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[Frankfurter Schule (Kritische Theorie, Notizen) ... ]

Started by Link, December 15, 2019, 06:19:47 PM

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Als Frankfurter Schule wird eine Gruppe von Philosophen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen bezeichnet, die an die Theorien von Hegel, Marx und Freud anknüpfte und deren Zentrum das 1924 in Frankfurt am Main eröffnete Institut für Sozialforschung war. Sie werden auch als Vertreter der dort begründeten Kritischen Theorie begriffen. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Schule

Max Horkheimer - "Porträt eines Aufklärers" (1969)
Besuch in Castagnola: Portrait & Gespräch (mit Hellmuth Karasek). Im Jahr 1930 wurde Max Horkheimer als Ordinarius für Sozialphilosophie an die Universität Frankfurt am Main und als Direktor an das Institut für Sozialforschung berufen. Bereits in seiner Antrittsvorlesung hatte er das Programm skizziert, aus dem dann, in den 1930er-Jahren im amerikanischen Exil, die Kritische Theorie, die später weltberühmt gewordene "Frankfurter Schule" entstand. Sein Verhältnis zur Studentenbewegung steht im Zentrum der Fragen, die Hellmuth Karasek und Kurt Zimmermann dem Philosophen in diesem Gespräch stellen (hr 1969).
https://youtu.be/npDU_Plntc4

"Zur Aktualität der Dialektik der Aufklärung" (01.07.2015)
Prof. Dr. Arnd Pollmann
https://lecture2go.uni-hamburg.de/l2go/-/get/l/4493

Ingo Elbe: Einführung in die Kritische Theorie
Das Frankfurter Institut für Sozialforschung um Max Horkheimer, Erich Fromm, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und andere entwickelte seit den 1930er Jahren das Programm einer interdisziplinären kritischen Gesellschaftstheorie und stellte sich den Erfahrungen des Scheiterns der sozialistischen Bewegungen, der Ausbreitung von Autoritarismus und Faschismus in Europa und schließlich der Shoah: Die gesellschaftlichen Bedingungen und psychologischen Mechanismen autoritärer und antisemitischer Ideologien wurden ebenso analysiert wie die Strukturen der Kulturindustrie. Diese sozialpsychologischen und kulturkritischen Untersuchungen sollten zunächst mittels eines unorthodox interpretierten Marxismus zu einer ,,Theorie des gegenwärtigen Zeitalters" beitragen.
Der Vortrag soll eine Einführung in theoretische Quellen, Grundgedanken und Entwicklung dieser Theorieschule liefern.
Referent: Dr. Ingo Elbe ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Oldenburg. 2010 erschien in zweiter Auflage sein Buch ›Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik‹. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema Marx -/Marxismusforschung und zur politischen Philosophie. Aktuelles Buch: ›Paradigmen anonymer Herrschaft. Politische Philosophie von Hobbes bis Arendt‹. Würzburg 2015. Online-Texte unter www.rote-ruhr-uni.com sowie https://uol.de/philosophie/pd-dr-ingo-elbe/publikationen/
Der Vortrag wurde am 7. November 2018 im Rahmen der Reihe "Politische Psychologie heute: Die Rückkehr des autoritären Charakters" an der Universität Trier gehalten
https://youtu.be/ZGXgKmFg8YU

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'The Frankfurt School'-In Our Time BBC Radio 4
Thu 14 Jan 2010 - "Melvyn Bragg and guests Raymond Geuss, Esther Leslie and Jonathan Rée discuss the Frankfurt School.This group of influential left-wing German thinkers set out, in the wake of Germany's defeat in the First World War, to investigate why their country had not had a revolution, despite the apparently revolutionary conditions that spread through Germany in the wake of the 1918 Armistice. To find out why the German workers had not flocked to the Red Flag, Theodor Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin and others came together around an Institute set up at Frankfurt University and began to focus their critical attention not on the economy, but on culture, asking how it affected people's political outlook and activities. But then, with the rise of the Nazis, they found themselves fleeing to 1940s California. There, their disenchantment with American popular culture combined with their experiences of the turmoil of the interwar years to produce their distinctive, pessimistic worldview. With the defeat of Nazism, they returned to Germany to try to make sense of the route their native country had taken into darkness. In the 1960s, the Frankfurt School's argument - that most of culture helps to keep its audience compliant with capitalism - had an explosive impact. Arguably, it remains influential today.Raymond Geuss is a professor in the Faculty of Philosophy at the University of Cambridge; Esther Leslie is Professor in Political Aesthetics at Birkbeck College, University of London; Jonathan Rée is a freelance historian and philosopher, currently Visiting Professor at Roehampton University and at the Royal College of Art."
https://youtu.be/3rwqqA3nHiI

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The Frankfurt School of Critical Theory
Introduction to Theory of Literature (ENGL 300) - This course was recorded in Spring 2009. (Open Yale Course)

This first lecture on social theories of art and artistic production examines the Frankfurt School. The theoretical writings of Theodor Adorno and Walter Benjamin are explored in historical and political contexts, including Marxism, socialist realism, and late capitalism. The concept of mechanical reproduction, specifically the relationship between labor and art, is explained at some length. Adorno's opposition to this argument, and his own position, are explained. The lecture concludes with a discussion of Benjamin's perspective on the use of distraction and shock in the process of aesthetic revelation.
00:00 - Chapter 1. Marx, Engels, and Ideology
09:46 - Chapter 2. The Aesthetics of Marxist Criticism
19:58 - Chapter 3. Adorno, the Work of Art, and Collectivity
27:54 - Chapter 4. Bloch's Principle of Hope
31:09 - Chapter 5. Benjamin and Mechanical Reproduction
37:54 - Chapter 6. Adorno and Conformism
41:01 - Chapter 7. Benjamin, the Spectator, and Distraction
https://youtu.be/FFpGf7aPXNA

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"Er war die graue Eminenz der Frankfurter Schule" Hans-Christian Riechers (11.12.2019)
Die Historisierung der Kritischen Theorie ist in vollem Gange. Nach den Biografien der Granden und den Gesamtdarstellungen, die zuletzt Stuart Jeffries mit ,,Grand Hotel Abgrund" vornahm, kommen auch halb verborgene Akteure ans Licht. Zu ihnen zählt neben dem ,,argentinischen Krösus" Felix Weil, über den vor zwei Jahren eine Biografie erschien, auch Friedrich Pollock.  ...
https://www.tagesspiegel.de/kultur/friedrich-pollock-er-war-die-graue-eminenz-der-frankfurter-schule/25320234.html


"Ein Gründer der Frankfurter Schule: Der Undurchschaubare" Detlev Claussen (28. 1. 2020)
Der große Anteil Friedrich Pollocks an der Kritischen Theorie ist kaum bekannt. Philipp Lenhard hat nun die erste Biografie über ihn geschrieben. ... Als die Kritische Theorie Ende der 1960er Jahre in aller Munde war, wurde der Name Friedrich Pollock selten genannt. Studenten in Adornos Frankfurter philosophischem Oberseminar bekamen ihn manchmal zu Gesicht, wenn er seinen lebenslangen Freund Max Horkheimer auf seinen Reisen von Montagnola nach Frankfurt begleitete, um an alter Wirkungsstätte nach dem Rechten zu sehen.
An den durchaus lebhaften Diskussionen beteiligte er sich nie. Wenn es zum Disput zwischen Horkheimer und Adorno kam, setzte Pollock ein undurchschaubares Lächeln auf, das auf manchen Porträtfotos wiederzuerkennen ist. ...
https://taz.de/Ein-Gruender-der-Frankfurter-Schule/!5656747/


"Philosophische FlaschenpostMax Horkheimer und die Grenzen der Freiheit" Stefan Gosepath (09.02.2020)
Je mehr Freiheit, desto besser, könnte man meinen. Doch die Freiheit begünstigt die Stärkeren gegenüber den Schwächeren, fand der Sozialphilosoph Max Horkheimer. Der Philosoph Stefan Gosepath sieht aktuelle Beispiele dafür auf dem Wohnungsmarkt. ,,Je mehr Freiheit es gibt, desto mehr wird die Gerechtigkeit dadurch gefährdet, daß die Stärkeren, Gescheiteren, Geschickteren die anderen schädigen", so Max Horkheimer 1970 in einem Gesprächsband. Zuviel individuelle Freiheit könne nach Horkheimers Einschätzung also zur Unterdrückung anderer führen, erklärt der Berliner Philosoph Stefan Gosepath. Als Mitbegründer der marxistisch geprägten Frankfurter Schule habe sich Horkheimer zeitlebens mit den gesellschaftlichen Ursachen von Unterdrückungsverhältnissen befasst und zugleich erforscht, wie man etwas daran ändern kann.
Horkheimers Zitat versteht Gosepath vor allem als Plädoyer für die Bedingtheit individueller Freiheit durch Gesellschaft – und für den Vorrang gesellschaftlicher Gerechtigkeitsforderungen gegenüber dem Freiheitsstreben Einzelner:
,,Also nicht, die Leute haben erst Freiheit und dann wird ihre Freiheit beschnitten, sondern umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wir versuchen, eine gerechte Gesellschaft zu ermöglichen, und innerhalb dieser haben Leute Freiheitsansprüche, die gesellschaftlich gesichert sein müssen, sonst können sie überhaupt nicht bestehen. Und in diese Sicherung gehört zugleich auch ein Verteilungsschlüssel, nämlich der der Gleichheit."...
Diese Beobachtung sei heute von ungebrochener Aktualität, meint Gosepath, weil gerade in einem ,,entfesselten Kapitalismus" Freiheiten sehr ungleich verteilt seien. Ein Beispiel dafür sieht Gosepath in der Verdrängung auf dem Wohnungsmarkt ...
https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophische-flaschenpost-max-horkheimer-und-die-grenzen.2162.de.html?dram:article_id=469839


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"Philosophie als kollektive Arbeit: Das Ende der großen Zauberer" Max Beck, Nicholas Coomann, Christoph Demmerling (24.01.2021)
Die Geschichte der Philosophie wird meist als Abfolge genialer Einzelpersonen wahrgenommen. Spätestens für die 1920er Jahre ist diese Sichtweise überholt. ... Die Kritische Theorie war vom Bewusstsein getragen, dass Philosophie den Stand der modernen Einzelwissenschaften nicht ignorieren kann. Vielmehr müsse sie, wie Horkheimer in seiner Antrittsvorlesung als Institutsdirektor 1931 forderte, die ,,aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten wissenschaftlichen Methoden" verfolgen. ... Spätestens mit Kritischer Theorie, Philosophischer Anthropologie und Logischem Empirismus ist Philosophie nicht länger nur eine Sache großer und genialer Individuen, sondern auch vernetzter und sich gegenseitig beeinflussender denkerischer Arbeit – und so wurde in der ,,Zeit der Zauberer" zugleich das Ende der großen Zauberer eingeläutet. ...
https://www.tagesspiegel.de/kultur/-philosophie-als-kollektive-arbeit-das-ende-der-grossen-zauberer/26847102.html


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Quote[...] Martin Mittelmeier erzählt die Entstehung des Schlüsselwerks von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno nach ...  Gezeigt werden "dialektische Bilder", die allesamt vor dem Zerbersten stehen: "Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst." Oder, mit Blick auf die Entwertung des Lebens im Grauen des Holocaust: "Die Antisemiten sind dabei, ihr negativ Absolutes aus eigner Macht zu verwirklichen, sie verwandeln die Welt in die Hölle, als welche sie sie immer schon sahen." Die Gegenwartsdiagnostik führt die Denker weit zurück bis an den Ursprungspunkt der Menschheitsgeschichte.

... Was Mittelmeiers Abriss leistet, ist ein vorsichtiger Abgleich mit heutigen Anforderungen. An der Unart der Massenkultur, vor allem "Reklame" ihrer selbst zu sein, hat sich wenig geändert. Im Ringen um die menschliche Selbstzivilisierung hingegen wird die Notwendigkeit spürbar, das Verhältnis zur Natur auf Basis der Friedfertigkeit neu zu bestimmen. Denn zärtlich soll das Wechselspiel sein, das das Subjekt mit seinem Gegenüber "Realität" betreibt: In nichts anderem als der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt bestehe die "innere Tiefe des Subjekts".


Aus: "Die Geburt der "Dialektik der Aufklärung" unter Kaliforniens Palmen" Ronald Pohl (1. Februar 2022)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000132980030/die-geburt-der-dialektik-der-aufklaerung-unter-kaliforniens-palmen

Martin Mittelmeier, "Freiheit und Finsternis. Wie die ,Dialektik der Aufklärung' zum Jahrhundertbuch wurde"
320 Seiten. Siedler, München 2021

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Quote[...] [Andreas Petersen ist Dozent für Zeitgeschichte an der Fachhochschule Nordwestschweiz und Leiter der Geschichtsagentur zeit&zeugen in Zürich und Berlin. Soeben ist sein Buch "Der Osten und das Unbewusste – Wie Freud im Kollektiv verschwand" (Klett-Cotta) erschienen.] In der DDR war die Tiefenpsychologie verpönt. Das blockierte die Aufarbeitung der NS-Geschichte, sagt der Historiker Andreas Petersen.

[...]

Dr. Peter Neumann: [...] In Ihrem jüngst erschienenen Buch Der Osten und das Unbewusste geht es um die fehlende Vergangenheitsbewältigung nicht nur in der Sowjetunion und Osteuropa, sondern auch in Ostdeutschland. Und Sie machen dafür vor allem auch den Umgang mit der Tiefenpsychologie verantwortlich. Warum?

Andreas Petersen: Der erste Band mit Schriften von Sigmund Freud, dem Gründungsvater der Psychoanalyse, erschien 1982 in der DDR. Man muss sich klarmachen, was das heißt: kein Theodor W. Adorno, kein Max Horkheimer, kein Erich Fromm, keine Frankfurter Schule, keine Studien zum autoritären Charakter, keine echte Gesellschaftskritik. Ich bin in Nordrhein-Westfalen, in Köln sozialisiert worden. Dort war alles völlig durchtränkt von tiefenpsychologischen Therapieangeboten und von Faschismusaufarbeitung: Wer waren unsere Väter eigentlich? Was haben die in der Wehrmacht gemacht? Warum waren sie zu solchen unvorstellbaren Verbrechen fähig gewesen? Was ist Gehorsam? Da gab es Filme, Buchhandlungen, die WGs. Ein ganz zentraler Text für uns war Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt. Also die Frage: Was verbindet uns mit Adolf Eichmann, dem Mann, der die Verfolgung, Vertreibung und Deportation von Millionen Juden organisierte. Die Tiefenpsychologie war ungemein wichtig für den Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. 20 Millionen Zuschauer verfolgten 1969 im Fernsehen die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich, der mit seiner Frau Margarete zwei Jahre zuvor eines der einflussreichsten Bücher der deutschen Nachkriegsgeschichte geschrieben hatte: Die Unfähigkeit zu trauern. Im Osten hingegen, so formulierte es der DDR-Regisseur Achim Freyer erst kürzlich, war die Seele das Kitschwort aus dem Westen.

[...]

Dr. Peter Neumann: Sie meinen, dass das aus den USA nach Westdeutschland zurückgekehrte psychoanalytische Denken die Gesellschaft wieder zu sich selbst zurückbrachte?

Andreas Petersen: Ohne Freud und die Tiefenpsychologie wäre diese Öffnung nicht zu denken gewesen. Und dann gab es mit den Achtundsechzigern eine Generation, die wirklich wissen wollte, was mit ihren Eltern im Faschismus war. Diese junge Generation hatte Lektüreangebote, man konnte sich belesen und informieren. Ich erinnere nur an das Buch des Psychoanalytikers Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, 1941 im amerikanischen Exil veröffentlicht. Fromm untersuchte, wie der Individualismus der Moderne auf unbewusste Weise zur Flucht ins Autoritäre, Destruktive und Konformistische geführt hatte.

Dr. Peter Neumann: Sie schreiben in Ihrem Buch aber auch, dass die therapeutische Nabelschau im Westen bald zu einer Art Mode wurde. Bewegungen wie das hinduistische Hare Krishna, der Zen-Buddhismus, Taoismus, Tai-Chi-Chuan und Tantra wurden populär. Plötzlich ging es nicht mehr um Faschismus und Aufarbeitung, sondern nur noch um persönliches Glück und Selbstoptimierung. Hat die Durchpsychologisierung der Gesellschaft auch zu einer Vereinzelung ihrer Individuen geführt?

Andreas Petersen: Heute ist vielfach das Argument zu hören: Für mich stimmt's, nach meinem Empfinden verhalten sich die Dinge so und so. Und das war's. Ich halte das in der Tat für eine völlige Fehlentwicklung. Wenn alle das eigene Befinden zum Maßstab erheben, ist das für eine Gesellschaft fatal, weil sie damit auseinanderfällt. Dann fragt sich: Was verbindet Gesellschaften überhaupt? Verbundenheit entsteht über gemeinsame Werte. Lange Zeit hat die Religion noch die Funktion übernommen, eine verlässliche Basis für viele zu schaffen. Aber dieser Wertekonsens ist heute aufgebrochen, was einerseits natürlich gut ist, weil es mit einer Pluralisierung der Lebensstile einhergeht. Gleichzeitig haben wir eben das Problem, dass wir im Zuge der Individualisierung nicht mehr genau wissen, was eine Gesellschaft noch zusammenhält. Und da hat diese Durchpsychologisierung eben zwei Seiten: Auf der einen Seite hat sie eine große Öffnung bewirkt, für die man dankbar sein kann. Auf der anderen Seite hat sie zu einer starken Singularisierung geführt, in der man vor allem auf sich selber fokussiert ist und nicht mehr auf die Gesellschaft als Ganzes.

Dr. Peter Neumann: Die Psychoanalyse fehlte im Osten nahezu vollständig. Freud galt als westlich, bourgeois, dekadent. So etwas wie das Unbewusste, Triebhafte durfte es im Sozialismus nicht geben. Man unterrichtete vielmehr den russischen Verhaltensforscher Iwan Pawlow, dessen Lehre von der klassischen Konditionierung besser ins Bild des neuen Sowjetmenschen passte. Wusste die DDR, wer sie war?

Andreas Petersen: Nicht nur die DDR, sondern alle osteuropäischen Gesellschaften wussten nicht, wer sie waren. Wenn bestimmte Sachen gesellschaftlich nicht verhandelt werden können, wenn sie nicht in der Zeitung, nicht im Feuilleton, nicht in der öffentlichen Diskussion vorkommen, höchstens im privaten Kreis, in Kirchen oder Kliniknischen auftauchen, dann gibt es darüber auch keine Verständigung in der Gesellschaft. Es bleibt eine Lücke in der Kommunikation. Man darf sich die Kerngruppe der Achtundsechziger gar nicht so groß vorstellen. Das sind 2.000 Leute, und dann gibt es noch einen Sympathisantenkreis mit ein paar Tausend Unterstützern. Mehr sind es nicht. Aber im hinterletzten bayerischen Dorf erzählen die Leute zwanzig Jahre später, dass sie Achtundsechziger gewesen sind. Die haben das medial mitbekommen, haben sich identifiziert, haben an dieser gesellschaftlichen Auseinandersetzung teilgenommen. Im Osten brauchte es schon sehr viel Energie, um solche Gespräche praktisch von Mensch zu Mensch, von Görlitz nach Leipzig zu transportieren.

Dr. Peter Neumann: Für die DDR war klar, woher das Unheil kam. Man lagerte das Problem einfach aus und zeigte mit dem Finger über die Mauer: Die Faschisten sitzen drüben im kapitalistischen Westen. Man selbst war das "bessere Deutschland". So blieb auch in den Familien die Aufarbeitung meist aus.

Andreas Petersen: Die Achtundsechziger haben letztlich ihre Vergangenheit nicht am Familientisch verhandelt. Sie haben nicht ihre Eltern befragt, das war zu heiß. Sie haben es gesellschaftlich verhandelt, das ist das Besondere. Es wäre zum Beispiel sehr einfach gewesen, über die Wehrmachtauskunftstelle an Informationen zu kommen: Man konnte einen Antrag stellen und wusste zwei Monate später alles über den eigenen Onkel oder Vater: Wo haben die gedient, welche Einheit, sind sie verwundet gewesen? Anders gesagt: Wenn man wissen wollte, was die Männer damals im Krieg gemacht haben, dann gab es dafür öffentliche Stellen. Diese Stellen gab es in der DDR nicht, aber vor allem gab es keine gesamtgesellschaftliche Fragestellung. Dass die Aufarbeitung auch im Westen nicht lückenlos verlief, sehen wir heute im Umgang mit dem Ukraine-Krieg, den "Bloodlands", jenem Gebiet zwischen Zentralpolen und Westrussland, wo die Wehrmacht damals ihre Verbrechen verübt hat, neue Verbrechen geschehen, aber die notwendige Unterstützung ausbleibt.

Dr. Peter Neumann: Wie meinen Sie das?

Andreas Petersen: Es gibt Sätze, die inzwischen zu Plattitüden geworden sind: Man sagt "Nie wieder", und man fragt sich, was heißt das, jetzt, hier, konkret in dieser Situation. Wenn man dieses "Nie wieder" ernst nehmen würde, müsste man jetzt Waffen an die Ukraine liefern. Es gab die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion, und einer der Hauptschauplätze war die Ukraine. Und wenn wir einen ehrlichen Umgang suchen, dann müssen wir auch eine Diskussion über die deutsche Schuld in der Ukraine führen.

Dr. Peter Neumann: Warum hat sich der Gefühlsstau nach 1989 im Osten nicht einfach entladen?

Andreas Petersen: Schon die Beschäftigung mit der NS-Diktatur im Westen war ja unheimlich schwierig. Und im Osten kam bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte nun noch die zweite Diktatur hinzu. Das wäre dann wirklich sehr viel gewesen. Das Ausbleiben einer nachholenden Bewegung nach 1989 hat aber auch mit der Entwicklung der Tiefenpsychologie selbst zu tun. Es sind nicht mehr die Siebziger-, Achtzigerjahre mit ihrem utopischen Aufbruchsgedanken. Es ist jetzt die integrierte Verhaltenstherapie, die Menschen im Burn-out auffängt. Die Fragen "Wer bin ich?", "Wer sind meine Eltern?", "Woher komme ich?", "Was bedeutet das für mein Leben?" rücken in den Hintergrund. Auch in den Therapien geht es jetzt vor allem um Effizienz und Selbstoptimierung. Es gibt heute nur noch zwei psychoanalytische Lehrstühle in Deutschland, alles andere ist Verhaltenstherapie.

Dr. Peter Neumann: Einerseits ist die deutsche Schuld heute so präsent wie lange nicht mehr. Nicht nur in der Ukraine, auch im Nahen Osten, wenn es um die deutsche Staatsräson und die Frage geht, wie viel deutsche Kritik an Israel zulässig ist. Andererseits gibt es gerade aus dem Globalen Süden Stimmen, die von dieser deutschen Schuld nichts wissen möchten. Die sie sogar verantwortlich machen für gegenwärtiges Unrecht in Gaza. Propalästinensische Aktivisten skandieren "Free Palestine from German Guilt" ("Befreit Palästina von deutscher Schuld"). Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Andreas Petersen: Zur Aufarbeitungsdiskussion gehört das Wissen darum, was war. Es geht am Ende um die Fakten. Das gilt auch für den Vernichtungskrieg der Deutschen. Wo waren diese Wehrmachtssoldaten eigentlich? Ich habe neulich eine Veranstaltung mit dem Osteuropahistoriker Karl Schlögel gemacht, der sagte: Gehen Sie in Berlin in die Gedächtniskirche am Breitscheidplatz, im Keller gibt es im Rahmen einer Ausstellung eine Landkarte für deutsche Soldaten in Stalingrad, darauf alles Städte, die heute wieder Kampfgebiet sind: Sumy, Kramatorsk, Charkiw, Orte, an denen auch Schlögels Vater war. Diese Art von harter Erkenntnis meine ich, wenn ich von Aufarbeitung spreche. Meine Hoffnung ist, dass wir eine gemeinsame Basis finden. Die Interpretationen können dann immer noch unterschiedlich sein, aber wir sollten mindestens davon ausgehen können, dass wir über dieselben Fakten sprechen.


Aus: ""Nimmt man 'Nie wieder!' ernst, müsste man der Ukraine Waffen liefern"" (1. April 2024)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2024-03/andreas-petersen-osten-freud-psychologie-ukraine