"Adorno zum 50. Todestag: Die Vernunft der Verrückten" Gregor Dotzauer (12.07.2019)
Was hat uns die Kritische Theorie noch zu sagen? Zum 50. Todestag von Theodor W. Adorno, des vielseitigsten Denkers der Frankfurter Schule, erscheint ein verblüffend aktueller Vortrag über Rechtsradikalismus.
https://www.tagesspiegel.de/kultur/adorno-zum-50-todestag-die-vernunft-der-verrueckten/24588444.html-
[...] In dem berühmten Werk "Dialektik der Aufklärung", das er zusammen mit Max Horkheimer 1947 in den USA veröffentlichte, suchten die Verfasser eine Antwort auf die Frage, "warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt". Der 1903 als Sohn eines jüdischen Weinhändlers geborene Theodor W. Adorno hatte allen Grund, diese Frage zu stellen. Mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 war dem Musiktheoretiker und Philosophen, der sich mit einer Arbeit über Kierkegaard habilitiert hatte, im Zuge der Amtsenthebung jüdischer Dozenten die Lehrbefugnis entzogen worden. Über eine Dozententätigkeit in Oxford emigrierte er in die USA, wo er 1938 offizielles Mitglied des nach New York übergesiedelten Instituts für Sozialforschung wurde.
1949 kehrte Adorno nach Frankfurt zurück. Seine Themen könnten von heute sein: Er arbeitete über den Zusammenhang von Autoritätsgläubigkeit und Faschismus, sprach 1952 über "Die kulturelle und soziale Strukturveränderung im geeinten Deutschland". 1967, in einer Zeit, in der die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD)" in sechs Landesparlamente eingezogen war, hielt er vor Studenten in Wien eine Vorlesung über die "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus".
Diesen Vortrag, der bisher nur als Audio-Aufzeichnung existierte, hat der Suhrkamp-Verlag jetzt als Buch veröffentlicht. Der Historiker und Rechtsextremismus-Forscher Volker Weiß hat das Nachwort geschrieben. Mit der Deutschen Welle sprach er darüber, warum sich Adornos Vortrag wie eine Rede zur Gegenwart liest.
DW: Der Kapitalismuskritiker Theodor W. Adorno erlebte seine Hoch-Zeit in den frühen Sechziger Jahren. 50 Jahre nach seinem Tod gehört der philosophische Patriarch plötzlich wieder zu den öffentlich wahrgenommenen Intellektuellen. Welcher seiner Denkansätze ist für unsere globalisierte Gesellschaft heute noch wesentlich?
Historiker Volker Weiß: Adornos Philosophie war nicht alleine eine Kritik des Kapitalismus, sondern eine Bestandsaufnahme der Moderne insgesamt. Besonders galt sein Augenmerk den Auswirkungen der zivilisatorischen Entwicklung der Gesellschaften auf die einzelnen Subjekte, also der Frage, wieviel Befreiung der Fortschritt schafft und wieviele neue Bedrohungen. Als kluger Marxist wusste er, dass es weder möglich noch wünschenswert war, die technische Entwicklung aufzuhalten. Er verfiel jedoch nicht in einen simplen Fortschrittsoptimismus, der in der Linken ja lange dominierte. Für ihn war die Erfahrung bedeutend, was passierte, wenn sich das Wissen in den Dienst der Herrschaft, nicht der Befreiung stellt. So konnte Aufklärung gewissermaßen auf dem höchsten Stand der Technik in eine neue Barbarei umschlagen. Das 19. und das 20. Jahrhundert boten dafür genug Anschauungsmaterial. Auch wenn "die Moderne" mittlerweile zu Grabe getragen wurde, sich diversifiziert hat, von mehreren "Modernen" in verschiedenen Erscheinungsformen gesprochen wird, so bleiben die Kernfragen Adornos doch über einen langen Zeitraum hin aktuell.
Adorno war ein Denker, kein Aktivist. Doch sein Satz "Es gibt kein wahres Leben im falschen" ist zu einem populären Slogan geworden. Welche Analyse verbirgt sich hinter dieser Formel?
Dieser Aphorismus aus der "Minima Moralia" bezog sich auf die Unmöglichkeit, sich angesichts der katastrophischen Entwicklung irgendwo ein privates Glück einzurichten. Moderne Gesellschaften tendieren zur Totalität, ihre Auswirkungen erfassen alles, jedes Lebewesen, jeden Lebensbereich – da schwinden die Nischen. Ein Freibrief aber, das Richtige gar nicht erst zu versuchen, ist das nicht. Zudem dürfte es Adorno fern gelegen haben, seine Aphorismen als Kalendersprüche wiederzufinden.
20 Jahre nach dem Untergang des sogenannten Dritten Reichs zogen Rechtsradikale wieder in die Parlamente ein, in Deutschland die NPD. Wie erklärte Adorno den Erfolg rechtsextremistischer Philosophie?
Bemerkenswerterweise sieht Adorno als Ursachen mehr die Defizite der westlichen Demokratien und weniger das Treiben der alten Nazis, die in den sechziger Jahren noch sehr präsent waren. Er wusste, dass die Rechte von jeher ihre Kraft aus der Enttäuschung der Menschen über die uneingelöste Emanzipation zog. Seit dem 19. Jahrhundert wird ihnen gesagt, sie seien ihres Glückes Schmied, und doch stoßen sie stets an unsichtbare Grenzen. So kann er die faschistischen Bewegungen als "Wundmale der Demokratie" identifizieren.
Der Vortrag, den Adorno 1967 vor Wiener Studenten hielt, "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus", ist jetzt im Suhrkamp Verlag als Buch erschienen. Das Buch steht inzwischen sogar auf den Bestsellerlisten. Was macht ihn - nach mehr als 50 Jahren - so aktuell?
Diese "Wundmale" finden sich ja bis heute, wenn man z.B. die Demokratiedefizite in bürokratischen Apparaten wie der EU beachtet. Inzwischen mehren sich die Stimmen, lieber mit einer überschaubaren Autorität wie einem illiberalen Nationalstaat konfrontiert zu sein, als mit schwer verständlichen, abstrakt wirkenden Apparaten. Auch sozialpsychologisch hat uns Adorno noch etwas zu sagen. Die wirtschaftliche und technologische Entwicklung – Adorno bezieht sich hier auf Kapitalkonzentration und Automatisierung – schafft das Gefühl der eigenen Überflüssigkeit. Tatsächliche oder gefühlte Krisen bewirken den Wunsch nach einem Ende des Ganzen. Dieser katastrophische Zug, halb als Furcht, halb als Sehnsucht, kennzeichnet diese Bewegungen bis heute. Und die von ihm bei der NPD beobachteten Methoden sind bis heute im Einsatz. Die Kombination von technischer Perfektion und völliger Abstrusität des Inhaltes kann im Internet jeden Tag beobachtet werden.
Was empfiehlt er, um rechtsextremer Politik entgegenzuwirken?
Er macht sich keine Illusionen, die Führer der Rechten im Gespräch zu bekehren. Dieser Gedanke hätte bei der Generation, die den Zweiten Weltkrieg erlebte, sicher nur Stirnrunzeln erzeugt. Er empfiehlt, deutlich auf die Folgen der rechten Politik hinzuweisen, ihren destruktiven Zug und dessen Konsequenzen. Vor allem aber will er ihnen die Jugend abspenstig machen – was, wie sich heute sagen lässt, damals durchaus gelungen ist.
Die Gründungsfigur der "Frankfurter Schule" war ein scharfsinniger Kulturkritiker. Er kritisierte eine laute, propagandistische Kultur. Worin erkannte er sie?
Er war ja nicht "die" Gründerfigur, mit dem Autorenkreis der Kritischen Theorie sind ja noch mehr Namen verbunden: Horkheimer, Pollock, Löwenthal, Benjamin, Marcuse, Fromm, Kracauer, um nur die bekanntesten Namen zu nennen.
An der modernen Kultur kritisierte Adorno das Serielle, Schematische. Ein recht typischer Diskurs dieser Kreise, bei Walter Benjamin finden sich ja auch Überlegungen über den Verlust des Einzigartigen, "Auratischen" der Kunst unter den Bedingungen der Massenproduktion. Heute arbeitet Kunst selbst längst mit dem Motiv ihrer industriellen Fertigung. Solange sie die Bedingungen ihres Entstehens reflektieren, lässt sich nichts gegen serielle Schöpfungen einwenden. Kritisch wird es, wenn Authentizität vorgetäuscht wird, wo nur Schema ist. Da betreten wir den Bereich von Kitsch – und von Propaganda.
Theodor W. Adorno: "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus - Ein Vortrag". Mit einem Nachwort von Volker Weiß, Suhrkamp Verlag, Juli 2019, 86 Seiten.
In seinem 2017 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Buch "Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes" liefert Volker Weiß eine Zeitdiagnose zu den rechtspopulistischen Phänomenen Pegida, AfD & Co. Das Buch mit 304 Seiten erschien im Verlag Klett-Cotta.
Das Gespräch führte Sabine Peschel.
Aus: "An seinem 50. Todestag ist Theodor Adorno hochaktuell - Wie kommt das?" Sabine Peschel (05.08.2019)
Quelle:
https://www.dw.com/de/an-seinem-50-todestag-ist-theodor-adorno-hochaktuell-wie-kommt-das/a-49897603[...] Ein sensationeller Fund: Bereits 1967 machte sich der aus dem Exil zurückgekehrte Theodor W. Adorno Gedanken über einen Rechtsruck. Es ist verblüffend, wie sehr seine Analyse an die aktuelle Situation erinnert.
Adorno über Donald Trump, die AfD und den globalen Rechtspopulismus? Und das alles schon 1967? Okay, der Begriff Fake News taucht damals noch nicht auf. Aber natürlich kannte der Philosoph und Soziologie die Propagandatechnik der plumpen Lüge nur zu gut, diese „völlig irren und phantastischen Geschichten“. Zum Beispiel die, dass „seinerzeit der Rabbiner Nussbaum gefordert hat, dass alle Deutschen kastriert werden sollen. Ich habe das Beispiel eben erfunden, wohlverstanden, aber so von dieser Art sind also die Argumente. Es wird mit Kenntnissen geprotzt, die sich schwer kontrollieren lassen, die aber eben dem, der sie vorbringt, eine besondere Art von Autorität verleihen“.
Theodor W. Adorno, der als Sohn des jüdischen Weingroßhändlers Oscar Alexander Wiesengrund in Frankfurt geboren wurde und Deutschland 1933 verlassen musste, wusste, wovon er sprach. Im Exil hatte er zusammen mit Max Horkheimer die „Dialektik der Aufklärung“ verfasst, ein Standardwerk unter anderem über die Neigung des Menschen, auch irrationalen Eifer mit rationalem Kalkül durchzusetzen. 1949 kehrte Adorno nach Frankfurt zurück, 1967 sprach er vor Studenten in Wien. Seine Vorlesung über die „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ fällt in eine Zeit, in der die NPD reihenweise die westdeutschen Landtage erobert – und das kaum 20 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur. Pünktlich zu Adornos 50. Todestag am 6. August liegt der Vortrag zum ersten Mal schriftlich vor.
Adorno beobachtet, dass „die Anhänger des Alt- und Neufaschismus heute quer durch die Gesamtbevölkerung verteilt sind“. Er konstatiert „so etwas wie einen sich verstärkenden Gegensatz der Provinz gegen die Stadt“. Und er macht unter den Anhängern rechtsradikalen Gedankenguts eine latent katastrophische Grundgestimmtheit aus: Diese Kreise würden ihre Anhängerschaft über den „Wunsch nach Unheil, nach Katastrophe“ mobilisieren.
Wie die Paarung aus Lüge und Katastrophenbeschwörung funktioniert, konnte man diese Woche an der Twitterei führender AfD-Politiker studieren. In Frankfurt war ein Junge mit tödlichen Folgen vor den Zug gestoßen worden und der Täter – es war ein Eritreer – wurde allein aufgrund seiner Herkunft ursächlich mit Merkels Migrationspolitik von 2015 in Verbindung gebracht – obwohl dieser seit 2006 in der Schweiz lebende Eritreer nun wirklich nichts damit zu tun hat. Doch die Sehnsucht der Menschen nach Mythen ist manchmal größer als die Akzeptanz von Realitäten.
In seinem Vortrag von 1967 betont Adorno, dass jede selbst nur gefühlte oder instrumentalisierte Wut eine reale Basis hat: „Wer nichts vor sich sieht und wer die Veränderung der gesellschaftlichen Basis nicht will, dem bleibt eigentlich gar nichts anderes übrig, als wie der Richard-Wagnersche Wotan zu sagen: ‚Weißt Du, was Wotan will? Das Ende.’ –, der will aus seiner eigenen sozialen Situation heraus den Untergang, nur eben dann nicht den Untergang der eigenen Gruppe, sondern wenn möglich den Untergang des Ganzen.“
Adornos Vorlesung über die „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ wird im Rahmen seiner Nachgelassenen Vorträge bei Suhrkamp erscheinen. Weil das Thema brisant und aktuell erscheint, hat der Verlag die Wiener Vorlesung als Single ausgekoppelt und mit Bonusmaterial versehen (einem Nachwort) – ein Verfahren, das Adorno wahrscheinlich als kulturindustriell empfunden hätte.
Aber diese Pointe kam den allseits entzückten Feuilletonisten gar nicht in den Sinn, auch weil sie mit der Entdeckung beschäftigt waren, dass Adornos Kapitalismuskritik und die Gespinste der Neuen Rechten (etwa eines Björn Höcke) erstaunliche Schnittmengen haben. Dass und wie rechte Vordenker sich bei Linken bedienen, von Marx für Rechte über den Greenpeace-Aktivismus der Identitären Bewegung bis zur Metapolitik im Sinne Gramscis, haben Bücher über die Neue Rechte von Thomas Wagner („Die Angstmacher“) und Volker Weiß („Die autoritäre Revolte“) bereits klug herausgearbeitet. Weiß steuert der Adorno-Vorlesung jetzt das Nachwort bei.
Es lohnt sich darüber hinaus, Adornos Vorlesung auch mithilfe des Buchs „Die Gesellschaft des Zorns“ von Cornelia Koppetsch in den Blick zu nehmen, der jüngsten, luziden Analyse zum globalen Rechtspopulismus. Denn das Gefühl der „permanenten Deklassierung von Schichten, die ihrem subjektiven Klassenbewusstsein nach durchaus bürgerlich“ wären, hatte Adorno noch dem Kapitalismus angelastet, den man heute gemeinhin Globalisierung nennt. Sein Kennzeichen ist, dass er nicht mehr nur Unterschichten betrifft, sondern ein irrationales Moment der Moderneverweigerung provoziert, das allen gesellschaftlichen Schichten innewohnt, auch den Eliten.
Aus: "„Wunsch nach Unheil, nach Katastrophe“" Marc Reichwein (05.08.2019)
Quelle:
https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article197963465/Adornos-Vorlesung-ueber-Aspekte-des-neuen-Rechtsradikalismus.htmlMax S.
Der beste Satz in diesem Artikel: "Doch die Sehnsucht der Menschen nach Mythen ist manchmal größer als die Akzeptanz von Realitäten."
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Mediatheksblog: Zum 50. Todestag: Adornos Vorträge hören! (6. August 2019)
Unter anderem über Rechtsradikalismus und Sexualtabus sprach der Philosoph in verschiedenen Vorträgen im Wien der 60er-Jahre
Österreichische Mediathek, Sedlaczek
Der vor 50 Jahren in der Schweiz verstorbene Philosoph Theodor W. Adorno hatte vielfältige Verbindungen nach Wien. Adorno hatte im Jahr 1925 bei Alban Berg studiert und kehrte in den 1960er-Jahren immer wieder für Vorträge nach Wien zurück. Die Österreichische Mediathek – vormals Österreichische Phonothek – hat diese Veranstaltungen in den 1960ern auf Tonband aufgezeichnet. Die mittlerweile digitalisierten Originalaufnahmen können online nachgehört werden.https://www.derstandard.de/story/2000106905604/zum-50-todestag-adornos-vortraege-hoeren-
Vortrag des Soziologen Theodor W. Adorno: "Aspekte des neuen Rechtsradikalismus" (1967)
Spieldauer: 01:12:08, Mitwirkende:Adorno, Theodor W. // Verband Sozialistischer Studenten Österreichs // Österreichische Mediathek
Datum: 1967.04.06 [Aufnahmedatum]
Ort: Wien, Universität Wien
Schlagworte: Wissenschaft und Forschung; Politik; Gesellschaft; Soziologie; Psychologie; Rechtsextremismus; Faschismus und Nationalsozialismus; Antisemitismus; Nationalismus; Arbeitslosigkeit; Sozialismus und Sozialdemokratie; Vortrag; Propaganda; Unveröffentlichte Eigenaufnahme der Österreichischen Mediathek
Archivformat: Tonband auf Kern (AEG)
https://www.mediathek.at/oesterreich-am-wort/suche/treffer/atom/014EEA8D-336-0005D-00000D5C-014E5066/pool/BWEB/Online zugänglich Medien: Theodor W. Adorno
https://www.mediathek.at/portalsuche/?q%5B%5D=Adorno