenideologie des Nationalsozialismus aktualisiere sich für Cassirer dieses ,,archaische Denken".


Für Recki ist Cassirers Ansatz auch heute noch aufschlussreich, nicht zuletzt im Hinblick auf die Mythenbildung in zahlreichen Verschwörungserzählungen während der Corona-Krise. Ebenso erkennt sie Spuren mythischen Denkens aber auch im ,,Erstarken identitärer Diskursstrategien", so zum Beispiel ,,in der Vorstellung, wer sich auf sein Gefühl beruft – das Gefühl, benachteiligt, beleidigt, nicht genügend beachtet zu sein – hätte diesseits aller Argumentation schon per se recht."
Und was hilft gegen das Wiedererstarken des ,,Mythus"? Mit Cassirer gesehen jedenfalls sicher keine ,,Ausgrenzung", sagt Recki, sondern: ,,Durch Befragen und Argumentieren weiterarbeiten an dem großen Projekt der Aufklärung."

(ch)

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Aus: "Mythisches Denken in Zeiten der Krise" Birgit Recki (10.10.2021)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophische-flaschenpost-ernst-cassirer-mythisches-100.html

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Quote[...] Diderots feste Überzeugung war es, dass ,,das Licht der Vernunft" gebraucht und verteidigt werden müsse. Anders als deutsche Rationalisten und Idealismus-Vertreter wie Hegel, der sein dialektisches Herr-und-Knecht-Modell auf ,,Jacques der Fatalist" stützt, blieb er Skeptiker und legte Wert auf einen spielerischen Umgang mit philosophischen Wahrheiten: ,,Unsere wahre Meinung ist nicht diejenige, von der wir nie abgewichen sind, sondern die, zu der wir am häufigsten zurückgekehrt sind."

Spürbar ist das in seinen philosophischen Schriften, besonders aber in seinen literarischen Hauptwerken, die erst posthum und zunächst in deutscher Sprache publiziert wurden. Es ist kein Zufall, dass es ein Skeptiker wie Nietzsche war, der das charakteristisch Modernistische an Diderot betonte: ,,Voltaire ist der letzte Geist des alten Frankreich, Diderot der erste des neuen."

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Aus: "Der Befreier des Wissens" Tobias Schwartz (29.09.2013)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/der-befreier-des-wissens/8861842.html

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Quote[...] Böse Philosophen: Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung ist ein im Jahr 2011 veröffentlichtes Sachbuch des deutschen Historikers Philipp Blom. ... Zu Beginn macht sich der Autor Philipp Blom auf die Suche nach dem Ort, wo sich Paul Henri Thiry d'Holbach und Denis Diderot in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts regelmäßig mit anderen Philosophen und hochrangigen Gelehrten Europas trafen, um sich über verschiedenste radikale Theorien der Aufklärung und Politik auszutauschen. Dabei macht Blom klar, dass sich deren Ideen gegen das gesamte Fundament des damaligen Abendlandes richteten und deutlich radikaler waren, als etwa die der Vertreter der Französischen Revolution.
Er beschreibt die Zustände der damaligen feudalistisch-klerikalen Gesellschaft, die Zensur von kritischer Literatur/Philosophie, die drakonischen Strafen bei Nichteinhaltung von Verbannung bis zur Hinrichtung sowie die Notwendigkeit privater Salons. Dort konnten sich die Vordenker der Aufklärung weitgehend frei austauschen und an ihren Werken arbeiten. So sei etwa die Encyclopédie, deren Mitarbeiter überwiegend Besucher des Salons von Holbach waren, nicht nur ein Mittel gewesen, das Wissen der Welt zu sammeln, sondern auch die strikte Zensur zu umgehen und neue Ideen zu veröffentlichen. ...

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    ,,Philipp Blom hat die Wege der bürgerlichen Aufklärer Mitte des 18. Jahrhunderts verfolgt und präzise ein intellektuelles Gravitationszentrum der Zeit verortet. [...] Die 'bösen Philosophen' erklären, dass Aufklärung nichts ist, was Intellektuellen ohne Risiko in den Schoß fällt und sich dann in Menschen verkörpert, die auf einem Sockel stehen."

– Mario Scalla: Frankfurter Rundschau


https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%B6se_Philosophen

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Quote[...]  Philipp Blom - Böse Philosophen
Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung
Cover: Böse Philosophen
Carl Hanser Verlag, München 2011
ISBN 9783446236486
Gebunden, 400 Seiten


Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 14.03.2011
Was hätten sie sich gefreut, Denis Diderot und sein Freund Paul Thiry d'Holbach, über dieses Buch, das die beiden radikalen Aufklärer des vorrevolutionären Frankreich dem Vergessen zu entreißen sucht, wie Rezensent Manfred Geier schreibt. Auch Geier freut sich. Über eine nicht nur gelehrte Darstellung, sondern einen Ansatz, der den beiden entspricht, wie er findet, eine Geschichte der Ideen, ihres Salons, ihrer Freund- und Feindschaften, ihrer Affären, intellektuell, sexuell. Dabei geht es dem Autor Philipp Blom laut Geier auch darum, die anhaltende Aktualität der damaligen Kämpfe um den über sich selbst aufgeklärten, von Gott- und Jenseitsglauben befreiten Menschen zu erweisen. Die so entstandene, im Original im vergangenen Jahr erschienene philosophiegeschichtliche Erzählung über den Pariser Salon Holbach liest Geier nicht zuletzt als Korrektiv eines intellektuellen Panoramas, in dem Voltaire und Rousseau als Alleinherrscher erscheinen.

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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 17.03.2011
Rezensent Tim Caspar Boehme stellt sich voll und ganz hinter das Hauptanliegen dieser Abhandlung des Wiener Historikers Philipp Blom. Sie rufe ins Gedächtnis, dass es neben den Ikonen Rousseau und Voltaire noch eine ganze Reihe weiterer Geister gab, die die französische Aufklärung maßgeblich prägten. Konkret widmet sich Bloms "Engführung von Ideengeschichte und persönlichen Schicksalen" den beiden Radikalaufklärern Denis Diderot und Paul Thiry d'Holbach. Radikal meint in diesem Fall atheistisch, wie Boehme ausführt. In diesem Punkt verstanden Voltaire und Rousseau allerdings keinen Spaß, was ihnen nun, über zweihundert Jahre später, die harsche Kritik Philipp Bloms eingetragen habe. Bei Voltaire und Rousseau handelt es sich in der Interpretation Boehmes um die eigentlich "bösen Philosophen", die das Buch im Titel trägt. Sie kommen hier schlecht weg, vielleicht zu schlecht, meint der Rezensent. Immerhin habe Blom der Versuchung widerstanden, Diderot und d'Holbach im Gegenzug zu glorifizieren. Die Tatsache beispielsweise, dass Diderot die jährlich 300 Exekutionen in Frankreich für "akzeptabel" hielt, enthalte Blom dem Leser mitnichten vor.


Aus: "Zu: Philipp Blom - Böse Philosophen" (2011)
Quelle: https://www.perlentaucher.de/buch/philipp-blom/boese-philosophen.html

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Quote[...] Die Berufung auf die Kultur der Aufklärung sei in der Gegenwart zur ,,Phrase" verkommen: Mit einer scharfen Abrechnung mit dem politischen Diskurs der Gegenwart in Europa hat der Historiker Philipp Blom bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele aufhorchen lassen. Blom nahm den Rückzug ,,auf das Eigene, die Nation" ins Visier - Politiker, die heute behaupteten: ,,Wir sind Kinder der Aufklärung", betonten dabei vor allem das ,,Wir" als Abgrenzung gegen alle anderen.

,,Weder die Aufklärung noch die Philosophie sind ein Gebäude von Lehrsätzen, sondern sie entstehen im Geiste Diderots aus Debatten", erinnerte Blom an die vorrevolutionäre Kultur. Es sei ,,riskantes Denken", das sich aber als ,,klares Denken" immer als unwiderstehlich erweise. Die Gegenwart erzähle aber von einem mächtigen Angriff auf die Aufklärung ... Meinungen und Dogmen, ,,Fake News", ja bewusst eingesetzte ,,Lügen" würden das kritische Denken an den Rand drängen. ,,Auch hierzulande werden Gerüchte von der jüdischen Weltverschwörung geschürt", so Blom, der auch eine Zweiklassengesellschaft der Menschenrechte ortet: ,,Wer reicher ist, der hat mehr Menschenrechte als andere."

In der Gegenwart wollten viele das ,,eigene Paradies schützen", weil sie dieses Paradies als bedroht erlebten. Es gehe mittlerweile nur noch um ,,unsere Freiheit und Gleichheit", so Blom, der einen Rückzug auf das Eigene, auf die Nation, konstatiert, was man mit Stacheldrähten schützen wolle.

Beim Satz ,,Wir sind Kinder der Aufklärung" werde das ,,Wir" betont. Aufklärung, sie gelte nicht für Moslems oder Unintegrierbare, wie man im Diskurs der Gegenwart immer wieder höre. ,,Wir wollen erhalten, was wir haben", so Blom, für den die ,,Aufklärung als Instrument der Verteidigung der Mächtigen" zu verkommen droht.

,,Vielleicht ist das der Anfang und das Ende der Aufklärung", so Blom, der laut die Frage stellte, warum gerade jetzt die Kultur der Aufklärung zu Ende gehe, ,,wo weniger Menschen hungern denn je und wo es immer mehr Wohlstand" gebe.

Blom konstatiert eine ,,Kultur der Angst", in der immer mehr Menschen Angst um ihren Status hätten: ,,Die globale Wirtschaftsordnung ist zu einer Parodie der Aufklärung geworden. Rationalität heißt heute Rationalisierung." Gleichheit, so Blom, heiße heute statistische Normierung.

Die Menschen erlebten sich selbst in Gesellschaften, die in ,,dauerndem Aufruhr sind". Und manche würden dabei eine Verlogenheit ausmachen: ,,Immer mehr begreifen, dass sie für das System funktionieren und nicht das System für sie." Die Idylle der Nachkriegszeit, konstatiert der Historiker, sei in der Kultur des alles beherrschenden Marktes zu Ende gegangen.

Dennoch wolle man im Westen in ,,einer nie enden wollenden Gegenwart leben", in der sich die alten Träume bewahren und das Eigene schützen ließen. ,,Doch die Zukunft kommt zu uns. In Form warmer Winter, Algorithmen, Menschen von außen."

Für Blom kauften sich die reiche Gesellschaften ,,die Zeit" - allerdings auf Kredit. Man wolle einen ,,Regenschirm gegen das Unbekannte" aufspannen, dabei sei man selbst Teil ,,einer Generation von Erben, die sich überlegen fühlen, weil ihre Vorfahren mutig waren".

,,Vielleicht ist es Zeit, endlich einmal erwachsen zu werden", so Blom in seiner Adresse an die versammelte Politspitze. Neben der Erderwärmung finde ,,ein anderer Klimawandel" statt - und dieser erzähle von der Aushöhlung der Demokratie, die eine ,,sehr junge, zerbrechliche Regierungsform" sei. ,,Demokratie", so Blom abschließend, ,,ist kein Naturzustand." Sie könne ihre ,,Voraussetzungen, um zu bestehen, nicht selber schaffen".

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Aus: "Historiker Blom kritisiert ,,Rückzug aufs Eigene"" (27.07.2018)
Quelle: https://newsv2.orf.at/salzburgerfestspiele18/stories/2448622/

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#2
Quote[...] Tanwir heißt Aufklärung. Vor mehr als 20 Jahren, lange bevor Syrien im Krieg in Schutt und Asche fiel und Ägypten seinen kurzen, brutal erstickten demokratischen Aufbruch erlebte, wurde in beiden Ländern um diesen Begriff gestritten. Wem gehört die Aufklärung? Die Frage war in beiden Ländern die gleiche, nicht aber die jeweiligen Kontrahenten. In Ägypten reklamierten säkulare, zugleich staatsfromme Intellektuelle Tanwir für sich – gegen die Ansprüche muslimischer Vordenker. In Syrien besetzten Oppositionelle den Begriff, um Regimekritik zu üben, in den engen Grenzen, die der Repressionsapparat des Assad-Clans gezogen hatte. Muslimische Intellektuelle gab es kaum in Syrien; das Regime hatte die meisten in den achtziger Jahren ermordet. ...

... Über Aufklärung zu reden, sei heute nur in Marokko und Tunesien möglich, sagt Sarhan Dhouib, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel, der die Tagung organisiert hatte. Dhouib sagt von sich, dass er in Deutschland ,,im selbst gewählten Exil" lebt. Mit seinem vom DAAD getragenen Projekt ,,Verantwortung, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur" möchte er ein anderes Bild der arabischen Welt zeichnen, ,,jenseits des inflationären Redens über Islamismus". Dhouib will die Menschenrechts- und Rationalitätsdebatte sowie die umfassende Selbst- und Kulturkritik aus der gesamten Region in Europa bekannter machen. Doch die alten und neuen arabischen Despoten setzen dem Grenzen. Einem ägyptischen Kollegen wurde von seinem Rektor bedeutet, die Teilnahme an der Kasseler Tagung sei nicht ratsam. Für Vernunft zu plädieren, ist wieder gefährlich geworden.

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Aus: "Nach den Revolutionen: Aufklärung ist ein arabisches Wort" Andrea Dernbach (31.07.2015)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/aufklarung-ist-ein-arabisches-wort-3648277.html

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RobbiTobbi2017 #9 " ... [In einem Pariser Vorort wurde ein Lehrer mit einem Messer getötet. Inzwischen wurden neun Menschen in Gewahrsam genommen. Haupttäter soll ein junger Tschetschene sein.] Im Lande Voltaires wird einem Lehrer der Kopf abgeschnitten, weil er seinen Schülern Meinungsfreiheit gelehrt hatte. ..." Kommentar zu: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-10/paris-terror-attacke-lehrer-fuenf-verdaechtige-festgenommen

Thomas Pany (17. Oktober 2020): " ... Der Lehrer für Geschichte und Geografie, Mitte Vierzig, unterrichtete seit vielen Jahren Schüler über Religionen. Eine Unterrichtsstunde, die er Anfang Oktober am Collège du Bois-d'Aulne in dem genannten Ort Conflans-Saint-Honorine gab, sorgte für Aufregung. Es ging um Meinungsfreiheit. Das Thema wollte der Lehrer anhand der Mohammed-Karikaturen erläutern [https://de.wikipedia.org/wiki/Mohammed-Karikaturen]. Dazu fragte er die Schüler danach, wer muslimischen Glaubens ist und erklärte ihnen, dass sie den Unterrichtsraum verlassen können, wenn sie wollen. ..." | Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Der-gekoepfte-Lehrer-4931243.html

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Quote[...] Die Gedenkfeier für den am letzten Freitag ermordeten Geschichts- und Geographielehrer Samuel Paty fand am Mittwochabend nicht von ungefähr in der Pariser Sorbonne-Universität statt: Dieser "Tempel des Wissens" sei ein Symbol der Aufklärung und Bildung, begründete ein Elysée-Berater die Wahl. Präsident Emmanuel Macron sagte in einer Ansprache, Paty – der posthum die Ehrenlegion zugesprochen erhielt – sei "das Gesicht der Republik".

In den französischen Medien schilderten am Mittwoch Lehrer, die wie Paty in den Vororten von Paris unterrichten, mit welchen Widerständen sie dabei selber kämpfen. Und das, ohne dass sie auch nur die umstrittenen Mohammed-Karikaturen aus dem Satireheft "Charlie Hebdo" thematisieren.

Ihr Befund ist eigentlich nicht neu: Der Chef-Schulinspektor Jean-Pierre Obin hatte schon 2004 über 60 Mittelschulen analysiert und Alarm geschlagen, weil Schüler den Unterricht mit islamistischen Thesen zu stören suchten. Sie oder ihre Eltern stellten mehr und mehr den Holocaust infrage oder verlangten Halal-Gerichte, meinte er beispielsweise. Bloß war dieser 37-seitige Bericht nie erschienen. Der damalige Premierminister François Fillon beerdigte ihn mit dem Vorwand, die Publikation könnte das Leben von französischen Geiseln im Irak gefährden.

Jetzt berichten die Pariser Medien ausführlich darüber. In der Zeitung "Le Parisien" erzählten betroffene Lehrer, ohne ihren richtigen Namen zu nennen, über ihren schwierigen Banlieue-Alltag. Eine "Aurélie" schilderte, wie sie vor ihren neunjährigen Schülern über Esel, Schweine und andere Tiere gesprochen habe – um darauf eine Elternnotiz im Schulheft zu finden, sie solle ihren Schützlingen doch bitte keine "verbotenen" Worte wie "Schwein" in den Mund legen. Die Lehrerin informierte die Schulleitung nicht, da sie, wie sie sagte, in solchen Fällen "ohnehin keine Unterstützung" erhalte.

Andere Lehrer berichten, sie stießen neuerdings sogar im Geometrieunterricht auf Einwände, wenn ein Konstrukt zu sehr an ein Kreuz erinnere. Eine gewisse "Marie" erzählte, sie habe immer mehr Mühe, die Evolutionstheorie "durchzubringen". Seit September hätten Schüler schon dreimal auf der religiösen Sicht der Weltwerdung beharrt. "Was Sie sagen, ist falsch", habe ihr einer bedeutet. "Mit Ihrem Darwin brauchen Sie uns nicht mehr zu kommen."

Die gleiche Lehrerin erzählte auch, sie erhalte nach jedem Sexualunterricht Kommentare wie "Sie sollten sich schämen" oder "Ihr Franzosen steht zu sehr 'darauf'". Dabei hält sich "Marie" keineswegs für eine Verfechterin eines harten Laizismus. Als ihr eine Schülerin geklagt habe, sie würde von ihren Eltern geschlagen, wenn sie ein Biologieheft mit schematischen Darstellungen der Geschlechtsteile nach Hause bringe, habe sie als Lehrerin zugestimmt, dass das Mädchen das Heft in der Schule lassen könne.

Der Geschichts- und Geographielehrer "Bruno" erinnerte sich, dass ein Schüler behauptet habe, die Kathedralen des Mittelalters seien von Immigranten erbaut worden. Das habe er von seinem Imam gehört. "Ich versuchte ihm vergeblich klarzumachen, dass es im Mittelalter noch keine Immigranten gegeben habe", fuhr der Lehrer fort. "Das Wort des Imams war stärker."

Die Pariser Medien sprechen nach der barbarischen Enthauptung des Lehrers Paty vom "Ende der Omertà", des Schweigegesetzes. Der Verband der französischen Geschichts- und Geographielehrer, Clionautes, gibt allerdings zu bedenken, dass sich ihre Mitglieder "weiterhin alleingelassen" vorkämen.

Dabei räumen viele Lehrer ein, dass sie den dornenreichsten Themen wie der Meinungsfreiheit und den Mohammed-Karikaturen aus dem Weg gingen. "Wir sitzen auf glühenden Kohlen", meinte eine Lehrerin in der linken Zeitung "Libération". "Man muss höllisch aufpassen, was man sagt und wie man es sagt." Das gelte vor allem bei Themen wie dem Nahostkonflikt oder dem Koran.

Wie repräsentativ solche Aussagen sind, ist schwer zu sagen. Zwischen September 2019 und diesem März zählten die Schulbehörden 935 Angriffe auf den Laizismus, das heißt die in Frankreich strikte Trennung von Kirche und Staat. Diese relativ überschaubare Zahl – bei 65 Millionen Einwohnern – stagniert, wie Bildungsminister Jean-Michel Blanquer diese Woche erklärt hat.

Die Dunkelziffer dürfte allerdings hoch sein. Die Rechtspolitikerin Nadine Morano erklärte, all diese kleinen Laizismusverstöße seien heute so alltäglich, dass sie gar nicht mehr gemeldet würden. Häufig wüssten die Schuldirektionen nicht, wie sie einschreiten sollten. So etwa, wenn Primarschüler den Fastenmonat Ramadan befolgten und zu geschwächt für den Unterricht seien; oder wenn verschleierte Mütter Schulausflüge begleiteten.

Diese Beispiel nennt Obin in seinem neuen Buch "Wie wir den Islamismus in die Schule eingelassen haben". Die Zeitung "Le Monde" kommentierte zufällig wenige Stunden vor der Ermordung Samuel Patys, es gelte, "die Proportionen zu wahren". Obin dramatisiere die Lage zu stark: Laut einer Umfrage von 2018 hätten nur neun Prozent der französischen Lehrer die Stimmung an ihrer Schule als "gespannt" bezeichnet.

Man könnte dagegenhalten: Dieser Prozentsatz entspricht in etwa den Banlieue-Zonen, wo der Islamismus grassiert. Dort sind die Spannungen wirklich die Norm. Und die Schulen oft die letzten Bollwerke der Republik gegen den Vormarsch der Religion. (Stefan Brändle aus Paris, 21.10.2020)


Aus: "Wenn das Wort des Imams stärker ist als das der Geschichtslehrer" (21. Oktober 2020)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000121110023/wenn-das-wort-des-imams-staerker-ist-als-das-der


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"Voltaire und die Aufklärung"
Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet * 21. November 1694 in Paris; † 30. Mai 1778 ebenda) war ein französischer Philosoph und Schriftsteller. Er ist einer der meistgelesenen und einflussreichsten Autoren der französischen und europäischen Aufklärung. ... Die dauerhafteste und letztlich weiteste Verbreitung fanden seine ab circa 1746 verfassten philosophischen Erzählungen (contes philosophiques), in welchen er zentrale Gedanken der Aufklärung auf undogmatische und unterhaltsame Weise einem breiteren Publikum näherbrachte.

Fragwürdig bleiben aber äußerungen von ihm wie von Leon Poliakov : Afrikaner hielt Voltaire für eine von Weißen verschiedene Spezies der Menschen, die mit Orang-Utans in Zeugungsgemeinschaft stehe. Oder: ,,Ich spreche mit Bedauern von den Juden: Diese Nation ist, in vielerlei Beziehung, die verachtenswerteste, die jemals die Erde beschmutzt hat."
https://www.travestreifzug.de/Personen/Voltaire


Voltaire – Über die Toleranz (Lesung)
Traité sur la Tolérance (1763)
Gelesen von Friedhelm Ptok
https://youtu.be/DuqB8jaTaOw

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Sapere aude ist ein lateinisches Sprichwort und bedeutet Wage es, weise zu sein![1] Meist wird es in der Interpretation Immanuel Kants zitiert, der es 1784 zum Leitspruch der Aufklärung erklärte: ,,Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!"  ...  Bereits ab 1740 nutzte die Gesellschaft der Wahrheitsliebenden (Alethophilen) und Johann Christoph Gottsched dieses Motto. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Sapere_aude

Kategorie:Aufklärung
https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Aufkl%C3%A4rung

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Quote[...] Im Jahr 2020 über Religionskritik zu sprechen ist schwierig, weil man schlecht die Gefechte des Mittelalters wiederaufleben lassen kann. Es stellt sich die Frage, wie Menschen kritisiert werden sollen, die im 21. Jahrhunderts allen Ernstes behaupten, es gebe höhere Wesen, und sich also, ganz freiwillig und ohne Zwang, auf das intellektuelle Niveau von vor ein paar hundert Jahren begeben. Nur zu gerne würde man sich auf den Austausch der besten Propheten-, Jesus- und Messiaswitze beschränken.

Doch die letzten Dekaden haben gezeigt, dass das, was heute unter Religion firmiert, zu ernst ist, als dass man es allein mit den Mitteln der Humorkritik erledigen könnte – auch wenn einige religiöse Dogmen und Vorstellungen tatsächlich erst einmal als schlechter Witz erscheinen. Man denke nur an die Behauptung, Dschihadisten, die sich auf israelischen Gemüsemärkten in die Luft sprengen, würden im Paradies mit ein paar Dutzend Jungfrauen belohnt.

Leider geht es beim dschihadistischen Suicide Bombing und bei den aktuellen islamistischen Anschlägen nicht um eine gedankliche Schrulle, sondern um eine blutige gesellschaftliche Praxis.

Die Reaktionen auf den ,,Karikaturenstreit" 2006, der Mordanschlag auf den dänischen Zeichner Kurt Wester­gaard 2010, die Ermordung von Redaktionsmitgliedern der Zeitschrift Charlie Hebdo und nun der brutale Mord an einem Lehrer in Paris, der im Unterricht einige Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte, verdeutlichen, dass Witze, insbesondere über die islamische Religion, das Problem eher verharmlosen, als es zu erhellen.

Lustig machen könnte man sich darüber, wenn es nur das Privatunvergnügen lustfeindlicher Obskuranten wäre, sich irgendwelchen unsinnigen Ernährungs-, Abbildungs- und Sexualvorschriften hinzugeben.

Es geht keineswegs ausschließlich um die diversen Ausprägungen des Islam – jedoch aus gutem Grund in erster Linie um ebendiese: Selbstverständlich gilt es, zu allem bereiten christlichen Fanatikern entgegenzutreten, auch wenn sie die Gesellschaften, in denen sie agieren, alles andere als dominieren. Doch kaum etwas kommt an die Barbarei heran, die aktuell von den diversen Fraktionen der Muslimbruderschaft, dem ,,Islamischen Staat" und anderen sunnitischen Islamisten oder der ,,Islamischen Republik" im Iran repräsentiert wird.

Wenn seit Beginn des Jahrtausends ein paar harmlose Karikaturen einen mittleren Aufstand auf dem halben Globus auslösen können, wenn Gruppierungen wie die Hamas Wahlen gewinnen, wenn ein esoterischer Obskurant mit Vorlieben für feudalistische Herrschaftsstrukturen wie der Dalai Lama als Vorbild ganzer Generationen über alle politischen Grenzen hinweg fungiert, wenn die katholische Homophobie in Polen und die russisch-orthodoxe in Moskau wieder als militanter Mob in Erscheinung tritt, wenn also das schon tausendfach Totgesagte sich heute als ausgesprochen lebendig erweist – im Falle des dschihadistischen Islam als dermaßen lebendig, dass es für Ungläubige eine tödliche Bedrohung darstellt –, dann müsste man noch einmal zum Anfang zurück und sich Grundlagen der Religionskritik vergegenwärtigen.

Gleichzeitig kann man aber nicht bei solch einer allgemeinen Religionskritik stehen bleiben. Es ginge darum, deutlich zu machen, inwiefern Religionen unterschiedlich weit entfernt sind vom Gedanken materialistischer Aufklärung und Kritik; dass manch religiöse Strömung eine Vermittlung des Glaubens mit der Vernunft anstrebt, während andere die Ratio für reines Teufelszeug halten.

Dass es, worauf Max Horkheimer nachdrücklich hingewiesen hat, Formen von Religiosität wie etwa den jüdischen Messianismus gibt, die vor allem die Sehnsucht nach dem ganz Anderen bewahren, die also auch den Gedanken an eine befreite Gesellschaft in wie auch immer deformierter Form aufrechterhalten, anstatt die gewaltsame Vermittlung im falschen Bestehenden durchzusetzen. Kurz: Man müsste die Unterschiede zwischen den Religionen thematisieren.

Man dachte, über Religion sei alles gesagt, und es ist schwierig, dem, was in den letzten 300 Jahren über den Götter- und Götzenglauben festgestellt wurde, viel Neues hinzuzufügen. Kant brachte Vernunft und Mündigkeit gegen den alten Gottesglauben in Anschlag und Ludwig Feuerbach sah in der Religion die Projektion menschlicher Sehnsüchte. Marx beschrieb die Religion als Opium des Volkes, Freud ortete im Glauben kindliche Wunschvorstellungen und Sartre betrachtete Religion völlig zu Recht als Bedrohung für die menschliche Freiheit.

Schon Marx ging Mitte des 19. Jahrhunderts davon aus, dass die Kritik der Religion bereits geleistet worden sei und man sich nun mit dem gesellschaftlichen Elend beschäftigen müsse, welches das Bedürfnis nach Religion erst hervorbringt. Er sah in der Religion noch einen Doppelcharakter: Sie sei Flucht aus dem Elend, aber auch ,,Protestation" gegen dieses Elend.

Doch sollte man diese Protestation nicht überschätzen, denn sie vermag kaum zu den wirklichen Ursachen des Elends vorzudringen und bleibt durch ihr Gefangensein in den religiösen Illusionen in der Regel konformistische Rebellion.

Angesichts der heutigen Stellung der christlichen Kirchen hat allerdings auch gegenwärtige, sich vornehmlich auf das Christentum konzentrierende Religionskritik im Vergleich zu ihren Vorläufern in früheren Jahrhunderten immer etwas von einer konformistischen Revolte von Leuten, die radikale Gesellschaftskritik scheuen und sich lieber in anklägerische Pose gegenüber schon längst Erledigtem werfen.

Während Giordano Bruno und all die anderen Häretiker auf dem Scheiterhaufen landeten, sind Witze über den Papst heute ähnlich subversiv wie die von Regierungsparteien vorgetragene Kritik am Kapitalismus.

Heute geht es unter anderem darum, die vorbürgerlichen Relikte im bürgerlichen Recht endlich zu beseitigen, also die Blasphemieparagrafen aus den Gesetzbüchern zu tilgen und überall dort, wo Religionsausübung jene wie auch immer beschränkten individuellen Freiheiten verletzt, welche die westlichen Gesellschaften nach der partiellen Emanzipation von christlichem Tugendterror und staatlicher Willkürherrschaft zumindest garantieren können, die Mindeststandards bürgerlicher Aufklärung durchzusetzen.

Es gilt, die Bedingungen gesellschaftskritischer Reflexion – und Religionskritik wird einer der notwendigen Bestandteile solcher Reflexion bleiben müssen – aufrechtzuerhalten. Angesichts der Reaktionen, mit denen in den letzten Jahren insbesondere Vertreter der islamischen Religion mit kräftiger Unterstützung von Kulturrelativisten jeglicher Couleur auf Kritik reagiert haben, müssen diese Bedingungen als bedroht bezeichnet werden.

Große Teile der Linken überlassen die dringend notwendige Kritik des Islam den Fremdenhassern von rechts, anstatt eine an einer allgemeinen Emanzipation und an einer über sich selbst aufgeklärten Aufklärung orientierte Kritik an der islamischen Menschenzurichtung zu formulieren.

So gesehen ist es auch gar nicht verwunderlich, dass ganz so wie nach dem Mordanschlag auf Kurt Wester­gaard auch nach dem jetzigen Mord in Paris quer durch Europa die Medien ihren Lesern und Zusehern zwar von den ,,umstrittenen Karikaturen" berichteten, sich aber kaum eine führende Zeitung oder ein Sender traut, beispielsweise die Abbildung Mohammeds samt Bombe im Turban, die nach Tausenden dschihadistisch motivierten Attentaten in den letzten Dekaden ebenso naheliegend wie in ihrer Kritik zurückhaltend ist, nachzudrucken.

Es geht heute darum, die bürgerlichen Freiheiten von Leuten wie Ayaan Hirsi Ali zu verteidigen, die den Propheten einen perversen Tyrannen genannt hat, von Hiphoppern, die Jesus als Bastard titulieren, und von israelischen Poplinken, die verkünden, der Messias werde nicht kommen.

Die Frage, warum die beiden Letztgenannten ähnlich wie lange Zeit Manfred Deix mit Kritik, Empörung und schlimmstenfalls mit aberwitzigen strafrechtlichen Konsequenzen leben müssen, Ayaan Hirsi Ali aber mit Morddrohungen und Kurt Westergaard mit Mordversuchen konfrontiert waren, lässt sich nur erklären, wenn in Zukunft versucht wird, die entscheidenden Unterschiede zwischen den Religionen und ihrer jeweiligen Funktion in den heutigen Gesellschaften zu thematisieren.

Und die Reaktion auf die grauenhafte Enthauptung eines Pariser Lehrers aufgrund seines selbstverständlichen Eintretens für das kleine Einmaleins der Aufklärung kann kein abstrakter Wald- und Wiesenatheismus sein, dem alles eins ist.

Wenn Linke und Liberale sich nicht einmal angesichts solcher Brutalität zu einer konsequenten Kritik sowohl des radikalen Islamismus als auch jener Elemente des orthodox-konservativen Mehrheitsislams bequemen, welche die emanzipatorischen Errungenschaften westlicher Gesellschaften bedrohen, werden weiterhin antikosmopolitische politische Formationen mit ihrer ,,Islamkritik" reüssieren, die hinsichtlich Antisemitismus, Misogynie und Homophobie vom Objekt ihrer Kritik bei weitem nicht so weit entfernt sind, wie sie gerne suggerieren.


Aus: " Plädoyer gegen abstrakten Atheismus: Das Einmaleins der Aufklärung" Stephan Grigat (20.10.2020)
Quelle: https://taz.de/Plaedoyer-gegen-abstrakten-Atheismus/!5721820/

Quote15610 (Profil gelöscht), 20. Okt, 17:37

Religionskritik, die sich ausschließlich auf Religion beschränkt, greift viel zu kurz. Wie steht es um den quasireligiösen Charakter politischer Ideologien ?

Grundlage für Millionen Tote war der Glaube ans dritte Reich und seine Verkünder. Das Gewissen eines Schergen der chinesischen Kulturrevolution war im Blutrausch genauso rein, wie das eines heutigen Dschihadisten - notfalls stirbt er für "richtige Sache"

Es ist vermutlich eher das alte Menschheitsthema vom Kampf für das Gute und gegen das Schlechte, das uns in unzähligen Heldenepen bis in die heutige Zeit verfolgt und eine wirkmächtige Faszination ausübt - und der leider nicht nur Literaten, sondern auch viele junge,überwiegend männliche, Menschen erliegen. Religion ist weder die einzige Quelle von Heilsversprechen, noch hat sie das Monopol auf Irrlehren.


QuoteSchnurzelPu, 21. Okt, 08:14

Neben aller berechtigten Kritik am Islam und den Islamisten, sollten wir nicht übersehen, dass sich, als Gegenreaktion darauf, etwas auf christlicher Seite zusammenbraut.
Wenn im Pergamon Museum in Berlin 70 Ausstellungsstücke beschädigt werden, weil Attila Hildmann dort den Thron Satans verortet hat, dann läuft etwas schief in vielen Oberstuben.


Quoteuvw, 21. Okt, 05:18

Der Unterschied zwischen einem Musikverein und einer Religionsgemeinschaft ist, dass erstgenannter keine Privilegien beansprucht.

Genau die sind das Problem. Der Mörder aus Evreux beanspruchte das Privileg, einen Menschen zu töten - den er nicht mal kannte. Die Religion gab ihm das Recht. Aus seiner Sicht legitimierte Herrschaftsausübung. Keine Religion darf Sonderrechte besitzen, die über denen des Staates stehen.

Die Konsequenz muss sein, alle Privilegien aller Glaubensgemeinschaften abzuschaffen. Denn sie sind die Basis für diese Selbstermächtigung und Entrechtung anderer.

Das umfasst eine riesige Palette an Privilegien im Arbeits- und Steuerrecht, bei Subventionen, durch automatisches Mitspracherecht in Gremien, Einfluss auf die Bildung aller, bei Verbrechen, die nach eigenem "Recht" geregelt werden dürfen, bei der Bildung von Vereinen, die normalerweise unter "terroristische Vereinigung" laufen würden, bei der Immunisierung gegen Kritik und bei der Freistellung von allgemeinen Rahmenbedingungen, die ihrem Glauben widersprechen.

Der "Freie Markt" widerspricht auch meinem "Glauben", nur kann ich mich davon leider nicht freistellen lassen.

Religionskritik geht weiter: Ideologien, die Koalitionen erlauben und hervorbringen mit alten und neuen Faschisten, mit alten und neuen Feudalisten, mit Tyrannen jeglicher Spielart, oder gleich in Personalunion das alles vereinen, sollten endlich so wahrgenommen werden. Ein Blick nach Brasilien, Polen, Indien, Türkei oder Saudi-Arabien genügt.

...


QuoteDescartes, 20. Okt, 17:58

Ohne eine übernatürliche Instanz die uns vorschreibt was "gut" und was "böse" ist, sind diese Kategorien nicht objektiv feststellbar sondern bloße Meinungen (und das sage ich mal als Atheist).

Dass es bei uns heute z.B. keine Behinderten-Euthanasie gibt und Ehebruch nicht todeswürdig ist, deckt sich mit der aktuellen Mehrheitsmeinung. Das kann man aber auch anders sehen, das war auch schon mal anders, denn das ist keine Frage von "wahr" und "falsch".

Man muss sich zuerst eingestehen dass Menschenrechte, Meinungsfreiheit etc., nichts absolutes sind, nichts überall jederzeit allgemeingültiges wie die Schwerkraft, sondern nur unsere derzeitige "Leitkultur". Und die verteidigt man besser gegen jeden und nicht nur gegen Rechtsextreme, und nicht erst dann wenn die Hütte schon brennt.


...

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Quote[...] Wissen rettet Leben (Montag, 25. Januar 2021)

Die größte Stärke der Wissenschaft ist ihre Offenheit. Ihre Fähigkeit, neue Erkenntnisse aufzunehmen und alte Erkenntnisse zu verwerfen. Ein Wissenschaftler wird von seiner Unwissenheit angetrieben. Er hat Fragen, er hat Zweifel und er begibt sich auf die Suche nach Antworten. Er muss in der Lage sein, im Licht neuer Erkenntnisse seine Meinung zu einer Forschungsfrage zu ändern. Flexibilität und Diskursfähigkeit sind, neben Intelligenz und Ausbildung, für ihn elementar.

Religionen und Ideologien sind im Gegensatz zur Wissenschaft geschlossene Systeme. Ihre Anhänger glauben, sie befänden sich exklusiv im Besitz der Wahrheit. Sie haben keine Fragen, weil sie alle Antworten in ihren heiligen Schriften besitzen. Sie haben auch keine Zweifel. Wer zweifelt, ist für religiöse und ideologische Organisationen untauglich. Ein gläubiger Christ oder Muslim, ein Marxist oder ein Faschist werden ihre Meinung niemals ändern. Sie haben die Bibel und den Koran, Das Kapital und Mein Kampf.

Der Laie hält die Offenheit und Wandlungsfähigkeit der Wissenschaft für eine Schwäche. ,,Erst war die Erde eine Scheibe, jetzt ist sie plötzlich eine Kugel. Entscheidet euch endlich mal!" Das Wissen ist für ihn in Stein gemeißelt. Es kann für ihn in der Wissenschaft keine unterschiedlichen Meinungen geben. Er begreift nicht, dass es ohne offenen Diskurs keinen Fortschritt gibt. Was der Laie als Fehler betrachtet, ist in Wirklichkeit einer der größten Revolutionen der Menschheit. Es gibt keine absolute Wahrheit. Jeder kann sich irren. Wir können unser Wissen weiterentwickeln.

Wer hat die rettenden Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelt? Waren es Priester oder Politiker, Demonstranten oder Volksverhetzer? Es waren Wissenschaftler aus aller Welt. Ihnen sind wir zu Dank verpflichtet und nicht den Schwätzern, die glauben, sie wären im Besitz der absoluten Wahrheit. Sie haben zur Lösung des Problems nichts beigetragen. Forschungserfolge sind der einzige Weg aus der Krise.

P.S.: Vor vielen Jahren, als ich noch in einem Forschungsinstitut gearbeitet habe, war ich einmal mit einer Frau zum Abendessen verabredet, die bei RTL gearbeitet hat. Als sie mir in vorwurfsvollem Ton erklärte, die Wissenschaftler wüssten auch nicht alles, musste ich sehr lachen. Dann habe ich ihr den Grund meiner ausgelassenen Heiterkeit genannt: Niemand kennt die eigene Unwissenheit und Unzulänglichkeit besser als ein Wissenschaftler. Die größten Vollidioten erkennen Sie zuverlässig daran, dass sie ihre persönliche Meinung für ein unwiderlegbares Naturgesetz halten.


Aus: "Wissen rettet Leben" Matthias Eberling (Januar 25, 2021)
Quelle: https://kiezschreiber.blogspot.com/2021/01/wissen-rettet-leben.html

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#7
Rationalität beschreibt ein vernunftgeleitetes Denken und Handeln. Es ist an Zwecken und Zielen ausgerichtet. Gründe, die als vernünftig gelten, werden absichtlich ausgewählt. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Rationalit%C3%A4t

Isaac Asimov (englisch [ˈaɪzək ˈæzɪmɔv]; * 2. Januar 1920 in Petrowitschi, Sowjetrussland als Исаак Юдович Азимов (Issaak Judowitsch Asimow); † 6. April 1992 in New York, Vereinigte Staaten) war ein russisch-amerikanischer Biochemiker, Sachbuchautor und einer der bekanntesten Science-Fiction-Schriftsteller seiner Zeit. Zusammen mit Arthur C. Clarke und Robert A. Heinlein wird er oft als einer der ,,Big Three" der englischsprachigen Science-Fiction aufgeführt. ... Asimovs Schaffen beschränkte sich nicht nur auf Science-Fiction. Er entwickelte sich nach Aufgabe seiner Lehrtätigkeit zu einem modernen Universalgelehrten: Er war Mitverfasser eines Lehrbuches der Biochemie, schrieb Bücher über die Bibel und William Shakespeare, Werke über die griechische und römische Geschichte und Sachbücher über naturwissenschaftliche Themen aus fast allen Gebieten – darunter eine Anleitung für die Benutzung von Rechenschiebern. Insgesamt veröffentlichte er über 500 Bücher und mehr als 1600 Essays.
https://de.wikipedia.org/wiki/Isaac_Asimov

Isaac Asimov talks about superstition, religion and why he teaches rationality
This was recorded in 1988. He also explains why some people who think that we should abandon science are wrong and how scientific worldview is the best.
https://youtu.be/VSxMZBp-2Zs

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Quote[...] Verifikationismus ist eine Position in der Sprachphilosophie, der zufolge der Sinn eines Satzes in der Methode seiner Verifikation besteht. Der Verifikationismus ist auf dem Hintergrund des Problems zu sehen, ein Sinnkriterium zu formulieren, das wissenschaftlich bedeutsame Aussagen von metaphysischen Aussagen zu unterscheiden erlaubt. Der Verifikationismus hat damit zur Absicht und Konsequenz, dass Sätze, die sich nicht verifizieren lassen, als sinnlos bezeichnet werden. Sinnlose Aussagen sind aus der empirischen Wissenschaft auszuscheiden. ...


Aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Verifikationismus

Der Wiener Kreis des Logischen Empirismus war eine Gruppe Intellektueller aus den Bereichen der Philosophie, der Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, der Mathematik und Logik, die sich von 1924 bis 1936 unter der Leitung von Moritz Schlick regelmäßig in Wien trafen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Wiener_Kreis

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Quote[...] Der ,,Wiener Kreis" war eine außergewöhnliche Gruppe von Philosophen, Mathematikern, Natur- und Geisteswissenschaftern, die sich von 1924 bis 1936 regelmäßig trafen, um eine wissenschaftliche Weltauffassung zu entwickeln und zu verbreiten. Diese suchten naturwissenschaftliche mit philosophischen Fragestellungen zu einer neuen, professionell eigenständigen Wissenschaftstheorie zu verbinden. Wien war im deutschsprachigen Raum zu ihrem Mittelpunkt geworden, da etwa mit Rudolf Carnap und Moritz Schlick, welcher als einer der ersten die eminente philosophische Bedeutung der Einstein'schen Relativitätstheorie erkannt hatte, auch einige ihrer bedeutendsten Vertreter aus Deutschland dort seit 1922 bzw. 1925 lehrten. Die in Wien versammelten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus den Bereichen der Philosophie, Logik, Mathematik, Natur- und Sozialwissenschaften repräsentieren aus heutiger Rückschau eine der international wohl bedeutendsten philosophischen Strömungen im 20. Jahrhundert.

... Rasch wurde der Zirkel zur Hochburg des logischen Empirismus. Die Entwicklung des logischen Empirismus hatte mit den wissenschaftlichen Revolutionen um die Jahrhundertwende, insbesondere der Relativitätstheorie, begonnen. Er orientierte sich an Albert Einstein, Bertrand Russell und Ludwig Wittgenstein. Als antimetaphysische Einheitswissenschaft ist seine wissenschafts- und gesellschaftspolitische Zielrichtung unübersehbar.

...


Aus: "Der ,,Wiener Kreis" 1924–1936" Friedrich Stadler (02.07.2017)
Quelle: https://geschichte.univie.ac.at/de/artikel/der-wiener-kreis

-

Quote[...] Edmonds betont, [es] sei der Kreis nie eine Runde Gleichgesinnter gewesen. Schließlich jedoch habe die anfängliche Zielsetzung, eine Erkenntnistheorie zu entwickeln, die die Metaphysik aus dem Weg räume, den Kreis gespalten. Sein Ende markiert die Ermordung Schlicks. Der Mörder Johann Nelböck, ein ehemaliger Student Schlicks, war geisteskrank. Doch lag in diesem Mord, der Hilde Spiel, die bei Schlick promoviert hatte, zu "tiefstem Schmerz" bewegte, auch die Krankheit der Zeit.

...


Aus: "Eine Fackel in dunklen Zeiten oder wie der Kreis zum Wiener Kreis wurde" Ruth Renée Reif (13.11.2021)
Quelle: https://www.derstandard.de/story/2000131104678/eine-fackel-in-dunklen-zeiten-oder-wie-der-kreis-zum

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Quote[...] Schlick ist der Begründer und Mittelpunkt einer Gruppe von Philosophen, Mathematikern und Physikern, die in den vergangenen Jahren das philosophische Denken radikal revolutioniert und mit einer jahrtausendealten Tradition gebrochen haben. Sie nennen sich selbst der Wiener Kreis. In ihrem Manifest formulieren sie die wissenschaftliche Weltauffassung, der sie sich verschrieben haben. Sie vertreten eine entschlossene Modernität, ihre Aufgabe sei es, schreiben sie, "den metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende aus dem Weg zu räumen". Die antiken Griechen, Kant, Hegel, Schopenhauer – alles geistiger Müll. Während gleichzeitig Deutschland eine Renaissance des Mythischen erlebt (elektrisiert etwa durch das kaum zu durchdringende Gedankengebäude Martin Heideggers), trifft der kompromisslose Standpunkt des Wiener Kreises in seiner Heimatstadt natürlich auf den heftigen Widerstand des eingesessenen, konservativen und erzkatholischen akademischen Establishments.

... Genau genommen gibt es nicht nur einen Wiener Kreis, sondern mehrere intellektuelle Zirkel, die nebeneinander debattieren und einander gegenseitig befruchten – und das in einer Stadt, in der bittere Not herrscht, die hungert und friert. Die sozialen Probleme erscheinen unüberwindlich, und dennoch bricht eine Generation von Denkern und Wissenschaftern auf, lichte Höhen zu erklimmen. Vermutlich beflügelt sie auch das Bewusstsein, nichts zu verlieren zu haben. Sie stoßen deshalb auf die unerbittliche Feindschaft der Mehrheit der Wissensgesellschaft. Im giftigen Klima des Antisemitismus, der Wien seit Jahrzehnten eisern im Griff hält, werden die Neuerer als jüdische Fremdkörper stigmatisiert, und die wissenschaftliche Auseinandersetzung erhält eine zunehmend antisemitische Komponente, die rasch die Konfliktfelder dominiert.

... Der Wiener Kreis verehrt zwei Idole. Einmal den Physiker Albert Einstein, dessen Relativitätstheorie ein vollkommen neues Verständnis der Struktur von Raum und Zeit formuliert. Das zweite überlebensgroße Vorbild ist der Milliardärs-Spross Ludwig Wittgenstein, der selbst keinerlei Interesse an materiellen Annehmlichkeiten zu haben scheint. Schon zu Lebzeiten wird er in Philosophenzirkeln als Genie gefeiert. Seine schmale Abhandlung Tractatus logico-philosophicus, zum Teil noch in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs abgefasst, ist die Bibel der Neudenker.

...

Zu: David Edmonds: "Die Ermordung des Professor Schlick". C. H. Beck, München 2021; 352 S.


Aus: "Anschlag auf das freie Denken" Joachim Riedl (3. Januar 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/2022/01/moritz-schlick-philosophie-wien/komplettansicht

QuoteSW40 #2

"Mach vertrat die Ansicht, dass letztlich alle empirischen Behauptungen einer experimentellen Prüfung standhalten müssten und dass die Messungen grundlegend auf den Sinnen beruhten. Zu behaupten, dass Dinge außerhalb der menschlichen Sinneseindrücke existierten, also die metaphysischen Postulate von Religion, Moral oder Ethik, hielt Mach für eine Art "verlockenden Unsinn"."

Dem ersten Satz kann ich mich anschließen. Den zweiten Satz kann ich nicht verstehen. Es ist doch für mich ein Zeichen von Demut, wenn ich etwas über mich weiß, dass meine auf wenige Sinne begrenzte Wahrnehmung weit übersteigt. Es kann doch ein Reich der unendlichen Übersinnlichkeit geben! Der Rationalismus ist für mich eine Philosophie ohne Seele!


QuoteNogod #2.1

Ja ja, dass Sie in allen Beiträgen Metaphysik verbreiten, ist nicht unbemerkt geblieben.
Es sei Ihnen unbenommen, belegt allerdings die bedauerliche Tatsache, dass abergläubisches, religlöses Denken, sich tarnend mit Begriffen wie 'Seele' und 'Spiritualität', in keiner Weise überwunden ist.


QuoteSW40 #2.2

Metaphysik und Spiritualität sind menschliche Grundbedürfnisse. Man lebt nicht vom Brot allein, sondern braucht Gott als Bezugspunkt zur jenseitigen Vollkommenheit. Und Aberglaube ist etwas anderes als Glaube, denn der Aberglaube hält wissenschaftlicher Überprüfung nicht stand. Die Astrologie beispielsweise ist reine Esoterik, deren Wahrheitsgehalt naturwissenschaftlich angezweifelt werden kann.


QuoteLelo #2.3

Es ist Ihnen unbenommen, einen Mitforisten zu bedauern. Mitgefühl können wir doch alle gebrauchen ;-).
Aber die Trennung der beiden Aussagen von Ernst Mach ist doch treffend: Erster Satz: wissenschaftliche Methode -> ok. Zweiter Satz: strenger Physikalismus -> muss man nicht so sehen.


QuoteNogod #2.4

Gott hält natürlich einer wissenschaftlichen Überprüfung stand *hüstel*
Ich finde, 'verlockender Unsinn' ist eine ziemlich gute Formulierung, weil das darin steckende Bedürfnis bedacht wird.
Keineswegs originär das Bedürfnis nach "Metaphysik und Spiritualität" - Bedürfnisse fallen eben nicht vom Himmel, sondern werden produziert.
Ich erlaube mir den Hinweis, dass "Metaphysik und Spiritualität" von denen als Grundbedürfnisse apostrophiert werden, die in diesem Bereich ihr Auskommen haben - in sozialer wie materieller Hinsicht.


Quotesuchenwi #2.5

"Und Aberglaube ist etwas anderes als Glaube, denn der Aberglaube hält wissenschaftlicher Überprüfung nicht stand."

Welcher Glaube hält welcher wissenschaftlichen Überprüfung (theologischer?) stand?


QuoteKurzVorKnapp #2.7

Metaphysik und Spiritualität sind *Ihre menschlichen Grundbedürfnisse. Warum gehen Sie davon aus, dass dies auch bei anderen der Fall sein muss? Außerdem sollte es Ihnen zu denken geben wenn Ihr Glaube in anderen Kulturen Aberglaube ist. Die Einteilung ist sehr willkürlich und subjektiv und hält einer objektiven Betrachtung nicht stand.


Quotejus-kenner #2.8

Auch der religiöse Glaube hält wissenschaftlicher Überprüfung nicht stand. Sonst wäre er ja auch kein Glaube, sondern wissenschaftliche Erkenntnis. Dass Gott (was immer man sich hierunter vorstellt) und die Existenz dieses übernatürlichen Wesens (m/w/d) wissenschaftlich nicht bewiesen werden kann, teilt die mit dieser Vokabel verbundene Vorstellung mit anderen Vorstellungen wie Poltergeistern, Dämonen, Engeln, Einhörnern oder den walking deads aus der gleichnamigen Fernsehserie. (Aus der Tatsache, dass die Existenz einer Person oder einer Sache wissenschaftlich nicht bewiesen werden kann, kann übrigens entgegen mancher vulgären Aussage mitnichten die Existenz dieser Person oder dieser Sache logisch hergeleitet werden.) Wissenschaftlich untersucht werden kann aber die Frage, aus welchen Gründen Menschen solche Vorstellungen pflegen und sogar bereit sind, zugunsten dieser verschiedenen Glaubensvorstellungen ihre Freiheit und manchmal sogar ihr Leben auf- bzw. hinzugeben.


QuoteNikitaDerHund #2.9

"Es kann doch ein Reich der unendlichen Übersinnlichkeit geben! Der Rationalismus ist für mich eine Philosophie ohne Seele!"

Beides ist richtig: natürlich kann es einen Bereich jenseits des sinnlich (bzw. experimentell) erfassten geben. Genauer gesagt, zeigt die immer weiter sich entwickelnde experimentelle Wissenschaft, dass dem definitiv so ist. Nur macht es keinerlei Sinn, über (aktuell) den experimentellen Methoden nicht zugänglichem im Terminus von Wahrheit zu reden: das ist schlicht der Bereich reiner Fiktion und Phantasie. Hat beides in der menschlichen Kultur seine Berechtigung, nur muss man sich eben bewusst bleiben, dass dies reine Hirngespinste sind und bleiben, solange sie der experimentellen Methode unzugänglich sind (was insbesondere für Konstrukte gilt, die von vorn herein darauf angelegt wurden, daß sie nicht empirisch invalidiert werden können).

Und tatsächlich ist der Rationalismus eine Philosophie ohne Seele: das macht seine Stärke aus. Wem das nicht passt, muss sich halt mit Hirngespinsten zufrieden geben. Das sei jedem gegönnt, nur sollte er sich nicht entblöden, von Wahrheiten zu reden.


QuoteLuis Tränker #2.10

Metaphysik und Spiritualität sind menschliche Grundbedürfnisse.

Hier liegt wohl das Problem. Über Grundbedürfnisse, woher sie kommen, wie sie sich ausbilden etc. kann man ja durchaus diskutieren. ...


QuoteSW40 #2.12

"Warum gehen Sie davon aus, dass dies auch bei anderen der Fall sein muss?"

Wir wollen Antworten auf die Frage nach dem Leben im Jenseits. Unsere eigene Sterblichkeit zwingt uns dazu, darüber nachzudenken.

Im Übrigen ist für mich der Glaube im Unterschied zum Aberglauben eine religiöse Vorstellung, die nicht falsifiziert werden kann. Der Aberglaube, zum Beispiel die Wirkung von Homöopathie, lässt sich durch Untersuchungen von Begleitgruppen widerlegen.



QuoteLuis Tränker #2.13

Wir wollen Antworten auf die Frage nach dem Leben im Jenseits.
Warum sollten "wir" das wollen? ...


QuoteKarl Josef Schleidweiler #2.14

Welcher Glaube hält denn wissenschaftlicher Überprüfung stand?
Wenn ich etwas weiß weiß ich's und glauben erübrigt sich, oder?


QuoteSW40 #2.15

Der Glaube an einen vollkommenen, ungewordenen, unveränderlichen und unvergänglichen Weltgeist (Gott) im Sinne der Definition des vorchristlichen antiken Philosophen Parmenides ist nicht gegen wissenschaftliche Erkenntnisse gerichtet. Man kann dennoch die Evolutionstheorie und den menschengemachten Klimawandel anerkennen, ohne sich von diesem Gott lossagen zu müssen.


"Warum sollten "wir" das wollen? Letztendlich genau das, was vor "unserem" Leben war."

Geben Sie zu, dass Sie sich gerne eine gute Antwort wünschen.

... Nicht das Diesseits, sondern die unendliche Herrlichkeit im Jenseits ist relevant. Gott ist das gesamte Bewusstsein der unendlichen Übersinnlichkeit. Wir Menschen nehmen durch unsere Sinne nur einen winzigen Anteil dieses Reichs der Übersinnlichkeit wahr. Immerhin haben wir dadurch eine kleine, schmale Brücke zu Gott.



QuoteLeonia Bavariensis #2.20  —  vor 1 Stunde

Sie sind nicht "Wir", sondern sprechen für sich. Ich rede jetzt mal von mir: mich interessiert es null komma null, ob es ein Leben im "Jenseits" gibt, denn ich glaube nicht daran.
Für mich ist im Übrigen auch Glaube Aberglaube. Aber bitte jeder wie er mag. Nur möge man bitte seine eigenen Bedürfnisse nicht der gesamten Menschheit unterstellen.


...

Link

Quote
caber

Es gibt so viele Religionen. Wissenschaft ist m. E. eine davon...


Quote
Darius Minor

Antwort in einfacher Sprache: Nein.


https://www.derstandard.at/story/2000132342515/tsunami-im-gehirneinsichten-in-die-neurobiologie-des-todes (7. Jänner 2022)


Link

#10
"Philosophie und Aufklärung: Die nichtmenschliche Wahrheit" Gregor Dotzauer (07.09.2022)
Auf Kants Schultern: Omri Boehm plädiert für einen radikalen Universalismus. Der Streit zwischen Universalisten und Relativisten ist wahlweise ein philosophischer Dauerbrenner oder ein alter Hut. Hundertmal ist er schon aufgeflammt und wieder ad acta gelegt worden. Gelten moralische Grundsätze für alle Menschen ohne Rücksicht auf Kulturen, Zeitalter und Traditionen, oder sind die Wahrheiten, denen sich Gesellschaften verpflichten, Produkte der jeweiligen Machtverhältnisse und Umstände? - Wer zu Ersterem neigt, muss sich schnell als Eurozentriker abstempeln lassen, unfähig, die reale Vielfalt der Welt zu erfassen. Wer zu Letzterem neigt, gilt schnell als Nihilist, der Sodom und Gomorrha Vorschub leistet, indem er alles gleichermaßen für erlaubt hält. ...
https://www.tagesspiegel.de/kultur/philosophie-und-aufklarung-die-nichtmenschliche-wahrheit-8615077.html

-

Quote[...] Identitätspolitik, so lautet der Vorwurf, den er auch in seinem nun ausgezeichneten Buch ,,Radikaler Universalismus" (Propyläen) erhebt, zerstöre, gleich ob sie von rechts oder links betrieben werde, einen Begriff von allgemeiner Wahrheit durch partikulare Loyalitäten.

[...]  Sowohl im Versuch, den mörderischen Überfall der Hamas auf israelische Kibbutzim im vergangenen Oktober zu einem Akt ,,bewaffneten Widerstands" zu erklären, wie im Versuch der israelischen Regierung, den mit Zehntausenden von Toten und einer Hungersnot verbundenen Einmarsch im Gaza-Streifen als reine ,,Selbstverteidigung" hinzustellen, sieht er eine akute Verdunklung von Öffentlichkeit – mit dem Ziel, eine nach wie vor praktizierte, in ihrer philosophisch auszuleuchtenden Gänze aber erst noch zu ergreifenden Freundschaft zu verhindern.

,,Freundschaft", sagt Boehm, ,,war immer eine Bewährungsprobe, die uns vom katastrophalen Versagen der Brüderlichkeit und dem grotesken Missbrauch abstrakter Ideen von bewaffnetem Widerstand und Selbstverteidigung schützte." In der Tradition von Mendelssohn und Lessing gelte es, diese Freundschaft auch zwischen Juden und Deutschen zu erhalten. Sie habe nur eine Zukunft, wenn es gelinge, den schwierigen und harten Wahrheiten der jüdisch-palästinensischen Freundschaft auch in der Bundesrepublik ins Gesicht zu sehen.

...


Aus: "Eröffnung der Leipziger Buchmesse: Der Philosoph Omri Boehm über den Nahostkonflikt" Gregor Dotzauer (20.03.2024)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/eroffnung-der-leipziger-buchmesse-der-philosoph-omri-boehm-uber-den-nahostkonflikt-11399534.html


Link

... Ohne Universalismus aber gebe es kein Argument gegen Rassismus, ,,sondern bloß einen Haufen einzelner Stämme, die um die Macht rangeln. Und sollte die politische Geschichte darauf hinauslaufen, dann haben wir keine Möglichkeit mehr, an einer stabilen Idee von Gerechtigkeit festzuhalten". ...

Quote[...] Als ein Gedicht von einer Hauswand entfernt, ein zeithistorischer Roman wegen Verwendung des N-Worts als Schulstoff delegitimiert und modisches Tragen von Rastalocken zum Anlass für einen Konzertabbruch genommen wurden, geschah dies jeweils im Namen einer höheren Gerechtigkeit. Vorausgegangen waren politische Interventionen gegen die arglose Fortführung des Gewohnten. Die aktivistische Energie, die die überaus erfolgreichen kulturpolitischen Eingriffe befeuerte, ging einher mit weitgehend ungeprüften Annahmen und Unterstellungen zur ästhetischen Produktion. Ein einziges Wort in Eugen Gomringers ,,Avenidas" evozierte das Unbehagen gegen sexuelle Gewalt und lastete es dem Gedicht an. Wolfgang Koeppens Roman ,,Tauben im Gras" wurde einer rassistischen Sprache bezichtigt, und von Nicht-Jamaikanern gespielter Reggae samt Präsentation zugehöriger Frisuren wurde als kulturelle Aneignung gewertet und zur Absage gedrängt.

In der öffentlichen Wahrnehmung werden Geschehnisse wie diese mal amüsiert oder empört zur Kenntnis genommen. Je nach Gemütslage können sie achselzuckend als Randnotiz gesellschaftlicher Selbstverständigung oder als weiteres Indiz für einen eskalierenden Kulturkampf aufgefasst werden. Dass der Karneval der Infragestellungen irgendwann auch über Immanuel Kant und die Aufklärung hinwegziehen würde, kam kaum überraschend. Gegen die Angriffslust einer auf Empfindsamkeit und partikulare Interessen ausgerichteten Weltsicht haben Hermeneutik, Philologie und das Wissen über geschichtliche Entwicklung einen schweren Stand.

In Ihrem Essay ,,Links ist nicht woke" ist die amerikanische Philosophin Susan Neiman, Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam, darum bemüht, die elementaren Grundlagen der Epoche der Aufklärung gegen frei flottierende Bestrebungen in Stellung zu bringen, diese im Furor einer Art ethischen Säuberung über Bord zu werfen. Eine radikal verstandene Dekolonisierung scheint gerade vor Kant nicht Halt machen zu wollen, den man einiger rassistischer Bemerkungen überführt zu haben meint.

Susan Neiman hält beherzt dagegen. Es sei inzwischen zum Credo geworden, den Universalismus ebenso wie andere Ideen der Aufklärung als Taschenspielertricks zu betrachten, mit dem die eurozentrischen und kolonialistischen Ansichten verschleiert werden sollten. Dabei seien es die Aufklärer gewesen, die die Kritik am Eurozentrismus als Erste formuliert und den Kolonialismus verurteilt haben. ,,Um das zu erkennen, muss man keine der schwierigeren Schriften der Aufklärung lesen: Eine Taschenbuchausgabe des ,Candide' genügt da vollkommen. Wer eine prägnante Schmährede gegen Fanatismus, Sklaverei, koloniale Ausplünderung und andere europäische Übel sucht, wird keine bessere finden."

Voltaire, Kant, Diderot, Rousseau – als leidenschaftliche linke Philosophin möchte Susan Neiman mit Argumenten überzeugen, und so kann man ihre engagierte Schrift mit Gewinn als Apologie der Aufklärung gegen ihre jungen Verächter lesen, wobei Neiman selbst mitunter zu schwanken scheint, ob sie die ungezogenen Kinder der Wokeness für deren Arglosigkeit zurechtweisen oder sie für die Werte und Werke sowie den Erkenntnisreichtum der Aufklärung zurückgewinnen will.

Für Letzteres sprechen Passagen wie diese: ,,Wenn postkoloniale Theoretiker von heute mit Recht darauf bestehen, dass wir die Welt auch aus dem Blickwinkel von Nichteuropäern sehen, sind sie Teil einer Tradition, die bis auf Montesquieu zurückgeht. Er machte fiktive Perser zum Sprachrohr seiner Kritik an den Sitten in Europa, die er in dieser Deutlichkeit und Härte mit seiner eigenen Stimme als Franzose nicht unbeschadet hätte äußern können." Und zur Kritik an Kant gesteht sie zu, dass dieser leider nie angesprochen habe, dass seine rassistischen Bemerkungen der eigenen späteren systematischen Theorie widersprachen. Doch es sei fatal zu vergessen, so Neiman, dass Denker wie Rousseau, Diderot und Kant die ersten waren, die den Eurozentrismus und den Kolonialismus verurteilten.

Drei aufklärerische Errungenschaften sind es, an denen Susan Neiman unbedingt festhalten möchte: das Bekenntnis zum Universalismus, die prinzipielle Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Macht und die Möglichkeit von Fortschritt. Aus diesem Grund betreibt sie einigen argumentativen Aufwand, um sich mit den in woken Gefilden überaus einflussreichen Schriften Michel Foucaults auseinanderzusetzen, der mit seinen geschichtsarchäologischen Studien früh die Axt angelegt hat an emphatische Begriffe wie Freiheit und Gerechtigkeit.

Obwohl Foucault sehr viel zum Verständnis der in modernen Gesellschaften herrschenden Machtmechanismen beigetragen habe, hält Neiman ihn für einen Reaktionär, dessen Lust an der Demaskierung womöglich einzig darin bestand, die Subversion zur Kunstform zu erheben. Wie ein nachhaltig wirksames Gift, so legt Neiman nahe, sei Foucaults Ablehnung des Universalismus und jeglicher Fortschrittsidee in die aktivistischen Kreise eingedrungen.

Ohne Universalismus aber gebe es kein Argument gegen Rassismus, ,,sondern bloß einen Haufen einzelner Stämme, die um die Macht rangeln. Und sollte die politische Geschichte darauf hinauslaufen, dann haben wir keine Möglichkeit mehr, an einer stabilen Idee von Gerechtigkeit festzuhalten". Was man ,,woke" nennt, so schließt Neiman, sei selbst von einer Reihe von Ideologien kolonisiert worden, die eigentlich ins rechte Lager gehören.

Während Neiman reichlich Energie aufwendet, um den von vielen als linke Gallionsfigur angesehenen Foucault zu exorzieren, kommen andere theoretische Referenzen der woken Bewegung wie Judith Butler oder Edward Said allenfalls am Rande vor. Wenn dies der Option geschuldet ist, eine linke Aufgeschlossenheit zur Wokeness offenzuhalten, dann dürfte es mit Thomas Piketty, den Neiman zustimmend zitiert, eine skeptische sein. Wenn man die Menschen glauben mache, dass es zu den bestehenden sozio-ökonomischen Verhältnissen und Klassenungleichheiten keine glaubwürdige Alternative gebe, so resümiert Piketty, ,,dann sei es kein Wunder, dass alle Hoffnung auf Veränderung sich auf die Feier der Grenze und der Identität verlagere. Die Party scheint trotz Neimans Intervention weiterzugehen.

Susan Neiman: Links ist nicht woke. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Berlin 2023. 168 Seiten


Aus: "Mit Kant und Diderot gegen die ,,woke" Party" Harry Nutt (21.08.2023)
Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/mit-kant-und-diderot-gegen-die-woke-party-li.368543

Link

"Wissen: scobel - Mythos Vernunft" (Datum: 23.02.2023, Produktionsland Deutschland 2023)
In Demokratien sollen Entscheidungen mit Vernunft getroffen werden. Viele Krisen und Konflikte belegen aber das Gegenteil. Warum handeln Menschen irrational? Ist die Vernunft eine Illusion?
An Aufklärung scheint es in westlichen Gesellschaften nicht zu mangeln. Noch nie waren so viele Informationen zugänglich. Wissen führt aber nicht zwangsläufig zu vernünftigen Entscheidungen, die offenbar durch andere Einflüsse begrenzt und überlistet werden.
Die Gründe für die Unzulänglichkeiten der Rationalität sind vielfältig: Es gibt beispielsweise die Trägheit und das Desinteresse von Menschen an bestimmten Themen, den Eigensinn und das Streben nach ökonomischen Verbesserungen oder die Verdrängung von Verlustängsten.
Gefühle und Emotionen beeinflussen im hohen Maß individuelle Entscheidungen und Verhaltensweisen. Unsere Denkprozesse sind über das Gehirn mit Empfindungen und Sinneswahrnehmungen gekoppelt. Dies führt dazu, dass die Wahrnehmung der Innen- und Außenwelt interpretiert wird. Hinzu kommt, dass in der Politik zudem machterhaltende und strategische Faktoren und damit Narzissmus und Egoismus eine wichtige Rolle spielen.
Mit wissenschaftlichen Erkenntnissen aus den Bereichen der Psychologie, Neurowissenschaften, Ökonomie und Philosophie lotet die Sendung die Grenzen vernünftiger Entscheidungen und Handlungen aus. Gesucht werden unter anderem Antworten auf die Fragen: Warum können Klima- und Umweltschutz nicht allein mithilfe rationaler Beschlüsse nachhaltig geregelt werden? Wieso sind Kriege mit vernünftigen Argumenten nicht zu verhindern oder zu beenden? Und welche Perspektiven gibt es für unsere Zukunft, wenn Entscheiden und Handeln stets nur mit einer mehr oder weniger stark begrenzten Rationalität möglich sind?
Immanuel Kants Idee, sich aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien, in dem man sich des eigenen Verstandes bedient, ist in einer komplexen Welt nicht einfach zu realisieren. Denn strittig sind nicht nur die universalen Werte, sondern beispielsweise auch die Kontrolle über ihre Einhaltung und der Vollzug von Sanktionen bei einer Missachtung der jeweiligen Abkommen und Übereinkünfte.
Wie können unvernünftige Menschen und Nationen zur Vernunft gebracht werden? Kann das Erkennen von Widersprüchen zur Änderung von Einstellungen beitragen? Darüber diskutiert Gert Scobel mit seinen Gästen in der Sendung "Mythos Vernunft".

Gäste
Christine Kirchhoff ist Psychologin. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte der Psychoanalyse sowie Kritische Theorie. Sie ist Professorin für Psychoanalyse, Subjekt- und Kulturtheorie an der International Psychoanalytic University Berlin.
Michael Hampe ist Philosoph und beschäftigt sich unter anderem mit der ,,Dritten Aufklärung", Erfahrungswissen und Techniken der Selbsterkenntnis. Er ist Professor für Philosophie an der ETH Zürich.
Philipp Sterzer ist Neurowissenschaftler und Psychiater. Seine Forschungsinteressen sind Wahrnehmungsprozesse, Einstellungen und Handlungen. Er ist Professur für Translationale Psychiatrie an der Universität Basel.

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