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[Migration & Flüchtlingspolitik (Notizen) ... ]

Started by Link, April 28, 2015, 09:33:37 AM

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Quote[...]  Exzessive Gewalt, Misshandlung, Erniedrigung: Ein Schwarzbuch zu Pushbacks wirft einen schockierenden Blick auf das europäische Grenzregime.

Von Tobias Müller, Amsterdam

«Ehe sie die Wache verliessen, wurden ihnen Handschellen angelegt, die Polizei benutzte eine erniedrigende Sprache und schlug sie auf den Hinterkopf. Die beiden Minderjährigen begannen zu weinen. Sie wurden in einen weissen Bus mit verdunkelten Scheiben geladen, aus denen man nicht nach draussen schauen konnte, es gab keine frische Luft. Als sie fragten, wohin sie führen, entgegnete der Beamte, sie sollten ihr Maul halten.»

Szenen wie diese, die an ein diktatorisches Regime erinnern, gehören zum Alltag an den Aussen- und zunehmend auch an den Binnengrenzen der Europäischen Union. Die obige Schilderung betrifft fünf pakistanische Geflüchtete im Alter zwischen 15 und 45 Jahren. Mitte Juli dieses Jahres wurden sie in Triest von Beamten verhaftet, die sich als Geheimpolizisten ausgegeben hatten.

Die Schilderung ist eines von 892 vergleichbaren Zeugnissen von Geflüchteten, die im «Schwarzbuch der Pushbacks» gesammelt sind. Erstellt wurde das Buch vom Border Violence Monitoring Network (BVMN), einem Zusammenschluss von NGOs und Menschenrechtsinitiativen. Es kritisiert seit Jahren die zunehmende Zahl von Pushbacks, also die illegalen und formlosen Rückschiebungen von Asylsuchenden über eine Grenze, sowie die fehlenden staatlichen Kontroll- und Sanktionsmechanismen. In Auftrag gegeben und finanziert hat das Buch die Fraktion der Linken im EU-Parlament.

Letzte Woche, zum Internationalen Tag der MigrantInnen am 18.  Dezember, wurde es per Videoschaltung im Parlament vorgestellt. «Was wir heute auf den Tisch legen, existierte in dieser Form bisher nicht», so Cornelia Ernst, deutsche Abgeordnete der Fraktion der Linken. Das 1500 Seiten umfassende Dokument liefere «deutliche Beweise, dass an den Aussengrenzen strukturell und beabsichtigt staatliche Gewalt gegen Geflüchtete ausgeübt wird» – mit dem Zweck, ihre Einreise zu verhindern.

Pushbacks, betont das Schwarzbuch, verstossen gegen das in der universellen Erklärung der Menschenrechte enthaltene Recht auf Asyl, die Grundrechtscharta der EU sowie das in der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegte Prinzip der Nichtzurückweisung. Trotzdem hätten sie sich vor allem seit der Schliessung der sogenannten Balkanroute 2016 zunehmend zu einer «gut koordinierten, systematischen Praxis» entwickelt, die offiziell nicht eingestanden werde.

Die gelisteten Fälle, die 12 654 rückgeschobene Personen betreffen, sind dabei nur ein Teil des tatsächlichen Umfangs dieser Praxis. Die Dokumentation, die detailliertes Kartenmaterial enthält, widmet sich auch sogenannten Kettenrückschiebungen, die etwa von Italien oder Österreich über Slowenien und Kroatien verlaufen: ein gesetzwidriger Transport, rückwärts entlang der stillgelegten Balkanroute über die europäischen Aussengrenzen hinaus. Von rund 3000 Pushbacks von Kroatien nach Bosnien-Herzegowina und Serbien, die allein für 2019 protokolliert sind, war rund ein Fünftel Teil einer solchen Kette.

Dies gilt auch für das eingangs erwähnte Zeugnis der pakistanischen Männer, die von Italien zunächst nach Slowenien gebracht wurden. Die dortigen Beamten schlugen sie mit Stöcken und übergaben sie den kroatischen Kollegen. Diese banden ihnen die Hände mit Kabelbindern zusammen und misshandelten sie mit stacheldrahtumwickelten Schlagstöcken. Darauf folgte eine stundenlange Fahrt in unbelüfteten Polizeibussen an die bosnische Grenze, wo sie erneut geschlagen und mit Pfefferspray besprüht wurden. Zuletzt schoss ein kroatischer Beamter dreimal in die Luft und hetzte einen Schäferhund auf sie, um sie zurück nach Bosnien zu treiben. Das Ersuchen der Geflüchteten um Asyl wurde nacheinander von italienischen, slowenischen und kroatischen GrenzbeamtInnen ignoriert.

Im Blickpunkt des Buches steht das Vorgehen der Beamten. Als «gnadenlose, sadistische und erniedrigende Gewalt» fasst das Border Violence Monitoring Network deren Praxis in der Einleitung zusammen. 2020 habe sich diese Situation noch verschlimmert. «Es ist selten, keine Gewalt bei einem Pushback zu erleben. In Kroatien und Griechenland betrifft sie beinahe neunzig Prozent der dokumentierten Fälle.»

Genannt werden unter anderem der Einsatz elektrischer Waffen, erzwungenes Entkleiden, Drohen mit Feuerwaffen, Haft ohne die grundlegendsten Standards. Die Zerstörung oder Konfiszierung persönlichen Besitzes wie Telefonen ist gängige Praxis. Fotos von Platzwunden am Kopf oder Rücken mit Striemen und Blutergüssen dokumentieren die Menschenrechtsverletzungen, die das Netzwerk auch in monatlichen Bulletins beschreibt.

Verschiedene Medien haben 2018 über die ersten Pushbacks auf der ehemaligen Balkanroute berichtet, darunter auch die WOZ (siehe Nr. 49/2018). Bis heute gehen die Praktiken ungehindert weiter. «Eine Schande», so Europaparlamentarierin Cornelia Ernst. «Täglich wird an den EU-Aussengrenzen gegen EU-Prinzipien und Menschenrechte verstossen.»


Aus: "EU-Grenzen: Ein Dokument der Schande" Tobias Müller, Amsterdam  (Nr. 52/2020 vom 24.12.2020)
Quelle: https://www.woz.ch/2052/eu-grenzen/ein-dokument-der-schande

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Quote[...] Das Loch in der Wand des Gummiboots ist faustgroß. Einer der Bootsinsassen presst seine Hand darauf, damit nicht so viel Luft ausströmt. Ab jetzt ist das Kentern nicht mehr nur eine Gefahr, ab jetzt geht es für die 19 Flüchtlinge darum, das sichere Kentern ihres Bootes irgendwie zu verzögern. Das Video, das ein 16-Jähriger von der dramatischen Situation gedreht hat, steht im Internet neben etlichen weiteren, die zeigen, wie Flüchtlingsboote in der Ägäis Schiffbruch erleiden. Und sie zeigen, wer die Boote zuvor kaputt macht - in die Luftkammer sticht, auf den Motor einschlägt.

Maskierte, die mit Schnellbooten an die Flüchtlinge heranfahren, zwingen sie durch solche Schikane zur Umkehr. Sie sollen griechische Gewässer verlassen, und zwar möglichst unbemerkt. Denn eigentlich hätten diejenigen, die in den zumeist überfüllten Booten hocken, bereits Anspruch darauf, in der Europäischen Union Asyl zu beantragen - und auf ein Verfahren. Ziel der Angriffe ist es darum, die Boote wieder in türkische Gewässer zu treiben, jenseits der EU-Außengrenze. "Pushback" nennt sich die Methode, sie ist illegal und gefährlich. Auf dem offenen Meer, mit kaputten, manövrierunfähigen Booten, geraten die Menschen in Lebensgefahr.

Auch wenn sich die Angreifer auf den Schnellbooten hinter Masken verbergen, so spricht doch vieles dafür, dass sie ihre Attacken mit Billigung der griechischen Küstenwache fahren. Denn die agiert selbst sehr fragwürdig, wie im vergangenen August aus einem Bericht deutscher Bundespolizisten hervorging. Die Deutschen patrouillieren im Rahmen der europäischen Grenzschutzagentur Frontex in der Ägäis, um die EU-Außengrenze zu überwachen. Ihre Beobachtungen alarmierten nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch viele Bundespolitiker.

Am 10. August vergangenen Jahres entdeckten die Polizisten im Meer vor der griechischen Insel Samos ein Boot mit 40 Flüchtlingen. Sie informierten die Küstenwache und blieben eine halbe Stunde lang in der Nähe, bis das gerufene griechische Schiff eintraf. Als Letztes sahen die Bundespolizisten, wie Flüchtlinge bei der Küstenwache an Bord gingen. Entsprechend erstaunt waren die deutschen Beobachter, als bei Rückkehr der Griechen in den Hafen kein einziger Flüchtling von Bord ging. Sie berichteten den Vorfall. Er deutet auf einen Pushback hin, denn noch in derselben Nacht wurde das Boot wieder im türkischen Teil der Ägäis entdeckt und von den dortigen Behörden gesichert.

Die griechische Seite erklärt den Vorfall so: Als das Schiff der Küstenwache das Flüchtlingsboot fast erreicht habe, sei jenes umgedreht und wieder Richtung Türkei gefahren. Das jedoch widerspricht massiv der Darstellung der deutschen Polizisten, die ja gesehen hatten, wie Menschen an Bord gegangen waren. Überzeugen können die Griechen mit dieser Erklärung darum kaum jemanden in Berlin, der sich mit dem Thema Migration und Grenzpolitik beschäftigt: Nicht die grüne Expertin Luise Amtsberg, die hier einen illegalen Pushback befürchtet, nicht den SPD-Fachmann Frank Schwabe, der die Erklärung als "absolut absurd" wertet. Auch nicht den Unions-Experten Josef Oster, für den die Darstellung "nicht überzeugend" ist.

Nur einer scheint mit der griechischen Version zufrieden zu sein: Fabrice Leggeri, Direktor von Frontex. Griechenland habe ihm versichert, dass es keine Regeln verletze, erklärte Leggeri der "Welt" in einem Interview. Zuvor hatte er dem Innenausschuss des EU-Parlaments erklärt, für die Beteiligung - direkt oder indirekt - an Pushbacks durch Frontex gebe es keine Beweise.

Doch genau darum würde es sich handeln, wenn die Griechen das Flüchtlingsboot gegen den Willen der Menschen wieder in türkische Gewässer getrieben oder gezogen haben sollten. In jenem Fall wären auch die Bundespolizisten im Auftrag von Frontex an der illegalen Praxis beteiligt, indem sie - völlig korrekt - die Küstenwache über die Position des Bootes informierten. Schon um die deutschen Polizeibeamten davor zu schützen, ohne es zu wollen an Menschenrechtsverletzungen beteiligt zu sein, verlangen Grüne und SPD bessere Aufklärung durch Frontex.

Innenminister Horst Seehofer hingegen verlangte das lange nicht. Noch im November konnte eine Sprecherin des Ministeriums, nach dem August-Vorfall gefragt, nicht nachvollziehen, wie die Journalisten darauf kämen, "dass es sich hierbei um einen illegalen Pushback gehandelt hat". Sie "druckste herum", so nennt es Schwabe im Gespräch mit ntv.de, und fordert, wenn Seehofer ein solcher Vorfall gemeldet werde, "dann muss er Alarm schlagen. Er muss verlangen, dass Griechenland, dass Frontex das sofort aufklären. Und wenn nicht, dann sind wir nicht mehr dabei."

Immerhin, nach zähem Ringen der Fraktionen über Monate war Frontex-Chef Leggeri am Mittwoch im Innenausschuss zugeschaltet. Der Direktor antwortete zwar ausführlich, aber offenbar wenig konkret. Die Grüne Amtsberg fühlt sich in ihrer Skepsis gegenüber der EU-Agentur eher noch bestätigt und drängt darauf, Frontex strukturell zu verändern. Die Grünen seien nicht gegen Grenzschutz, der sei wichtig, um Kriminalität zu bekämpfen, sagt sie nach der Ausschuss-Sitzung. "Aber er muss menschenrechtskonform sein und durchlässig für Menschen, die Schutz brauchen." Wenn das nicht gegeben sei, "ist das Frontex-Mandat infrage zu stellen".

Unionspolitiker Oster zieht aus der Befragung unter anderem die Erkenntnis, dass eindeutigere Regeln notwendig seien, wie mit Fällen wie dem vom August umzugehen sei. "Zu häufig kommen die Beamten vor Ort in eine unklare Situation", sagt er ntv.de, "das ist nicht gut, wenn es darum geht, einen effektiven europäischen Grenzschutz zu etablieren." Die EU müsse eindeutiger definieren, was Frontex dürfe und was nicht, auch im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten.

Für die Überwachung der Menschenrechte beim Grenzschutz ist schon vor Monaten in der EU beschlossen worden, 40 Grundrechtsbeobachter einzustellen, die die Einhaltung der Gesetze kontrollieren sollten. Bis zum 5. Dezember hatte Leggeri dafür Zeit, eingestellt worden ist noch niemand. Die EU-Kommission erhöht nun den Druck auf Leggeri, die EU-Antibetrugsbehörde OLAF ermittelt und auch vor dem Berliner Innenausschuss musste sich der Frontex-Chef dazu erklären. Er sagte zu, dass die Kontrolleure im Frühjahr kommen sollen. Die Lösung der Probleme ist das nicht, aber für Leggeris Verhältnisse wäre auch ein erster Schritt dorthin bemerkenswert.

Quelle: ntv.de


Aus: "Pushbacks gegen Flüchtlingsboote Illegal und lebensgefährlich" Frauke Niemeyer (Donnerstag, 14. Januar 2021)
Quelle: https://www.n-tv.de/politik/Illegal-und-lebensgefaehrlich-article22289804.html

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#102
"Honduras: Mit Gewalt gegen Träume" (19. Januar 2021)
Erneut haben sich Tausende Flüchtlinge aus Honduras auf den Weg in die USA gemacht. In Nachbarländern wird alles getan, um sie zu stoppen, wie diese Bilder zeigen.
Erneut kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Migrantinnen und Migranten aus Honduras mit Sicherheitskräften in Guatemala. Dabei ist dieses Land gar nicht das Ziel der Flüchtlinge. Sie träumen von einem besseren Leben in den USA. Doch der Weg dahin – zu Fuß – ist weit und die lateinamerikanischen Nachbarländer tun alles dafür, die Menschen von ihrem Vorhaben abzubringen. Bilder von der Grenze ...
https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-01/honduras-guatemala-caravan-migranten-grenze-fs


"Nach Tod von 39 Vietnamesen in Lkw Schleuser in England zu langer Haft verurteilt" (22.01.2021)
Es war ein qualvoller Tod: 39 Migranten aus Vietnam waren auf dem Weg nach Großbritannien in einem Lkw erstickt. Nun fiel ein hartes Urteil. ... Es müssen unerträgliche Zustände gewesen in dem Lastwagen, in den 39 Migranten aus Vietnam gepfercht waren. Bis zu 40 Grad hätten in dem versiegelten Container geherrscht, sagte Richter Nigel Sweeney. Die Insassen hatten keine Überlebenschance. Als nach Stunden die Türen geöffnet wurden, waren sie bereits tot: 31 Männer und 8 Frauen, darunter auch Teenager. Alle Opfer stammten aus Vietnam.
Am Freitag verurteilte der Richter Sweeney vier Mitglieder einer Schleuserbande zu langen Haftstrafen: Die beiden Anführer müssen für 27 beziehungsweise 20 Jahre ins Gefängnis, der Fahrer des Lastwagens für 13 Jahre und vier Monate und ein viertes Mitglied für 18 Jahre.
,,Ich habe keine Zweifel daran (...), dass es sich um eine raffinierte, langjährige und profitable Verschwörung handelte, um hauptsächlich vietnamesische Migranten über den Kanal zu schmuggeln", sagte der Richter. Die Vietnamesen seien einen qualvollen Tod gestorben. Zugleich betonte Sweeney: ,,Die Bereitschaft der Opfer, illegal ins Land einzureisen, ist keine Entschuldigung für das, was ihnen widerfahren ist."
Die Toten waren am 23. Oktober 2019 im Südosten Englands in einem Lkw entdeckt worden. Die Schlepper hatten von ihnen viel Geld verlangt. Zunächst 10.000, später 13.000 Pfund (fast 15 000 Euro) kassierten sie pro Person. Es war nicht der erste Trip zwischen dem europäischen Festland und Großbritannien, den die Bande organisierte....
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/nach-tod-von-39-vietnamesen-in-lkw-schleuser-in-england-zu-langer-haft-verurteilt/26843904.html

Quotemcflue 22.01.2021, 17:10 Uhr

    Nun fiel ein hartes Urteil.

Wenn man die Schuld am grausamen Tod von 39 Menschen trägt und sich auch noch bezahlen ließ, ist dies kein "hartes" Urteil!


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"Außer Kontrolle"
Frontex All die Skandale um die EU-Grenzbehörde zeigen: Europas eigentliches Problem ist der falsche Umgang mit Geflüchteten
Vera Deleja-Hotko, Ann Esswein, Bartholomäus von Laffert | Ausgabe 06/2021
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/ausser-kontrolle

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Quote[...] Bis zu 12.000 Flüchtlinge sollen sich derzeit in Bosnien-Herzegowina aufhalten. Sie leben dort größtenteils unter erbärmlichen Bedingungen, bei winterlicher Kälte in provisorischen Camps oder im Wald. Sie wollen weiter in die Europäische Union, um Asylanträge zu stellen. Doch die Grenze zum benachbarten EU-Land Kroatien ist geschlossen. Der bosnische Staat ist überfordert; Hilfe kommt von Freiwilligenorganisationen.

Auch die aus Greifswald stammende Ärztin Kristina Hilz versucht zu helfen: Im bosnisch-kroatischen Grenzgebiet behandelt sie die Menschen wegen Zahnschmerzen, Erkältungen, Krätze. Aber regelmäßig auch wegen gravierender Verletzungen, die ihnen von kroatischen Grenzpolizisten zugefügt wurden, wie sie es schildert: ,,Ich habe kaum Menschen getroffen, die das nicht erlebt haben."

Demnach werden Flüchtlinge mit Fäusten oder Gewehren geschlagen oder sie werden getreten:

,,Die Gewalt, die wir sehen, hat absolut auch System dahinter. Ich habe das Gefühl, dass gerade Männer in den Oberkörper, in die Kopfregion und viel auf die linke Thoraxhälfte geschlagen werden. Ich habe viele gebrochene Rippen gesehen und teilweise Gesichtsfrakturen, die Beine werden praktischerweise immer ausgespart."

Auch Frauen und Kinder seien von Gewalt betroffen: Zuletzt habe ein vier Monate altes Baby Tränengas in die Augen bekommen. Dazu komme, dass die Grenzpolizisten die Menschen mit dem Tode bedrohen und ihnen Handys, Geld und Dokumente stehlen.

Hilz kennt Berichte von mehr als 40 Pushbacks pro Person und zweifelt nicht an deren Wahrheitsgehalt, zumal die Verletzungsmuster ,,eindeutig zuordenbar" seien. Als Pushbacks wird ein Vorgehen bezeichnet, bei dem aufgegriffene Geflüchtete umgehend wieder zurück über die Grenze gebracht werden. Dies gilt als illegal, denn den Schutzsuchenden wird damit das Recht verwehrt, einen Asylantrag zu stellen.

Bei der EU erkennt die Medizinerin eine ,,stille Zustimmung" zu den Zuständen. Es gebe nicht nur zahlreiche Zeugenberichte, sondern auch einige Klagen. Hilz fordert ,,klare Worte" und die Aufnahme der Flüchtlinge, ,,die in diesen schrecklichen Umständen leben müssen".

(bth)


Aus: "Bosnisch-kroatische Grenze,,Die Gewalt gegen Geflüchtete hat System"" Kristina Hilz im Gespräch mit Stephan Karkowsky (15.02.2021)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/bosnisch-kroatische-grenze-die-gewalt-gegen-gefluechtete.1008.de.html?dram:article_id=492544

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#104
Beim Anschlag in Hanau am 19. Februar 2020 erschoss der 43-jährige Hanauer Tobias Rathjen ... in und vor einer Shisha-Bar, einem Kiosk und einer Bar neun Hanauer Bürger mit Migrationshintergrund. Danach erschoss er in der elterlichen Wohnung seine Mutter und sich selbst. Die Tat wird vom Bundeskriminalamt als rechtsextremer Terrorakt mit rassistischen Motiven eingestuft. Der Täter war arbeitslos und den Behörden seit Jahren mit paranoiden Wahnvorstellungen aufgefallen. Es ist ungeklärt, warum es dem Täter möglich war, trotz seiner psychischen Auffälligkeiten, ab 2002 legal Waffen zu besitzen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Anschlag_in_Hanau_2020 (25. Februar 2021)

https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Rechtsterrorismus_in_Deutschland

Quote[...] Als Burkard Dregger am Donnerstagvormittag vor die Berliner Abgeordneten tritt, mag seine Absicht eine gute sein. Und auch der Anlass ist gegeben: Im Plenum des Abgeordnetenhauses wird an diesem Donnerstag, dem ersten Jahrestag des rassistischen Terroranschlags im hessischen Hanau, der Opfer gedacht. Doch die Rede des Berliner CDU-Fraktionsvorsitzenden geht völlig daneben.

Er leitet damit ein, dass er mit der ,,gleichen Abscheu" auf die Hanauer Tat blicke wie auf islamistische Terroranschläge in Dresden, Paris, Nizza und Wien. Es erscheint fraglich, ob die Angehörigen und Freunde der Hanauer Opfer sich ernst genommen und angesprochen fühlen durften, als Dregger dann sagte, ihre Tränen flössen ,,genau so wie bei den Hinterbliebenen des Terroranschlages auf unseren Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche". Was haben die deutschen Opfer des rechtsextremistischen Täters mit Islamismus zu tun? Ist es, weil ihre Namen für Dregger irgendwie ausländisch klingen?

In der Hanauer Shishabar wurden vor einem Jahr Deutsche getötet, weil sie einem anderen Deutschen nicht deutsch genug aussahen, klangen, waren. Dreggers Vorschlag, um solche Spaltungsversuche zu verhindern? ,,Zeigen wir noch deutlicher als bisher die vielen guten Beispiele gelungener Integration, nicht nur die berühmten Erfinder des Impfstoffes von Biontech, sondern die vielen stillen Helden des Alltags."

Als könnten Beispiele für gute Integration einen rassistischen Mörder bremsen. Als müsste jemand, der Ferhat Unvar heißt und in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, seine Zugehörigkeit zu diesem Land beweisen, um nicht ermordet zu werden.

Dass in Dreggers Rede zu einem rassistischen Anschlag auch der Verweis auf den Linksextremismus nicht fehlen durfte – in Form der bahnbrechenden Erkenntnis, dass jede Form des Extremismus ,,schlecht" sei – war bei so viel taktloser Gleichmacherei fast schon egal.

Nach dem Attentat machten die Angehörigen und Freunde der in Hanau Ermordeten schlimme Erfahrungen. Mit Behörden, die sie rücksichtslos oder sogar als Gefährder behandelten. Mit einer Mehrheitsgesellschaft, die ihren Schmerz nicht zu teilen schien. Zum ersten Jahrestag des rassistischen Terroranschlags war ihre Botschaft klar, verstärkt wurde sie von People of Color bundesweit: ,,Wir sind Deutsche, aber ihr macht uns zu Fremden in unserem Land."

Dregger muss sich fragen lassen, warum und für wen er seine Rede wirklich gehalten hat. Er ist eins der Gesichter der größten Oppositionspartei in einer Stadt, in der jede:r Dritte einen Migrationshintergrund hat. Und hat mit diesen Worten nichts dazu beigetragen, ihrem Gefühl der Entfremdung etwas entgegenzusetzen. Im Gegenteil.


Aus: "Rede des Berliner CDU-Fraktionschefs zu Hanau Komplett daneben" (26.02.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/rede-des-berliner-cdu-fraktionschefs-zu-hanau-komplett-daneben/26953282.html

Quotepeter.der.mueller 25.02.2021, 19:39 Uhr

Die CDU kann einfach nicht anders.
Heute relativiert sie rassistischen Anschläge. Und wenns morgen bei der Wahl knapp werden sollte, zückt sie zuverlässig wieder die rassistische Karte.

- Asylkampagne - Bund 1991
- Doppelpass Kampagne - Hessen 1999
- Kinder statt Inder - NRW 2000
- Clan-Kriminalität - Berlin 2021

...


QuoteWisente 25.02.2021, 19:30 Uhr

Das Tragischste an diesem Tag ist die Alternativlosigkeit in der Berliner CDU. Auch von anderen Spitzenpolitkern der Partei wäre heute nichts Anderes zu erwarten gewesen. Man hat sich im eigenen Politikkonzept verirrt, wo Klischees und Vorurteile stärker ausgeprägt sind als Anstand, Höflichkeit und Empathie - was jeder Spitzenpolitiker haben sollte, oder zumindest vorspielen. Man muss an dieser Stelle eben nicht sagen, was man für Vorurteile hat. Wahrscheinlich ist es aber kein Ausrutscher, sondern Dregger steht für den Teil der schweigenden Mehrheit in Deutschland, welche auch außerhalb des AFD-Spektrums Vorurteile pflegen. Mein Lieblingszitat aus "Linie 1" - Wer war denn hier Nazi, wir waren immer deutschnational... So sehr ändern sich die Zeiten eben doch nicht. Dafür reicht es eben, immer knapp an der Kanto zu stehen, und irgendwann übertritt man eben doch die Linie, welche angeblich in der eigenen Partei gilt, aber nicht immer.


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"Frontex: Agentur außer Kontrolle" Von Bartholomäus von Laffert, Ann Esswein und Vera Deleja-Hotko (11. Februar 2021)
Vertuschte Menschenrechtsverletzungen, heimliche Treffen mit der Rüstungsindustrie: Über Frontex werden immer mehr Vorwürfe bekannt. Wer kontrolliert die Kontrolleure? ... Seit Jahren gibt es Vorwürfe, dass Frontex sich an illegalen Push-Backs in der Ägäis beteiligt oder sie zumindest gedeckt habe. Auch soll die Agentur teilweise Treffen mit der Rüstungsindustrie verschwiegen und gegenüber dem EU-Parlament mehrmals die Unwahrheit gesagt haben. Aufgeklärt sind diese Vorwürfe nicht. Auch personelle Konsequenzen gab es für die Frontex-Führung bislang keine. ...
https://www.zeit.de/politik/2021-02/frontex-eu-grenzschutzagentur-kontrolle-menschenechte-ruestungsindustrie/komplettansicht


"Vorwurf der Menschenrechtsverletzung EU startet Untersuchung gegen Frontex" Stand: 23.02.2021 02:12 Uhr
Eine Prüfgruppe im EU-Parlament untersucht ab heute die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Im Zentrum steht die Frage, ob die Agentur systematisch Menschenrechtsverletzungen begangen habe.
Von Matthias Reiche, ARD-Studio Brüssel
https://www.tagesschau.de/ausland/eu-frontext-untersuchung-101.html

"Nicht nur Böhmermann hat Fragen Frontex gerät unter Beschuss" (Samstag, 06. Februar 2021)
... Lucas Rasche, Wissenschaftler an der Berliner Denkfabrik Jacques Delors Centre, beschäftigt sich seit Jahren mit der EU-Migrations- und Asylpolitik. Er sieht für das Frontex-Dilemma vor allem zwei Gründe: Seit 2016 sei die Behörde zu einer Art Super-Agentur mit mehr Budget, mehr Personal und mehr Kompetenzen aufgestockt worden. Dabei habe man jedoch verpasst, auch Kontroll- und Transparenzmechanismen auszubauen. "Das wird umso klarer, je mehr Verantwortung die Agentur übernimmt", sagt Rasche. Zugleich spiele sich das alles in einem bestimmten politischen Klima ab.
Rasche erinnert etwa an den März 2020, als die Türkei die Grenzen zur EU für Geflüchtete für offen erklärte und griechische Beamte die Migranten teils gewalttätig abwehrten. Das Grundrecht, einen Asylantrag stellen zu dürfen, setzte Athen zeitweise aus - und EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen bezeichnete Griechenland als "europäisches Schild". "Die Verwicklungen von Frontex in Pushbacks sind dann eine Fortsetzung dieser Politik", sagt Rasche. Die EU versuche, mit verstärktem Grenzschutz zu kaschieren, dass sie sich seit Jahren nicht auf ein funktionierendes Asylsystem einigen könne. ...
https://www.n-tv.de/politik/Frontex-geraet-unter-Beschuss-article22342602.html

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Quote[...] Der EU-Türkei-Deal wird diese Woche fünf Jahre alt. Statt Griechenland zu helfen, hat er die Probleme der fehlkonstruierten EU-Asylpolitik offenbar verschärft.

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) stellt fünf Jahre nach der EU-Türkei-Erklärung zum Migrationsmanagement dem EU-System in der Ägäis ein vernichtendes Urteil aus. In einem jetzt veröffentlichten Policy Paper der Denkfabrik, die seit kurzem vom Bundesinnenministerium finanziert wird, bezeichnen die Fachleute das Hotspot-System auf den griechischen Inseln als systematisch dysfunktional und lassen erkennen, dass sie die Webfehler des Festhaltens von Migranten an den europäischen Südgrenzen auch kaum für reparabel halten.

Aktuell leben auf den Inseln, unter gut dokumentierten katastrophalen Bedingungen, 13.000 Menschen, die dorthin geflohen sind, die meisten aus Syrien und Afghanistan. Zeitweise waren es 38.000. Ausgelegt sind die Lager für wenige Tausend. Ein Fünftel sind Frauen, mehr als ein Drittel Kinder, die von Bildung so gut wie ausgeschlossen sind. Eine reguläre Schule besuchen sechs Prozent, informelle Bildungsangebote von NGOs erreichen etwa 28 Prozent von ihnen. Das Papier zitiert in seinem Titel "No more Morias? Die Hotspots auf den griechischen Inseln: Entstehung, Herausforderungen und Perspektiven" ein Versprechen, das EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im September nach dem Brand des Lagers auf Lesbos gab.

Das System der Hotspots existiert seit dem Frühjahr 2015. Unter dem Eindruck hoher Flüchtlingszahlen, die sich im Spätsommer desselben Jahres dann auf ein bisher im Nachkriegseuropa unbekanntes Hoch steigern sollten, verfügte eine damals neue Migrationsagenda der EU, dass Orte, an denen binnen kurzem ungewöhnlich viele Migrantinnen und Migranten irregulär anlanden, besondere Unterstützung der Union erhalten sollten. Die Kommission in Brüssel erklärte fünf griechische Ägäis-Inseln - Chios, Kos, Leros, Lesbos und Samos - zu Brennpunkten (Hotspots) des Fluchtgeschehens.

Was auf dem Papier nach Hilfe aussah, erwies sich allerdings, das legt die SVR-Analyse sehr deutlich nahe, als fatal. Griechenland war - und ist teils bis heute das EU-Mitglied, das auf die Aufnahme von Flüchtlingen am wenigsten vorbereitet war. Athen hatte erst wenige Jahre zuvor, 2011, überhaupt eine Asylbehörde geschaffen. Zwei Jahre später nahm sie ihre Arbeit auf.

Wie die Autorin des Papiers, die wissenschaftliche Mitarbeiterin des SVR Karoline Popp, analysiert, prägten bereits 2015 Personalmangel, prekäre und oft wechselnde Besetzungen der Büros im Land die Lage. Sie habe von "von Beginn an im Krisenmodus" gearbeitet, mit Beamtinnen und Beamten, von denen die Mehrzahl (63 Prozent) befristet beschäftigt waren und die für die Inseln offenbar ebenso schwer zu rekrutieren wie zu halten waren: 2019 stammten 62 Prozent der Beschäftigten in den Erstaufnahmen aus Programmen für Langzeitarbeitslose. Trotz Aufstockung des Personals lag der Rückstau unbearbeiteter Asylanträge im Herbst in ganz Griechenland bei 90.000 Fällen. Auf den Inseln fehlten zudem ärztliches Personal und Rechtsbeistände. Auf Samos und Leros war 2019 niemand, auf den übrigen drei Inseln je eine Anwältin oder ein Anwalt zur Unterstützung der Ankömmlinge verfügbar.

Die als Unterstützung geschickte und dafür mit Milliarden Euro ausgestattete europäische Asylunterstützungsagentur Easo scheint die Probleme eher verschärft zu haben. Ihre Beamtinnen und Beamten waren anfangs nur kurze Zeit von nationalen Regierungen abgestellt, sprachen meist weder Griechisch noch hatten sie Kenntnis der Lage und Gesetze in Griechenland. Es entstanden Doppelstrukturen und Reibungsverluste, heißt es in der SVR-Analyse.

Der entscheidende Faktor für das Scheitern des Hotspot-Systems, den "Wendepunkt", wie es im Papier heißt, hat demnach aber der EU-Türkei-Deal gebracht, den beide Partnerinnen am 18. März vor fünf Jahren unterzeichneten. Um sich dem anzupassen, habe Griechenland sein junges Asylrecht derart geändert, dass es fortan zweigeteilt war, mit unterschiedlichen Regeln und Verfahren auf den Inseln und dem griechischen Festland. Außerdem machte das Abkommen "aus den 'Durchgangsstationen' Zentren, in denen der gesamte Asylprozess stattfinden sollte".

Das deutliche Fazit des Papiers: "Die Hotspots haben weder schnelle und verlässliche Asylverfahren noch effiziente Rückführungen ermöglicht, wie sie das Konzept ursprünglich anvisierte." Sie hätten zudem "kaum geholfen, das Vertrauen in die europäische Solidarität – im Sinne einer fairen Verteilung von Schutzsuchenden – und in ein gemeinsames Asylsystem zu stärken". Außerdem wirft die Analyse der EU vor, das Hotspot-System auf einer Fiktion aufzubauen: Es setze nach den eigenen Worten Brüssels voraus, dass es national funktionstüchtige Einrichtungen gibt, die Flüchtlinge aufnehmen, aber auch rechtskonform zurückschieben können.

"Solche Strukturen waren und sind jedoch in Griechenland nicht oder nicht ausreichend vorhanden." Die illegalen, teils gewaltsamen Pushbacks durch griechische und Frontex-Grenzschutzkräfte, die derzeit untersucht werden, erklärt die Autorin des Papiers als eine Art Notwehr Griechenlands. Was die Menschenrechtslage in der Ägäis angeht, habe die EU-Grundrechteagentur das Hotspot-Konzept für fast unheilbar in Widerspruch mit den europäischen Grundrechten erklärt.

Tatsächlich habe das System der Hotspots nur erreicht, was nirgendwo als ihr Ziel geschrieben steht: "Sie setzen Schutzsuchende an der europäischen Außengrenze fest und verhindern (oder erschweren) eine irreguläre Weiterwanderung in andere Mitgliedstaaten." Diese "Sekundärwanderungen" waren zuvor lange der Ausweg Griechenlands und anderer überforderter EU-Mittelmeeer-Anrainerinnen wie Italien dafür, dass es ein offizielles Umverteilungssystem in der EU nicht gab und weiter nicht gibt.

Für die Zukunft lässt die Analyse wenig Grund zur Hoffnung erkennen: Die Vorschläge, In den neuen Vorschlägen der Kommission vom Herbst des vergangenen Jahres werde das Hotspot-Konzept sogar noch verschärft - und dies, obwohl sich seine Strukturfehler inzwischen auch auf den Kanarischen Inseln zeigten, wo zuletzt verstärkt Migranten nach noch gefährlicherer Überfahrt landeten.

In der Politik der Hotspots, so der SVR-Text, bündle sich alles, was das Konstrukt kennzeichnet, das den Namen "Gemeinsames europäisches Asylsystem" trägt: Der Widerstreit von nationaler und EU-Zuständigkeit, das Verharren im Krisenmodus, statt Strukturen aufzubauen, und die Überlastung der geografisch benachteiligten Grenzländer der EU, mit denen der Rest der Union sich zu wenig oder gar nicht solidarisch zeigt. Die Studie macht zwar einige Vorschläge zur Verbesserung, die Autorin gesteht aber zwischen den Zeilen selbst ein, dass sie wenig daran glaubt: "Eine Verbesserung der Situation in den griechischen Hotspots ist komplex, voraussetzungsreich und ressourcenintensiv."

Anlässlich des fünften Jahrestag der EU-Türkei-Erklärung hat der Politikwissenschaftler und Jurist Maximilian Pichl für die Hilfsorganisation Medico International eine Analyse der Hotspots erstellt, die er ein System ,,organisierter Verantwortungslosigkeit seitens der EU und ihrer Mitgliedsstaaten". nennt. Der Rechtsstaat werde "durch eine exekutive Politik der Gnade ersetzt". Zugleich werde die Verantwortung zwischen der EU, den Nationalstaaten, den Vereinten Nationen und Hilfsorganisationen so lange hin- und hergeschoben, ,,bis niemand mehr für die menschenrechtswidrigen Zustände in den EU-Hotspots politisch und juristisch verantwortlich gemacht werden kann". Pichl kritisiert auch den Begriff der ,,humanitären Katastrophe". "Dass Geflüchtete monate- oder gar jahrelang kaserniert werden und unhaltbaren Zuständen ausgesetzt sind, ist gerade nicht das Ergebnis einer Katastrophe, sondern von politischen Entscheidungen, die insgesamt in Kauf genommen werden."


Aus: "Flüchtlingslager in der Ägäis: Sachverständige halten Hotspot-System für kaum reformierbar" Andrea Dernbach (18.03.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlingslager-in-der-aegaeis-sachverstaendige-halten-hotspot-system-fuer-kaum-reformierbar/27011226.html

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Quote[...] Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR erhöht wegen Rechtsverletzungen in der Ägäis den Druck auf die griechische Regierung. Seit Beginn des vergangenen Jahres habe man "mehrere Hundert Fälle" von mutmaßlichen Push-backs registriert, sagte die UNHCR-Repräsentantin in Griechenland, Mireille Girard, dem Spiegel.

Das UNHCR habe den Behörden die entsprechenden Hinweise übergeben. In allen Fällen lägen der Organisation eigene Informationen vor, die auf illegale Pushbacks an Land oder auf See hindeuten. "Wir erwarten, dass die griechischen Behörden diese Vorfälle untersuchen", sagte Girard. "Das Recht auf Asyl wird in Europa angegriffen."

Der griechischen Küstenwache wurde bereits zuvor vorgeworfen, Flüchtlingsboote in der Ägäis gestoppt, den Motor der Schlauchboote zerstört und die Menschen in türkischen Gewässern zurückgelassen zu haben. Die sogenannten Push-backs verstoßen gegen europäisches und internationales Recht. Am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros kommt es den Angaben zufolge zu ähnlichen Aktionen.

Die griechischen Behörden schleppen demnach selbst Geflüchtete zurück aufs Meer, die bereits europäischen Boden erreichen konnten. Der Spiegel konnte zwei dieser Fälle nachweisen. Im April 2020 war eine Gruppe Asylsuchender auf Samos angekommen, im November eine auf Lesbos.

Das UNHCR habe nun ebenfalls einen solchen Fall registriert, hieß es. Am 17. Februar seien 13 Asylsuchende auf Lesbos angelandet und später von vermummten Männern aufs Meer zurückgeschleppt worden.


Aus: "Flüchtlingshilfswerk zählt Hunderte mutmaßlicher Push-backs" (28. März 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-03/unhcr-fluechtlingshilfswerk-pushbacks-griechenland-menschenrechte


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"Wellen, Ströme, Fluten. Zur politischen Geschichte aquatischer Metaphern" (11. April 2021)
Anne Schult ist Doktorandin im Department of History an der New York University und forscht zur Flüchtlingsgeschichte, zur Geschichte der Sozialwissenschaften, und zur Entwicklung des internationalen Rechts im 20. Jahrhundert. Sie ist Mitglied der Redaktion des Journal of the History of Ideas Blogs.
Neben den viel diskutierten ,,Coronawellen" ist auch die Versinnbildlichung von Migrant:innen, und besonders Geflüchteten, als Welle oder Flut stets in den Medien präsent. Wie kommt es, dass die Wassermetaphorik gleichzeitig zwei so unterschiedliche Phänomene beschreiben kann? ... m rechtspopulistischen Milieu ist es ein fest etabliertes rhetorisches Spiel, Flüchtlinge als gefährliches Wasserereignis darzustellen. Inmitten der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 erklärte etwa der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán – generell ein Freund des brachialen Sprachgebrauchs –, er sei erst dann zufrieden, ,,wenn die Flut aufgehalten worden ist." Doch auch aus der politisch weniger eindeutig verorteten Medienberichterstattung ist die Vorstellung von Flüchtenden als reißenden Wassermassen – ob als ,,Flüchtlingswelle", ,,Flüchtlingsstrom" oder eben ,,Flüchtlingsflut" – nicht wegzudenken. Bestimmte Bilder verstärken sie oft visuell: Vermeintlich migrantische Menschenmengen schlängeln sich mäandernd wie Flüsse durch die Landschaft oder steuern ,,wellenreitend" auf Booten über das Mittelmeer auf die Strände von Südeuropa zu.
In den letzten Jahren gab es etliche wichtige Kritiken an der Naturalisierung und Entpolitisierung von Flucht und an der Entmenschlichung von Geflüchteten durch eine solche Wortwahl. Durch ihre sprachbildliche Gleichsetzung mit einer Naturkatastrophe werden die betroffenen Menschen zu einer vagen, emotional aufgeladenen Bedrohung.  ...
https://geschichtedergegenwart.ch/wellen-stroeme-fluten-zur-politischen-geschichte-aquatischer-metaphern/

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Quote[...] NEUMÜNSTER taz | ,,Minderjährige dürfen nicht in Abschiebehaft kommen": Am Donnerstag entscheidet der Bundesrat, ob dieser Satz in das Aufenthaltsgesetz aufgenommen wird. Der Antrag dafür stammt aus Schleswig-Holstein. Die Jamaika-Regierung hat ihn lange diskutiert, aber Ex­per­t*in­nen räumen ihm kaum Chancen ein. Denn damit wäre Abschiebehaft für Familien grundsätzlich nicht mehr möglich.

Wie es aussehen kann, wenn eine Familie im Knast landet, hat der Rechtsanwalt Peter Fahlbusch auf der Homepage der Hilfsorganisation Pro Aysl beschrieben. Eine Mutter mit vier Kindern, das jüngste drei Jahre alt, war in Transithaft am Flughafen Frankfurt/Main gelandet. ,,Sieben Bundespolizisten führten sie der Haftrichterin vor", schilderte der Anwalt. ,,Die Richterin hat auch den Kindern die Haftanträge verkündet, danach wurden sie allen Ernstes belehrt und befragt. Das dreijährige Kind sagte dazu nur:,Mama'."

Abschiebehaft ist schwierig für einen Rechtsstaat. Wer dort untergebracht wird, hat kein Verbrechen begangen. Es besteht nur der Verdacht, dass in Zukunft eine rechtswidrige Tat geschehen könnte, nämlich eine Flucht, um einer Abschiebung zu entgehen. Besonders kritisch wird es, wenn Minderjährige betroffen sind. Sie hinter Gitter zu bringen, widerspreche der UN-Kinderrechtskonvention, sagt Martin Link, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein: ,,Eine Inhaftierung von Minderjährigen ist unverhältnismäßig."

Die Landesflüchtlingsräte, Pro Asyl und weitere Hilfsorganisationen unterstützen daher die Initiative aus Schleswig-Holstein – trotz eines Schönheitsfehlers: Kinder und Familien an Flughäfen festzusetzen, sei weiter möglich, auch wenn der Antrag durchkäme. Die Organisationen wünschen sich daher eine noch weitergehende Lösung, die jede Haft von Kindern und Jugendlichen verbietet, seien sie allein unterwegs oder mit ihren Eltern.

Der jetzige Antrag aus Kiel hat eine Vorgeschichte, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. So befasste sich der Bundesrat 2019 mit dem ,,Geordnete-Rückkehr-Gesetz", mit dem das CSU-geführte Innenministerium mehrere Fragen rund um Abschiebungen regelte. Schon damals gab es im Bundesrat Kritik, weil das Gesetz die Belange von Kindern und Familien zu wenig im Blick habe.

Auch im Kieler Landtag diskutierten die Fraktionen mehrfach über die Abschiebung – mit gegenseitigen Vorwürfen, vor allem zwischen Grünen und SPD. Beide hatten als Koalitionspartner die Abschiebehaft in Rendsburg geschlossen. Die Jamaika-Regierung einigte sich auf einen Neubau in Glückstadt, der nun kurz vor der Eröffnung steht. Denn zurzeit werden Geflüchtete, für die Abschiebehaft angeordnet ist, in andere Bundesländer gebracht. Wenn die Haft schon sein müsse, dann lieber in der eigenen Verantwortung, entschied Jamaika: ,,Wir wollen und werden den Vollzug im Rahmen der rechtsstaatlichen Möglichkeiten menschenwürdig gestalten", sagte die CDU-Innenexpertin Barbara Ostmeier bei der Landtagsdebatte 2019.

Doch Kinder im Knast? ,,Es gibt hier offenbar eine breite Mehrheit von Abgeordneten, die der Auffassung sind, dass Minderjährige nicht in Haft gehören", sagte Serpil Midyatli (SPD) damals in der Debatte und forderte eine Bundesratsinitiative. Die Jamaika-Koalitionäre warfen ihr daraufhin,,Scheinheiligkeit" vor. So verwies Aminata Touré, Grünen-Sprecherin für Migration und Flucht, auf einen Erlass auf Landesebene, der den Ausländerbehörden des Landes quasi verbietet, Kinder in Haft zu nehmen. Das Problem ist nur: Für einen Teil der Geflüchteten ist der Bund zuständig, und wenn Bundesbehörden eine Haft anordnen, kann ein einzelnes Land nichts dagegen tun.

So sprach sich auch Jamaika für eine Bundesratsinitiative aus, wollte allerdings vorher eine Abfrage in den anderen Bundesländern. ,,Das hat eine Weile gedauert, und es gab weitere interne Beratungen", erklärt Touré auf taz-Anfrage, warum die Koalition zwei Jahre brauchte, bis der Bundesrat sich mit dem Thema befasst. Die Abfrage in den Ländern habe ergeben, dass kaum Minderjährige in einer Abschiebehaft landen. ,,Dennoch ist es wichtig, dass wir die Debatte führen", sagt Touré. ,,Alle Länder betonen, sie wollten die Kinderrechtskonvention einhalten, also könnten sie das Verbot der Haft auch beschließen." Denn es gebe Alternativen: So sei eine Unterbringung in Räumen ohne Gefängnischarakter möglich.

Unter den Koalitionspartnern tut sich die FDP generell am schwersten mit dem Thema: Vor Kurzem hatte die Bundestagsfraktion der Liberalen mehr Abschiebehaftplätze gefordert. Der Innen- und Rechtsexperte der FDP im Kieler Landtag, Jan Marcus Rossa, betont auf Anfrage: ,,Die Freien Demokraten in Schleswig-Holstein treten dafür ein, dass Kinder und Jugendliche grundsätzlich nicht in Abschiebehaft kommen." Die Abfrage im Bund habe keine Klarheit gebracht, daher sei ,,im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zu prüfen, ob überhaupt ein Bedarf für eine gesetzliche Regelung zur Inhaftierung Minderjähriger besteht".

Die oppositionelle SPD sieht die Initiative mit gemischten Gefühlen: ,,Natürlich unterstütze ich, dass Minderjährige nicht in Abschiebehaft genommen werden sollen", sagt Serpil Midyatli. ,,Aber einerseits die Abschaffung der Abschiebehaftanstalt für Kinder zu fordern und andererseits eine neue Haftanstalt zu bauen, ist ein Widerspruch."

Sehr wahrscheinlich kommt die Initiative aus Kiel im Bundesrat nicht durch, das vermutet Stefan Schmidt, der Flüchtlingsbeauftragte der Landesregierung. Aber auch er findet den Vorstoß wichtig: ,,Das kann die öffentliche Diskussion über das Inhaftieren von Minderjährigen und Familien mit Kindern sowie anderen vulnerablen Personen voranbringen." Er hoffe, dass sich ,,aus dieser Initiative eine Aussage über das künftige Verwaltungshandeln ableiten lässt und Schleswig- Holstein keine Minderjährigen in der Abschiebehaftanstalt in Glückstadt inhaftieren wird".


Aus: "Initiative von Schleswig-Holstein: Kein Kind in Abschiebehaft" Esther Geisslinger (27. 5. 2021)
Quelle: https://taz.de/Initiative-von-Schleswig-Holstein/!5769970/


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#110
"60 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen Der lange Weg in die neue Heimat" Andrea Dernbach (29.10.2021)
Vor 60 Jahren wurde das Anwerbungsabkommen mit der Türkei unterzeichnet. Es folgte eine wechselhafte Geschichte der Integration. ... Vor allem aber brauchte man sie exakt für jene gefährlichen, schmutzigen und schlechtbezahlten Arbeiten in der Stahlindustrie und im Bergbau, die die Deutschen sich eher nicht zumuteten. Die Plackerei der Gastarbeiter:innen, die sie auf sich nahmen im Wissen um fehlende Perspektiven in der Heimat und in der Hoffnung auf ein besseres Leben, eröffnete vielen Deutschen erst jenen Aufstieg, von dessen Höhen sie wie Sarrazin auf sie herabschauen konnten. ... In seinem Standardwerk ,,Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland" verweist der Freiburger Historiker Ulrich Herbert auf Zahlen des Soziologen Friedrich Heckmann: Demnach schafften es von 1960 bis 1970 etwa 2,3 Millionen Deutsche vom Arbeiterstatus in Angestelltenpositionen – wofür der Zuzug der Gastarbeiter die wichtigste Bedingung war. Dass hier auch Muster wirkten von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, von Oben und Unten, die bis 1945 gegen ,,Fremdarbeiter", also Zwangsrekrutierte und Kriegsgefangene,gerichtet waren, sei nie Teil der Vergangenheitsbewältigung gewesen, resümiert Herbert. ...
https://www.tagesspiegel.de/politik/60-jahre-deutsch-tuerkisches-anwerbeabkommen-der-lange-weg-in-die-neue-heimat/27752390.html

Ford-Werke Köln - Daten von August bis Ende Dezember 1973
... Angefangen hatte der Kampf, als rund 400 türkische Kollegen durch die Hallen zogen und zur Solidarität mit ihren Landsleuten, die wegen Urlaubsüberziehens entlassen worden waren, aufforderten. Schnell schlossen sich die anderen Kollegen an und schraubten zusätzlich die Forderung von 60 Pfg., die am vergangenen Montag auf der Betriebsversammlung aufgestellt worden war, auf 1 DM hoch. Außerdem fordern sie: Senkung des Arbeitstempos und Verbesserung der Arbeitsbedingungen." ...
https://www.mao-projekt.de/BRD/NRW/KOE/K_Ford02/Koeln_Ford-Werke_1973_12.shtml

Quote[...] Ozan Ata Canani sang schon in den 1970ern Lieder zur Situation türkischer Gastarbeiter. Jetzt erscheint sein erstes Album ,,Warte mein Land, warte".

Mit schrammelig-rockigen Akkorden, die von einer melodischen E-Saz aufgebrochen werden, beginnt das Album ,,Warte mein Land, warte" (Fun in the Church). Und spätestens wenn Ozan Ata Canani zu singen beginnt, ist klar, dass diese Musik in keine musikalische Schublade passt: ,,Alle Menschen dieser Erde/ Alle Menschen groß und klein/ Alle Menschen dieser Erde/ Alle wollen glücklich sein." Geschrieben hat er ,,Alle Menschen dieser Erde" als Teenager – in den 70er Jahren. Jetzt werden seine Stücke zum ersten Mal auf einem Album veröffentlicht.

Die Musik von Ata Canani, der 1963 in der anatolischen Provinz Kahramanmaras, etwa hundert Kilometer nördlich der syrischen Grenze geboren wurde, klingt wie eine Mischung aus Krautrock, Pop und traditioneller anatolischer Musik. Sie ist damit nah dran am Anadolu Rock, dem von westlicher Musik geprägten Stil, der ab den 60er Jahren in der Türkei populär wurde.

Doch der Mix von Cananis Stücken ist absolut einzigartig, denn er kombiniert den Anadolu Rock mit deutschen Texten. Seine Themen sind Liebe, Sehnsucht, Wut – und Protestlieder über die Situation der Gastarbeiter.

Das Titelstück schrieb Ata Canani für die erste Generation der Gastarbeiter, die ab 1955 über Anwerbeabkommen aus ganz Europa nach Deutschland kamen, um in der boomenden Industrie zu arbeiten. Auf Italiener, Spanier und Griechen folgten zwischen 1961 und 1973 etwa 870 000 Türken dem Ruf . Die Lyrics lesen sich wie ein Heimweh-Gedicht. In getragenem Tempo wird jede Strophe wiederholt, die Worte scheinen mit der abfallenden Melodie hinabzusinken. ,,Warte mein Land, warte/ Bis ich wieder komm/ Denn auch in der Fremde/ Bleib ich dein Sohn/ Abends wenn ich schlafe/ Seh ich Dich im Traum/ Denn die Sehnsucht schlug im Herzen Wurzeln wie ein Baum."

Cananis Vater, der eigentlich Bauer war, kam 1971 nach Deutschland und arbeitete als Schweißer. Nach dem Aufnahmestopp entschied er sich zu bleiben, und holte seine Familie zu sich. Die Situation in der Türkei war unsicher, die 60er und 70er waren geprägt von Arbeitslosigkeit, Militärputschen und Terrorakten.

,,Viele wollten nicht, dass ihre Kinder in dieser Zeit in der Türkei lebten", erzählt Canani im Videogespräch. Sein Vater habe jedoch immer davon gesprochen, zurückzukehren – bis Canani ihm eines Tages klarmachte, dass ihr Leben nun hier in Deutschland stattfinde. Die Hoffnung vieler einstiger Gastarbeiter, eines Tages in die Heimat zurückzukehren, erfülle sich nicht, sagt Canani. ,,Oft kommen sie erst im Sarg zurück." Auch seinem Vater sei es so ergangen. Er starb 2016 in Witten.

Als Canani nach Deutschland kam, war er elf. Mittlerweile hat er die deutsche Staatsbürgerschaft und lebt in Leverkusen. Begeistert, seine Heimat zu verlassen, war er damals nicht. Sein Vater wollte ihm den Schritt erleichtern und ihm etwas schenken. Er wünschte sich eine Bağlama. Die dickbauchige Laute mit dem schmalen Hals und dem unverwechselbaren Klang ist das wohl wichtigste traditionelle Instrument in der türkischen Musik. In dem Film ,,Saz – Von Berlin nach Khorassan: Das Geheimnis der Saz" von 2018 heißt es: ,,Die Stimme dieses Landes findet sich in den Protestliedern. Es gibt alles: Liebe, Leben, die Verbundenheit mit der Natur. Aber über allem: Widerstand." In den 70er Jahren hätten Saz-Konzerte öfter im Gefängnis geendet, erzählt die Sprecherin. Eltern wollten nicht, dass ihre Kinder das Instrument lernten – damit sie keine Schwierigkeiten bekämen.

Obwohl man Canani zweifellos einen musikalischen Pionier nennen kann, finden sich weitere traditionelle Bezüge zur Protestmusik. So habe sein musikalisches Vorbild, der Musiker Aşık Mahzuni Şerif, einmal zu ihm gesagt, dass ein Ozan – Türkisch für ,,Sänger", ,,Dichter" – immer auch die Aufgabe habe, aktuelle Probleme des Volkes zu benennen. Ata Canani, der das Wort vor seinen Namen gestellt hat, nahm sich das zu Herzen. Seine Texte singt er zum Teil auf Deutsch, doch bewegt er sich musikalisch auf den Spuren türkischer Traditionen – und schafft damit feine Verbindungen zwischen den beiden Ländern.

Mit 14 spielte Canani auf türkischen Familienfeiern, auch eigene Lieder. Nachdem ein deutsches Ehepaar ihn bei einer Feier gefragt hatte, warum er seine Lieder nicht auf Deutsch singe, nahm er die Anregung auf. Etwas später las er auf einem Titel der IG-Metall-Hefte das berühmte Zitat von Max Frisch: ,,Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen." Darauf basierend schrieb er mit 15 sein heute bekanntestes Stück, ,,Deutsche Freunde". Es war eines der ersten Lieder überhaupt, das von einem Gastarbeitersohn auf Deutsch gesungen wurden.

Für kurze Zeit flammte daraufhin das Interesse der Medien auf, es gab Fernsehauftritte bei Alfred Biolek und im ZDF mit der Band Die Kanaken. Doch die Aufmerksamkeit erlosch bald, zu speziell war der Stil. In den 70er Jahren konnten die türkischen Zuhörer, die kaum Deutsch sprachen, die Texte nicht verstehen – während die deutschen kaum Interesse an der Kritik hinter den anatolischen Klängen hatten.

Als Berufsmusiker konnte Canani sich nie etablieren. Er hat Radio- und Fernsehmechaniker gelernt und dann lange bei einer Elektrofirma gearbeitet. Wegen einer Herzschwäche ist er inzwischen in Frührente. Seit einiger Zeit gibt es wieder mehr Aufmerksamkeit für seine Musik. So eröffnete sein Stück ,,Deutsche Freunde" den Sampler ,,Songs of Gastarbeiter", der 2013 bei Trikont erschien. Und ,,Warte mein Land, warte" spielte er mit der Münchner Kraut-Jazz-Band Karaba ein, mit der auch eine Tour geplant ist.

Ata Canani lädt mit seiner Musik dazu ein, ein Verständnis füreinander zu suchen – jenseits von Grenzen, Gesetzen und wirtschaftlichen Interessen. Noch heute, 60 Jahre nach dem Deutsch-Türkischen Anwerbeabkommen, berühren die unverstellten Sätze des damaligen Teenagers: ,,Und die Kinder dieser Menschen/ Sind geteilt in zwei Welten/Ich bin Ata und frage Euch/ Wo wir jetzt hingehören."

Canani sieht den strukturellen Rechtsextremismus als Problem. Er selbst machte damit Erfahrungen, als er ein an die Hauswand gesprühtes Hakenkreuz bei der Polizei meldete. Deshalb hält er seine Texte von damals noch immer für aktuell.

,,In den 60ern und 70ern", sagt Canani, ,,hießen wir Gastarbeiter, in den 80ern und 90ern sagte man Ausländer, heute sagt man Migranten. Eigentlich sagt man es ja jetzt schon wieder anders: Menschen mit Migrationshintergrund." Die Wirkung dieser Bezeichnungen sei die gleiche gewesen: Ausgrenzung. Doch Canani findet auch, dass die jüngeren Generationen immer integrierter sind. Auf die Frage, was er sich für die türkisch-deutsche Zukunft wünscht, hat er eine klare Antwort: ,,Alle Menschen sollen glücklich sein."



Aus: "Ata Cananis spätes Debütalbum Sehnsuchtswurzeln in den Herzen" Rilana Kubassa (31.05.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/ata-cananis-spaetes-debuetalbum-sehnsuchtswurzeln-in-den-herzen/27239032.html

Ozan Ata Canani - Alle Menschen Dieser Erde (Offical Video) 21.05.2021
https://youtu.be/JpBeZknb-Cg

https://funinthechurch.bandcamp.com/album/warte-mein-land-warte

Ozan Ata Canani - Deutsche Freunde - Songs of Gastarbeiter •30.07.2018
https://youtu.be/BcS377EZOxY

Songs of Gastarbeiter – Vol. 1
Der Berliner Autor Imran Ayata und Münchner Künstler Bülent Kullukcu wühlten in Archiven, durchforsteten Musiksammlungen ihrer Eltern und Bekannten, nervten Freunde und Fremde, um Songs der ersten Einwanderergeneration zu finden. Erstes Zwischenergebnis: Über hundert Lieder Made in Almanya, die von den ersten Jahrzehnten der Einwanderung in Deutschland handeln
https://trikont.de/shop/themen/turkische-musik-turkish-sounds/songs-of-gastarbeiter-vol-1/


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Quote[...] Jacqueline Flory ist Übersetzerin für Arabisch und leitet den Verein ,,Zeltschule e.V.". Seit fünf Jahren baut sie im Libanon und in Syrien Schulen für syrische Geflüchtete. Mehrmals im Jahr besucht sie die Camps gemeinsam mit ihren zwei Kindern. Sie erzählt von den dramatischen Umständen, unter denen die Syrer:innen in den sogenannten wilden Camps dort leben und darüber, wie wichtig Bildung bereits für die Kleinsten ist.

Aleksandra Lebedowicz: Frau Flory, können sich die geflüchteten syrischen Kinder im Libanon überhaupt noch an ihr Zuhause erinnern?

Jacqueline Flory: Selten. Nur die wenigsten wissen, wie es war, mal ein Kinderzimmer und ein Bett gehabt zu haben. Die meisten, die ich dort treffe, haben entweder keine Erinnerung an Syrien oder sie sind bereits in den Camps zur Welt gekommen. Das heißt auch, dass jegliche Zahl über Minderjährige, die sich im Libanon aufhalten, immer nur eine Schätzung sein kann.

Aleksandra Lebedowicz: Weil inzwischen so viele in den Flüchtlingslagern geboren wurden?

Jacqueline Flory: Es sind Zehntausende, möglicherweise Hunderttausende Kinder, die offiziell gar nicht existieren. Sie werden nirgends registriert und haben keine Pässe. Auch wenn sie irgendwann nach Syrien zurückkehren, bleiben sie staatenlos.

Aleksandra Lebedowicz: Wächst in den libanesischen Camps eine verlorene Generation heran?

Jacqueline Flory: Die Zukunft dieser Kinder steht auf dem Spiel. Viele haben noch nie eine Schule besucht. In der Bekaa-Ebene gibt es ungefähr zweitausend Flüchtlingslager, die von keiner Organisation betreut werden. Staatliche Hilfe gibt es nicht. Die Menschen sind völlig auf sich allein gestellt.

Aleksandra Lebedowicz: In diesen sogenannten wilden Camps bauen sie seit fünf Jahren ihre Zeltschulen.

Jacqueline Flory: Damit ist es aber nicht getan. Wir müssen die Familien mit Lebensmitteln, Wasser, Kleidung und Medikamenten versorgen. Würden wir nur Schulen bauen, stünden sie leer, weil die Kinder den ganzen Tag bei der Feldarbeit sind. Bereits 2011, als die ersten Flüchtlinge kamen, führte die libanesische Regierung ein Arbeitsverbot für Syrer ein, um den Libanesen die Angst zu nehmen, dass Geflüchtete ihnen die Jobs wegschnappen. Mittlerweile ist es zwar möglich, eine Erlaubnis für gewisse Berufe zu beantragen, in der Gastronomie etwa oder in der Baubranche, aber sie kostet 3000 Dollar pro Jahr. Eine absurde Summe, die sich niemand in den Camps leisten kann. Deswegen gehen die Kinder arbeiten.

Aleksandra Lebedowicz: Für Minderjährige gilt das Verbot nicht. Was genau machen sie denn?

Jacqueline Flory: Die Bekaa-Ebene ist ein sehr fruchtbares Land. Hier wachsen Kartoffeln, Oliven, Zitronen, Gurken, Bananen bis hin zu Drogen. Das ganze Jahr über muss gesät, geerntet und gedüngt werden. Morgens um sechs fahren in den Camps Lastwagen vor. Alle Kinder, die danach aussehen, als könnten sie Körbe voller Kartoffeln auf dem Rücken tragen, werden in die Laster eingeladen und zu den Feldern gefahren. Dort schuften sie zehn bis zwölf Stunden, häufig in sengender Hitze. Am Abend werden sie in ihre Camps zurückgebracht und bekommen drei Dollar für einen Arbeitstag. Von diesem Geld nimmt ihnen der Campbesitzer einen großen Teil für die Miete ab, also für das kleine Stück Boden, auf dem ihr Wohnzelt steht. Vom Rest wird das Nötigste gekauft, damit die Familie überleben kann. Am nächsten Tag geht es von vorne los.

Aleksandra Lebedowicz: Wie alt sind diese Jungen und Mädchen?

Jacqueline Flory: Offiziell nicht jünger als neun, aber ich habe schon mit Siebenjährigen gesprochen, die auf den Feldern gearbeitet haben. Deshalb ist es so wichtig, dass wir alle im Camp versorgen, damit die Kinder wirklich zur Schule gehen können.

Aleksandra Lebedowicz: Wie ist die Lage in den Camps nach der Explosion in Beirut im vergangenen Jahr?

Jacqueline Flory: Dramatisch! Der Staat ist bankrott. Es gibt kaum noch Strom und Benzin. Das kann man nicht vergleichen mit den gut organisierten Lagern etwa in Jordanien. Es wäre die Aufgabe des UNHCR, dafür zu sorgen, dass die Kinder hier lernen, statt zu arbeiten, aber kaum jemand kümmert sich. Wir waren empört über die Zustände in Moria. In den Camps Libanons leben Syrer seit zehn Jahren genauso.

Aleksandra Lebedowicz: Macht Sie das wütend?

Jacqueline Flory: Ja! In den vergangenen zehn Jahren hat die Uno immense Summen an die libanesische Regierung gezahlt. Millionen Euro sind geflossen für syrische Kinder, die eine staatliche Schule im Libanon nie von innen gesehen haben.

Aleksandra Lebedowicz: 2015 startete Unicef dort das ,,Back to school"- Programm für Geflüchtete.

Jacqueline Flory: Passiert ist seitdem wenig. Die Regierung hat ein paar Busse mit 50 Sitzplätzen gekauft, die Camps mit 500 Schulkindern anfahren und am Nachmittag medienwirksam in eine Schule bringen. Das hat mit Bildung nicht viel zu tun.

Aleksandra Lebedowicz: In den Sommerferien 2016 sind Sie mit Ihren zwei Kindern hingeflogen und haben dort die erste Zeltschule für 120 Flüchtlinge gegründet. Wie viele Schulen gibt es heute?

Jacqueline Flory: 17 im Libanon und 17 in Syrien. Aktuell haben wir 7000 Jungen und Mädchen zwischen fünf und 14 im täglichen Unterricht. Damit decken wir die neunjährige Schulpflicht ab. Mehr als 1800 sind mit der Schule fertig. Wir hätten nie gedacht, dass das mal so ein großes Projekt wird.

Aleksandra Lebedowicz: Wie schaffen Sie es, dort durchzukommen?

Jacqueline Flory: Wir sind rein privat finanziert und deswegen auch im Libanon unabhängig tätig. Wir lehnen jegliche Zusammenarbeit mit der korrupten Regierung ab. Für unsere Camps kaufe ich direkt bei den Händlern in der Bekaa-Ebene ein.

Aleksandra Lebedowicz: Wer unterrichtet die Kinder in den Zeltschulen?

Jacqueline Flory: Syrische Lehrer, die auch geflohen sind und hier leben. Sie unterrichten Mathe, Arabisch, Englisch, Naturwissenschaft, und Musik.

...

Aleksandra Lebedowicz: Die Zeltschulen, die jetzt wieder auf sind, müssen aber ein Provisorium bleiben.

Jacqueline Flory: Wir dürfen keine Bäume pflanzen, nicht einmal ein kleines Gemüsebeet anlegen, weil das dann nicht mehr mobil wäre. Der Libanon will unbedingt vermeiden, dass die Syrer bleiben, wie die geflüchteten Palästinenser, die seit Jahrzehnten hier leben. Syrische Flüchtlinge sollen nach dem Krieg zurück in ihr Land.

Aleksandra Lebedowicz: Ein Ende des Konflikts ist nicht in Sicht.

Jacqueline Flory: Für die Menschen in unseren Camps reicht das aber nicht. Die meisten von ihnen sind Sunniten und politische Geflüchtete, die aktenkundig geworden sind als Assad-Gegner. Sie brauchen einen Regimewechsel – und der liegt noch in sehr viel weiterer Ferne.

Aleksandra Lebedowicz: Was bedeutet das für Ihre Arbeit in den kommenden Monaten?

Jacqueline Flory: Wir sind darauf eingestellt, dass wir unsere libanesischen Schulen noch lange brauchen werden und die Menschen in den Camps weiter unterstützen müssen. Gleichzeitig legen wir seit geraumer Zeit den Fokus darauf, neue Schulen in Syrien zu errichten. Dort gibt es mehrere Millionen Binnenflüchtlingskinder, die ebenfalls seit Jahren nicht mehr unterrichtet werden. Wir haben bereits 17 Schulen etabliert und hoffen, dass dort später auch die Rückkehrer aus Libanon integriert werden können. Es wird bestimmt ein Jahrzehnt dauern, bis die Schulinfrastruktur in Syrien nach dem Krieg wieder aufgebaut wird.



Aus: "Weltflüchtlingstag: Syrische Kinder im Libanon ,,Zehntausende, die offiziell nicht existieren"" (20.06.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/weltfluechtlingstag-syrische-kinder-im-libanon-zehntausende-die-offiziell-nicht-existieren/27303576.html

https://de.wikipedia.org/wiki/Zeltschule

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Quote[...] Mehrere Medien haben nach eigenen Angaben und nach gemeinsamer Recherche sogenannte Pushbacks von Migranten an der kroatischen Grenze zu Bosnien-Herzegowina dokumentiert. Bei Pushbacks handelt es sich um illegale Zurückweisungen von Migranten, nachdem diese die Grenze zu einem Land bereits übertreten haben.

Der ,,Spiegel" hat nach eigenen Angaben gemeinsam mit Lighthouse Reports, dem Schweizer SRF, dem ARD-Studio Wien und der kroatischen Zeitung ,,Novosti" solche Aktionen an der Grenze gefilmt. Ein Zusammenschnitt des Videomaterials wurde am Mittwochabend von mehreren der beteiligten Medien online veröffentlicht.

Die Aufnahmen sollen zeigen, wie kroatische Polizisten und Grenzschützer Migranten aus Kroatien und damit aus der EU zurück in bosnische Wälder schicken.

Die Migranten, darunter auch Kinder, berichten den Journalisten in dem Video unter anderem, dass sie geschlagen worden seien. Zudem seien ihnen in Kroatien die Handykameras zerstört worden, damit sie keine Aufnahmen der Geschehnisse machen können.

Über Pushbacks an der kroatischen Grenze, einer Außengrenze der EU, wird immer wieder berichtet. Die kroatische Regierung teilte nach Angaben des ,,Spiegel" zu den neuen Aufnahmen mit, dass es sich um legale Einreiseverweigerungen direkt an der Grenze handele. Nach Angaben des ,,Spiegel" haben die angetroffenen Migranten berichtet, dass sie zum Teil schon tief ins kroatische Territorium vorgedrungen waren. (dpa)


Aus: "Neue Filmaufnahmen zeigen illegale Zurückweisungen von Migranten" (24.06.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/wurden-sie-an-dereu-aussengrenze-geschlagen-neue-filmaufnahmen-zeigen-illegale-zurueckweisungen-von-migranten/27358132.html

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Quote[...] In der Debatte um Abschiebungen von Straftäterinnen und Extremisten aus Syrien oder Afghanistan in deren Heimatländer hat sich die Berliner SPD-Spitzenkandidatin Franziska Giffey der Haltung von CDU und CSU angeschlossen. "Ich bin da ganz klar: Schwerverbrecher und terroristische Gefährder müssen abgeschoben werden", sagte die frühere Bundesfamilienministerin der Bild am Sonntag.

"Wenn Menschen vor Krieg und Zerstörung fliehen, müssen wir ihnen helfen. Wer aber schwere Straftaten begeht, wer Menschen vergewaltigt oder ermordet, hat sein Recht auf Asyl verwirkt", sagte Giffey. In dem Fall sei der Schutz der in Deutschland lebenden Bevölkerung höher zu werten als der Schutz eines Menschen, "der die Rechte anderer mit Füßen tritt".

Deutschland müsse Konsequenzen aus der Messerattacke in Würzburg ziehen, mahnte Giffey. Dort hatte ein psychisch kranker 24-Jähriger aus Somalia vor gut einer Woche drei Frauen erstochen und mehrere Menschen verletzt. Die Staatsanwaltschaft hält einen islamistischen Hintergrund mittlerweile für naheliegend.

"Der Messerangriff in Würzburg ist ein großer Schock, der wieder dazu führt, dass einige Menschen den Glauben an Sicherheit und Integration in Deutschland verlieren", sagte Giffey der Zeitung. Solch eine Tat komme aber nie aus heiterem Himmel. "Die Anzeichen für eine Radikalisierung oder für eine schwere psychische Erkrankung wurden entweder nicht gesehen oder nicht beachtet", kritisierte Giffey. "Das dürfen wir nicht hinnehmen. Wir müssen sensibler werden und schneller reagieren."

Nach Afghanistan wird derzeit schon abgeschoben, allerdings mehrt sich die Kritik an dem Vorgehen, weil die Lage in dem Land nach dem Abzug der internationalen Truppen als zunehmend unsicher gilt. Für Syrien lief ein genereller Abschiebestopp zum Jahreswechsel aus. Dafür hatten sich CDU und CSU starkgemacht. Nun können die Behörden wieder in jedem Einzelfall eine Abschiebung erwägen, insbesondere bei schweren Straftätern und gefährlichen Extremistinnen. Seitdem hat Deutschland aber noch keinen auffällig gewordenen Straftäter dorthin zurückgeschickt. Die Innenminister der SPD lehnen das auch ab. Das Bundesinnenministerium sucht noch nach neuen Wegen.

Es würden zurzeit verschiedene Optionen geprüft, sagte der zuständige Staatssekretär im Innenministerium, Helmut Teichmann, Ende Juni. Unter anderem stehe zur Debatte, ob inhaftierten Syrern ein Teil der Reststrafe erlassen werden sollte, wenn sie dafür ausreisten. Voraussetzung dafür sei in jedem Einzelfall, dass die Staatsanwaltschaft zustimme. Bundesweit soll es derzeit rund 50 Personen in Haft geben, für die dies infrage käme.

Laut Bundesinnenministerium hatten 347 Syrer im Jahr 2019 für die Rückkehr in ihr Heimatland von Deutschland finanzielle Unterstützung erhalten. Im vergangenen Jahr kehrten demnach trotz der Corona-Pandemie 83 Menschen mit staatlicher Hilfe nach Syrien zurück. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres seien 42 Syrerinnen bei der Rückkehr unterstützt worden.


Aus: "Asylpolitik: Franziska Giffey für Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan" (4. Juli 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-07/franziska-giffey-abschiebung-deutschland-syrien-afghanistan

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Quote[...] Keine zwei Wochen bevor Abdirahman J. A., ein 24-jähriger Flüchtling aus Somalia, in Würzburg mit einem Messer auf Passanten einstach und dabei drei Frauen tötete und sieben weitere Menschen teils schwer verletzte, wurde er in eine psychiatrische Klinik gebracht. Er war auffällig geworden, hatte in der Würzburger Innenstadt ein Auto angehalten, sich stumm auf den Beifahrersitz gesetzt. Einen Tag später verließ er die Psychiatrie. Die Ärzte hatten keine Eigen-und Fremdgefährdung feststellen können.

Anfang des Jahres war A. bereits in der Einrichtung gewesen, eine Woche lang. Er hatte Mitbewohner des Obdachlosenheims, in dem er lebte, mit dem Messer bedroht. Auch dieses Mal wurde er entlassen.

Tobias R., der Attentäter von Hanau, der 2020 neun Menschen aus rassistischen Motiven erschoss, war ebenfalls vor der Tat psychisch auffällig geworden. Das erste Mal im Jahr 2002. Ein Amtsarzt diagnostizierte damals eine "Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis". R. wurde in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht, am nächsten Tag aber als "ungeheilt" entlassen. Zwei weitere Male fiel er noch mit wahnhaftem Verhalten auf; wurde aber nie behandelt.

Und schließlich: Halle. Ein psychiatrisches Gutachten attestierte dem rechtsextremen Attentäter Stephan B., der im Oktober 2019 versuchte, in die Synagoge der Stadt einzudringen, und im Anschluss zwei Menschen erschoss, zwar die volle Schuldfähigkeit, diagnostizierte ihm zugleich aber eine "tiefe, komplexe Persönlichkeitsstörung".

Würzburg, Hanau, Halle. Drei Gewaltverbrechen mit teils unterschiedlichen Motiven. Eine Gemeinsamkeit aber haben sie: Alle Täter waren im Vorfeld psychisch auffällig geworden. Und die Reihe lässt sich fortführen: Das OEZ-Attentat in München, die Amokfahrt in Bottrop, der Mord auf dem Frankfurter Hauptbahnhof. Etwa ein Drittel aller allein handelnden Attentäter der Jahre 2000 bis 2015 sei psychisch krank gewesen, heißt es beim Bund deutscher Kriminalbeamter. Experten wie der Terrorismus-Forscher Peter Neumann beobachten nicht nur eine steigende Zahl der allein handelnden Täter, sondern auch, dass diese immer häufiger unter psychischen Auffälligkeiten leiden. Neumann spricht von einem "neuen Tätertypus" und empfiehlt, Präventionsstrategien darauf auszurichten.

Doch wie kann das in der Praxis aussehen? Sind Sozialarbeiter darauf vorbereitet? Wie steht es um die ärztliche Seite? Der Vorsitzende des Bundes deutscher Kriminalbeamter, Sebastian Fiedler, verwies angesichts der Tat von Würzburg auf einen "Fachkräftemangel in der Psychiatrie", der verhindere, dass "Kranke ausreichend behandelt" würden. Und vor welche Herausforderungen stellt der Tätertyp die Sicherheitsbehörden?

Lars Rückheim ist Gruppenleiter der Abteilung Terrorismus beim Bundeskriminalamt. "Unter den Personen, die dem islamistischen Spektrum zuzuordnen sind und mit denen wir uns im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) befassen, gibt es auch solche, die Anzeichen für eine psychische Störung aufweisen", sagt er. Entsprechende Ansatzpunkte habe es vereinzelt auch bei bisherigen Attentaten und Anschlägen, aber auch bei Taten, die die Sicherheitsbehörden verhindern konnten, gegeben.

Unter den Personen, mit denen man sich befasse, sagt Rückheim, seien viele Menschen aus ehemaligen Kriegsgebieten. "Viele dieser Menschen haben dort traumatische Erlebnisse gehabt, die potenziell geeignet sind, entsprechende Störungen und Erkrankungen auszulösen."

Die Polizei stuft Menschen, bei denen es Anzeichen gibt, sie würden eine politisch motivierte Straftat von erheblicher Bedeutung begehen, als "Gefährder" ein. Führungspersonen, Unterstützer aber auch Akteure extremistischer Strömungen gelten als "relevante Personen". Im islamistischen Spektrum greifen die Behörden bei der Evaluierung dieser Menschen auf das Instrument RADAR-iTE zurück. Ein Fragebogen, mit dem die Beamten anhand persönlicher Informationen herausfinden wollen, wie gefährlich jemand wirklich ist. Zeigt er ein aggressives Verhalten? Hat er versucht, sich eine Waffe zu besorgen? Gibt es Anzeichen für eine persönliche Krise? Anhand der Antworten können die Beamten weitere Schritte veranlassen. Das Instrument wurde inzwischen auf den Bereich des Rechtsextremismus angepasst. Die angepasste Version soll noch im ersten Halbjahr 2022 flächendeckend eingeführt werden.

RADAR-iTE kann psychische Auffälligkeiten im Vorfeld einer Tat dokumentieren. Nicht aber bestimmen, welcher Aspekt bei der Tat selbst im Vordergrund steht: die Ideologie oder die Krankheit. Es ist die alte Frage: Attentat oder Amoklauf?

Bei der Tat in Würzburg hält die Generalstaatsanwaltschaft ein islamistisches Motiv inzwischen für "naheliegend". Der Mann soll während der Tat "Allahu Akbar" gerufen, bei der polizeilichen Vernehmung von einem persönlichen "Dschihad" gesprochen haben. Als "Gefährder" wurde er nicht geführt.

"Ob eine psychische Störung oder eine Ideologie hauptsächlich ausschlaggebend für eine Tat ist, lässt sich oft nur schwer feststellen", sagt Marc Allroggen, Leitender Oberarzt im Universitätsklinikum Ulm. Allroggen forscht zu psychischen Störungen im Zusammenhang mit Radikalisierung. "Grundsätzlich gibt es Menschen mit psychischen Störungen – vor allem narzistischen, dissozialen oder wahnhaften Störungen – die in einigen Fällen zu aggressivem Verhalten neigen können", sagt er. Wenn sich diese Menschen radikalisieren, dann oft oberflächlicher, sie seien meist weniger tief verankert in einer Ideologie. "Die Ideologie dient eher dazu, aggressives Verhalten zu rechtfertigen."

Das sei ein anderer Typus als Terroristen, die gezielt Anschläge planen. "Um einen Terroranschlag zu koordinieren, braucht es gewisse Handlungs- und Planungskompetenzen", sagt Allroggen. "Das ist mit vielen psychischen Störungen sehr schwer vereinbar."

Dass Menschen wie der Täter aus Würzburg wieder aus psychiatrischen Einrichtungen entlassen werden, wundert Allroggen nicht. Das sei allerdings weniger dem Fachkräftemangel in der Psychiatrie geschuldet als den Hürden, die dem Festhalten einer Person gegen ihren Willen gegenüberstehen.

Die sind hoch: Neben einer psychischen Erkrankung muss eine konkrete Gefährdung vorliegen, das kann eine Selbst- oder auch Fremdgefährdung sein. "Die reine Möglichkeit, dass etwas passieren könnte, reicht nicht aus", sagt Allroggen. "Derjenige müsste schon konkrete Pläne für eine Gewalttat äußern."

Das macht den Fall Würzburg in Allroggens Augen so kompliziert. "Es reicht nicht, dass sich jemand in das Auto von jemand anderem setzt, um ihn dann dauerhaft festzuhalten", sagt er.

Im konkreten Fall kommt noch eine weitere Hürde hinzu: Die behandelnden Ärzte haben nach Angaben des Spiegels einen psychiatrischen Betreuer für den späteren Täter beantragt. Der Antrag wurde von den Behörden aber abgelehnt.

Allroggen ist eindeutig dagegen, die Hürden, die bestehen, um jemanden gegen seinen Willen in einer psychiatrischen Einrichtung festzuhalten, zu senken. "Es handelt sich dabei um einen massiven Eingriff in die Grundrechte", sagt er. "Man kann niemanden gegen seinen Willen festhalten – nur mit der Begründung, dass potenziell etwas passieren könnte." Allroggen spricht von einer "Abwägung von Rechten", die man "gut treffen muss". "In einer freiheitlichen Gesellschaftsstruktur lassen sich nicht alle Gefahren ausschließen."

Jemanden gegen seinen Willen festzuhalten, ist das eine. Und wie steht es um den Austausch psychiatrischer Einrichtungen mit den Sicherheitsbehörden?

"Mitarbeiter psychiatrischer Einrichtungen erfahren nur dann, ob ein Patient als ,Gefährder' gelistet ist, wenn die Polizei sie informiert", sagt Marc Allroggen. Inwieweit Sicherheitsbehörden wiederum von der Entlassung eines Patienten informiert werden, hänge von der entsprechenden Situation, etwa der Gesetzeslage des jeweiligen Bundeslandes, ab.

Die Informationen könnten zudem nur dann weitergegeben werden, wenn der Patient dem zustimmt. Oder wenn es eine entsprechende Regelung gibt, etwa, weil eine akute Gefahrenlage besteht. "Ansonsten steht dem die ärztliche Vertraulichkeit im Weg", sagt Allroggen. "Und die ist ein hohes Gut."

Die Hürde besteht nicht nur beim Informieren der Sicherheitsbehörden, sondern auch, wenn es darum geht, Patienten, die Anzeichen einer Radikalisierung zeigen, an Fachstellen zu vermitteln. Das passiere noch sehr selten, sagt Marc Allroggen. Er spricht von einer "Lücke im System".

Dass dem so ist, hat mehrere Ursachen, zuvorderst die Schweigepflicht. Der Patient müsste einverstanden sein. Oftmals wüssten Ärzte aber auch schlicht nicht, an wen sie sich wenden sollten, oder könnten radikale Tendenzen nicht erkennen.

Allroggen hat deshalb ein Projekt mit ins Leben gerufen, dessen Ziel es ist, Psychotherapeuten und Therapeutinnen sowie Psychiater gezielt zu schulen. "Sie brauchen mehr Wissen zu Themen wie Radikalisierung und komplexen Gewaltphänomenen, um entsprechend reagieren zu können", sagt er. Das gleiche gelte für Allgemeinärzte. "Die Hemmschwelle, seinen Hausarzt aufzusuchen, ist für Menschen mit psychischen Problemen meist niedriger, als gleich zu einem Psychiater zu gehen." Deshalb müssten auch Hausärzte besser informiert sein. "Sonst tauchen diese Menschen gar nicht im System auf."

Dieses Problem sieht auch Thomas Mücke. Mücke ist Geschäftsführer und Mitbegründer des Violence Prevention Network, eine der größten NGOs im Bereich der Deradikalisierung und Extremismus-Prävention.

Auch Mücke sagt, Einzeltäter und -täterinnen mit einer psychischen Störung seien zunehmend ein Problem. "In unserer Beratungspraxis tauchen diese Fälle allerdings kaum auf." Nur etwa eine Handvoll seiner mehreren Hundert Klientinnen und Klienten würde zu dieser Gruppe zählen. Dass es so wenige sind, liege daran, dass es bei ihnen oftmals keine "Extremismus-Signale" gebe.

Mücke und seine Mitarbeiter werden aktiv, wenn sich Familienangehörige, Kollegen, Mitschüler oder Lehrer bei ihnen melden. Mitunter stehen am Anfang auch Hinweise der Behörden. Was aber, wenn jemand nicht Teil einer Szene ist, sich nicht in Foren äußert, in seinem Umfeld nicht über mögliche Absichten spricht? "Wir können nur tätig werden, wenn es Hinweise auf eine extremistische Gesinnung gibt", sagt Mücke. "Eine psychische Störung allein reicht nicht aus."

In der Deradikalisierungsarbeit gehe es darum, Menschen, die drohen, in abgeschlossenen Szenen zu verfangen, eine Alternative zu bieten, sagt Mücke. "Eine Brücke zu bauen, zurück in die Gesellschaft." Nicht immer gelingt das: Zu Mückes Klienten gehörte auch Abdullah A.H.H.

Der junge Syrer hat im Oktober 2020 in Dresden zwei Männer mit einem Messer angegriffen, einer der Männer starb. H. wurde später zur Höchststrafe verurteilt. Mitarbeiter des Violence Prevention Networks hatten vor der Tat über Monate Kontakt zu ihm. Mücke sagt: "Eine hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht."

Er und sein Team betreuen inzwischen zunehmend auch Rückkehrer aus dem ehemaligen Gebiet des sogenannten Islamischen Staates in Syrien und Irak. Menschen, die oftmals schwer traumatisiert sind. Deshalb habe man angefangen, die Teams auszubauen und neben Fachkräften aus der Sozialarbeit, auch Therapeuten und Therapeutinnen sowie Fachkräfte aus der Psychiatrie zu beschäftigen. Ein erstes Pilotprojekt läuft derzeit in Berlin.

Zeige ein Klient oder eine Klientin Anzeichen für eine psychische Störung, werde dies von den Mitarbeitern abgeklärt, die Person gegebenenfalls an psychiatrische Einrichtungen übergeben, sagt Mücke. Allerdings müsse die Person auch bereit sein, sich therapieren zu lassen. Und es brauche Therapeutinnen und Therapeuten, die sich mit dem Thema Radikalisierung auskennen. "Darin besteht momentan die große Herausforderung."

Mehren sich bei einem Klienten oder einer Klientin hingegen Anzeichen für eine akute Bedrohung, müssten er und sein Team die Ermittlungsbehörden umgehend alarmieren. "Es reicht, wenn uns ein besorgter Vater anruft, der sagt, er habe ein Kündigungsschreiben seines Sohnes gefunden, der sei vermutlich auf dem Weg in ein Kampfgebiet", sagt Mücke. "Wir informieren dann sofort die Bundespolizei."

"Inzwischen", sagt Mücke, "hat sich ein sehr professionelles System etabliert, wie Fälle bearbeitet und Informationen zwischen den einzelnen Akteuren ausgetauscht werden."


Aus: "Psychisch kranke Einzeltäter: Unsichtbare Einzeltäter" Sascha Lübbe (4. Juli 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-07/psychische-erkrankung-einzeltaeter-wuerzburg-hanau-halle-terrorismus-praevention/komplettansicht

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Quote[...] 475 Menschen ohne Papiere befinden sich in Belgien im Hungerstreik. Sie fordern ihre Legalisierung und eine Aufenthaltsrechtsreform.

... Sie selbst nennen sich ,,Sans-Papiers", die Papierlosen. Schätzungsweise leben zwischen 100.000 und 150.000 Menschen, 1 bis 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung, ohne legalen Aufenthaltstitel in Belgien und dürften somit offiziell auch nicht arbeiten.

... Im Januar haben sich daher einige Hundert Ak­tivs­t:in­nen in Brüssel zu einem Kollektiv zusammengeschlossen, der Union des Sans Papiers pour la Régularisation. Ihre Forderungen: eine Reform des Aufenthaltsrechts – und einen sofortigen legalen Status aller Aktivist:innen. Dafür haben sie erst die Barockkirche Saint-Jean-Baptiste au Béguinage im Stadtzentrum von Brüssel besetzt, dann im Februar die ULB und die Vrije Universiteit Brussel (VUB). Seit 23. Mai befinden sich 475 Ak­ti­vis­t:in­nen in den drei Besetzungen im Hungerstreik.

... Sie sitzt wenige Meter entfernt von Khatiwda hinter den geblümten Bettlaken, die an der Decke der Cafeteria festgemacht sind und den Schlafbereich der Frauen vom Matratzenlager der Männer trennen. Auf den Knien hat sie einen Schreibblock und kritzelt ein paar Zeilen auf Papier. Vor sechs Jahren, erzählt sie, sei sie aus Marokko nach Europa gekommen, um Arbeit zu finden. Bei den Behörden gemeldet hat sie sich nie.

In Belgien hat sie erst als Putzkraft, später als Haushälterin bei belgischen Familien gearbeitet. ,,Alles Jobs, die die Belgier selbst nicht machen wollen. Sie wollen, dass wir für sie arbeiten – aber sie wollen nicht, dass wir Papiere haben." Deshalb hat sie sich entschlossen, einen Brief zu schreiben. An Sammy Mahdi, den Staatssekretär für Migration und Flüchtlinge von der flämischen Rechtspartei Christen-Democratisch en Vlaams (CD&V):

,,Wir haben den Hungerstreik nicht begonnen, um Sie zu erpressen, Mr. S. M. Der Hungerstreik ist ein Angebot zum Dialog, von dem wir hoffen, dass er zum Ende unseres Leidens führt, das durch die Coronakrise noch verschlimmert wurde. Wir sind hier seit vielen Jahren und die Regierung erwartet, dass wir hier sterben ohne Identität."

Mahdi ist der Hauptadressat, gegen den sich der Protest und die Wut der Papierlosen richtet. Ein junger aufstrebender Konservativer, der mit seinen 32 Jahren und als Sohn eines Geflüchteten für eine ,,Beruhigung des Diskurses" sorgen sollte. Einer, von dem manche in Brüssel sagen, dass der Hungerstreik seine politische Karriere entscheiden könnte; denn seine Haltung war bislang eindeutig: ,,Wenn sich, wie sie sagen, 150.000 Menschen illegal in Belgien aufhalten und 200 von ihnen beschließen, einen Hungerstreik zu beginnen, um einen legalen Status zu erhalten, werden eine Woche später 2.000 oder sogar 20.000 andere dasselbe tun", erklärte Mahdi schon Ende Juni.

,,Der Koalitionsvertrag ist ganz klar", sagt Mahdi. ,,Es wird keine kollektiven Aufenthaltserlaubnisse mehr geben. Die Regeln gelten immer noch und ich werde meine Politik nicht plötzlich ändern, weil diese Leute entscheiden, mit dem Essen aufzuhören." Nichtsdestotrotz verhandelt der Staatssekretär seit einer Woche mit den Ak­ti­vis­t:in­nen über eine mögliche Lösung. Die Erfahrung mit ähnlichen Aktionen sagt, dass die Hungerstreikenden wohl nur noch 10 bis 15 Tage überleben können.

,,Die Regierung hat Angst", glaubt Charlotte Fichefet, sie ist Politikwissenschaftlerin an der ULB und Teil des Unterstützer:innen-Netzwerks der Sans-Papiers. ,,Denn der Kampf der Kollektive der Sans-Papiers in Belgien hat eine längere Tradition." Mehrmals sei es den Sans-Papiers gelungen, One-Shot-Legalisierungsaktionen durchzusetzen.

Während der ersten Proteste 1999/2000 wurden von 50.000 Anträgen 40.000 dauerhaft bewilligt, und auch Mitte und Ende der 2000er wurden mit Hungerstreiks mehrere Legalisierungen durchgesetzt. Im Jahr 2010 erhielten 10.000, 2011 6.000 Personen einen Aufenthaltstitel. Schon damals war die Kirche Saint-Jean-Baptiste au Béguinage Zentrum des Protests.

An diesem Abend sind die Türen der Kirche verriegelt. Vergangene Woche haben die Ak­ti­vis­t:in­nen beschlossen, den Protest zu verschärfen und keine Ärzt:innen, Un­ter­stüt­ze­r:in­nen und Jour­na­lis­t:in­nen mehr hineinzulassen. Schon jetzt sind sechs Selbstmordversuche bekannt, vier Personen haben sich die Münder zugenäht.

Als es dunkel wird, strömen mehrere Dutzend Un­ter­stüt­ze­r:in­nen auf den Platz vor der Kirche. Viele sind Mitglieder der örtlichen Gemeinde, haben Fackeln und Kerzen mitgebracht und skandieren: ,,Olala, olélé, solidarité avec les sans-papiers!" Einer der wenigen Sans-Papiers-Aktivist:innen, die an diesem Abend nach draußen vor die Kirche treten, ist Ahmed. Er ist 63, kommt aus Marokko, lebt seit acht Jahren in Brüssel und agiert als Sprecher der Kirchenbesetzer.

,,Mir ist wichtig, dass klar ist: Wir sind keine Obdachlosen oder Schutzsuchenden – wir sind Arbeiter." Er selbst habe in Belgien acht Jahre lang als Elektriker auf dem Bau gearbeitet, 15 bis 16 Stunden am Tag. 40 bis 50 Euro habe er dafür bekommen. ,,Das ist kein versuchter Massensuizid, das ist ein Arbeitskampf: gegen eine Politik, die dafür sorgt, dass Menschen bis auf die Knochen ausgebeutet werden. Und der Hungerstreik ist das letzte Mittel." Wären sie nicht bereit, in diesem Kampf ihr Leben zu lassen, dann würde ihnen auch niemand zuhören. ,,Auch der französischen Revolution sind viele große Frauen und Männer zum Opfer gefallen – aber am Ende haben sie die Freiheit erkämpft", sagt Ahmed.

,,In Belgien sind derzeit 130.000 Stellen offen. Jedes Jahr gehen Zehntausende in Rente und niemand weiß, wie man die nachbesetzen soll", erzählt er. ,,Dabei wäre die Lösung so einfach: Legalisiert uns, wir sind hier. Aber nein, ihre rassistische Politik ist ihnen wichtiger als die eigene Wirtschaft."

Ob Belgien gegenüber den Papierlosen die Menschenrechtskonvention bricht, ist inzwischen Thema von Beratungen bei den Vereinten Nationen. Vergangenen Donnerstag hat Olivier De Schutter, der UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte und extreme Armut, die Menschen in der Kirche besucht – anschließend sagte er: ,,Was ich gehört habe, war erschütternd, denn viele sind seit vielen Jahren in Belgien. Sie befinden sich in einem Rechtsvakuum, während ihre Kinder hier auf die Schule gehen und sie arbeiten, haben sie keine Möglichkeit, sich über die Formen der Ausbeutung zu beschweren, denen sie ausgesetzt sind."

In der Cafeteria der ULB hat Ram Pallsad Khatiwda sein Smartphone herausgeholt und zeigt das Bild einer Kindergartengruppe. ,,Siehst du das Mädchen dort?", fragt er. ,,Das ist meine Tochter. Sie wurde vor fünf Jahren geboren. Und sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Pass. Keinen nepalesischen, keinen belgischen. Gar keinen. Und deshalb bin ich hier und kämpfe." Nur wie lange dieser Kampf noch dauern wird, das weiß in Brüssel derzeit niemand.

...


Aus: "Das letzte Mittel der Sans-Papiers" Bartholomäus von Laffert (13. 7. 2021)
Quelle: https://taz.de/Hungerstreik-in-Belgien/!5781092/

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Quote[...] Igor Levit ist Pianist und Professor für Klavier an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Georg Diez ist Journalist und Autor. Beide besuchten 2016 zusammen das Flüchtlingslager Idomeni.

Flucht, das Nachdenken darüber, die Recherchen vor Ort, haben uns beide verändert, wütend gemacht, politisiert.

Als wir zusammen vor fünf Jahren, im Sommer 2016, das Flüchtlingslager von Idomeni besuchten, an der Grenze von Griechenland und Mazedonien, da trafen wir Menschen, denen der Weg abgeschnitten war und damit das genommen wurde, was sie antrieb – die Hoffnung, woanders, nach vorne, in der Zukunft ein besseres Leben zu finden, für sich und für ihre Kinder.

Seither hat sich die Lage ,,normalisiert" – das heißt, dass das Sterben im Mittelmeer hingenommen wird von dieser Gesellschaft, dass es eine Übereinkunft des Wegschauens gibt, Schuld, für jeden Toten.

Das heißt auch, dass die Verantwortung, die dieses Europa hat, dass die Werte, auf die es sich so gern bezieht - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - nicht für alle gelten, sondern vor allem für die, die hier geboren sind.

Das ist in vielem das Gegenteil der Humanität, die Europa von anderen einfordert. In Idomeni, an dem Tag, als das Lager geräumt wurde, sahen wir, wie politisches Handeln durch polizeistaatliche Maßnahmen ersetzt wurde. Statt Hilfe gab es Kriminalisierung.

Die Angst und die Verstörtheit der Menschen [https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/lesbos-die-traumainsel-wo-die-fluechtlingskrise-nicht-enden-will/25071464.html], die weiterwollten, weil es ein Zurück nicht gab, nicht geben konnte – es war eine Lektion aus Europa, das sich - Generationen vom eigenen zerstörerischen Krieg entrückt - unfähig zeigt, sein Erbe anzutreten, seine Verantwortung zu übernehmen.

Wir sehen, dass es in dieser Gesellschaft viele Menschen gibt, die sich für Geflüchtete einsetzen, mutig im Alltag, mutig auf See, weil es eigentlich selbstverständlich ist, diese Hilfe, weil es uns zu Menschen macht.

Wir sehen dieses Potenzial für eine offene Gesellschaft, die sich nicht abschottet, weil die Freiheit, die an den Grenzen verraten wird, auch im Inneren nicht zu retten ist – es gibt nicht Menschenrechte nur für einige.

Wir sehen aber auch, dass sich Teile dieser Gesellschaft gegen diese Menschlichkeit immunisiert haben – dazu gehören vor allem einige Parteien und leider viele Medien, die einen Rechtsruck befördert haben, eine Verschiebung dessen, wofür diese Gesellschaft steht oder stehen sollte, wenn sie ihre eigenen Versprechen ernst nehmen würde.

Aus Ressentiment wurde Rassismus – oder umgekehrt. Die Ausgrenzung war immer da, selbst wenn das Dableiben gelang. Das Selbstverständnis Deutschlands als Einwanderungsland hat es immer noch schwer [https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlinge-der-sichere-ort-ausserhalb-europas/19369188.html]. Es wäre eine Möglichkeit, einen Schritt näher am Morgen zu sein. Die Chance auf eine veränderte und umfassend menschliche Gesellschaft im 21. Jahrhundert wird so jedenfalls vertan.

Die UN-Flüchtlingskonvention wurde 1951 geboren aus dem Geist oder richtiger: dem Schrecken des Krieges, sie ist ein großer Schritt, ein Triumph, ein Ergebnis europäischer Geschichte. 70 Jahre später aber muss sich der Blick wenden, nicht nach hinten, sondern nach vorne, nicht nach innen, sondern nach außen.

Er muss sich auf die Herausforderungen der Zukunft beziehen, weil Flucht eine Realität ist [https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlingszahlen-der-un-mehr-als-82-millionen-menschen-weltweit-auf-der-flucht/27299676.html] und mehr und mehr sein wird, wenn durch die menschengemachte Klimakatastrophe Millionen von Menschen und mehr in Bewegung sind, voller Hoffnung, voller Angst, von Not und Notwendigkeit getrieben.

Das 21. Jahrhundert wird also das Jahrhundert der Geflüchteten sein, deshalb muss das Denken, das Handeln, das Verständnis von Staat und Nation, müssen die Institutionen und Werte dieser neuen Realität angepasst werden – nicht durch Rückgriff auf alte Konzepte, sondern durch neue Ideen, durch einen auch aggressiven Humanismus, der darauf beharrt, dass der Mensch eine Verpflichtung hat, sich selbst und allen anderen gegenüber [https://www.tagesspiegel.de/meinung/pianist-igor-levit-erhielt-morddrohungen-habe-ich-angst-ja-aber-nicht-um-mich/25372372.html].

Wir vertreten deshalb eine Position der radikalen Menschlichkeit, das heißt eine Sicht, die unmittelbar vom Einzelnen ausgeht – jede Geschichte gilt, jede Biografie zählt. Das heißt auch, dass jede Entscheidung respektiert werden muss, wenn jemand aufbricht, einen Weg, eine Reise beginnt. Es stellt sich nicht die Frage nach dem Motiv - sei es Vertreibung, Verfolgung, Armut, Hungersnot; die Anwesenheit allein setzt ihn oder sie ins Recht.

Damit sollte auch das Verständnis von Asyl, eine schwache, ausgehöhlte Position, verändert werden. Es muss den Schutz geben, wo er nötig ist. Vor allem muss es aber es Offenheit und Respekt geben. So gesehen ist es eine Position der Stärke, aus der heraus der oder die Einzelne die Reise beginnt – es ist ein Akt der Freiheit, selbst wenn er im Zwang geschieht. Diese Freiheit gilt es zu sehen, zu stärken, zu stützen, mit allen Mitteln, die wir haben.

Wir leben in einer Welt, in der es Freiheit für Waren und Güter gibt, aber nicht für Menschen, die von einem Ort zum anderen wollen. Das dürfen wir nicht hinnehmen.


Aus: "70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention: Jeder Geflüchtete verdient Unterstützung"  Igor Levit und Georg Diez  (27.07.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/70-jahre-genfer-fluechtlingskonvention-jeder-gefluechtete-verdient-unterstuetzung/27454760.html

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#116
Liste der Länder nach geflüchteter Bevölkerung
Folgende Liste sortiert Länder nach der Anzahl an ausländischen Flüchtlingen in Land sowie der Anzahl der Personen die Asyl beantragt haben (Stand: Mitte 2019).
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_gefl%C3%BCchteter_Bev%C3%B6lkerung

https://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Fl%C3%BCchtlingsthematik

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Quote[...] Als die Genfer Flüchtlingskonvention vor 70 Jahren unterzeichnet wurde, war die Welt eine andere. Die Herausforderungen in Sachen Asylpolitik haben sich verändert – auch die Bedeutung der Konvention?

Seit Menschengedenken gibt es Flüchtlinge und massive Fluchtbewegungen, doch waren es vor allem die großen Konflikte am Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa, die zu einer staatlichen Zusammenarbeit führten.

So initiierten das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und die Vereinigung der Rotkreuzorganisationen beim Völkerbund, dass er sich um ein internationales Schutzsystem für Menschen auf der Flucht kümmert. Vor allem aus den russischen – und später sowjetischen – Gebieten flüchteten zahlreiche Menschen.

Die Folge war, dass 1921 der norwegische Polarforscher und Diplomat Fridtjof Nansen zum Hochkommissar für Flüchtlinge ernannt wurde. Seine Kompetenzen wurden stetig ausgeweitet: War Nansen zu Beginn nur für russische Flüchtlinge zuständig, kümmerte er sich später auch um armenische und schließlich um alle Flüchtlinge der Region. 1922 schuf er den sogenannten "Nansen-Ausweis", der Geflüchteten zum ersten Mal einen legalen Status nach Verlassen ihres Landes bescherte. Für sein Engagement erhielt der Norweger im selben Jahr den Friedensnobelpreis.

Für jede Krise wurden eigene Definitionen für "Flüchtling" geschaffen. Bis zum Jahr 1949, als es mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs einen Vorstoß in Richtung allgemeiner Definition gab. Diese fand sich schließlich in der Flüchtlingskonvention, die am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnet wurde. In diesem Dokument ging es aber hauptsächlich um die Geflüchteten des Zweiten Weltkriegs in Europa, weshalb 1967 ein zusätzliches Protokoll geschaffen wurde, das die zeitliche und auch geografische Schranke aufhob.

Bis heute sind insgesamt 149 Staaten der Konvention und/oder dem Protokoll beigetreten.

Die Einigkeit, die die Staatengemeinschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Sachen Flüchtlingsschutz an den Tag legte, hat über die Jahrzehnte nachgelassen. Heute sind so viele Menschen wie nie zuvor auf der Flucht: Mindestens 82,4 Millionen waren es laut Zahlen der Vereinten Nationen mit Ende des vergangenen Jahres. Davon galten 20,7 Millionen Menschen als Flüchtlinge unter dem Mandat des UN-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR).

Doch viele Flüchtlinge leben auch in Ländern, in denen sie nicht den Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) genießen. Zum Beispiel ist die Türkei eines der größten Aufnahmeländer, hat aber nur die GFK selbst und nicht das Protokoll unterzeichnet. Das bedeutet, dass sie den GFK-Schutz nur europäischen Flüchtlingen gewährt, die vor dem 1. Jänner 1951 vertrieben wurden.

Pakistan, wo offiziell 1,4 Millionen Flüchtlinge leben, hat nicht einmal die GFK ratifiziert. Was die dortigen Behörden auch erst vor kurzem als Grund angeführt haben, warum sie keine afghanischen Geflüchteten mehr aufnehmen wollen. Pakistans Nationaler Sicherheitsberater Moeed Yusuf hatte in einem Interview mit Voices of America das UNHCR aufgefordert, Camps für Vertriebene auf der afghanischen Seite der Grenze zu errichten.

Als sich im Februar das Militär in Myanmar an die Macht putschte, wurden tausende Menschen über die Grenze vertrieben. Die meisten der Staaten in der Nachbarschaft des Landes haben aber ebenso wenig die Flüchtlingskonvention ratifiziert: Thailand und Bangladesch gehören zudem zu den größten Zielländern für Geflüchtete. Prinzipiell können sich Staaten natürlich auch ohne die Konvention gut um Geflüchtete kümmern, doch "macht es eine internationale Prüfung schwieriger, weil das UNHCR nur eine beschränkte Rolle im Land hat", gibt Emily Venturi vom britischen Thinktank Chatham House zu bedenken.

Doch selbst wenn ein Staat die Konvention und das Protokoll unterzeichnet hat, ist das keine Garantie für die Wahrung des Rechts auf Asyl. In Europa, wo sich nicht einmal die Mehrheit der weltweiten Flüchtlinge aufhält, sei das "Recht auf Asyl in der Migrationsdebatte gefährdet", sagt Venturi. Das Thema werde instrumentalisiert. Dass Dänemark und Großbritannien neue Wege in Sachen Asylpolitik einschlagen und Anträge in Drittländern bearbeiten wollen, "versetzt die Welt in Alarmbereitschaft, wenn reiche europäische Länder nicht mehr ihren Verantwortlichkeiten unter internationalem Recht nachkommen", sagt Venturi.

Auch das Recht, dass einem Asylsuchenden nicht die Einreise verwehrt werden darf, steht nur noch auf wackeligen Beinen. Und dieses Recht gilt nicht nur laut GFK, sondern ist ein Teil des Völkergewohnheitsrechts und somit für jeden Staat bindend. Erst im Juli urteilte das steirische Landesverwaltungsgericht, dass ein Marokkaner illegalerweise nach Slowenien zurückgewiesen wurde. Berichte, wonach die griechische Küstenwache Menschen auf Schlauchbooten in türkische Hoheitsgewässer schleppt, um ihre Asylfälle nicht bearbeiten zu müssen, häufen sich seit Monaten.

Auch die neue US-Regierung wurde im Mai durch den UN-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi kritisiert. Er forderte, dass die USA die in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie stehenden Asyleinschränkungen aufheben: "Der Schutz der öffentlichen Gesundheit und der Schutz von Flüchtlingen schließen sich nicht aus."

Kann ein 70 Jahre altes Dokument, das von Europäern für Europäer nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben wurde, auch in Zukunft gelten? Ja, sind sich Expertinnen und Experten ziemlich einig – auch deshalb, weil es im Moment weltweit keinen breiten Konsens gibt, sich auf neue Regeln in Sachen Flüchtlinge zu einigen.

Emily Venturi vom britischen Thinktank Chatham House nennt die Genfer Flüchtlingskonvention deshalb "das beste Werkzeug, obwohl es seine Grenzen hat". Sie plädiert dafür, dass die Anstrengungen, weitere Staaten dafür zu gewinnen, intensiviert werden sollten, es aber auch Reformen geben muss, um die fehlende Haftung der Länder zu adressieren. Vor allem in der Region Asien-Pazifik, wo gerade einmal 20 der 48 Staaten unterzeichnet haben.

Auch Petra Bendel, Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) in Deutschland, sieht die Konvention als zukunftsfähig. Ihre völkerrechtliche Bedeutung sei nach wie vor groß. Europa müsste aber seine Anstrengung auf Basis des Dokuments erhöhen: "Die EU muss sich verlässlich zu besserem Schutz von Flüchtlingen verpflichten", sagt sie. Hierzu sei es nötig, vor allem Resettlement in sichere Staaten auszubauen, und das "sofort und zusätzlich zu bestehenden Maßnahmen".

Für Staaten, die sich einer Aufnahme von Flüchtlingen versagen, könnten positive Anreize gesetzt werden: "Dabei könnte es sich um Finanzhilfen handeln, die man in die Verbesserung des Asylsystems investiert", schlägt Bendel vor. Auch Venturi ist dieser Meinung: "Man muss die Bürde von den Ländern mit geringem Einkommen nehmen, in denen sich die meisten Flüchtlinge aufhalten", sagt sie, "damit die Verantwortung für den Schutz der Menschen geteilt wird." (Bianca Blei, 28.7.2021)


Aus: "Zum 70. Geburtstag steht die Genfer Flüchtlingskonvention unter Beschuss" Bianca Blei (28. Juli 2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000128498036/zum-70-geburtstag-steht-die-genfer-fluechtlingskonvention-unter-beschuss?ref=rss

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pibyte

Ui, ein Flüchtlings-Artikel
na da wird die Kommentarsektion wieder eine feine Zusammenstellung menschenfeindlicher Äußerungen sein.


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Bürzeldrüse

Mein Verständnis für "Asyl" hat Sylvester 2015 geendet.
Null. Nada. Niente.


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Konstruktive Meinung

Ich wüßte gerne den Fluchtgrund des Marokkaners, der nach Slowenien abgeschoben wurde. Übrigens:
Ein Attentäter von 9 /11 kam aus Marokko. https://www.handelsblatt.com/politik/international/anschlag-auf-world-trade-center-komplize-der-9-11-attentaeter-aus-deutscher-haft-nach-marokko-abgeschoben/23190678.html


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Warumbloß

Woher kam der Christchurch Attentäter noch gleich?


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Ehlogisch

Flucht ist längst nicht mehr so zu verstehen, wie vor 50 Jahren
Heute kommen kulturelle und religiöse Konflikte, Umweltzerstörung, soziale Systeme, Arbeits- und Wohnungsmärkte, Kosten, Weltwirtschaft, Bevölkerungswachstum, uvm. dazu. Wer das alles in der Diskussion ausblendet, kommt zwangsläufig nicht weiter.


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Qwert1234

Nein, nein und nochmal Nein. Wann kapieren es diese Schreiblinge hier endlich, dass ein Großteil der Bevölkerung keine Zuwanderung mehr will!


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Rainel

Kein Mensch will Zuwanderung. Aber was sollen die Menschen tun, die vor der Alternative Tod oder Flucht stehen? Sie flüchten.
Ich verstehe jeden, der z.B. als Andersgläubiger aus Afghanistan flüchten will. Jetzt wo die Amerikaner entschieden haben, die Taliban wieder an die Macht zu lassen. Aber wohin sollen diese Menschen flüchten? Niemand will sie - überall ist der Großteil der Bevölkerung dagegen, sie aufzunehmen. Das erinnert mich an das Schicksal der Juden zwischen 1933 und 1945. Solange der Westen zuläßt, dass Regime an der Macht sind, die Menschen auf Grund Ihrer Abstammung oder Religion umbringen oder mit dem Umbringen bedrohen, wird es Flüchtlinge geben. Auch wenn wir das alle nicht wollen.


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kugelmugel

und deswegen sollen wir den politischen islam zu "uns holen"?


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LosPantalonesLocos

... würden sie es ignorieren, wenn im Anlassfall tausende Menschen krepieren müssen? Würden sie sich denken "betrifft mich nicht, mir wurscht, sind eh zu viele auf dem Planeten"?



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franz fröhlich

Es sterben täglich zehntausende Menschen aufgrund schlechter Versorgung. Deswegen frühstücken sie auch genüsslich.


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WilWil

nur kapiert der großteil der bevölkerung leider nicht, daß wir zuwanderung brauchen. ...


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kugelmugel

wir brauchen zuwanderung von ausgebildeten menschen. nicht von menschen, die die schule nur vom vorbeilaufen kennen und ein frauenbild von 1560 haben. so eine zuwanderung brauchen wir nicht.


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Fury

Die gut ausgebildeten nehmen sich die Amerikaner und um die anderen soll sich der Rest kümmern.


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#wemnütztes

Mensch bleibt Mensch

Kein Wunder, sobald die eigene Haut gerettet ist, sind einem die anderen egal. Diesbezüglich unterscheidet sich der Afghane vermutlich nicht vom Österreicher.


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LosPantalonesLocos

Spätestens wenn Millionen Klimaflüchtlinge nach Europa strömen, wird man diese ignorieren müssen.


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unsinkable sam (oskar)


ich finde die argumentation mit dem klima herzig. als ob diese probleme, das klima und die dadurch bedingten veränderungen, hier ned zum tragen kommen ...


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sociovation

Die einen wollen keine Flüchtlinge die anderen lassen Menschen mit einem Herzinfarkt auf der Straße liegen ohne zu helfen. Es sind dieselben.
Zum Glück sind sie eine Minderheit.


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CAVOK

Ich will keine Flüchtlinge, die gar keine sind und deshalb lügen und betrügen. Deshalb ist es auch wichtig zu wissen, ob jemand, der auf einer Parkbank liegt, einen Herzinfarkt hat, oder seinen Rausch ausschläft.


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OneMoreRainyDay

Auf welchen Fakten beruht Ihre Einschätzung, daß es "Flüchtlinge" gäbe, "die gar keine sind und deshalb lügen und betrügen"?


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H. K.

Es wird Änderungen geben müssen, um einen Rechtsruck in Europa zu verhindern.


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He-Man II.

Das Problem ist der Rechtsruck?


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Just Me

Der Rechtsruck ist längst passiert.


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thetree

Eines muss man schon sagen. Die Medienlandschaft hierzulande verbeitet seit 2015 fast täglich Falschinformationen.
Personen die aus Syrien, Afghanistan, Irak, oder Schwarzafrika zu uns kommen sind de facto keine Flüchtlinge. Es sind Migranten.

Das haben die Journalisten immer noch nicht kapiert, bzw wollen es auch nicht kapieren.
Die Menschen haben es aber verstanden und wählen daher auch vermehrt FPÖ, Afd, Orban, etc.
Solange die EU hier nicht endlich massiv gegen diese ,,Ich such mir das Land aus wos mir am besten gefällt und wo ich am meisten Geld bekomm" vorgeht wird sich daran auch nichts ändern. Vielleicht verstehens die EU Bürokaten ja sobald genannte Parteien nicht mehr 20, sondern 40 % haben... es ist zum verzweifeln.


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Hattie Caroll

Da ich gerade den Roman "Drachenläufer" von Khaled Hosseini gelesen habe, in dem sehr anschaulich beschrieben wird, in welcher Hölle die Menschen in Afghanistan sich tatsächlich befinden, kann ich ihre Aussage, dass es sich bei Flüchtlingen aus diesem Land um "Migranten" handeln soll, nur als haarsträubend bezeichnen.
Sie haben keine Ahnung wovon Sie reden.


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Michelbach

Ach du liebe Güte, welche Kommentare hier abgesondert werden. Als Europa in Schutt und Asche lag, war die Flüchtlingskonvention noch gut, schließlich ging es da ja auch um Österreicher und Deutsche, die in die USA und nach Südamerika geflüchtet sind. Jetzt ist dieselbe Konvention böse. Was für eine elende Doppelmoral!


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#117
Quote[...] An der Grenze zwischen Mexiko und den USA harren mehr als 10.000 Migrantinnen und Migranten unter einer Brücke aus. Zu Beginn der Woche seien es noch etwa 2.000 gewesen, die den Grenzfluss Rio Grande überquert hätten, sagte der Bürgermeister der Grenzstadt Del Rio, Bruno Lozano. Am Donnerstagmorgen waren es demnach 8.200. Sheriff Frank Martinez schätze die Zahl der campierenden Menschen gar auf 13.700. Del Rio hat 36.000 Einwohner.

Er gehe davon aus, dass noch Tausende weitere kommen würden, sagte der Bürgermeister. Demnach stammen die Menschen mehrheitlich aus Haiti. Sie waren durch kniehohes Wasser im Rio Grande gelaufen. Einige trugen kleine Kinder auf ihren Schultern. Es wurden Zelte und einfache Unterkünfte errichtet.

Lozano rief den Notstand aus und sperrte die Brücke. Es drohe eine humanitäre Katastrophe. "Es gibt Frauen, die gebären, Leute, die wegen der Temperatur in Ohnmacht fallen, sie sind ein bisschen aggressiv, und das ist normal nach all diesen Tagen in der Hitze", sagte der Bürgermeister der Texas Tribune.

Auf Twitter verbreitete er ein Video, das die Menschen zeigt, und warnte vor einer Gesundheitskrise. Das Coronavirus könne sich in der Menschenmenge schnell ausbreiten, ebenso wie andere Krankheiten. Zudem bestehe die Gefahr einer Massenpanik. "Wir brauchen schnelles Handeln der Regierung", sagte Lozano. Unter den Migrantinnen und Migranten könnten sich demnach auch Terroristen ins Land schmuggeln. Der Grenzschutz teilte mit, das Personal aufgestockt zu haben, um die Situation "sicher, human und geordnet" zu bewältigen. Beschäftigte hätten Trinkwasser, Handtücher und tragbare Toiletten verteilt.

Die Lage in Del Rio setzt die Regierung von Präsident Joe Biden unter Druck. Aufgrund von Gesundheitsvorschriften, die zu Beginn der Corona-Pandemie erlassen wurden, nimmt der Grenzschutz dort in den meisten Fällen keine Anträge auf Bleiberecht entgegen. Die große Mehrheit der an der Grenze Ankommenden wird abgewiesen.

Am Donnerstag ordnete ein Bundesrichter an, dass die Behörden Familien nicht mehr ohne Weiteres zurückschicken dürfen. Dies könnte das Vorgehen deutlich erschweren. Die Regierung legte am Freitag Berufung ein.

Die Opposition wirft Präsident Biden seit Monaten vor, eine "Migrationskrise" ausgelöst zu haben, indem er die harten Grenzschutzmaßnahmen seines Vorgängers Donald Trump lockerte. Seit Bidens Amtsantritt registrierten die Behörden die Ankünfte von mehr als 1,3 Millionen Migranten an der Grenze zu Mexiko, so viele wie seit 20 Jahren nicht mehr. Allein im Juli und August wurden insgesamt 421.000 Menschen aufgegriffen. Im Frühjahr war bereits von Tausenden unbegleiteten Minderjährigen die Rede.

Der republikanische Senator Ted Cruz prangerte nach seinem Besuch vor Ort "ein von Joe Biden verursachtes Desaster" an. Er führte die Situation auf die Entscheidung des Präsidenten, infolge der Ermordung des haitianischen Präsidenten die Abschiebeflüge in das instabile Land auszusetzen.

Die hat die Regierung nun nach Informationen aus dem Umfeld des Präsidenten revidiert. Einer regierungsnahen Quelle zufolge will Biden Migranten aus Haiti wieder per Flugzeug in ihre Heimat zurückführen, berichtet die Nachrichtenagentur AP. Dafür werde es am Sonntag fünf bis acht Flüge geben, im Verlauf kommender Woche solle die Zahl täglicher Flüge sinken. Alle Migranten würden zudem auf das Coronavirus getestet.

Haiti hat es mit Armut, politischer Instabilität und den Folgen eines Erdbebens zu tun. Das geplante Ausfliegen der Migranten ziele nicht speziell gegen Haitianer, verlautete aus US-Regierungskreisen. Das sei einfach eine Fortsetzung der normalen Einwanderungspolitik. Auch die Washington Post hat unter Berufung auf Regierungsbeamte von den Plänen berichtet.

Seit Jahresanfang hat sich auch die Zahl an der US-Südgrenze ankommender Menschen aus Süd- und Mittelamerika erhöht. Im Juni hatte Vizepräsidentin Kamala Harris mit der Aufforderung, sich nicht auf die teils sehr gefährlichen Märsche zur US-Grenze zu begeben, für Aufsehen gesorgt. Die von Biden mit der sogenannten Migrationskrise betraute Politikerin sagte bei einem Besuch in Guatemala in Richtung der Migranten: "Kommen Sie nicht." Die USA würden ihre Grenze weiterhin gegen illegale Übertritte schützen.

Unter Demokratinnen und Demokraten hat sie sich damit Kritik eingehandelt. Die linke Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez nannte den Auftritt "enttäuschend" und kritisierte, es sei legal an der Grenze um Asyl zu bitten. "Die USA haben jahrzehntelang zum Regimewechsel und zur Destabilisierung in Lateinamerika beigetragen. Wir können nicht jemandes Haus in Brand setzen und ihm dann die Schuld für seine Flucht geben", schrieb Ocasio-Cortez.


Aus: "Zehntausend Migranten campieren an US-Grenze" (18. September 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/migranten-usa-grenze-sueden-amerika-joe-biden-grenzschutz

"Empörung in den USA Berittene US-Grenzschützer gehen gegen Flüchtlinge aus Haiti vor" (21.09.2021)
Bilder von berittenten US-Grenzpolizisten bei der Jagd auf Flüchtlinge sorgen für Aufregung. Die US-Regierung kündigt eine Untersuchung an.
https://www.tagesspiegel.de/politik/empoerung-in-den-usa-berittene-us-grenzschuetzer-gehen-gegen-fluechtlinge-aus-haiti-vor/27631218.html

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"Einwanderung - Migration in Deutschland: Wie geht es Familien, die vor Jahren schon eingewandert sind?" (16.09.2021)
Migrationspolitik ist in Deutschland ständig Thema - aber wie leben eigentlich die Leuten, die schon vor Jahren hierher eingewandert sind? Journalistin Anna Severinenko ist als Kind aus Kasachstan nach Deutschland gezogen und erzählt wie es ihrer Familie seither ergangen ist [Anna Severinenko, wanderte im Alter von sechs Jahren mit ihrer Familie aus Kasachstan nach Deutschland ein. Heute lebt und arbeitet sie als Journalistin in Berlin.]...
https://www.fr.de/politik/migration-in-deutschland-wie-geht-es-familien-die-vor-jahren-schon-eingewandert-sind-90985993.html



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#119
Quote[...] An der deutsch-polnischen Grenze in Brandenburg steigt die Zahl der illegalen Grenzübertritte stark an. Das berichtete der RBB unter Berufung auf einen Bericht des Bundesinnenministeriums. Demnach wurden in Brandenburg in der ersten Septemberhälfte rund 400 Menschen "bei der unerlaubten Einreise festgestellt", wie das Ministerium dem Sender bestätigte. Im ganzen Monat August waren es den Angaben nach ebenfalls 400.

125 weitere Geflüchtete ohne Papiere sollen nach RBB-Informationen am vergangenen Wochenende allein rund um Frankfurt/Oder aufgegriffen worden sein. Die Stadt gilt derzeit als Schwerpunkt der illegalen Migration über Belarus und Polen nach Deutschland. Rund 75 Prozent der Migrantinnen und Migranten geben dabei an, zuvor über Belarus oder Litauen und Polen eingereist zu sein. Das bestätigte die Bundespolizei der Redaktion rbb24-Recherche. Ein Großteil der auf diesem Weg nach Brandenburg kommenden Flüchtlinge sind den Angaben zufolge irakische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger.

Die Bundespolizei sehe einen Zusammenhang zwischen der Situation an der deutsch-polnischen Grenze in Brandenburg und der Situation entlang der polnisch-belarussischen Grenze, berichtete der rbb. Sie bereite sich bereits auf die Ankunft weiterer Geflüchteter vor: Auf dem Gelände der Bundespolizeiinspektion Frankfurt/Oder wurden den Angaben zufolge bereits Zelte und Toiletten aufgebaut.

Der polnische Grenzschutz registrierte den Angaben nach rund 8.000 Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze, die versucht haben, illegal ins Land zu kommen. "Die meisten dieser Versuche konnten wir bis jetzt erfolgreich verhindern", teilte der Grenzschutz mit.

Polens Regierung beschuldigt die Regierung des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, die Flüchtlinge in organisierter Form an die EU-Außengrenze zu bringen. Von dort aus versuchen viele nach Deutschland zu gelangen. Die Regierung in Warschau wirft der Regierung in Minsk vor, die EU und Polen aus Rache für die jüngsten Sanktionen durch das gezielte Durchschleusen von Migranten destabilisieren zu wollen. Im Grenzgebiet zu Belarus gilt seit Anfang September der Ausnahmezustand. An der polnischen Ostgrenze sind vor wenigen Tagen vier Geflüchtete unter bisher ungeklärten Umständen gestorben.


Aus: "Zahl illegal Einreisender an deutsch-polnischer Grenze steigt stark an" (22. September 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-09/bundesinnenministerium-illegale-migration-deutsch-polnische-grenze-brandenburg-anstieg

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"Migration über Belarus nach Deutschland:Zwischen den Fronten" (15.10.2021)
Belarus lässt Migranten durchreisen, um es der EU heimzuzahlen, Polen versucht die Einreise der Menschen zu stoppen. Ein Ortsbesuch nahe der Grenze.
... Entlang des 416 Kilometer langen Grenzstreifens zu Belarus gilt seit dem 2. September der Ausnahmezustand. Medien, Helfer:innen, Ärzt:innen, Abgeordneten, An­wäl­t:in­nen ist der Zutritt zu ­einer mehrere Kilometer breiten ,,Roten Zone" verboten. Nicht einmal das UN-Flüchtlingswerk UNHCR darf hinein. ...
https://taz.de/Migration-ueber-Belarus-nach-Deutschland/!5804694/

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Quote[...] Der parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer (CSU), hat der Regierung in Warschau inzwischen deutsche Polizisten zur Sicherung der belarussisch-polnischen Grenze angeboten. Mayer sagte der Bild-Zeitung: "Wir bieten Polen jede Hilfe an, um den Angriff auf die Grenze zu Belarus abzuwehren. Deutschland könnte auch sehr zeitnah Polizeikräfte zur Unterstützung nach Polen schicken, wenn Polen dies möchte."

Nach Erkenntnissen der polnischen Behörden halten sich zwischen 3.000 und 4.000 Menschen in dem belarussischen Grenzgebiet auf, wie Regierungssprecher Piotr Müller sagte. In der Grenzregion gab es bereits mehrere Todesfälle unter Migranten. Die EU-Staaten Polen und Litauen haben in den vergangenen Monaten Tausende Grenzübertritte gemeldet.


Aus: "Horst Seehofer fordert Unterstützung der EU für Polen" (9. November 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-11/polen-belarus-grenze-horst-seehofer-eu-fluechtlinge