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[Kategorie:Identität (Notizen) ... ]

Started by Link, January 23, 2020, 10:54:54 AM

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QuoteinsLot, 6. Mai, 10:06

Zitat: Neulich wurden in einem Artikel Feministinnen zitiert, die mich mutig fanden, sich aber kein Urteil anmaßten, weil es sozusagen nicht ihre Kultur sei.

Ich finde, dieser Satz ist Beispielhaft für das Kernproblem der Identitätspolitik!


Kommentar zu: Aus: "Bedrohte Autorin in den Niederlanden: Zwischen allen Fronten" Ein Artikel von Tobias Müller (5.5.2021)
Quelle: https://taz.de/Bedrohte-Autorin-in-den-Niederlanden/!5765575/



Kontexte: [Das Muster vom Kampf der Kulturen... ]
https://www.subf.net/forum/index.php/topic,288.0.html

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Quote[...] Identität (von mittellateinisch identitas, Abstraktum zu lateinisch īdem ,derselbe') ist die Gesamtheit der Eigentümlichkeiten, die eine Entität, einen Gegenstand oder ein Objekt kennzeichnen und als Individuum von anderen unterscheiden. In ähnlichem Sinn wird der Begriff auch zur Charakterisierung von Personen verwendet. Dabei steht psychologisch und soziologisch im Vordergrund, welche Merkmale im Selbstverständnis von Individuen oder Gruppen als wesentlich erachtet werden. So folgt die rechtliche Identitätsfeststellung den für Inklusion und Exklusion relevanten Markern moderner bürgerlicher Gesellschaften.

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https://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4t

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Quote[...] Der Begriff Identitätspolitik (englisch identity politics) ist eine Zuschreibung für politisches Handeln, bei dem Bedürfnisse einer jeweils spezifischen Gruppe von Menschen im Mittelpunkt stehen. Angestrebt werden höhere Anerkennung der jeweiligen Gruppe, die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position und die Stärkung ihres Einflusses. Um die Mitglieder einer solchen Gruppe zu identifizieren, werden kulturelle, ethnische, soziale oder sexuelle Merkmale verwendet. Menschen, die diese Eigenschaften haben, werden zu der Gruppe gezählt und häufig als homogen betrachtet. Menschen, denen diese Eigenschaften fehlen, werden ausgeschlossen. ...


https://de.wikipedia.org/wiki/Identit%C3%A4tspolitik

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Quote[...] Christian Schüle, 48, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ,,Zeit" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman ,,Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und zuletzt die Essays ,,Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer) sowie ,,Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben" (Edition Körber-Stiftung). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Eine verhängnisvolle Idee des Politischen geistert durch den Raum und besetzt mehr und mehr Köpfe: Identität. Die explizite Identitätspolitik psychischer, kultureller, sozialer oder geschlechtlicher Bedürfnisse und Anliegen führt zu einer weitgehend fragmentierten Gesellschaft, der peu à peu die Idee des Allgemeinen, der res publica, abhanden zu kommen scheint.

Wir haben es mit einer ständigen Ausweitung gruppenspezifischer Ansprüche an den Staat und die Gesellschaft zu tun, woraus eine Zersplitterung in Parzellen und Reviere, Communities und Lobbies folgt, die ihre jeweiligen Interessen zum Maß der Dinge erheben und sich – als Opfer struktureller Benachteiligung – gegebenenfalls beleidigt, gekränkt und in ihrem Selbstwert verletzt fühlen.

Geschlechter-Präferenzen, religiöse Gefühle, nationale Abstammung und lebensweltliche Befindlichkeiten sind für sich genommen aller Ehren wert, und jede und jeder hat das unbedingte Recht, nach ihrer und seiner Fasson glücklich zu werden. Aber wenn jede soziale Gruppe ihre Bedürfnisse moralisch verabsolutiert, um – durch rhetorisches Framing – die höchst erregbare öffentliche Wahrnehmung auf sich zu lenken, führt das im Furor von Empörungs-Hysterie und Shitstorm-Schwachsinn zunehmend in eine unübersichtliche Kampfzone. Vor lauter aufwertungsbedürftigen Minderheiten lässt sich schließlich gar nicht mehr von der Mehrheit sprechen. Bald könnte es, überspitzt gesagt, eine Multigender-, Polyamorien-, Bioveganer-, Animisten- und National-Anarchistenquote für Politik und Wirtschaft geben, weil jeder im öffentlichen Raum Geltung haben will.

Letztlich geht es dabei um zahllose in sich geschlossene Schutzräume, die weder ineinander übersetzbar noch anschlussfähig sind und vor allem Homogenität fördern, die – mit ihrer Neigung zu fundamentalistischer Selbst-Offenbarung – in einer offenen Gesellschaft ja ausdrücklich verhindert werden soll.

Identitätspolitik ist per se spalterisch und verstößt in einer ohnehin von Spaltungen aller Art zerklüfteten Gemeinschaft gegen das Grundprinzip einer liberalen Demokratie: die Bewältigung von Ambivalenz durch Prozesse.

Pluralismus produziert permanent Widersprüche und Mehrdeutigkeiten – das eine gilt so wenig oder viel wie das andere. Wenn die Ausdifferenzierung der Lebensentwürfe weiter voranschreitet, wird es bald mehr als 60 kulturell codierte Geschlechter und durch zunehmende Migration weit mehr als 200 Nationalitäten auf engem Raum geben. Dann wird es permanent zu Konflikten zwischen widerstreitenden Wert- und Normvorstellungen kommen, dann wird jede gestopfte Gerechtigkeitslücke für die eine Gruppe mindestens eine neue für andere Gruppen aufreißen. Und dann wird der diffuse Begriff der Würde ständig neue Forderungen nach dem spezifischen Respekt für sich aufs neue benachteiligt fühlende Minoritäten hervorbringen.

In einer superdiversen Gesellschaft – und auf eine solche wird es hinaus laufen – wird der einzelne Bürger nicht umhin kommen, Kränkungen zu ertragen und mit Neid und Ressentiment leben zu lernen. Wem es nicht nur in wohlfeilen Sonntagsreden, sondern aus Einsicht in die Notwendigkeit um gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten sozialer Isolierung und digitaler Echokammern geht, der muss die Bewältigung der Ambivalenzen zur Kulturtechnik erklären, deren Beherrschung jeder Einzelne künftig einzuüben hat. Eine auf Dauer garantierte Ordnung der Freiheit für alle findet nur dann allseitige Zustimmung, wenn sie nicht der Durchsetzung besonderer moralischer, ethischer oder religiöser Vorstellungen und Interessen dient, sondern ausschließlich eine Ordnung der individuellen Handlungsfreiheit ist.

Ambivalenzbewältigung wird also eine neue Schule der sozialen Ethik erfordern. Man sollte schon jetzt die Lehrpläne erweitern und die besten Pädagogen suchen, sonst brauchen wir in Kürze ein Heer von Therapeuten.


Aus: "Zersplitterung der Gesellschaft Lob der Ambivalenz - Ein Standpunkt von Christian Schüle" (26.02.2019)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/zersplitterung-der-gesellschaft-lob-der-ambivalenz.1005.de.html?dram:article_id=441961


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Quote[...] Kollektive Identität (von lateinisch collectivus ,angesammelt' und identitas ,Einheit') bezeichnet in der Soziologie eine soziale Wir-Identität oder das Empfinden von Individuen, gemeinsam einer bestimmten kollektiven Einheit oder sozialen Lebensgemeinschaft anzugehören, die durch spezifische Merkmale gekennzeichnet ist und sich dadurch von anderen Kollektiven unterscheidet.


https://de.wikipedia.org/wiki/Kollektive_Identit%C3%A4t

https://de.wikipedia.org/wiki/Corporate_Identity

https://de.wikipedia.org/wiki/Spiegelstadium

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Quote[...] Kommentar von Malte Göbel (Berliner mit Kartoffelhintergrund. 1998 und seit 2010 bei der taz, zwischendurch Studium, Projekte, Jobs, Journalistenschule. Mag Intersektionalität, Science Fiction, Comics und Hertha BSC.)

Es gibt unter einigen Linken ein Unbehagen gegenüber Identität. Wenn sich gesellschaftlich benachteiligte Menschen zu Gruppen zusammenschließen und für die eigenen Rechte kämpfen, heißt es oft, der Fokus gehe weg vom Wesentlichen. Es drehe sich nicht mehr ums Gemeinwohl, sondern um Partikularinteressen, so die Kritik. Zugespitzt wird sie dann häufig so: Es bildeten sich so homogene Gruppen von Opfern, die alle anderen – die potenziellen Täter – ausschlössen.

Hier geht das Unbehagen über in eine strikte Ablehnung von identitätspolitischen Komponenten. Zuletzt formuliert hat das der Autor Matthias Lohre in der taz am Wochenende. https://taz.de/Identitaetspolitik/!5654397/

[ " ... Wer die Welt in Täter und Opfer teilt, der muss den eigenen Opferstatus eifersüchtig bewachen. Der demokratische Bewerber um die US-Präsidentschaft, Pete Buttigieg, wurde im vergangenen Dezember in einer TV-Runde gefragt, was er für African Americans zu tun gedenke. Buttigieg, weiß und schwul, antwortete: ,,Auch wenn ich nicht die Erfahrung gemacht habe, je wegen meiner Hautfarbe diskriminiert worden zu sein, habe ich doch die Erfahrung gemacht, mich manchmal wie ein Fremder in meinem eigenen Land zu fühlen." Daher fühle er die ,,Verpflichtung, jenen zu helfen, deren Rechte jeden Tag auf dem Spiel stehen, selbst wenn ihre Erfahrungen ganz andere sind als meine." Daraus machte seine schwarze demokratische Konkurrentin Kamala Harris einen Skandal: Ein weißer Schwuler maßt sich an, mit uns Schwarzen Mitgefühl zu haben! Er benutzt unser Leid für seine Zwecke! So führt Identitätspolitik nicht zu Solidarität mit und unter Minderheiten, sondern zur Opferkonkurrenz. Das Denken vermeintlicher Opfer ist paradox: Es fordert Toleranz ein, will andere aber nicht tolerieren müssen. Aus seiner Sicht ist Rosa Luxemburgs Andersdenkender, dessen Freiheit niemand einschränken darf – das Opfer selbst. Wir werden Zeuge eines epochalen Umbruchs: Das Ideal des selbstbestimmt lebenden Individuums verblasst, und an seine Stelle tritt das immerzu Aufmerksamkeit und Mitgefühl einfordernde Opfer. Dessen Selbstwertgefühl speist sich nicht aus eigenen Leistungen, Ideen oder guten Taten. Die Selbsteinschätzung der neuen Opfer bringt der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli auf den Punkt: ,,Wir sind stolz darauf, etwas erlitten zu haben. Wunden, tatsächliche genauso wie symbolische, sind der Nachweis für Glaubwürdigkeit." Indem sie sich durch Verletzungen definieren, schaffen sie sich eine schlüssige Lebenserzählung. Ich leide, also bin ich.

Noch nach dem Krieg schien diese Entwicklung undenkbar. Wer Gewalt erfahren hatte, dem wurde fast immer eine Mitschuld unterstellt. Opfer zu sein galt als Schande. Seither hat sich unsere Gesellschaft radikal individualisiert. ,,Die Sehnsucht, irgendwo dazuzugehören, gibt es aber nach wie vor", sagt Giglioli. Deshalb suchten wir nach Momenten, in denen wir uns mit anderen Menschen verbunden fühlen. So unterschiedlich wir auch sind: ,,Auf das Gefühl, Opfer dunkler Mächte zu sein, darauf können wir uns einigen. Weil es uns nichts anderes abverlangt als das Gefühl, an nichts schuld zu sein." Der Opferstatus befriedigt die Sehnsucht vereinsamter moderner Menschen nach Unschuld und Zugehörigkeit – ganz ohne die moralischen Grautöne und lästigen Pflichten, die echte Gemeinschaften ihren Mitgliedern zumuten. ..." ] [" ... Thomas Friedrich, Samstag, 20:10 - Der Grundfehler der Linksidentitären ist die Annahme, dass ein Mensch genau dann benachteiligt ist, wenn er einer von mehreren festgelegten Opfergruppen angehört (Frauen, PoC, Queer), während ein weißer heterosexueller Cis-Mann quasi definitionsgemäß nicht benachteiligt sein kann. Ich glaube hingegen, dass Menschen heute vor allem aufgrund individueller Eigenschaften benachteiligt oder bevorzugt werden und nicht aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe und Sexualität. Ein hässlicher weißer Mann mit niedrigem IQ erfährt in seinem Leben vermutlich mehr Mikro- und Makroaggressionen als eine begabte attraktive Frau mit Migrationshintergrund.]

Er beschwert sich darüber, dass auf Mikro-Aggressionen hingewiesen wird, also auf kleine alltägliche Akte, die etwa für Schwarze diskriminierend wirken, aber Weißen meist nicht auffallen. Diese Sichtbarmachung von Diskriminierung sei selbst diskriminierend, schreibt Lohre. Er versteigt sich sogar zu der These, Minderheiten würden sich zu moralisch überlegenen Opfern stilisieren.

Wenn es um alltägliche Diskriminierung von gesellschaftlichen Gruppen geht, melden sich schnell Gegenstimmen [https://taz.de/Linksliberale-und-Identitaetspolitik/!5652406/] – Männer, die auch schon einmal von einer Frau betatscht wurden, Weiße, denen auch schon mal ins Haar gefasst wurde. Es könnte zu denken geben, dass Kommentare und Texte dieser Art meist von weißen, deutschen, heterosexuellen Männern geschrieben wurden, also gesellschaftlich mehrfach privilegierten Menschen.

Doch darum soll es hier nicht gehen. Es soll nicht darum gehen, warum einige Leute so etwas denken, sondern warum diese Meinung kurzsichtig, egozentrisch und bequem ist, letztendlich unsolidarisch und reaktionär.

Denn es wird so getan, als lebten wir in einem luftleeren Raum, in dem alle Menschen die gleichen Erfahrungen haben, die gleichen Perspektiven, die gleichen Lebensbedingungen. Auch Matthias Lohre erinnert in seinem Text an die US-Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre, wo angeblich so erfolgreich das ,,gemeinsame Menschsein von Schwarzen und Weißen, Frauen und Männern" betont worden sei. Schön, oder? Wir rufen einfach: ,,Wir sind doch alle Menschen!" Diskriminierung abgeschafft, Unterschiede auch.

Das Problem ist, dass die gesellschaftliche Realität anders aussieht. Die Normen in dieser Gesellschaft sind real und auch die daraus resultierenden Machtstrukturen. Die Norm ist weiß, männlich, heterosexuell, nicht behindert. Frauen verdienen weniger als Männer. Wohnungen gehen eher an Leute, die Müller oder Schmidt heißen, nicht Özdemir oder Kutrapali. Weiße Menschen bekommen eher den Job als nichtweiße. Die Suizidrate unter queeren Jugendlichen ist immer noch vielfach höher als die unter heterosexuellen (ganz zu schweigen von trans Jugendlichen).

Wie geht man mit diesen Missständen um? Es wäre ja schön, wenn die Mehrheit der Minderheit beispringen würde. Wenn Männer für Frauen auf die Straße gingen, Weiße für Schwarze, Heten für Homos, cis Menschen für trans Menschen, nicht Behinderte für Behinderte. Tun sie das? Sehr selten.

2017 gab es in den Niederlanden nach einem Übergriff auf ein schwules Pärchen die Aktion #allemannenhandinhand, bei der Menschen gleichen Geschlechts in der Öffentlichkeit Händchen hielten – unabhängig von der sexuellen Orien­tierung. Meist sind es die gesellschaftlich diskriminierten Gruppen selbst, die auf ihre Diskriminierung aufmerksam machen müssen, weil es die anderen offenbar kaum schert, weil es sie einfach nicht betrifft.

Frauen mussten sich als Frauen zusammenschließen, um Anfang des 20. Jahrhunderts das Wahlrecht zu erkämpfen. Schwarze mussten als Schwarze auf die Straße gehen, um in den USA die gleichen Rechte zu bekommen. Lesben und Schwule mussten lange demonstrieren, bis sich die Erkenntnis durchsetzte, dass sie nicht krank sind und dass sie darüber hinaus als Paare die gleichen Rechte und Pflichten haben sollten wie gemischtgeschlechtliche Paare.

Die Beispiele zeigen: Die existierende Benachteiligung konnte nur sichtbar gemacht werden, indem eine diskriminierte Gruppe auf sich aufmerksam machte, Raum einforderte. Deswegen gibt es auch ganz konkret Frauenräume, in die Männer nicht reindürfen. Deswegen gibt es Homo-Partys, auf die keine Heteros gelassen werden.

Es wäre schön, wenn die Gesellschaft so weit wäre, dass überall alle sie selbst sein dürften. Ist sie aber leider nicht. Darauf zu reagieren ist ein Akt der Selbstverteidigung, der Selbstbehauptung, der Selbstermächtigung. Uns gibt es. Wir sind es wert, dass wir von der Norm abweichen dürfen und nicht im normierten Mainstream unter­gehen. ,,Ich leide, also bin ich", übersetzt Matthias Lohre das.

,,Der Opferstatus befriedigt die Sehnsucht vereinsamter moderner Menschen nach Unschuld und Zugehörigkeit", schreibt er weiter und verkennt vollkommen das Problem: Für ihn ist es problematisch, dass eine Person ihre Benachteiligung öffentlich macht – nicht, dass sie überhaupt benachteiligt wurde. Wäre es aber nicht angebrachter, ihr zuzuhören und dann mit ihr gemeinsam gegen diese Benachteiligung zu kämpfen?

Es scheint, als ginge es hier um eine Hierarchie der Probleme – wie 1968, als die Benachteiligung der Frau als Nebenwiderspruch galt, der mit der Überwindung des Kapitalismus als Hauptwiderspruch en passant gelöst werde. Und heute geht es nach dem Motto: Wir sind doch so gut wie angekommen in der Abschaffung von Benachteiligung, da sind die (vermeintlichen) Nuancen doch egal angesichts der wahren Probleme (wahlweise die AfD, das Windrad vor dem Haus, der Klimawandel oder die Atombombe in Nordkorea).

Es geht hier aber um etwas, das auch ,,Definitionsmacht" genannt wird. Wer den gesellschaftlichen Normen entspricht, erlebt nicht, was passiert, wen man ihnen nicht entspricht. Eine Weiße erlebt im Alltag eben nicht, was eine Schwarze im Alltag erlebt. Um das zu erfahren, muss die Weiße vor allem eines: zuhören. Und sich die eigenen Privilegien bewusst machen.

Genau das ist womöglich auch das Unbehagen, das viele Linke plagt. Es ist nicht die authentische Sorge, dass im Kampf für vermeintliche Partikularinteressen das große Ganze außer Sicht geraten könnte. Es ist die Befürchtung, dass es an der Zeit sein könnte, die eigenen Standpunkte kritisch zu hinterfragen.



Aus: "Das Unbehagen der Identitäten" (22. 1. 2020)
Quelle: https://taz.de/Minderheiten-und-Diskriminierung/!5658559/

QuoteIngo Bernable

Das Problem ist [ ] nicht, dass es Identitätspolitiken nicht bräuchte oder dass sie nicht funktionieren würden, sondern es entsteht wenn sie zum primären Aktionsfeld linker Politik werden weil es dann nur noch darum geht den Kapitalismus für alle gleichermaßen (un)erträglich zu gestalten und nicht mehr darum ihn zu überwinden.

Lesenswert dazu: Jacques Rancière: Das Unvernehmen (1995)


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Quote[...] An einem späten Abend im Februar wird Lale Gül klar, dass sie das alles unterschätzt hat. Zwei Tage ist es erst her, dass ihr Buch ,,Ik ga leven" veröffentlicht wurde. Nun ist sie auf dem Heimweg von ihrer ersten Talkshow, und ihr Telefon steht nicht mehr still. 20-, 30-, 40-mal klingelt es. Die Anrufer, Verwandte oder Bekannte, empören sich, dass sie soeben forderte, in den Moscheen des Landes solle auf ­Niederländisch gepredigt werden. Und dann äußerte sie sich auch noch abschätzig über Koranschulen!

Was Gül nicht weiß: Dies war nur der Anfang. Als die 23-Jährige Studentin der niederländischen Literatur, geboren und aufgewachsen als Tochter anatolischer Gastarbeiter in Amsterdam, die Wohnung der Familie betritt, sitzt dort die halbe Nachbarschaft im Wohnzimmer. Alle zugleich fallen über sie her, die Vorwürfe fliegen ihr um die Ohren: ,,Wir Muslime haben es schon schwer genug!" – ,,Schämst du dich nicht? " – ,,Wie kannst du nur so ein Buch schreiben? Das sorgt für Hass und Rassismus!"

Das Erste, was auffällt, wenn Lale Gül über all das spricht, ist, wie abgeklärt sie dabei klingt. Dabei hat ,,Ich werde leben", so der Titel ihres Debüts auf Deutsch, ihr Leben gelinde gesagt auf den Kopf gestellt. Sie ist untergetaucht, wohnt an einem unbekannten Ort, Treffen mit Journalisten sind nur im Geheimen möglich. Eben stieg sie aus dem Taxi, auf das sie derzeit angewiesen ist, aus Sicherheitsgründen. Oft wird sie von jemandem aus ihrem Verlag begleitet. Wenn sie ihr Buch, das seit elf Wochen auf der Bestsellerliste steht, irgendwo signiert, geschieht das immer unangekündigt.

Lale Gül ist eine elegante Erscheinung. Das lange Haar trägt sie offen, dunkle Bluse und Hose, viel Schmuck. Sie hat einen langen Weg hinter sich, der in der Kolenkitbuurt begann. Dieses Viertel ganz im Westen Amsterdams, jenseits der Stadtautobahn, war vor Jahren als schlechtestes des Landes verrufen. Hier wurde sie als Kind täglich mit einem Euro zum Supermarkt geschickt, um diesen je zur Hälfte in Weißbrot und Frischkäse zu investieren, ihr Standardfrühstück und -mittagessen. In der Stadtteilbibliothek fand sie die Inspiration, weiter zu denken, über die graubraunen Wohnblocks mit beengten Behausungen hinaus. Die Bücher erschlossen ihr eine andere Welt.

Zu Beginn des Treffens ist sie sachlich und abwartend. Ihre Stimme klingt warm, sie wirkt ruhig und gefasst. Die eigene Situation beschreibt sie mit analytischer Schärfe: Sicherer fühlt sie sich, jetzt, da niemand sie zu finden weiß. ,,Ich habe mehr Ruhe in meinem Kopf." Andererseits: Sie vermisst ihren Bruder und die kleine, achtjährige Schwester, die sie über alles liebt und für die sie sich verantwortlich fühlt. Aber: ,,Ich musste weg von zu Hause. Ich konnte so nicht weiterleben." Die Stadt hilft ihren zwischenzeitlichen Unterschlupf zu bezahlen.

Es war irgendwann im März, als sie untertauchte, nach Dutzenden islamistischen Morddrohungen, die sie über Social-Media-Kanäle erhielt. Von jeder einzelnen hat sie Screenshots gemacht. ,,Schau hier", sagt sie und zeigt die Beweisstücke des Shitstorms an Militanz, der über sie hereinbrach, auf dem Bildschirm ihres Telefons. Ein Gruselkabinett erscheint, das sie präsentiert, ohne eine Miene zu verziehen: ,,Fotos von Waffen. Eine Pistole. Ein Maschinengewehr. Ein Video mit einem IS-Lied." Hat sie Anzeige erstattet? ,,Selbstverständlich. Jede Woche."

Was Lale Gül all diesen Hass eingebrockt hat, ist ihre mehr als 300-seitige Abrechnung mit dem stockkonservativen, türkisch-nationalistischen Milieu, in dem sie aufgewachsen ist. Sie empfindet es als ein Korsett aus erstickender Moral, in dem Musik und figurbetonte Kleidung verboten sind, doch das Kopftuch ab der ersten Periode obligatorisch ist. Ausgehen, flirten, Beziehungen gar werden ihr als junger Frau untersagt, selbst Freundschaften mit Jungs. Zwölf Jahre lang steht jedes Wochenende Indoktrinierung in der Millî-Görüş-Koranschule an, dazukommt die tägliche türkische Fernsehpropaganda aus der Satellitenschüssel.

Aus Sicht der Protagonistin Büsra geschrieben, ist ,,Ik ga leven" auch die Chronik einer jugendlichen Dissidenz bis hin zum Abfall vom Glauben. Schon früh lehnt sie sich gegen das strikte Regime der ultrareligiösen Mutter auf. Sie verschlingt Bücher in einem Haushalt, in dem außer dem Koran nichts gelesen wird. Drei Jahre lang hat sie eine geheime Beziehung zu einem Nichtmuslim in Den Haag, und die Beschreibung ihres sexuellen Erwachens ist so euphorisch, wie der Drang zum Ausbruch aus dem Tugenddiktat tief sitzt.

Die Essenz des Buchs, das die Niederlande seit Monaten in Atem hält, über das in allen Medien berichtet und in Freundeskreisen diskutiert wird, ist die eines individuellen Lebensentwurfs, der sich mit Verve gegen ein autoritäres Kollektiv richtet: ,,Kind Gottes, Dienstmädchen, konformistisches Mitglied des Gemeinwesens, keusche Ehefrau eines koranfesten Gatten. Ich bekomme Flecken im Gesicht, wenn ich daran denke." Mit diesen Worten verweigert die Protagonistin den ihr zugedachten Platz. Sie legt ihr Kopftuch ab und entzieht sich allen Versuchen einer arrangierten Hochzeit.

Gründlich seziert sie dabei immer wieder ihre Umgebung, erklärt die eigene Gedanken- und Gefühlswelt, die Frustrationen, die Wünsche, die Schlussfolgerungen. Vielfach springt sie zwischen autobiografischem Roman und Essay hin und her, und natürlich ist das Ganze auch ein Manifest im Namen von Aufklärung und individueller Freiheit. ,,Ich dachte", sagt Lale Gül, ,,dass man gar nicht anders könnte, als mich zu verstehen, wenn ich das alles so gründlich es geht erkläre. Aber da war ich wohl etwas naiv."

Rückblickend muss sie fast lachen darüber, wie unvorbereitet sie auf diesen Sturm war. Je mehr sie ins Plaudern gerät, desto mehr vermitteln kleine Details einen Eindruck vom Entstehungsprozess dieses Buchs. Etwa, dass sie den Eltern erst nichts davon erzählte, bis der Vater unvermittelt den Karton mit den Autorin-Exemplaren in Empfang nahm. ,,Hast du ein Buch geschrieben?", fragte er verdutzt, als er ihr Foto auf dem Umschlag sah. ,,Ach, nur eine Liebesgeschichte", so ihre lakonische Antwort. ,,Ich dachte, ein paar Interessierte würden es lesen, Freundinnen, Bekannte. Und dass sich einige in der gleichen Lage darin wiederfinden."

Womit sie nicht rechnete, war das Medieninteresse und die Dynamik, die daraus folgte. Ihr Alltag wird zum Spießrutenlauf: Empörte Nachbarn klingeln, es hagelt aggressive Anrufe von Verwandten aus der Türkei, auf der Straße wird sie beschimpft und bespuckt. Dazu kommen die Morddrohungen. Eine Zeit lang traut sich die Debütantin kaum noch aus dem Haus.

,,Mein Vater ist der Briefträger im Viertel. Jeder dort weiß, wo ich wohne." Auch aus den Medien zieht sie sich in dieser Zeit zurück. Sie erwägt, die gerade erst begonnene literarische Karriere gleich wieder zu beenden. Später beschließt sie, nicht mehr über den Islam zu schreiben, weil das Leben ihr zu lieb ist.

Auch das Verhältnis zu den Eltern ist nun zum Bersten gespannt. Sie sorgen sich um sie und sind zugleich wütend und verletzt. Der Vater wird überall auf seine vermeintlich ehrlose Tochter angesprochen, bis ihm permanent die Hände zittern. Die Mutter, schon länger depressiv, droht mit Selbstmord und sagt ihrer Tochter, sie hätte lieber einen Stein geboren. Wer sich wundert, wie die Frau mit 23 Jahren in dieser Situation so ruhig wirkt, findet hier einen Hinweis. ,,Irgendwann schaltest du deine Emotionen aus", sagt Lale Gül.

Anfang März gibt sie in der Tageszeitung Trouw ein bemerkenswertes Interview. ,,Die Niederlande sind ein individualistisches Land. Im Rest der Welt ist es ziemlich normal, dass du deine Familie behalten willst", sagt sie dort. Und dass es sie nicht glücklich machen würde, mit ihr zu brechen. Sie berichtet von Abenden auf dem Sofa, mit Tee und türkischen Seifenopern im Fernsehen. ,,Dann geht es nicht um ideologische Unterschiede, sondern wir sind eine gesellige Familie, und das finde ich auch wieder schön."

In einer Situation freilich, die derart unter Spannung steht, wird der Raum für solche Zwischentöne mehr als knapp. Im Nachhinein sieht sie die Sache so: ,,Deine Familie ist eigentlich dein safe house, wo du immer hinkannst, wenn es dir nicht gut geht. Eine Beziehung kann enden, Freundschaften können sich verlieren. Darum wollte ich den Kontakt nicht abbrechen. Meine Eltern sind keine schlechten Menschen, nur sehr konservativ. Aber ihre Liebe ist eben nicht bedingungslos. Irgendwann hätte ich mein Glück ihrem opfern müssen."

Dass niemand anderes als der rechtspopulistische Politiker Geert Wilders indirekt den endgültigen Bruch auslöste, ist bezeichnend dafür, wie tief Lale Gül zwischen die Fronten einer chronisch überhitzten Debatte geraten ist. Bei der letzten Fernsehdebatte vor den Parlamentswahlen Mitte März lobt Wilders ,,diese tapfere türkische Frau, die den Islam verlassen hat und nun bedroht wird. Das ist der Beweis, dass der türkische Islam sich in den Niederlanden nicht integriert". Lale Gül erklärt später in niederländischen Zeitungen: ,,Die Hölle brach los, als ich von Geert Wilders gepriesen wurde. Das war der Tropfen, der das Fass überlaufen ließ."

Obwohl der Wahlkampf von der Coronakrise dominiert wird und das Thema Identität keine große Rolle spielt, bekommt die Debatte um ihr Buch in dieser Zeit zusätzliche Brisanz. Zeki Baran, Vorsitzender des ,,Mitbestimmungsorgans der Türken in den Niederlanden" und Mitglied der sozialdemokratischen Arbeitspartei, nennt es ,,Hetzerei" und wittert eine Verschwörung: Absichtlich sei es kurz vor den Wahlen veröffentlicht worden, um die politische Rechte zu stärken.

Die Partei DENK wiederum, besonders stark im Milieu der ,,Nederturken", plaziert eine Anzeige auf der Website einer türkischen Zeitung, wonach sie gegen ,,Feinde des Islams" vorgehen werde – just über einem Artikel, der Lale Gül als eben solche bezeichnet. Ein Parteisprecher macht dafür einen Algorithmus verantwortlich. Der DENK-Vorsitzende im Amsterdamer Stadtrat, Numan Yılmaz, kritisiert kurz darauf die Bedrohungen gegen die Schriftstellerin, wirft ihr aber zugleich vor, sie sei islamophob und verfolge eine PR-Kampagne.

Freilich hat sich Lale Gül in ihrem Buch auf eine Art exponiert, wie es innerhalb der türkischstämmigen Communitys selten geschieht: Als ihr der Vater durchaus aufdringlich dazu rät, den DENK-Gründer Tunahan Kuzu zu wählen – ,,der Einzige im Parlament, der an unsere Interessen denkt" –, lässt sie ihn abblitzen: ,,Er steht für identitäre Bubble-Interessen." Der Vater nennt sie daraufhin eine ,,Nestbeschmutzerin, die sich als Maskottchen der rassistischen Niederlande hergibt". Die Tochter sieht in dieser Rhetorik freilich einen Hinweis darauf, wie ähnlich sich die migrantische DENK und die Rechtspopulisten in ihrem Fokus an die vermeintlich eigene Bevölkerungsgruppe sind.

Eigentlich kann sie schon mit diesen Kategorien rein gar nichts anfangen, weil sie ihre Identität ganz anders definiert. Türkisch, niederländisch, amsterdamerisch: Sie ist all das – und vor allem Letzteres. Man hört ihr das an. Und es klingt auch im Buch durch, das sich nicht nur ab und zu in akademischen Diskursen über Gruppenidentität oder Integration ergeht, sondern auch den Straßenslang der Hauptstadt geradezu kultiviert. Es sind die beiden Welten der Grenzgängerin Lale Gül, die im Gespräch berichtet, dass just der raue Amsterdamer Einschlag von Lesern anderswo im Land oft als zu grob empfunden werde.

Offensiv ist das Werk auch in einem übertragenen, symbolischen Sinn: Von Beginn an kann man ihr dabei zusehen, wie sie ihr eigenes geistig-kulturelles Terrain absteckt, das weit über den Horizont eines Migrantenkinds aus der Kolenkitbuurt herausgeht. Einem Nietzsche-Zitat folgen gleich fünf von Eduard Douwes Dekker, der unter seinem Pseudonym Multatuli zum Klassiker der niederländischen Literatur wurde. Und kann es für eine Schriftstellerin wie sie eine deutlichere Standortbestimmung geben, als der Leserschaft gleich im ersten Absatz einen ,,Cruijff'schen Ratschlag" zu erteilen? Was Lale Gül mit Johan ­Cruijff, dem begnadeten Amsterdamer Fußballspieler der 1970er und 1980er Jahre, verbindet, ist dieser Lokalkolorit, der nach armem Viertel riecht.

Ähnlich selbstbewusst markiert Lale Gül ihre gesellschaftliche Position: ,,Ich identifiziere mich mit säkularen Türken, aber nicht mit religiösen, und genauso wenig habe ich was mit religiösen Niederländern am Hut", erklärt sie. Ihr Buch, das sich nicht selten wie sarkastische ethnografische Erkundungen liest und dabei durchaus Humor beweist, spiegelt dies wider: Da vergleicht sie die orthodoxen Muslime mit dem niederländischen Städtchen Staphorst im fundamentalistisch-calvinistischen bible belt und nennt ihr Umfeld in Amsterdam-West ,,eine Art orientalische SGP". Letztere ist die Partei der Hardcore-Calvinisten, die erst im Jahre 2013 Frauen auf ihren Wahllisten zuließ.

Was Lale Gül schwer gegen den Strich geht, ist der kulturelle Relativismus manch Progressiver im Land. ,,Sie denken, die islamische Kultur besteht aus schönen Kopftüchern und der Geselligkeit des Ramadans." Vergessen werde dabei, dass sich Schwule in solchen Communitys nicht outen können und man Frauen, die über ihr Leben selbst bestimmen wollen, als ,,Huren" bezeichnet. ,,Neulich wurden in einem Artikel Feministinnen zitiert, die mich mutig fanden, sich aber kein Urteil anmaßten, weil es sozusagen nicht ihre Kultur sei."

Es gibt einen Aspekt, der diese Frau aus den gängigen Mustern und Gesetzmäßigkeiten des niederländischen Diskurses hervorhebt. Mehrfach kam es vor, dass IslamkritikerInnen oder Abfällige wie durch magnetische Kräfte von rechten Parteien angezogen wurden. Lale Gül scheint für diese Dynamik nicht empfänglich. Was vielleicht damit zu tun hat, dass der Vater ihres Exgeliebten Geert Wilders' PVV nicht nur wählt, sondern auch mit Spenden unterstützt. Und ausgerechnet zu diesem Vater, der sie am Anfang wegen des Kopftuchs, das sie damals noch trug, kritisch beäugte, baute sie eine besonders herzliche Beziehung auf.

Der Rahmen dieser Beziehung spiegelt den asymmetrischen Frontverlauf der ganzen Debatte. Auf den Straßen Den Haags schlägt dem jungen Paar immer wieder unverhohlen Rassismus entgegen. Doch ausgerechnet der väterliche Wilders-Wähler bietet ihnen irgendwann an, sie zu verteidigen – körperlich, versteht sich. An seinen politischen Vorlieben indes ändert das nichts. Und während er die Freundin seines Sohns fest in sein Herz geschlossen hat, darf seine Tochter auf gar keinen Fall mit einem muslimischen Jungen nach Hause kommen. Eine Logik, die Lale Gül von ihrer eigenen Familie in Amsterdam seltsam bekannt vorkommt.

Nun, da sie diese, ihre eigene Familie hinter sich gelassen hat, liegt vor ihr ein neues Leben mit Freiheiten, die sie zuvor niemals besaß. Vorerst aber kann Lale Gül davon wenig genießen. Sie lebt weiter im Versteck, auch wenn die Bedrohungen nach zwei Festnahmen inzwischen abgenommen haben. Während die Niederlande langsam die ersten Coronabeschränkungen aufheben, dauert Lale Güls Lockdown an. Wenn in diesen Tagen an ihrer Universität die Vorlesungen wieder beginnen, ist ihr bei diesem Gedanken mulmig zumute. Sie fragt sich, wie sie dort überhaupt hinkommen soll.


Aus: "Bedrohte Autorin in den Niederlanden: Zwischen allen Fronten" Ein Artikel von Tobias Müller (5.5.2021)
Quelle: https://taz.de/Bedrohte-Autorin-in-den-Niederlanden/!5765575/

QuoteKatholischer Atheist
5. Mai, 17:53

Na, da bin ich ja mal gespannt auf die Kommentare ...


QuoteVolker Scheunert
6. Mai, 11:14

Was mich - selbst Vater einer Tochter - erschuettert, ist Folgendes:

"Aber ihre Liebe ist eben nicht bedingungslos. Irgendwann hatte ich mein Glueck ihrem opfern muessen." Was geht in den Koepfen solcher Eltern ab? Es gibt bestimmt auch heute noch "bio-"deutsche oder -niederländische Eltern, die ihren Toechtern sagen: "Mit einem Auslaender brauchst Du Dich bei uns nicht mehr blicken zu lassen." Dieser Wahn aber, als kleine, aber im Selbstverstaendnis einzige nach Gottes Willen lebende, Gemeinschaft in einer zutiefst gottlosen und rassistischen Umgebung, von jedem Mitglied, besonders den weiblichen, absolute Loyalitaet zu fordern, hat etwas zutiefst Paranoides. Das laesst sich auch bei manchen christlichen Gruppierungen, bei rechtsradikalen Sekten, und, zumindest frueher, durchaus auch bei lesbischen Separatistinnen beobachten. Abweichler:innen, Ketzer:innen, Individualist:innen, Aussteiger:innen und "Verraeter:innen" können da froh sein, wenn man sie ohne allzuviel Psychoterror oder gar Morddrohungen ziehen laesst. Ich wünsche Lale Guel weiterhin viel Kraft und jede Menge gute "Wahlverwandtschaft" (nicht Geert Wilders!), auf dass sie ihren eigenen Weg weitergehen kann. Wer weiss, vielleicht kommt auch ihre Familie irgendwann zur Besinnung, und sieht ein, dass ihre freiheitsliebende Tochter ihre Liebe und Loyalitaet verdient, und nicht ihre konformistische Gemeinschaft.


QuoteSonntagssegler
Montag, 14:07

@Volker Scheunert Unsereins muss sich natürlich mit schlecht fundierten Analysen über einem ferne Communities zurückhalten.

Mir ist allerdings in dem Artikel die extrem konservative Mutter aufgefallen. Ich erinnere mich, das dieses Verhalten bei Frauen in Migrantengruppen oft darauf zurückzuführen ist, dass Frauen bei der Integration in die "neue" Welt" extrem benachteiligt sind und sich außerhalb der Familie keine respektvolle Position erarbeiten können.

Daher reduzieren sie ihre Position auf Kompetenzen, die sie aus ihrer alten Heimat mitnehmen konnten, also Familie und Tradition.

Mit zunehmender Bildung der Mädchen/Frauen zerfällt das Muster.

Im Übrigen scheinen ja auch diese Leute in dem Viertel ziemlich krass zu sein. Unsere türkischen Nachbarn wären entsetzt.


QuoteWaldo Montag, 13:59

Starke Frau ....


QuoteSonntagssegler Montag, 13:58

Selten wird ein Mensch bei der taz so uneingeschränkt angehimmelt. Hat es etwa den Autor beim Schreiben erwischt - und womöglich mich beim Lesen mitgerissen?


QuoteJohnBowie
gestern, 20:52

@Sonntagssegler Sehr frustrierend finde ich, dass sich wohl in den letzten 40 Jahren sehr wenig getan hat.

Ich hatte mit zarten 14 Jahren eine türkische Freundin und wurde freundlich von jungen Türken, die irgendwie von unserer realtiv heimlichen Beziehung erfahren hatten, mit gut gemeinten, freundlichen Worten bedroht.

Uns blieb keine Wahl.

Wenige Jahre später reagierte eine junge Frau mit Kopftuch beim Einkauf im Supermarkt auf mich. Ihr Mann, der ihr vorausging, bemerkte etwas und wurde argwöhnisch. Wir gingen schnell und unauffällig weiter.

Niemand sonst nahm Notiz.


QuoteinsLot
6. Mai, 10:06

Zitat: Neulich wurden in einem Artikel Feministinnen zitiert, die mich mutig fanden, sich aber kein Urteil anmaßten, weil es sozusagen nicht ihre Kultur sei.

Ich finde, dieser Satz ist Beispielhaft für das Kernproblem der Identitätspolitik! Ansonsten sehr interessanter Artikel.


QuoteMarco Moreno
6. Mai, 07:33

Danke Tobias Müller für diesen Artikel. Er macht mir einmal mehr deutlich, wie sehr es darum geht den anderes Denkenden auszuhalten, einmal in den multiethischen Gegenden. Rassistische Pöbeleien durfte ich von Biodeutschen und Niederländern ebenso erfahren, wie religiös motivierte Verurteilungen, vollkommen unabhängig davon, welchem Gott gehuldigt wird. Hier wie dort darf, in erster Linie Mann, ein Nazi, oder irgendein Fundamentalist sein, der permanent damit beschäftigt ist, mich, oder mein Liebsten, in unserer/ meiner Freiheit und Würde herabzusetzen. Ich bin so müde dieser Anfeindungen, dieser geistigen Enge, Kleinherzigkeit und Ignoranz, dass ich mich frage wie lange ich noch bereit bin, die anderen zu ertragen. Nochmals danke für den Artikel und ja, auf das auf die Lale gut aufgepasst wird.


Quotehessebub
5. Mai, 22:38

Aufklärung all over again. Man sollte Frau Gül mit Lessing-Preisen und Schiller-Medaillen überhäufen.


QuoteDr. McSchreck
5. Mai, 21:57

Klasse Artikel, der gerade gegen Ende die typischen Gut-Böse-Schemata komplett hinter sich lässt. Ein bisschen wie ein alter Bruce-Springsteen-Song....


QuoteKarl Kraus
5. Mai, 21:20

Warum sind eigentlich so viele Leute so wahnsinnig bescheuert?


QuoteLowandorder
6. Mai, 08:44

@Karl Kraus Eine gute eine Frage. Erschütternd das Ganze.



Link

Quote[...] Identitätspolitik gründet auf dem eigentlich noblen Gedanken, die gesellschaftliche Position und den Einfluss historisch benachteiligter Gruppen zu verbessern, ob Frauen, Einwanderer, Homosexuelle oder People of Color. Identitätspolitik ist die Forderung nach gleicher gesellschaftlicher Teilhabe für alle Gruppen und äußert sich beispielsweise im Ruf nach Frauenquoten, gendergerechter Sprache oder im Engagement gegen Alltagsrassismus.

Das Problem liegt im fast ausschließlichen Fokus auf tatsächlich oder vermeintlich oder benachteiligte Gruppen. Dieses Gruppendenken, das teilweise schon ins Tribale umschlägt, wie im Falle der niederländischen Übersetzung der afroamerikanischen Dichterin Amanda Gorman, als einer weißen Übersetzerin aufgrund fehlender "Erfahrungswelt" die Fähigkeit und Berechtigung abgesprochen wurde, ein Gorman-Gedicht ins Niederländische zu übertragen, zieht zwischen mutmaßlich Privilegierten und Benachteiligten klare Grenzen.

Das ausschlaggebende Kriterium, ob jemand benachteiligt ist und daher besondere politische Vertretung braucht, war für Linke traditionell der sozioökonomische Status einer Person, der sich aus verschiedenen Faktoren, wie formalen Bildungsabschlüssen, Beruf und Einkommen, kultureller Praxis, Möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Teilhabe, Wohnort und Eigentumsverhältnissen ergibt. In der Identitätspolitik sind die Trennlinien aber klarer, das vordergründige Kriterium für Benachteiligung ist hier die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, die sich meistens schnell an äußerlichen Merkmalen erkennen lässt.

Das erleichtert die Einordnung einer viel zu komplexen Welt ungemein: Privilegiert, wenn nicht sogar Ausbeuter und Unterdrücker, sind automatisch weiße heterosexuelle Männer, benachteiligt sind dagegen unter anderem Frauen, Afroamerikaner, Migranten, LGBT-Personen und alle intersektionalen Gruppen, die sich daraus ergeben können. Identitätspolitik perpetuiert auf diese Weise die gefährliche Illusion, Unterdrücker und Unterdrückte anhand äußerlicher Merkmale schnell und unkompliziert erkennen zu können - eine "linke" Wahnvorstellung, die mit der Eliminierung von Brillenträgern unter Pol Pot einst ihren traurigen Höhepunkt erreicht hat. ...


Aus: "Identitätspolitik: Woke und weltfremd" Teseo La Marca (31. Mai 2021)
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Identitaetspolitik-Woke-und-weltfremd-6057488.html?seite=all

-

Quote[...] Europäische Gesellschaften sind laut einer Studie identitätspolitisch in zwei verfestigte Lager gespalten. "Wir sehen zwei ausgeprägte Gruppen mit entgegengesetzten Positionen, die wir 'Verteidiger' und 'Entdecker' nennen", erklärte der Psychologe Mitja Back in Münster. Die ersten Auswertungen deuteten hin auf eine "Konfliktlinie zwischen den beiden Gruppen, die fast spiegelbildliche Meinungen zeigen".

Ihnen gehöre ein erheblicher Teil der Bevölkerung – zusammen ein Drittel – an, heißt es in der Umfrage. In den beiden Blöcken seien Einstellungen zu nationaler Zugehörigkeit, Demokratie und Vertrauen in die Politik komplett entgegengesetzt. Auch beim Gefühl einer Bedrohung durch Migranten und Musliminnen oder einer gefühlten eigenen Benachteiligung zeige sich eine starke Polarisierung.

[ ...

"Identitätspolitik: Ok, soll das jetzt so bleiben?"  Nele Pollatschek (22. April 2021)
... Ich bin für identitätspolitischen Universalismus, macht ihr mit? ...
https://www.zeit.de/kultur/2021-04/identitaetspolitik-diskriminierung-universalismus-liberalismus-kritik-essay

...]

Die Analyse sieht eine Spaltung der Gesellschaft und einen grundlegenden Konflikt um die Identität. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zählen in Deutschland demnach 20 Prozent der Bevölkerung zu den "Verteidigern" und bemessen den Anteil der "Entdecker" mit 14 Prozent. Rund die Hälfte der "Verteidiger" gab etwa an, sich durch Muslime und Geflüchtete bedroht zu fühlen. 60 Prozent sprachen sich für ein enges Konzept von ethnisch-religiöser Zugehörigkeit aus. Globalisierungseffekte wie Migration, Finanzkrisen, die Klimakrise oder die Pandemie verstärken den Konflikt nach Einschätzung der Autorinnen und Autoren. 

In einem "semi-autoritär geführten Land wie Polen" lägen die zwei Gruppen zusammen sogar bei 72 Prozent. Dies zeige, dass sich polarisierte Positionen zu Mehrheiten ausweiten können, sagte Psychologe Back. 

Der Politik empfehlen die Forschenden, sich nicht auf eine Seite der polarisierten Positionen zu schlagen. Weder in liberalen Demokratien noch in autoritär geführten Ländern habe das zur Lösung des Konflikt beigetragen, da sich immer mindestens eine Gruppe ausgegrenzt fühle. Die teils weit auseinander liegenden Forderungen beider Gruppen müssten stattdessen auf ihren funktionalen Kern zurückgeführt werden. "So lässt sich herausfiltern, welche Positionen für jede Gruppe nicht aufgebbar sind, und welche verhandelbar. Nur so lässt sich eine Grundlage für Kompromisse finden, die derzeit noch unmöglich erscheinen, sowie Raum für einen Dialog ohne Abwertung."

Die internationale Bevölkerungsumfrage war auch in Frankreich, Schweden und Polen durchgeführt worden. Insgesamt rund 5.000 Menschen hatte das Marktforschungsunternehmen Kantar Ende 2020 befragt. Die Aussagen der Studie gelten den Autoren zufolge in vielen Bereichen ganz ähnlich auch für Frankreich und Schweden.

Die Forschungsergebnisse stammen von einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Exzellenzclusters "Religion und Politik" an der Universität Münster. Unter ihnen ist auch der Soziologe Detlef Pollack.

...


Aus: "Umfrage: Studie sieht Europa in zwei identitätspolitische Lager gespalten" (17. Juni 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-06/umfrage-spaltung-gesellschaft-demokratie-politik-migration-polarisierung

17.06.2021: ,,Erstmals empirischer Nachweis für identitätspolitische Spaltung"
Viola van Melis Zentrum für Wissenschaftskommunikation
Exzellenzcluster ,,Religion und Politik" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
https://idw-online.de/de/news770915


Link

Quote[...] Adrian Daub ist J.E. Wallace Sterling Professor in the Humanities an der Universität Stanford (Kalifornien), wo er das Clayman Institute for Gender Research leitet. Zuletzt auf Deutsch erschienen sind ,,Was das Valley denken nennt" (Edition Suhrkamp, 2020) und ,,Cancel Culture Transfer: Wie eine moralische Panik die Welt erobert" (Edition Suhrkamp, 2022). ...

... Der Verdacht drängt sich auf, dass die Sorge um Identitätspolitik nie wirklich die Schiene der 1980er Jahre verlassen hat: Sie ist ein probates Sprachspiel, vermittels dessen sich eine kulturkonservative Kehre vollziehen lässt, ohne dass der Kritiker sein Selbstverständnis als Linker aufgeben müsste. Aber mehr noch, man wird das Gefühl nicht los, dass dieses ritualisierte Schimpfen auf Identität seinerseits als identitätsstiftend empfunden wird.

Der Soziologe Joshua Paul hat dies 2018 als ,,Anti-Identitäts-Identitätspolitik" bezeichnet: diese ,,geht von einer universellen Identität aus und lehnt die Anerkennung von partikularer Erfahrung entlang gesellschaftlicher Bruchlinien ab." Paul macht dies vor allem am Hashtag #AllLivesMatter fest, der 2020 als Totschlagentgegnung auf Black Lives Matter zirkulierte. Aber in gewisser Weise besteht diese Subjektposition spätestens seit den 1980er Jahren: eine, die jegliche partikulare Selbstbeschreibung entrüstet von sich weist, die ihre eigenen Interessen eigentlich immer als die ,,der Gesellschaft" beschreibt. ,,Es handelt sich um eine Identitätspolitik," so Paul, ,,aber ohne ,Gruppen'-Ansprüche." Was Paul nicht sagt: Was wäre identitärer, als sich unter der Hand zum universellen Subjekt zu deklarieren?


Aus: "Worüber wir reden, wenn wir ,,Identitätspolitik" sagen (und worüber nicht)"  (26. April 2023)
Quelle: https://geschichtedergegenwart.ch/worueber-wir-reden-wenn-wir-identitaetspolitik-sagen-und-worueber-nicht/

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Quote[...] ... das Dilemma von Gleichheit und Identität wirft Fragen auf ...

... Der Streit um Gleichheit und kulturelle Identität signalisiert [ ] tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen, die alle angehen und die nicht erst gestern begonnen haben. Die alten Industriegesellschaften haben sich aufgelöst, und damit auch die hergebrachte Arbeiterkultur und Arbeiterpolitik. Zum neuen Dienstleistungsproletariat der Paketzusteller und Friseurinnen aber hat die Linke kaum einen Zugang gefunden; sie fremdelt mit ihnen wie die SPD mit den Landarbeitern im Kaiserreich. 1970 war die SPD stolz, auch Professoren, Lehrern und Sozialpädagogen (überwiegend Männern) das Mitgliedsbuch einer Arbeiterpartei zu überreichen. Irgendwann stellte man fest, dass diese Berufsgruppen zunehmend unter sich waren. Die Verbürgerlichung, die Akademisierung linker Politik und Parteien hat wiederum dem Rechtspopulismus soziales Terrain überlassen. ...


... Die Linke hat sich von der Fortschrittserwartung verabschiedet; an die Stelle von Zuversicht im festen Blick auf eine bessere Gesellschaft der Zukunft sind Zweifel, Angst und ein neues Schuldbewusstsein getreten, aus dem sich Moralpolitik und manchmal auch "political correctness" speisen. Der "Westen" steht dabei nicht mehr für Aufklärung und universelle Gleichheit, sondern in der Sicht vieler Linker für alles Üble in der Welt, von Kolonialismus und Rassismus bis zur Umweltzerstörung. Es ist schwer geworden, dieser Position aus linker Warte zu widersprechen, wie das der sozialdemokratische Historiker Heinrich August Winkler beharrlich versucht.

...


Aus: " Identität statt Gleichheit? Das Dilemma der politischen Linken" Paul Nolte (21.01.2023)
Quelle: https://www.ndr.de/kultur/Identitaet-statt-Gleichheit-Das-Dilemma-der-politischen-Linken,linke854.html

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Quote[...] New York. Der Kurznachrichtendienst X blockiert derzeit Suchanfragen nach der US-amerikanischen Popikone Taylor Swift. Trolle hatten den Kurznachrichtendienst X mit gefälschten pornografischen Aufnahmen der US-amerikanischen Popsängerin Taylor Swift überflutet. Laut einem Bericht der ,,New York Times" wurde ein auf X geteiltes Bild von Swift 47 Millionen Mal angesehen, bevor das Konto gesperrt wurde.

Obwohl solche Deepfakes auf X verboten sind, reagierte die Plattform relativ spät. Nachdem die Situation offenbar aus dem Ruder gelaufen ist, scheint die Lösung derzeit zu sein, eine Suche nach dem Namen der Sängerin zu blockieren.


Aus: "Nach gefälschten Pornoaufnahmen: X blockiert Taylor-Swift-Suchanfragen" (29.01.2024)
Quelle: https://www.rnd.de/promis/wegen-porno-deepfakes-taylor-swift-suchanfragen-auf-x-laufen-ins-leere-LDRG5DBGZZAKTBQJZQKHA4DKPY.html

Link

Im angelsächsischen Sprachraum werden gegenwärtige politische oder allgemein gesellschaftliche Differenzen und Spaltungen als Tribalismus bezeichnet, so von Autoren wie Andrew Sullivan und Ezra Klein. Die ,,Stämme", z. B. die ,,Ostküstenelite" und das ,,Rust Belt-Proletariat" grenzen sich als Milieu und Lager voneinander ab und gelangen nicht zu (nationalen) Kompromissen. Mit der sog. Identitätspolitik zersplittere die Gesellschaft in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen (Tribalisierung). ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Tribalismus

Neutribalismus oder Neotribalismus ist eine politikwissenschaftliche Bezeichnung für eine postmoderne urbane Subkultur. Der Begriff geht zurück auf den französischen Soziologen Michel Maffesoli. Aufgrund der wachsenden Verunsicherung durch den Wegfall von Institutionen und das Verschwinden einer klaren Gesellschaftsstruktur in Klassen und Schichten komme es zu einer Rückbesinnung auf archaische Muster der Vergemeinschaftung.[1][2] Neutribalistische Gemeinschaften entwickeln eine vormodernen Stammeskulturen ähnliche Lebensform, erweitert um die Dimension digitaler Vernetzung.[3] Sie beruhen jedoch nicht wie der Tribalismus auf Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auf einem freiwilligen Zusammenschluss ihrer Mitglieder und können auf Dauer angelegt (Ökosiedlung) oder temporär begrenzt sein (Burning Man oder Fusion Festival). Sie zeichnen sich durch ein spezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl und bestimmte gemeinsame Rituale aus.
Der Begriff urban tribe (engl. für ,Stadtstamm') wird weitgehend synonym zu Subkultur oder Jugendkultur verwendet.
In Philosophie und Sozialpsychologie wird der neue Tribalismus auch als Kommunitarismus bezeichnet. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Neutribalismus

Gruppenkohäsion (von lateinisch cohaerere ,,zusammenhängen") bezeichnet das Gemeinschafts- oder Zusammengehörigkeitsgefühl in einer sozialen Gruppe, das ,,Wir-Gefühl" als emotionales Feld von Bindungen und Zusammenhalt zwischen den beteiligten Personen. Gruppenkohäsion als Phänomen wird vor allem in der Sozialpsychologie und ihren Anwendungsfeldern der Wirtschaftspsychologie, der Sportpsychologie, in der Organisationssoziologie sowie der Militärforschung untersucht. Die Bindung und Dynamik Einzelner innerhalb sozialer Systeme nimmt zentralen Platz in der Theorie der Gruppendynamik ein. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppenkoh%C3%A4sion


Quote[...] Die moderne Gesellschaft gebe dem Menschen das Gefühl, nutzlos zu sein, meint der Autor Sebastian Junger. Es sei an der Zeit, dem ein Ende zu setzen. In ,,Tribe" fordert er eine Rückkehr zu einer ,,Stammeskultur", in der mehr Gleichheit und Gemeinsinn herrsche. ...

Junger fordert deshalb eine Rückkehr zu einer Art ,,Stammeskultur", wie sie etwa die Ureinwohner Amerikas leben. Deren Gemeinschaftssinn erinnere an den Zusammenhalt, der sich in der modernen Welt nur noch in Ausnahmesituationen herstelle. ... 

Wie eine Rückkehr zur ,,Stammeskultur" konkret aussehen könnte, lässt er allerdings offen. ...

Sebastian Junger: Tribe. Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit
Aus dem Amerikanischen von Teja Schwaner
Blessing Verlag, München 2017
192 Seiten



Aus: "Ein Appell an die Mitmenschlichkeit" Vera Linß (28.04.2017)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/sebastian-junger-tribe-ein-appell-an-die-mitmenschlichkeit-100.html

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Quote[...] Ein interessantes, teilweise auch verstörendes Buch mit der Hauptthese, dass Entbehrungen dem Menschen nichts ausmachen würden, dass er sogar auf sie angewiesen sei. Zeiten der Entbehrung bei Katastrophen und Krieg fühle sich für manche manchmal besser an als Frieden. Woran der Mensch wirklich leide, sei das Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Und das Gefühl der Nutzlosigkeit sei in unserer modernen Gesellschaft weit verbreitet.

... Der Stamm als Gruppe von Menschen, die systematisch teilt und altruistisch die Gruppe verteidigt ist besser in der Lage, auch seine Krieger wieder zu integrieren. Zusammengefasst argumentiert der Autor, dass in den USA nicht der Krieg die Genesung der Soldaten verhindere, sondern die Gesellsacht, die ungleich, raffgierig, unmenschlich und rassistisch sei und der jegliches Gemeinschaftsgefühl abhandengekommen sei.

...


Aus: ""Tribe - Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit" von Sebastian Junger" Michael Fischer (27.04.2022)
Quelle: https://www.neuropsychiater.ch/blog/2022/04/27/tribe-sebastian-junger

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Quote[...] "How," Mr. Junger asks, "do you make veterans feel that they are returning to a cohesive society that was worth fighting for in the first place?"

It's an urgent question. Anyone want to weigh in on it? Hillary? Donald? Is this thing on?


From: "Review: Sebastian Junger's 'Tribe' Examines Disbanded Brothers Returning to a Divided Country" Jennifer Senior (May 18, 2016)
Source: https://www.nytimes.com/2016/05/19/books/review-sebastian-jungers-tribe-examines-disbanded-brothers-returning-to-a-divided-country.html

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QuoteRezensionen: Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.06.2017

Am schönsten war es im Krieg?

Der preisgekrönte und international bekannte Journalist und Buchautor Sebastian Junger ("Der Sturm", "War - Ein Jahr im Krieg") hat einen Artikel über posttraumatische Belastungsstörungen, den er für "Vanity Fair" schrieb, zu einem Traktat über den Verlust des Gemeinschaftsgefühls, über die Vorzüge der indianischen Lebensweise und über den falschen Umgang der Amerikaner mit ihre Kriegsheimkehrern ausgebaut. Das hätte er mal lieber nicht getan: Alle Scharniere von "Tribe" knirschen, und auch argumentativ hapert es hier und da gewaltig. Selbst aus der Sorglosigkeit und Langeweile der Mittelklasse kommend, hat Junger früh bemerkt: "Die moderne Gesellschaft hat die Kunst perfektioniert, den Menschen das Gefühl der Nutzlosigkeit zu geben. Es ist an der Zeit, dem ein Ende zu setzen." Und sogleich ist er mitten in der Verherrlichung der steinzeitlichen Stammeslebensweise und dem Lobpreis bedingungsloser soldatischer Opferbereitschaft. Armut macht bei Junger glücklich, wirklich Arme werden sich bedanken für diesen Sozialkitsch. Er glorifiziert das durch Fakten nicht gedeckte Bild der friedlich und gleichberechtigt lebenden amerikanischen Ureinwohner, er lobt die Disziplin der Engländer in den Bunkern des Blitzkriegs. Überall schimmert die Sehnsucht nach einer Welt durch, die es so nie gab. Immerhin hat Junger seinen Landsleuten einen Denkanstoß gegeben, dass sie besser mit ihren Veteranen umgehen sollten: Diese würden als Opfer aussortiert, eine Rückkehr in ein geregeltes Leben ist nicht vorgesehen. Und so stellten sich die meisten die Frage, warum sie für so eine Gesellschaft den Kopf hingehalten haben.

hhm.



Aus: "Tribe von Sebastian Junger - Fachbuch - bücher.de" (2017)
Quelle: https://www.buecher.de/artikel/buch/tribe/47031089/

Link

Quote[...] Der Begriff soziale Milieus beschreibt in der Gegenwart gesellschaftliche Gruppen mit ähnlichen Werthaltungen, Mentalitäten und Prinzipien der Lebensführung. In älteren Definitionen werden Kriterien wie Bildungsgrad, Beruf und Einkommen bei der Zuordnung von Individuen und Kleingruppen zu einem sozialen Milieu stärker berücksichtigt.

... Bereits Hippolyte Taine zählte in der Mitte des 19. Jahrhunderts neben objektiven Merkmalen einer Person oder Gruppe auch ihre innere geistige Umgebung (zum Beispiel Mentalitäten und Gesinnungen) als Unterscheidungsmerkmale sozialer Milieus. Diese Merkmale wirken sich auf die bloße Subsistenz, aber auch auf die Möglichkeiten zur Entwicklung (Sozialisation, das heißt, Lern- und Reifungsprozesse) und Entfaltung (das heißt, soziales Handeln) von Mitgliedern eines Milieus aus. Diese Bedingungen werden auch Milieufaktoren genannt. Neben Taine benutzte auch Auguste Comte den Begriff Milieu, bevor er mit Émile Durkheim populär und schließlich zu einem zentralen Begriff der (sich langsam an den Universitäten etablierenden) Soziologie wurde.

... Sowohl die Entstehung wie auch die Auflösung der großen historischen Milieus waren stark abhängig von bestimmten sozialen oder politischen Prozessen. Die Milieubildung wurde im Fall der Katholiken stark vom Kulturkampf und bei den Sozialisten von den Folgen der Sozialistengesetze bestimmt.

In der Forschung ist freilich umstritten, ob man von einem liberalen oder konservativen Milieu überhaupt sprechen kann. Weitgehend einig ist man sich über das Bestehen eines sozialdemokratischen und eines katholischen Milieus. Deren Strukturen haben während des Kaiserreiches und der Weimarer Republik das Leben der ihnen Zugehörigen ,,von der Wiege bis zur Bahre" in hohem Maße beeinflusst.

Zum Teil umstritten in der Forschung ist die Frage, wann die großen historischen Milieus ihren Bedeutungshöhepunkt überschritten hatten. Einige sehen erste Erosionstendenzen bereits während der Weimarer Republik, andere betonen die egalisierende Wirkung und den Terror der nationalsozialistischen Herrschaft, wieder andere sehen den Bruch in der SED-Diktatur im Osten und den Folgen des ,,Wirtschaftswunders" im Westen. Dabei haben etwa neue Freizeitangebote oder allgemeine Säkularisierungsprozesse die Bedeutung der Milieus immer stärker eingeschränkt.

...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Soziales_Milieu (8. Juli 2024)

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Quote[...] Das zentrale Identitätsmerkmal eines Teenagers vom Dorf ist der Drang, diesem so schnell wie möglich zu entfliehen. Gleich einer Raupe zieht er sich erst in ein schwarz gestrichenes Zimmer zurück, um sich dann mit Eintritt in die Volljährigkeit in der nächstgrößeren Stadt zu entfalten. So jedenfalls stellt man es sich in der Stadt vor.

Der Fotograf Patrick Bienert war in den Alpen unterwegs – in Österreich und der Schweiz, in Deutschland und Slowenien – und hat ganz anderes gesichtet: Jugendliche, die ihre Täler nicht beengend finden, sondern gemütlich. Die in Vereinen mitturnen, gerne Trachten tragen, mit ihren Eltern sprechen und es so gar nicht eilig zu haben scheinen, für immer ihre Koffer zu packen.

... Teresa Klinger, 18: ... Nachteile, auf dem Land zu wohnen? Gibt es für mich keine. Es ist schön und idyllisch. Ich habe hier alles, was ich brauche. Ich muss nie weit fahren. So bin ich groß geworden, und so möchte ich weiterleben. Es ist einfach meine Heimat. ... Mein größter Traum ist es, eines Tages eine Familie zu gründen. Ich habe wahnsinnig gern mit Kindern zu tun. Dazu ein eigenes Haus und ein eigener Garten, so möchte ich mich verwirklichen. Ich habe auch schon einen Freund. Wir sind seit dem 11. Februar 2024 zusammen und hoffentlich noch lange."

...

Simon Fütterer, 14 ... Ich bin der Einzige in meiner Klasse, der in der Trachtengruppe mitmacht. Gehänselt oder so werde ich dafür aber nicht. Die anderen finden, glaube ich, sogar gut, was ich mache, sie haben auch schon Auftritte besucht. Was ich später einmal werden möchte? Keine Ahnung. In meiner Freizeit bin ich einfach gerne mit Freunden unterwegs, manchmal gehen wir wandern. Ich fahre Ski und höre gerne Volksmusik. Und sonst? Fußball. Mein Lieblingsverein: FC Bayern."

...

Marie Klingenspiel, 17: "Am Kirchtag, dem Fest der Kirchweihe, begleite ich als Marketenderin unsere Blaskapelle durchs Dorf: Ich gehe neben der Stabsführerin, die die Blaskapelle anführt, und versorge die Musiker und die Leute am Straßenrand mit Schnaps. Ein Bauer von hier hat den Obstler gebrannt. Das Kleid, das ich als Marketenderin trage, ist schwarz und sehr lang, die Schürze ist rot. Daheim im Schrank habe ich noch viele andere Trachten. Das Kärntner Dirndl gefällt mir am besten. Es ist dunkelblau mit kleinen aufgestickten Blumen.
Der Kirchtag beginnt immer an einem Samstag im September mit dem Anschießen, dabei werden drei Schüsse aus Kanonen abgefeuert. Am Sonntag findet der Umzug statt, und es werden Reden gehalten. Am Montag feiert man in den Gasthäusern. Zwei Wochen nach dem Kirchtag feiern wir dann, dass der Kirchtag vorbei ist.

Solche Traditionen und das Brauchtum finde ich wichtig. Die gibt es schon so lange! Mein Opa war früher Stabsführer der Blaskapelle, mein Vater war bei den Burschen, die marschieren hinter oder vor der Blaskapelle durchs Dorf. Sobald man verheiratet ist und Kinder hat, kann man kein Bursche mehr sein. Mein Bruder spielt Posaune in der Kapelle, ich habe ein paar Jahre Saxofon gespielt. Ich höre gern Volksmusik und Schlager, zum Beispiel Hallo kleine Maus von Sašo Avsenik und seinen Oberkrainern. Seit ich die Höhere Technische Bundeslehranstalt in Klagenfurt besuche, habe ich selbst leider keine Zeit mehr zu üben.

... Vor Kurzem gab es in Österreich ein Hochwasser, unser Nachbardorf wurde komplett überschwemmt. Mein Bruder ist bei der freiwilligen Feuerwehr und hat geholfen, das Dorf aufzuräumen. Ich wäre auch gern bei der Feuerwehr, aber Frauen sind bei uns in Bodensdorf nicht zugelassen. Angeblich, weil es keinen Platz gibt für eine separate Umkleidekabine. Mir wäre es egal, wenn ich die Kabine mit den Männern teilen müsste."

...


Aus: "Jugendliche in Bergdörfern: Generation Bergluft" 
Sarah Jäggi, Salome Müller (ZEITmagazin Nr. 46/2024 29. Oktober 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/zeit-magazin/2024/46/jugendliche-bergdoerfer-fotografie-tracht-eltern

Link

#10
... Da war die Volkswagenseele nicht mehr mit sich im Reinen. ... Die Marke war für die Deutschen ein sogenanntes Identitätssurrogat ...

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Quote[...] Ein Identitätssurrogat ist ein künstlicher Ersatz oder Stellvertreter für Aspekte der persönlichen Identität. Obwohl der Begriff nicht weit verbreitet ist, lässt er sich aus den Komponenten "Identität" und "Surrogat" ableiten und interpretieren ...

Es ist wichtig, Identitätssurrogate als das zu erkennen, was sie sind - künstliche Konstrukte, die zwar nützlich sein können, aber die Komplexität und Tiefe einer echten persönlichen Identität nicht vollständig erfassen oder ersetzen können. ...

Eigenschaften

Identitätssurrogate weisen typischerweise folgende Merkmale auf:

    Künstlichkeit: Sie sind bewusst geschaffen und nicht natürlich gewachsen.
    Stellvertreterfunktion: Sie ersetzen oder ergänzen Teile der authentischen Identität.
    Begrenzte Reichweite: Sie bilden meist nur ausgewählte Aspekte der Identität ab.

...



Textfraktale (https://www.perplexity.ai "Identitätssurrogat", 02.11.2024)

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Quote[...] Seele und Kapitalismus ["Volkswagenseele"] ...

Der Zusammenhang zwischen Seele und Kapitalismus ist ein komplexes und vielschichtiges Thema, das verschiedene philosophische, soziologische und ökonomische Aspekte berührt. Hier eine Analyse der wichtigsten Punkte:
Transformation der Erlösungsvorstellung
Mit dem Aufkommen des Kapitalismus vollzog sich ein fundamentaler Wandel in der Vorstellung von Erlösung und Seelenheil.

    In der vorkapitalistischen, christlich geprägten Welt war das Leben auf ein gottgefälliges Dasein ausgerichtet, um das Seelenheil im Jenseits zu erlangen.

    Der Kapitalismus verlagerte die Erlösungshoffnung ins Diesseits: Unbegrenztes wirtschaftliches Wachstum und materieller Wohlstand sollten das "Paradies auf Erden" schaffen.

...

Kapitalismus als quasi-religiöses System:

Einige Denker sehen im Kapitalismus Strukturen, die religiösen Systemen ähneln:

    Walter Benjamin identifizierte den Kapitalismus als eine Art "Kultreligion" mit einem permanenten Kult und verschuldenden Charakter.

    Das Kapital selbst wird als eine Art "ungereifte und verdrängte Gottheit" betrachtet.

    Der Prozess der Kapitalakkumulation gleicht einem rituellen Zyklus, der ständig wiederholt wird.

Psychologisierung und emotionaler Kapitalismus:

Die moderne kapitalistische Gesellschaft hat zu einer Psychologisierung menschlicher Beziehungen geführt.

    Eva Illouz prägte den Begriff des "emotionalen Kapitalismus", in dem ein therapeutischer Habitus zentral für kulturelle Praktiken geworden ist.

    Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen werden zunehmend als Ressourcen betrachtet, die im kapitalistischen System genutzt werden können.

Kritische Perspektiven:

    Die Fokussierung auf individuelles Glück und Wohlbefinden kann von strukturellen gesellschaftlichen Problemen ablenken.
   
    Es stellt sich die Frage, ob der "emotionale Kapitalismus" tatsächlich zu einer gerechteren Verteilung von Leid führt oder ob er lediglich neue Formen der Ausbeutung schafft.
   
    Die Zugänglichkeit zu therapeutischen Ressourcen ist ungleich verteilt, was neue soziale Ungleichheiten erzeugen kann.
   
Schlussfolgerung:

Die Beziehung zwischen Seele und Kapitalismus ist geprägt von einer Verschiebung spiritueller Konzepte in den Bereich des Materiellen und Psychologischen. Während der Kapitalismus einerseits neue Formen des Umgangs mit Emotionen und Beziehungen hervorgebracht hat, wirft er andererseits Fragen nach authentischem Seelenheil und gesellschaftlicher Gerechtigkeit auf. ...


Textfraktale (https://www.perplexity.ai  "Seele und Kapitalismus", 02.11.2024)

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Quote[...] Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die deutsche Identität, wird aber in der modernen Forschung auch zunehmend kritisch hinterfragt. Hier einige wichtige Aspekte zur psychologischen Wirkung und kritischen Betrachtung des Wirtschaftswunders:

Psychologische Bedeutung

Das Wirtschaftswunder erfüllte für die deutsche Nachkriegsgesellschaft wichtige psychologische Funktionen:

    Neues Selbstwertgefühl: Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg bot der wirtschaftliche Erfolg eine Möglichkeit, neues Selbstbewusstsein zu entwickeln.
   
    Identitätsstiftung: Die Leistungen des Wiederaufbaus und der ökonomische Aufschwung wurden zu zentralen Elementen einer neuen westdeutschen Identität.
   
    Abgrenzung von der NS-Vergangenheit: Das Wirtschaftswunder ermöglichte es, sich von der nationalsozialistischen Vergangenheit abzugrenzen und eine neue, positive nationale Erzählung zu schaffen.
   
Kritische Perspektiven

Neuere Forschungen hinterfragen den Mythos des Wirtschaftswunders jedoch kritisch:

    Überbewertung einzelner Akteure: Die Rolle von Persönlichkeiten wie Ludwig Erhard wird heute differenzierter betrachtet. Seine Bedeutung für den Aufschwung wurde möglicherweise überschätzt.
   
    Internationale Einbettung: Der Aufschwung war kein rein deutsches Phänomen, sondern Teil einer gesamteuropäischen Entwicklung.
   
    Strukturelle Faktoren: Wirtschaftshistoriker betonen die Bedeutung struktureller Faktoren wie den Aufholeffekt nach dem kriegsbedingten Rückstand.
   
    Mythenbildung: Die Erzählung vom Wirtschaftswunder wird als politischer Mythos oder sogar Gründungsmythos der Bundesrepublik analysiert.   
   
Auswirkungen auf die deutsche Identität

Die kritische Auseinandersetzung mit dem Wirtschaftswunder hat Folgen für das deutsche Selbstverständnis:

    Relativierung der Eigenleistung: Die Erkenntnis, dass der Aufschwung stark von internationalen Faktoren abhängig war, relativiert die Vorstellung einer rein deutschen Erfolgsgeschichte.
   
    Hinterfragung wirtschaftlicher Prioritäten: Die starke Fokussierung auf Exporterfolge wird zunehmend kritisch gesehen.
   
    Europäische Integration: Die Bedeutung der europäischen Einigung für den deutschen Wohlstand rückt stärker in den Fokus.

Fazit

Das Wirtschaftswunder bleibt ein wichtiger Bestandteil der deutschen Nachkriegsgeschichte und Identität. Die kritische Aufarbeitung führt jedoch zu einem differenzierteren Bild, das die internationale Einbettung und strukturelle Faktoren stärker berücksichtigt. Dies kann zu einem realistischeren Selbstbild beitragen, das weniger auf nationalen Mythen und mehr auf der Anerkennung komplexer historischer Zusammenhänge beruht.   

...


Textfraktale (https://www.perplexity.ai  "Psychologie Wirtschaftwunder Deutsche Identität Kritik", 02.11.2024)

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Quote[...] [...] Rainer Werner Fassbinders "Deutschland-Trilogie" bestehend aus den Filmen "Die Ehe der Maria Braun", "Lola" und "Die Sehnsucht der Veronika Voss" bietet eine kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Nachkriegsgeschichte und dem sogenannten Wirtschaftswunder. Hier eine Analyse der Trilogie und ihrer Kritik:

Darstellung der deutschen Geschichte

Fassbinder präsentiert in seiner Trilogie ein vielschichtiges Bild der deutschen Nachkriegszeit:

    Er zeigt verschiedene "Deutschlands" gleichzeitig: das Nachkriegsdeutschland mit seinen Entscheidungen zwischen Pazifismus und Wiederbewaffnung sowie ein Deutschland, in dem die spätere Entwicklung bereits angelegt ist.
   
    Die Filme spannen einen Bogen von den 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre und beleuchten dabei kritisch die Entwicklung der Bundesrepublik.
   
    Fassbinder nutzt Elemente wie Kleidung, Dekor und zeitgenössische Medien (besonders das Radio), um die damalige Mentalität zu vermitteln.
   
Kritik am Wirtschaftswunder und der Nachkriegsgesellschaft
   
Die Trilogie übt scharfe Kritik an verschiedenen Aspekten der Nachkriegszeit:

    Fassbinder hinterfragt den Mythos des Wirtschaftswunders und zeigt dessen Schattenseiten.
   
    Er kritisiert offen das Fortleben faschistischer Strukturen in der jungen Bundesrepublik.
   
    Die Amerikanisierung und Korruption der Nachkriegsgesellschaft werden thematisiert, wobei amerikanische Figuren nicht nur als Statisten, sondern als aktive Akteure dargestellt werden.
   
    Der Regisseur zeigt, wie kapitalistische Prinzipien alle Lebensbereiche durchdringen, insbesondere zwischenmenschliche Beziehungen und die Liebe.
   

Stilmittel und narrative Strategien

Fassbinder nutzt verschiedene filmische Mittel, um seine Kritik zu transportieren:

    Er verwendet das Genre des Melodrams, um komplexe historische Zusammenhänge emotional zugänglich zu machen.

    Die Filme sind klassisch konstruiert, erlauben aber multiple Interpretationen und sprechen verschiedene Zielgruppen an.
    Fassbinder arbeitet mit Symbolen und Metaphern, wie z.B. der "Mata Hari des Wirtschaftswunders" in "Die Ehe der Maria Braun".
   
    Er setzt Selbstzitate und Querverweise zwischen den Filmen der Trilogie ein, um ein dichtes Netz von Bedeutungen zu schaffen.


Charakterisierung der Protagonisten

Die Hauptfiguren der Trilogie spiegeln Fassbinders kritische Sicht auf die Nachkriegsgesellschaft wider:

    Sie verkörpern oft den "Anti-Helden", der von Angst und Selbstzerstörung geprägt ist.
   
    Die Charaktere sind komplex und widersprüchlich, weder vollkommen gut noch böse.
   
    Sie kämpfen mit den Herausforderungen ihrer Zeit, sind aber gleichzeitig Repräsentanten späterer gesellschaftlicher Entwicklungen.
   
   
    Fazit
   
Fassbinders Deutschland-Trilogie bietet eine vielschichtige und kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Nachkriegsgeschichte. Sie hinterfragt etablierte Narrative wie das Wirtschaftswunder und zeigt die Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung der Bundesrepublik auf. Durch die Verbindung von historischer Rekonstruktion und zeitgenössischer Kritik schafft Fassbinder ein komplexes Bild der deutschen Identität, das bis heute relevant und diskussionswürdig bleibt.

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Textfraktale (https://www.perplexity.ai  "Analyse "Deutschland Trilogie Fassbinder" Kritik", 02.11.2024)

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Quote[...] Stephan Grünewald ist ein einflussreicher deutscher Psychologe und Autor, dessen Arbeit sowohl Anerkennung als auch Kritik hervorgerufen hat. Hier sind einige Hauptpunkte der Kritik an Grünewalds Ansätzen und Schlussfolgerungen:

Methodische Bedenken - Einige Kritiker hinterfragen die Repräsentativität und Validität von Grünewalds Forschungsmethoden:

    Die Tiefeninterviews, auf denen seine Analysen basieren, könnten möglicherweise nicht repräsentativ für die gesamte deutsche Bevölkerung sein.

    Es wird argumentiert, dass die Interpretation qualitativer Daten subjektiv sein kann und möglicherweise durch die persönlichen Ansichten des Forschers beeinflusst wird.

Verallgemeinerungen:

Grünewald wird manchmal vorgeworfen, zu breite Verallgemeinerungen über die deutsche Gesellschaft zu treffen ...



Textfraktale (https://www.perplexity.ai  "Kritik Stephan Grünewald", 02.11.2024)

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Quote[...] Die Debatte um die "deutsche Identität" ist komplex und umstritten. Basierend auf den Suchergebnissen lassen sich folgende Hauptkritikpunkte identifizieren:

Künstlichkeit und Konstruiertheit:

    Die deutsche Identität wird als künstliches Konstrukt kritisiert, das erst im 19. Jahrhundert hergestellt wurde und brüchig ist.

    Das "Deutschsein" wird als etwas "höchst Künstliches" beschrieben, das historisch oft mit Gewalt durchgesetzt wurde.

Gefahr der Ausgrenzung:

    Die Betonung einer deutschen Identität birgt die Gefahr, Menschen auszugrenzen und ein "Wir gegen die Anderen"-Denken zu fördern.

    Konzepte wie "Volksgemeinschaft" können zu brutaler Ausgrenzung führen.

Homogenitätsvorstellungen:

    Kritisiert wird die Vorstellung einer homogenen deutschen Identität, die der Realität einer vielfältigen Gesellschaft nicht gerecht wird.

    Deutschland war historisch nie homogen, sondern von inneren Konflikten und Unterschieden geprägt.

Überbewertung der Herkunft:

    Es wird kritisiert, dass die Abstammung und Herkunft für die Identität überbewertet werden.
    Andere Faktoren wie Geschlecht, Alter, Bildung etc. spielen ebenso eine wichtige Rolle für die Identität.

Mangelnde Reflexion der NS-Vergangenheit:

    Einige Kritiker sehen in Versuchen, eine positive deutsche Identität zu konstruieren, eine mangelnde Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit.

Fehlende inklusive Narrative:

    Es wird bemängelt, dass es an inklusiven Erzählungen fehlt, die der Realität einer Einwanderungsgesellschaft gerecht werden.
   
    Linke und progressive Kräfte hätten es versäumt, positive Identifikationsangebote zu machen.

Spaltungspotenzial:

    Rechte Identitätsangebote werden als spaltend kritisiert, da sie Eingewanderten und Minderheiten das "echte" Deutschsein absprechen.

Die Kritik zielt insgesamt darauf ab, dass Vorstellungen einer einheitlichen deutschen Identität oft zu vereinfachend, ausgrenzend und rückwärtsgewandt sind. Stattdessen wird für differenziertere, inklusivere und zukunftsorientiertere Konzepte plädiert, die der Vielfalt der Gesellschaft gerecht werden.

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Textfraktale (https://www.perplexity.ai  "Kritik "deutsche Identität"", 02.11.2024)

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Quote[...] Der Begriff des "gesellschaftlichen Substanzverlusts" beschreibt eine wahrgenommene Erosion sozialer Bindungen und Zusammenhalt in modernen Gesellschaften. Dieses Phänomen wird von Sozialwissenschaftlern und Kommentatoren aus verschiedenen Perspektiven betrachtet:

Ursachen und Erscheinungsformen

Anonymisierung und Individualisierung: Es wird argumentiert, dass soziale Beziehungen zunehmend anonymer, zweckrationaler und abstrakter werden. Menschen handeln demnach egoistischer und vereinsamen häufiger.

Modernisierungsprozesse: Abstrakte Prozesse wie Modernisierung, Individualisierung und Pluralisierung werden als Faktoren genannt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt schwächen.

Ökonomische Ungleichheit: Die zunehmende Spreizung zwischen Arm und Reich trägt zur Erosion der Mittelschicht bei. Dies führt zu einer Polarisierung der Gesellschaft und verringert den sozialen Zusammenhalt.

Auswirkungen

Sinkende soziale Mobilität: Empirische Studien zeigen, dass die Einkommensmobilität über die Zeit abgenommen hat. Es wird für Menschen in prekären Situationen immer schwieriger, ihre Lage zu verbessern.

Verfestigung von Armut und Reichtum: Besonders in Ostdeutschland lässt sich eine Verfestigung sowohl von Armut als auch von Reichtum beobachten. Dies führt zu einer Spaltung der Gesellschaft.

Verlust von Spiritualität: Einige Denker argumentieren, dass der Substanzverlust zu einer Entfremdung von spirituellen und transzendenten Dimensionen des Lebens führt. Dies resultiert in einem Verlust von Sinn und Ernst im Leben.

Gesellschaftliche Reaktionen

Konservative Tendenzen: Als Reaktion auf den wahrgenommenen Substanzverlust entwickeln sich teilweise reaktionär-konservative Tendenzen, die versuchen, alte Werte zu bewahren.

Sozialpädagogische Interventionen: Es gibt Bestrebungen, durch sozialpädagogische Maßnahmen Gemeinschaften zu restituieren und Menschen zu sozialem Engagement aufzurufen.

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Textfraktale (https://www.perplexity.ai  "Gesellschaftlicher Substanzverlust", 02.11.2024)

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Quote[...] Psychologie Persönlichkeitsmarkierer ...

Persönlichkeitsmarkierer sind Merkmale oder Eigenschaften, die dazu dienen, die Persönlichkeit eines Menschen zu beschreiben und zu erfassen. In der Psychologie werden diese Markierer verwendet, um individuelle Unterschiede zwischen Menschen zu identifizieren und zu messen.

Die Erfassung der Markenpersönlichkeit kann einen Mehrwert an Gefühlen und Beziehungsaspekten zwischen Konsument und Marke aufdecken. Markenpersönlichkeiten werden genutzt, um Marken zu positionieren und von Konkurrenten zu differenzieren. ... Persönlichkeitsmarkierer sind sowohl in der Persönlichkeitspsychologie als auch in der Markenpsychologie von großer Bedeutung. Sie dienen dazu, stabile Eigenschaften zu identifizieren und zu messen, die das Verhalten von Individuen oder die Wahrnehmung von Marken charakterisieren. Die Anwendung psychologischer Konzepte auf Marken zeigt die Vielseitigkeit und Übertragbarkeit dieser Konstrukte in verschiedenen Bereichen der Psychologie und des Marketings. ...

Begrenzte Aussagekraft

Es wird kritisiert, dass einzelne Persönlichkeitsmarker oft nicht ausreichen, um das Verhalten einer Person zuverlässig vorherzusagen. Die Korrelationen zwischen verschiedenen Indikatoren einer Persönlichkeitseigenschaft fallen häufig niedriger aus als erwartet ...


Textfraktale (https://www.perplexity.ai  "Psychologie Persönlichkeitsmarkierer", 02.11.2024)

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Quote[...] Warum treibt die VW-Krise so viele Menschen um? Der Psychologe und Bestsellerautor Stephan Grünewald sagt: Es geht um nichts weniger als die deutsche Identität.

Stephan Grünewald ist Psychologe und hat das Marktforschungsinstitut Rheingold gegründet, das nach eigenen Angaben jedes Jahr rund 5.000 Tiefeninterviews mit Verbrauchern führt. Als Autor wurde Grünewald mit Büchern wie "Deutschland auf der Couch" und "Wie tickt Deutschland?" bekannt.

ZEIT ONLINE: Herr Grünewald, VW geht es schlecht. Muss jetzt ganz Deutschland auf die Couch, wie Sie es in Ihrem Buch einmal geschrieben haben?

Stephan Grünewald: Die Angst vor dem wirtschaftlichen Substanzverlust zählt zu den drei größten Ängsten, die wir derzeit bei den Menschen feststellen. Das ist stark durch Alltagserfahrung geprägt. Die Schulen und Straßen sind marode, die Bahn aus dem Takt, die Digitalisierung klappt nicht. Und jetzt auch noch VW. In einer aktuellen GenZ-Studie haben uns Jugendliche erzählt: Sie haben den Eindruck, da bricht was weg. Aus "Made in Germany" wird "Marode in Germany". Und das sehen nicht nur junge Menschen so.

ZEIT ONLINE: Was sind die beiden anderen starken Ängste der Deutschen?

Grünewald: Zum einen, wieder in eine Situation wie bei der Coronapandemie hineinzugeraten, wo man ohnmächtig ist, Autonomie und Handlungsfähigkeit verliert. Zum anderen macht die zunehmende Aggressivität und Polarisierung vielen Menschen Angst. Gerade für junge Leute gibt es keine übergreifende Gemeinschaft mehr, die Halt gibt. Die junge Generation zerfällt in Blasen, die sich mehr und mehr bekriegen. VW stand früher für die klassenlose Gesellschaft, für Einigkeit. Es stand stellvertretend für das Wirtschaftswunder, für den Traum, dass jeder ein Auto haben kann, dass alle vom Wohlstand profitieren.

ZEIT ONLINE: Hängen Sie VW da nicht ein bisschen hoch?

Grünewald: Die Marke war für die Deutschen ein sogenanntes Identitätssurrogat. Wir haben uns nach dem Zweiten Weltkrieg schwergetan, uns zu nationalen Symbolen zu bekennen und waren froh über Dinge, die man feiern durfte: die D-Mark, die Fußballnationalmannschaft, aber auch Volkswagen. Es ist erschreckend für die Gesellschaft, wenn ein solches Symbol in die Knie geht.

ZEIT ONLINE: Warum kristallisiert sich das gerade an VW und nicht etwa am Chemieweltmarktführer BASF, der ebenfalls Anlagen schließt und Stellen abbaut?

Grünewald: Die Autobranche hat einen starken persönlichen Bezug zu den Menschen. Autos sind Persönlichkeitsmarkierer. Mit dem Blechkleid bringen wir zum Ausdruck, ob wir mit frankophiler Gelassenheit unterwegs sind oder auf die Überholspur wollen. Das VW-Versprechen war, anschlussfähig zu bleiben. VW-Fahrer sind nicht isoliert, nicht abgehoben, sie fahren in der Masse mit. Damit verbunden war das Versprechen von Beständigkeit und Verlässlichkeit. Das sind fast nationale Tugenden, und die stehen jetzt infrage.

ZEIT ONLINE: Der größte Erfolg von Volkswagen war der Golf, eine ganze Generation trägt seinen Namen. Keines der neueren Modelle ist nur annähernd so identitätsstiftend. Hat VW den Kontakt zum Volk verloren?
Grünewald: Die Ansprüche wurden zu groß. Die Oberklassen-Limousine Phaeton, die VW von 2001 bis 2016 gebaut hat, sollte Mercedes Konkurrenz machen. So hat man das, was die Marke auszeichnet, aus dem Blick verloren: das Verbindende, Verlässliche, Unprätentiöse, das Gefühl, mit einem VW nichts falsch machen zu können. Gleichzeitig ist Volkswagen bei der E-Mobilität zu spät in die Gänge gekommen. Eine Marke wie VW muss da nicht vorne mit dabei sein, aber die Technik massentauglich machen.

ZEIT ONLINE: An der lahmenden Antriebswende ist also auch Volkswagen schuld?

Grünewald: Das Unternehmen hat nicht mehr Schuld als andere, aber ist eben das Symbol dafür, dass wir nicht schnell genug vorankommen.

ZEIT ONLINE: Es könnte auch daran liegen, dass die Deutschen grundsätzlich keine Lust auf Veränderung haben.

Grünewald: Das sehe ich nicht so. Viele Menschen wechseln alle sechs Jahre ihr Auto. Sie wollen zeigen, dass sie mit dem Trend gehen. Sie wollen mehr Funktionsfreude und Komfort. Die Antriebswende stockt gerade genauso wie die Heizungswende, weil den Menschen nicht klar ist, welchen Vorteil sie davon haben. Man muss die Vorzüge der E-Autos klarer kommunizieren, zum Beispiel das besondere Fahrgefühl, das lautlose Gleiten. Aber zuerst müssen die Rahmenbedingungen stimmen, es braucht genug Ladesäulen und lange Reichweiten. Ich habe den Eindruck, dass weder Industrie noch Politik vollständig an die Transformation geglaubt haben. Die Verbrenner haben eben lange Zeit viel Geld eingebracht.

ZEIT ONLINE: Aber auch unabhängig von der E-Mobilität sind VW-Autos so teuer geworden, dass sich ein Normalverdiener kaum noch einen Neuwagen kauft. Heute scheint eher Dacia Autos fürs Volk zu bauen. Hat VW die eigene Zielgruppe aus den Augen verloren? 

Grünewald: Ein VW-Markenwert war schon, gemäßigt innovativ zu sein – 08/16  statt 08/15 –, dafür sind die Menschen auch bereit, etwas mehr zu zahlen. Aber gemessen am Preis und im Vergleich zur Konkurrenz sind die Autos nicht gut genug.

ZEIT ONLINE: Deutschland hat sich lange als Autonation verstanden. Ist das heute noch so?

Grünewald: Dem Selbstverständnis der Bürger nach schon. Deshalb ist das Tempolimit so umstritten. In einem Land, das alles reglementiert und bürokratisiert, darf man auf der Autobahn mal loslassen und Gas geben. Aber auf diesem Selbstverständnis als Autonation hat sich die Industrie zu lange ausgeruht, jetzt droht China uns zu überholen.

ZEIT ONLINE: Die letzte schwere VW-Krise liegt noch gar nicht lange zurück. 2015 hat der Dieselskandal das Unternehmen erschüttert. Hat sich damals schon etwas am Verhältnis der Deutschen zu VW geändert?

Grünewald: Da war die Volkswagenseele nicht mehr mit sich im Reinen. Man kauft ja einen Volkswagen, weil man sich damit nicht angreifbar macht und die Marke für Ehrlichkeit und Bodenständigkeit steht. Und auf einmal stand VW für Unredlichkeit und Schummelei. 

ZEIT ONLINE: Ist das Image von Deutschland als Autonation noch zu retten?

Grünewald: Ja, aber das bedarf einer gewaltigen Kraftanstrengung. Wir müssen in der Not wendiger werden. Wir sind manchmal zaudernd, abwartend, paralysiert durch unsere Problemanalysen. Aber oft kommen wir am Ende gestärkt durch die dabei gewonnenen Erkenntnisse wieder auf die Überholspur. In der Kanzlerschaft Gerhard Schröders galt Deutschland als kranker Mann Europas. Das hat gewirkt: Es war ein nationaler Weckruf, man war bereit zu Reformen.

ZEIT ONLINE: Global betrachtet geht es uns ja immer noch ziemlich gut. 

Grünewald: Die Menschen haben aber das Gefühl, dass etwas erodiert. Die jungen Leute geben der Lebensqualität hierzulande eine Drei plus als Schulnote. Dennoch haben über 70 Prozent der Jugendlichen Sorge, dass sich das gravierend ändern wird in den nächsten Jahren. 

ZEIT ONLINE: Der Erfolg unserer Industriebetriebe ist eng verknüpft mit dem Wohlstandsversprechen. Was macht das mit den Menschen, wenn das nun infrage steht?

Grünewald: Das Wohlstandsversprechen ist wichtig, aber es nützt nichts, die Menschen in einer trügerischen Sicherheit zu wiegen und das Gefühl zu vermitteln, der nächste Doppelwumms werde alle Probleme beseitigen.

ZEIT ONLINE: Wie kommen wir da denn sonst wieder raus? 

Grünewald: Erst mal, indem man die Probleme klar benennt und daraus Maßnahmen und Projekte ableitet. Und jeder Einzelne sollte das Gefühl haben, mitwirken zu können, um die Lage zu verbessern. Es geht darum, Selbstwirksamkeit zu erfahren. Jeder sollte außerdem das Gefühl haben, dass alle bereit sind, ihren Beitrag zu leisten. Während der Energiekrise ist das gut gelungen. Die Lage wurde schonungslos analysiert und jeder, die Bürger und auch die Industrie, hat sich beim Energieverbrauch zurückgenommen. 

ZEIT ONLINE: Die rund 120.000 VW-Beschäftigten in Deutschland sorgen sich gerade um ihre Existenz. Wie sollte die Politik damit umgehen?

Grünewald: Die Wirtschaft kriselt zwar, trotzdem haben wir Fachkräftemangel. Wir brauchen angesichts der demografischen Entwicklung das fachmännische Potenzial dieser Menschen. Es ist wichtig, den Menschen klarzumachen, dass sie weiter gebraucht werden – allerdings in anderer Rolle.

ZEIT ONLINE:  Deutschlands wirtschaftlicher Aufstieg ist eng verbunden mit Volkswagen. Wird der Abstieg auch mit Volkswagen verbunden sein?

Grünewald: Im Wort Volkswagen steckt auch das Wort "wagen" – also etwas riskieren, daran glauben, dass es weitergeht. Vielleicht steht Volkswagen in zehn Jahren als Deus ex Machina da, als eine Marke, die geläutert und gestärkt aus der Krise hervorgegangen ist.


Aus: ""Erschreckend, wenn ein solches Symbol in die Knie geht"" Interview: Sören Götz und Anja Stehle (02.11.2024)
Quelle: https://www.zeit.de/mobilitaet/2024-11/vw-krise-stephan-gruenewald-autoindustrie-identitaet-deutschland

QuoteLasstWinnetouNachSachsen

Es kommt noch etwas hinzu, ein psycho-sozialer Langzeitdiskurs. Volks(!)wagen war ja ursprünglich Porsche mit Hitler, Hermann Göhring Werke etc.

Der Konzern steht auch für industrielle Ent-Nazifizierung und Demokratisierung im Nachkriegs-Westen (Arbeitnehmer Mitbestimmung, Humanisierung von Arbeitsplätzen statt Zwangsarbeit), auch für die Kompensation des Nachdenkens und Trauerns ('Die Unfähigkeit zu Trauern') durch wirtschaftliche Erfolge.

Und zugleich für die (angebl.) alten Tugenden wie Verlässlichkeit, Pragmatik, Auf-dem-Teppich bleiben.
VW ist in vieler Hinsicht das moderne dt. Symbolunternehmen schlechthin.


QuoteZahnloser_Tiger

Sorry, aber: Nein!

VW ist schon länger nicht mehr deutsche Identität, den Rang haben Marken wie Mercedes und BMW schon lange übernommen, im Gegenteil, seit der Schummelsoftware-Affäre konnte VW nie überzeugen, dass man sich davon distanziert, im Gegenteil, die teils dubiosen Argumente, warum man Thermofenster und Co. brauche, ließen eher erahnen, dass man nicht will - oder sogar nicht kann.

Es sind schon ganz andere Firmen, die einst für deutsche Identität standen, sang- und klanglos verschwunden - schon AEG, Quelle, Neckermann, ... vergessen?


Quotema_fer

Also für mich nicht. Für mich steht Volkswagen nicht nur für den größten Betrug weltweit, sondern auch für Mittäterschaft mit Diktaturen in Mexiko , Brasilien und China.

Ich kann mir kein Szenario vorstellen, wo keine weltweiten Erleichterung zu spüren ist, wenn dieser Konzern abgewickelt wird.


QuoteLasstWinnetouNachSachsen
Antwort auf @ma_fer

Glauben Sie etwa, dass die internationale Konkurrenz ethischer ist oder nachhaltiger? Dann lägen Sie ziemlich schief.


QuoteC.M.P.

Mich widert an, dass das Thema bei den Rechten jetzt voll ausgeschlachtet wird. Die Ampel ist dort natürlich dafür verantwortlich.


QuoteDominik Bach

China und die USA werden das regeln für uns:

- Die aktuell relevanten Digitalkonzerne kommen aus diesen Ländern

- Der ,,schlafende Drache" (China) ist schon lange erwacht und drängt mit Riesenschritten in die globale Führungsrolle

- Die deutsche Bräsigkeit (Bürokratie) in Kombination mit einer geradezu narzisstischen Wandlungsresistenz und Arroganz gegenüber globalen Standards (Englisch, Internet) verhindert, Trends zu setzen und Innovationen zu erschaffen.

Es geht uns - noch - gut. Aber die Gesellschaft altert rapide, wirkliche Reformen werden verschleppt und die ,,Schuld" wird bei der Nebelkerze ,,Illegale Migration" gesucht.

Die Politik ist längst in der Rolle der Abgehängten. Die Kapital-Vermögenden (Privatpersonen u. Konzerne) lachen sich ins Fäustchen und schaden unserer Gesellschaft.


QuoteKikazaru

Es geht vielleicht um die westdeutsche Identität. Wie arrogant...


QuoteFrau. Huber

Etwa 84% der Deutschen sind Wessis.

Wenn wir über die Identität der Deutschen sprechen, dann beziehen wir uns da auf die Mehrheit, nicht auf jeden einzelnen Deutschen. Und für die Mehrheit der Deutschen ist VW nunmal eng an die deutsche Identität geknüpft.

Sie leben als Ossi jetzt seit 34 Jahren in der BRD und VW war auch in diesen 34 Jahren ein wichtiger Teil unseres Landes.

Ich stamme aus Bayern, Wolfsburg is von München ziemlich weit weg und MAN und BMW sind für uns Bayern emotional stärker aufgeladen, als VW und in Ba-Wü identifiziert man sich bei Autos natürlich erst mal mit Mercedes. Dennoch werden Sie nirgends Leute aus dem Süden finden, die unter einem solchen Artikel bemängeln, dass ihre regionale Identität nicht berücksichtigt wurde, obwohl das wesentlich mehr Leute betrifft, als es Ossis gibt, nämlich knapp ein Drittel der Deutschen.

Unser Land ist kulturell divers. Schon immer. Nicht nur der Osten tickt anders als der Westen, auch der Norden tickt anders als der Süden und die Großstädte anders als der ländliche Raum.

Wenn Sie denken die 84% der Deutschen, die Wessis sind bilden eine homogene Einheit, kann ich verstehen, dass sie es arrogant finden, wenn auf die 16% nicht ständig eingegangen wird. Allerdings sind die keine homogene Einheit.

Als Bayer könnte ich Ihren Beitrag z.B. auch als arrogant bezeichnen, weil Sie uns Bayern mit den Niedersachsen, Westphalen und Rheinländern gleich setzen.


QuoteKaroR

Wir hatten insgesamt 4 VW, der letzte ein VW Passat mit Betrugssoftware, die nach up date dann die Injektoren zerstört hat.

Für uns war klar, nie mehr VW. Wir fahren seit 2 Jahren ein E-Auto mit Schnellladefunktion aus Asien entschieden!

... Herrje, was soll dieses Geschwafel über Symbol und Identität. Ein wesentlicher Faktor für die Gewinneinbuße ist die Weigerung sich an die Erfordernisse des Weltmarktes anzupassen.

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QuotePinda

Die Identität einer Bevölkerung in Abhängigkeit von den Zwängen des Kapitalmarkts, oh je.


Quotedet-c

Am Dieselskandal sieht man wie VW die deutsche Seele präsentiert, alle haben betrogen aber nur bei VW tat es weh.


QuoteUniKrebsforscher

Der deutsche Autofetischismus ist einfach krank. VW hat übelst betrogen und wurde im Merkel-Deutschland massiv geschützt, sonst wäre der Konzern lange schon pleite. Die Arroganz seiner Manager ist einfach irre.


QuoteVera Prima

Ich würde mich sehr freuen, wenn dieser Auto-Kult ein bisschen nachließe. Hat mich immer sehr gelangweilt.


Quotefrancoisl

Wenn die deutsche Identität Volkswagen beinhaltet, identifiziere ich mich lieber nicht mehr als deutsch...


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Nachtrag:

Quote[...] Die Phrase "Es geht uns ja noch gut" kann im Kontext der Diskussion über die Klassengesellschaft kritisch betrachtet werden:

Verharmlosung sozialer Ungleichheit

Die Aussage "Es geht uns ja noch gut" kann als Verharmlosung der tatsächlichen sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft interpretiert werden. Sie suggeriert eine oberflächliche Zufriedenheit, die tieferliegende Probleme der Klassenunterschiede verdeckt.

Kritik an der Mittelschichtsperspektive

Diese Phrase wird oft aus einer Mittelschichtsperspektive geäußert und kann als Ausdruck einer privilegierten Position gesehen werden. Sie ignoriert möglicherweise die Realitäten derjenigen, die tatsächlich mit sozialen und ökonomischen Schwierigkeiten kämpfen.

Die Phrase "Es geht uns ja noch gut" kann als eine ironische oder kritische Aussage interpretiert werden, die auf verschiedene gesellschaftliche und persönliche Aspekte hinweist:

Kritik an Selbstzufriedenheit

Die Formulierung impliziert eine gewisse Selbstzufriedenheit oder Selbstgefälligkeit, die kritisch hinterfragt werden kann. Sie suggeriert, dass man sich mit dem Status quo zufriedengibt, ohne nach Verbesserungen zu streben.

Verharmlosung von Problemen

Die Phrase kann als Verharmlosung oder Verdrängung tatsächlicher Probleme gesehen werden. Sie deutet an, dass man Schwierigkeiten oder Herausforderungen nicht wahrhaben will und stattdessen eine oberflächliche Zufriedenheit vorschiebt.

Generationenkonflikt

Im Kontext von Arno Geigers Roman "Es geht uns gut" spiegelt der Titel die komplexen Beziehungen und Konflikte zwischen den Generationen wider. Er deutet auf eine Diskrepanz zwischen äußerem Schein und innerer Realität hin.

Gesellschaftskritik

Die Aussage kann als Kritik an einer Gesellschaft verstanden werden, die sich mit Mittelmäßigkeit zufriedengibt oder Probleme ignoriert. Sie hinterfragt die Tendenz, sich mit dem Bestehenden abzufinden, anstatt nach Verbesserungen zu streben.

Historischer Kontext

In Bezug auf Geigers Roman kann die Phrase auch als Kommentar zur österreichischen Geschichte und Gesellschaft von 1938 bis 2001 gelesen werden. Sie deutet auf die Komplexität historischer Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Familien und Individuen hin.

Die Kritik an der Phrase "Es geht uns ja noch gut" zielt also darauf ab, oberflächliche Zufriedenheit zu hinterfragen und zu einem tieferen Nachdenken über persönliche und gesellschaftliche Zustände anzuregen.


Textfraktale (https://www.perplexity.ai  "Frase "Es geht uns ja noch gut" Kritik", 02.11.2024)

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Link

Quote[...] Stammesdenken oder Universalismus? Die Philosophin muss sich da nicht lange entscheiden.

Dieses Buch [Susan Neiman: Links ist nicht woke. Aus dem Englischen von Christiana Goldmann. Hanser Berlin 2023. 175 Seiten] rennt so viele offene Türen ein, wie es einem andere vor der Nase zuschlägt. Wie könnte man Susan Neiman nicht darin zustimmen [https://www.tagesspiegel.de/potsdam/landeshauptstadt/ich-bin-nicht-bereit-zu-resignieren-7131169.html], dass es sich beim Phänomen der Wokeness um eine überwiegend symbolpolitische, von Affekten geleitete Schwundstufe linken Denkens handelt? ,,Es beginnt bei der Sorge um ausgegrenzte Menschen und endet bei ihrer bloßen Reduktion auf das Ausgegrenztsein." Selbst wenn man die erklärte sozialistische Mission der Philosophin nicht teilt: Indem jede Minderheit ihren eigenen einsamen Kampf um Anerkennung führt, gerät die Idee einer Gerechtigkeit für alle aus dem Blick.

Neimans Essay ,,Links ist nicht woke" hat zudem das Verdienst, Aufklärer wie Immanuel Kant, der zuletzt des offenen Rassismus geziehen wurde, oder Denis Diderot vor dem Vorwurf in Schutz zu nehmen, ihrem imperialistischen Zeitalter lediglich eine menschenfreundliche Maske verliehen zu haben. Er entreißt der Rechten eine Kritik, die sich nicht selten in der reinen Beschwörung der Chiffre woke für alle Modernisierungszumutungen erschöpft. Und er tut gut daran, dies mit einem theoretischen Ehrgeiz zu tun, der über die zahlreichen, teils gut argumentierten Einlassungen von so unterschiedlichen Stimmen wie Bernd Stegemann, Mark Lilla [https://www.tagesspiegel.de/kultur/freiheit-ist-anstrengend-5511979.html] oder John McWhorter [https://www.tagesspiegel.de/kultur/weisser-tugendterror-4311691.html] hinausgeht.

Aber ach, die Tiefe reicht bei Weitem nicht an den Ehrgeiz heran. Die Agenda eines philosophischen Universalismus, mit der sie antritt, wird überdehnt. Keine einzige ihrer drei im kulturkritischen Sinn durchaus nachvollziehbaren Hauptthesen hat bei näherem Hinsehen in ihrer Absolutheit Bestand. Es ist, erstens, zweifellos legitim, woken Aktivisten ein Stammesdenken nachzusagen. Doch mit welchem Recht spricht Neiman ihnen ab, zugleich im Namen anderer Minderheiten aufzutreten? Sind ihre Race- und Gender-Kämpfe, so tribalistisch sie verfahren, nicht auf internationale Solidarität ausgerichtet? Und steckt nicht im Begriff der Intersektionalität, also der Vorstellung, dass Diskriminierung nicht nur eine, sondern mehrere Merkmale einer Person umfassen kann, ein universalistischer Ansatz?

Es ist, zweitens, nicht zu leugnen, dass institutionelle Gerechtigkeit allein die Machtverhältnisse zwischen Menschen in all ihren Diskriminierungsschattierungen nicht aufhebt, und es ist Neiman darin zuzustimmen, dass Fortschritt in erster Linie gesetzgeberische Inititiativen erfordert. Sie legt sich unter anderem mit der Evolutionsbiologie an, die Altruismus als verborgenen Egoismus beschreibt. Doch mit welcher Chuzpe erklärt sie Michel Foucault, der sich mit seiner ,,Mikrophysik der Macht" wie kein anderer Denker des späten 20. Jahrhunderts ins biopolitische Unterholz begab, zum postmodernen Buhmann?

,,Dem Stil nach war er radikal", schreibt sie, ,,doch seine Botschaft ist nicht weniger reaktionär als die Schriften von Edmund Burke oder Joseph de Maistre." Das ist so absurd, dass man einen Konservativen wie Burke gleich mit vor Neimans bösem Blick bewahren möchte. Foucault, den Neiman als Wiedergänger des Sophisten Thrasymachos aus Platons ,,Staat" beschreibt, war kein sozialistischer Barrikadenkämpfer, sondern allenfalls ein Befreiungsromantiker im linken Milieu, der am Übergang von einer Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft gesellschaftliche Strategien im Umgang mit Sexualität, Psychopathologien und Strafjustiz erforschte. Vertrauen in eine munter voranschreitende Aufklärung war ihm so fremd wie ein wackerer Humanismus. Ohne seine Perspektive denkt man allerdings auf Anhieb dümmer.

Der Gipfel ist allerdings Neimans Versuch, Foucaults fatalen Einfluss mit demjenigen des NS-Staatsrechtlers Carl Schmitt zusammenzudenken: einen Einfluss, von dem sie selbst sagt, dass er eher in der Luft liege als durch Lektüre nachweisbar sei. Was soll man damit anfangen?

Es mag, drittens, zutreffen, dass sich Woke, verliebt ins Dauerverhängnis, in einer Opferrolle gefallen, die der Wirklichkeit nicht entspricht. Was aber außer einem noch so leisen Wunsch nach einem besseren Leben soll sie sonst treiben? Mit der woken Fortschrittsskepsis erledigt Neiman auch gleich ausdrücklich die ,,Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer/Adorno – und konservative Positionen gleich dazu.

Das größte Problem ist allerdings, dass Neiman im Namen eines philosophischen Universalismus argumentiert, den erst einmal jeder nachvollziehen kann. Unausgesprochen sind wohl die meisten halbwegs gebildeten Menschen insofern Universalisten, als sie sich in die Lebensbedingungen anderer Kulturen einzufühlen vermögen und von daher zu der Überzeugung gelangen, dass die eigenen moralischen Urteile als allgemeine Richtschnur gelten könnten.

Neiman macht dieses Gefühlsargument ungewöhnlich stark – mit dem berechtigten Hinweis, dass es in allen Kulturen Ansätze zu einem zumindest elementaren Universalismus etwa der Menschenrechte gibt. Wenn Universalismus aber heißen soll, dass moralische Urteile unabhängig von ihrer Zeit, der Kultur, der sie entspringen, und dem politischen System, das ihnen Geltung verleiht, Bestand haben, sind Zweifel erlaubt. Man muss sich deshalb nicht gleich als Parteigänger eines ,,ethnopluralistisch" eingefärbten, völkischen Nationalismus oder schrankenloser Relativist attackieren lassen.

Susan Neimans Buch ist im Grunde eine lange Fußnote zu Omri Boehms im vergangenen Jahr erschienenem Essay ,,Radikaler Universalismus" – auch wenn sie ihn nur einmal im Vorübergehen erwähnt. Er formuliert darin seine Idee von ,,metaphysischen Gerechtigkeitsprinzipien" in scharfer Abgrenzung zu liberalen Konsensmodellen, von denen auch Neiman nichts wissen will. Dieser Universalismus folgt einem Denken, das den Primat der Philosophie vor der politischen Praxis beansprucht, dabei aber sehr wohl vom Eingreifen in die Verhältnisse träumt.

Denn es gibt nun einmal eine ,,kulturelle Linke", die Richard Rorty, wie Neiman erwähnt, einmal als die ,,Foucault'sche Linke" bezeichnete. Sie hat sich ebenso sehr in Kulturkämpfe verstrickt, wie es die amerikanische Rechte mittlerweile am prominentesten in Gestalt von Ron DeSantis tut, der wenig andere Themen und Kompetenzen mitbringt.

Das Richtige und das Falsche, das Argumentierte und das Anekdotische, das Philosophische und das Feuilletonistische, gehen in Neimans temperamentvollem Essay so immer wieder Hand in Hand. Mehrfach bezieht sie sich auf die legendäre Debatte über die menschliche Natur, die Noam Chomsky und Michel Foucault 1972 im holländischen Eindhoven führten. Sie macht keinen Hehl daraus, wen sie für den Sieger hält. Wer sie auf YouTube noch einmal ansieht, wird jedoch schnell merken: Die beiden reden aneinander vorbei. Das gilt in vieler Hinsicht leider auch für Neiman und die Woken.


Aus: "Die verarmte Linke: Susan Neiman attackiert die Wokeness" Gregor Dotzauer (23.08.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-verarmte-linke-susan-neiman-attackiert-die-wokeness-10350955.html

Gregor Dotzauer (* 13. Mai 1962 in Bayreuth) ist ein deutscher Literaturkritiker, Essayist und Kulturredakteur.
https://de.wikipedia.org/wiki/Gregor_Dotzauer

Chomsky-Foucault Debate on Power vs Justice (1971)
--> https://youtu.be/xpVQ3l5P0A4

Quotegorg
23.08.23 19:31

    Indem jede Minderheit ihren eigenen einsamen Kampf um Anerkennung führt, gerät die Idee einer Gerechtigkeit für alle aus dem Blick.

Danke für diesen zentralen und wichtigen Satz! Wir brauchen doch nur die Grundwerte Respekt und Toleranz zu fördern und schon sind alle eingeschlossen und es wird nicht mehr gespalten.


QuoteRom1964
23.08.23 18:46

Woke ist reaktionär, antiliberal, pädagogisierend, autoritär, paternalistisch und übergriffig. Mir fallen nur negative Wertungen ein. Genauso könnte man im baskischen oder katalanischen Nationalismus etwas Fortschrittliches sehen.


QuotePat7
24.08.23 11:29
@Rom1964 am 23.08.23 18:46

Das ist meiner Meinung nach, mieseste Diffamierung.


Quotebelo2013
24.08.23 13:45
@Pat7 am 24.08.23 11:29

Wokness ist ein gesellschaftliche Modeerscheinung, von denen es immer wieder reichlich gegeben hat.
Die große Masse der jungen Menschen werden in Zukunft entscheiden, ob es sich verfestigt oder verschwindet.
Nicht irgendwelche Aktivistengrüppchen, sondern die Mehrheit.

So ist zB auch die Wut und der Aufstand der 68ger, zu ihrer Zeit zT wohl begründet, in den 70gern verschwunden, die Mehrheit der Jungen wollte da was anderes.

Und was ist nicht alles aus den aufrührerischen 68gern geworden?

Und es ist doch auch ganz gut, gar demokratisch?, wenn die Meinung der Mehrheit in solchen eigentlich triviale Dingen entscheidet.


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Quote[...] Der Berliner Ideenhistoriker Karsten Schubert versucht sich an einer Verteidigung der Cancel Culture ...

Vor 15 Jahren konnte hierzulande noch kaum jemand sagen, was ,,Identitätspolitik" überhaupt sein soll. Inzwischen weiß man es nicht mehr, weil dieses Wissen im Geschrei des sogenannten Kulturkampfs untergegangen und Identitätspolitik selbst ein Kampfbegriff geworden ist.

Es kursieren noch andere Bezeichnungen, die in den Debatten mehr oder weniger synonym verwendet werden: Postkolonialismus, Wokeness oder postmoderne Linke [https://www.tagesspiegel.de/kultur/die-verarmte-linke-susan-neiman-attackiert-die-wokeness-10350955.html].

Nach dem 7. Oktober 2023 wurden deren Vertreter in zahlreichen Essays und Kommentaren von konservativen und liberalen Autorinnen und Autoren zum Teufel gejagt, nachdem einige Woke das Massaker der Hamas als Befreiungskampf gefeiert hatten.

Einen ,,moralischen Bankrott" konstatiert selbst der linke Musikjournalist und Poptheoretiker Jens Balzer, und versucht in seinem Essay ,,After Woke" zu retten, was von der emanzipatorischen Theorie noch zu retten ist. Zeitgleich kommt mit Karsten Schuberts ,,Lob der Identitätspolitik" ein Buch heraus, das auf interessante Weise unbeeindruckt von den jüngsten Entwicklungen zu sein scheint.

In seiner gut gelaunten Apologetik definiert er Identitätspolitik als ,,die politische Praxis marginalisierter Gruppen, die sich in Bezug auf eine kollektive Identität gegen ihre Benachteiligung durch Strukturen, Kulturen und Normen der Mehrheitsgesellschaft wehren". Ihre Strategie besteht darin, Macht zu entblößen, wo sie zuvor nicht sichtbar war.

Wenn Aktivisten zum Beispiel einen Künstler canceln, weil er sich aus ihrer Sicht rassistisch geäußert hat, dann machen sie Schubert zufolge damit auf jene Verhältnisse aufmerksam, die das Erzählen von rassistischen Witzen ermöglichen oder sogar befördern.

Der Vorwurf, es handele sich bei dem Cancel-Versuch um einen Angriff auf die Kunst- oder Meinungsfreiheit sei im Übrigen nicht triftig, weil diese Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte gegen den Staat seien und dessen Organe in der Regel in solchen Auseinandersetzungen gar keine Rolle spielten.

Alles gut also? Sogar noch besser! Denn Identitätspolitik sei nicht allein zum Nutzen der marginalisierten Gruppen, sondern der ganzen Gesellschaft, weil sie Machtverhältnisse zur Disposition stelle und zu ihrer Veränderung anstifte. Sie erweise sich damit als Garant für eine voranschreitende Demokratisierung der Gesellschaft.

Der Autor fordert seine Leserschaft schließlich dazu auf, in sein Lob einzustimmen und Identitätspolitik als unverzichtbares Korrektiv wertzuschätzen. Wenn das nur so einfach wäre! Denn Schubert macht es einem nicht eben leicht, ihm zu folgen.

Die Politikwissenschaft steht generell nicht im Ruf, gute Autorinnen und Autoren hervorzubringen. ,,Lob der Identitätspolitik" aber ist in einem besonders spröden Stil verfasst, der auch auf ein inhaltliches Problem hindeutet.

Die knapp 200 Seiten lesen sich, als wären sie in der hintersten Ecke der Stabi verfasst worden und als hätte der Autor in dieser Zeit noch nicht einmal die Nachrichten verfolgt. Es scheint, als habe sich eine Art Schleier zwischen Argumentation und Welt, zwischen politische Theorie und politische Wirklichkeit gelegt.

Nur ein Beispiel: Die Partei BSW hat sich unter anderem gegründet, weil viele Linken-Politiker wieder verstärkt ökonomisch argumentieren wollten, anstatt sich identitätspolitischen Forderungen zu widmen. Dieser binnenlinke Konflikt prägt die deutsche Parteienpolitik nun seit über einem Jahr in erheblichem Maße.

Schubert aber hat hierzu praktisch nichts zu sagen. Solche ganz konkreten Konflikte der Gegenwart spielen für seine Theoriebildung keine Rolle, ist er sich doch sicher, dass Identitätspolitik und Klassenpolitik keinesfalls im Widerspruch zueinander stehen. Ganz im Gegenteil, da ihm zufolge doch schon die Proletarier damals zu Zeiten von Marx und Engels eigentlich Identitätspolitik betrieben hätten.

Was nach dem Versuch einer Versöhnung der gespaltenen Lager klingt, ist in Wahrheit eine feindliche Übernahme. Denn so dargestellt ist tatsächlich nicht Identitätspolitik die neue begründungsbedürftige linke Theorie, sondern umgekehrt die ökonomisch argumentierende Politik: ,,Die notwendige neue Politisierung von Ausbeutung und Kapitalismus wird es nicht gegen Identitätspolitik geben, sondern nur als eine neue intersektionale Spielart von klassenbezogener Identitätspolitik."

Es fällt schwer, beim Lesen solcher Sätze nicht an das böse Bild des Elfenbeinturms zu denken. Glaubt der Autor wirklich, dass die Beschäftigten im Niedriglohnsektor sich für eine ,,intersektionale Spielart von klassenbezogener Identitätspolitik" gewinnen lassen werden? Wenn ja, sei ihm viel Glück bei der Agitation gewünscht.


Aus: "Spröde Hymne: Karsten Schubert singt ein Loblied der Identitätspolitik" Michael Wolf (15.11.2024)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/sprode-hymne-karsten-schubert-singt-ein-loblied-der-identitatspolitik-12692705.html

QuoteThink1stSpeak2nd
15.11.24 10:57
Weder der Autor des Buches, noch der Autor des Artikels scheinen sich jemals ernsthaft mit der Kritik der politischen Ökonomie und Marx im Allgemeinen näher befasst zu haben. Anders jedenfalls scheinen mir Fehleinschätzungen, wie

    Die Partei BSW hat sich unter anderem gegründet, weil viele Linken-Politiker wieder verstärkt ökonomisch argumentieren wollten, anstatt sich identitätspolitischen Forderungen zu widmen.

kaum erklärbar. Denn auch wenn die Große Führerin Wagenknecht und ihre Entourage nicht müde werden zu betonen, dass sie sich von der "woken Lifestyle-Linken" abgrenzen wollten, sind doch gerade sie die Vertreter*innen eines durch und durch identitätspolitischen Projekts, dass seinen Nektar aus einer vermeintlichen "ostdeutschen Identität" saugt, keineswegs "ökonomisch argumentieren(d)", sondern einzig auf das vorgeblich kollektive "Gefühl" der ehem. DDR-Bewohner*innen abzielend, die sich angeblich von einer "Flut" von kulturell andersartigen "Fremdarbeitern" bedroht fühlten.

Es ist übrigens auch nicht weiter verwunderlich, dass in identitätspolitischen, "intersektionalen" Kreisen von der Kritik an der Klassengesellschaft nur noch ein verwässerter Ismus übrig bleibt und der "Klassismus" lediglich als eine von vielen möglichen Diskriminierungsformen verstanden werden kann. Quasi als eine dümmlich verkürzte Konsequenz aus der Kritik an der ebenso verkürzten "Haupt- und Nebenwiderspruchs"-Logik "marxistisch-leninistischer" Parteien und Strömungen seit den 1960er Jahren.

Und dass

    schon die Proletarier damals zu Zeiten von Marx und Engels eigentlich Identitätspolitik betrieben hätten

hat mit Marx nun wirklich rein gar nichts zu tun, sondern mit der unrühmlichen Rolle, die die Kommunistische Partei (nicht nur in Deutschland, by the way) dabei gespielt hat und weshalb die progressive, emanzipatorische Kritik des Marxismus zu einem reaktionären "proletarischen Folklorismus" verkommen ist, wie er in der DDR und allen anderen "Realsozialismen" entstanden ist.


QuoteMcSchreck
15.11.24 11:35
@Think1stSpeak2nd am 15.11.24 10:57

Sie verkennen offenbar den Ansatz des BSW vollständig. Dieser versucht, die Geringverdiener zu repräsentieren (oder auch Leute mit mehr Geld), die nicht einverstanden sind, wohin ihre Abgaben zu einem wesentlichen Teil fließen und wie wenig davon für sie selbst bleibt, mittelbar (durch Rente, medizinische Versorgung, Pflege) und wie viel an andere geht.

Die Ablehnung von Migration sehe ich bei Teilen der AfD im Osten tatsächlich in der "Fremdheit", beim BSW aber eher in wirtschaftlichen Motiven: die sollen nicht so viel von meinen Beiträgen abbekommen, zumal es immer mehr werden (nämlich mit den Ukrainern).

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Link

Quote[...] Alles begann damit, dass sich die Türkin Meri über die Schminkkünste der in Deutschland lebenden Türkinnen lustig machte. Almancı kızlar – also Türkinnen aus Deutschland – würden zu viel Bronzer und Blush benutzen, immer künstliche Wimpern tragen und ,,nicht wie echte Türkinnen" aussehen.

Meris Video ging auf Tiktok viral und zettelte einen Streit zwischen türkischen Türkinnen und deutschen Türkinnen an, der weit über einen oberflächlichen Kommentar über Make-up hinausgeht. Es löste einen Identitätskonflikt zwischen türkischen und deutschen Türkinnen aus, der beiden Seiten nur schadet.

https://www.tiktok.com/@helalgossip/video/7494270070223539479

Das Thema Make-up offenbart sich eigentlich nur als Symbol für die tieferliegenden Konflikte der Streitparteien. Die türkischen Türkinnen wollen die deutschen Türkinnen nicht als ,,richtige Türkinnen" anerkennen, die deutschen Türkinnen machen sich über die türkischen Türkinnen lustig und negieren dabei deren Lebensrealität. Und dabei wird generalisiert und diskriminiert. Außerdem versucht sich die eine Gruppe von der anderen abzugrenzen. Diese Konflikte existieren bereits seit Generationen.

Der Begriff Almancı wird nicht als neutrale Bezeichnung für die Herkunft genutzt, sondern als Abwertung gegenüber der türkischen Diaspora in Deutschland. Dieser wird vorgeworfen, ihr gehe es ,,zu gut" im Ausland. Dass viele Tür�k:in�nen in Deutschland unter Rassismus leiden und, weil viele als sogenannte ,,Gastarbeiter:innen" nach Deutschland kamen, auch unter Klassismus, wird dabei nicht beachtet.

https://taz.de/Rassismus-im-Alltag/!6081524/

https://taz.de/Leistungsdruck-bei-Arbeiterkindern/!6021020/

Häufig leben sie zwischen zwei Welten: In der Türkei gelten sie als zu deutsch, in Deutschland als zu türkisch. Dabei gibt es eine eigene deutsch-türkische Kultur, die sich seit Generationen in der türkischen Diaspora entwickelt hat. Der Begriff Gurbetçi – eine Person, die ein Leben außerhalb ihrer Heimat in der Fremde führt – würde dementsprechend besser passen, kommentieren einige Tiktok-Nutzer:innen.

Meris Video befeuert also diesen generationenalten Konflikt, indem sie in Deutschland lebenden Türkinnen das Türkisch-Sein abspricht. Das lassen sich diese allerdings nicht gefallen und antworteten mit weiteren Videos auf Tiktok, in denen sie die Schminkgewohnheiten der Türkinnen in der Türkei beleidigen.

Mittlerweile hat der Streit auch andere migrantische Communities in Deutschland erreicht: Einige in Deutschland lebende Albanerinnen stellten sich auf die Seite der Deutsch-Türkinnen. Sie kennen diesen Identitätskonflikt ebenfalls nur zu gut. Nur leider geht die Konfliktspirale so weiter, denn auch diese Seite beachtet die Lebensrealität der türkischen Türkinnen nicht: Junge Menschen in der Türkei leiden sehr unter der hohen Inflation und Perspektivlosigkeit in einer aufsteigenden Autokratie.

Der Streit hat dazu auch noch eine rassistische Seite. Indem die Deutsch-Türkinnen als Afghaninnen oder Araberinnen bezeichnet werden – was als Beleidigung gemeint ist –, wird Colourism reproduziert. Dies ist eine Form des Rassismus, die sich auf die Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe bezieht. Je dunkler die Haut, desto stärker die Diskriminierung. Durch das zu dunkle Make-up seien Deutsch-Türkinnen keine richtigen Türkinnen, heißt es. Ihnen soll so ihre kulturelle Identität abgesprochen werden. Auch über den deutschen Akzent vieler Deutsch-Türkinnen, wenn sie Türkisch sprechen, wird sich lustig gemacht. Die türkischen Türkinnen erheben somit den Anspruch auf das ,,richtige" Türkisch-Sein.

Zu dem Diskurs äußerten sich auch einige Kurd:innen. Sie kritisieren, dass beide Gruppen versuchen, sich voneinander abzugrenzen, obwohl sie viele Dinge eint. Besonders der Rassismus gegenüber der kurdischen Minderheit in der Türkei wird in dem Kontext genannt. Die kurdische Kultur wird in der Türkei seit der Gründung der Republik unterdrückt. Kur�d:in�nen sind also die Minderheitengruppe, die besonders stark Ausgrenzung erlebt, und das sowohl von türkischen als auch deutschen Türk:innen.

Als wäre das alles nicht genug, zeigt sich in dem Konflikt auch Sexismus. Indem sie das Aussehen der anderen abwerten, zeigt sich auch die internalisierte Misogynie bei beiden Parteien. Auch einige Männer bei Tiktok nehmen sich die Deutungshoheit, bewerten zu dürfen, welche der beiden Gruppen schöner sei, während sich die beiden Frauen-Gruppen gegenseitig heruntermachen.

Mit gegenseitigen Zuschreibungen, die Klischees reproduzieren und tief verankerte Diskriminierungen aufzeigen, wird im Konflikt nicht gespart. So lautet ein Kommentar unter einem kritischen Video zu dem Streit: ,,Menschen aus der Diaspora erleben Kultur anders – das ist kein Makel, sondern Teil ihrer Realität. Sie wachsen zwischen verschiedenen Einflüssen auf und entwickeln ihre eigene Art, Identität zu leben."

,,Statt Spaltung braucht es mehr Verständnis dafür, dass Vielfalt innerhalb einer Herkunftsgemeinschaft normal ist. Niemand verliert dadurch seine Wurzeln – sie wachsen einfach in verschiedenen Richtungen." Sonst schadet der Beef nur allen Parteien.


Aus: "Beef um türkische Identität" Ayşe Yıldız (6.5.2025)
Quelle: https://taz.de/Identitaetskonflikt-auf-Tiktok/!6086243/

Quoteapfel saft
06.05.2025, 16:01 Uhr

Das sind die Unsicherheitskomplexe von Ethnonationalisten. Deutschtürken können Vergleiche zwischen zwei Kulturen und politischen Systemen ziehen und sind oft zweisprachig oder dreisprachig. Jemandem der nur in einem Land aufgewachsen ist (nur deutsch oder nur türkisch) , fehlt diese vergleichende Perspektive. Den selben Pseudodiskurs gibt es auch in anderen Diasporagruppen, der von den unsozialen Medien noch algorithmisch angeheizt wird, da "Kontroversen" mehr Klicks bringen und kommerziell ausschlachtbar sind. Diese Art von Posts werden in der Sichtbarkeit priorisiert was Oel auf bestehende Differenzen giesst.


Quoterero
06.05.2025, 14:50 Uhr

"Deutsche Türkinnen", "türkische Türkinnen", "Herkunftsgemeinschaft"
In meinen Ohren klingt das alles sehr völkisch.
Und weit entfernt von der Idee von Transkulturalität.


QuoteFritz Müller
06.05.2025, 14:41 Uhr

... ja das kann er gut der Nationalismus / Patriotismus / Faschismus.

Ausgrenzen als Königsdisziplin der Erhöhung des eigenen prekären Egos.


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