[...] Das Löschfahrzeug war auf dem Weg nach Gropiusstadt. Auf der Hermannstraße stand es plötzlich vor einer Barrikade aus Baustellenschildern, die auf der Fahrbahn lagen. Auf einmal bewarfen rund 30 Vermummte das Auto mit Steinen und beschossen es mit Schreckschusspistolen. Sie rissen die Rollläden an den Seiten des Fahrzeugs hoch und versuchten Ausrüstung zu entwenden. Der Fahrer konnte das Auto über die Hindernisse hinwegbugsieren und davonfahren. Zum Sprechgesang des Rappers Capital Bra macht das Video von dem Geschehen bei WhatsApp die Runde.
Einer der betroffenen Feuerwehrmänner berichtet in einer Audioaufnahme in einem internen Chat, wie sehr ihn das alles mitgenommen hat: „Das war richtig krank, das kannst du dir nicht vorstellen.“ Die Frage müsse jetzt sein: Wie kann man dagegen vorgehen? Da müssten Politiker sich unbedingt etwas einfallen lassen. Er sagt: „Gewalt gegen Einsatzkräfte hat heute Nacht noch mal eine ganz andere Bedeutung bekommen.“
Ähnliches wie an der Herrmannstraße geschah auch an anderen Orten in Berlin. In Lichtenrade etwa wurde die Feuerwehr mit einem falschen Notruf in einen Hinterhalt gelockt. Vermummte attackierten dann die Feuerwehrleute, die unter Polizeischutz abziehen mussten.
Nach Angaben ihres Sprechers Thomas Kirstein prüft die Feuerwehr insgesamt 14 Meldungen zu Angriffen aus dem Hinterhalt auf Feuerwehrfahrzeuge, die alle nach ähnlichem Modus Operandi abliefen: Fahrzeuge wurden gezwungen zu stoppen und dann gezielt angegriffen. Hatten die Täter dies zuvor verabredet? „Genauso sah es für die Kollegen aus“, sagt Kirstein.
An der Sonnenallee, nahe der High-Deck-Siedlung, setzten Randalierer einen Bus in Brand. Die Feuerwehr konnte erst mit Löschen beginnen, als sie Polizeischutz erhielt. Während Polizisten die Brandbekämpfer schützten, wurde einige Meter weiter das Schaufenster eines Ladens zertrümmert, in dem Feuer gelegt wurde.
Der Schwerpunkt der Krawalle lag im Norden Neuköllns. Betroffen waren aber auch Wedding, Kreuzberg oder Schöneberg.
Bei den meisten Tätern handelt es sich laut Polizisten, Feuerwehrleuten und Zeugen um arabischstämmige Jugendliche und junge Männer. Die Polizei nahm mehr als 100 Randalierer fest. Anhand der Identitätsfeststellungen bei den Festgenommenen gleicht die Polizei derzeit ab, ob sie es mit alten Bekannten wie „kiezorientierten Mehrfachtätern“, zu tun hat.
„Wir hatten damit gerechnet, dass Einsatzkräfte angegriffen würden“, sagt Polizeisprecherin Anja Dierschke. Aber diese Aggressivität und Zerstörungswut habe es in früheren Silvesternächten nicht gegeben. Die Polizei war mit rund 1300 Beamten stadtweit im Einsatz. Dass der Personalansatz zu niedrig war, findet Dierschke nicht. „Auch mit mehr Kollegen hätte es die Angriffe gegeben.“
... Am Montag steht Manuel Barth von der Deutschen Feuerwehr-Gewerkschaft an der Schudomastraße in Neukölln. Dort war die Besatzung eines Löschfahrzeugs attackiert worden. Sie war auf dem Weg zu dem brennenden Bus. Die Brandbekämpfer hielten an der Schudomastraße, um Müllcontainer zu löschen. Plötzlich seien sie von etwa 100 Personen mit Steinen und Feuerwerkskörpern angegriffen worden, berichteten sie. Man habe auch auf ihre Köpfe gezielt. Die Feuerwehrleute fuhren schnell davon.
Während Manuel Barth davon erzählt, stehen ein paar Meter weiter zwei Jugendliche und starren auf ein Video auf ihrem Handy. Es zeigt hohe Flammen. „Teilnehmer dieses Mobs feiern im Nachgang ihre Video-Trophäe und teilen sie untereinander“, sagt der Gewerkschafter. „Wir müssen klar die Ursachen dieser Trennung der Gesellschaft in ihren Idealen und Rechtsverständnissen beleuchten. Zustände, wie wir sie vor zwei Tagen erlebt haben, sind nicht nur nicht hinnehmbar, sondern konsequent zu bekämpfen.“
Aus: "Neuköllns Ex-Stadtrat zu Silvester-Krawallen: „Das Ergebnis fehlender Integration“" Andreas Kopietz (02.01.2023)
Quelle:
https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/neukoellns-ex-stadtrat-zu-silvester-krawallen-das-ergebnis-fehlender-integration-li.303127-
[...] Die Sonnenallee macht ihrem Namen Ehre. Klarer blauer Winterhimmel strahlt am Dienstag über der Strasse im Berliner Bezirk Neukölln. Mohammed al-Nasri ist um 8 Uhr aufgestanden, hat seinen Kleintransporter mit Paletten voller Fanta-Dosen und Wasserflaschen beladen und beliefert damit jetzt den Al-Sham-Supermarkt in Hausnummer 94. Die Sonnenallee ist eine arabisch geprägte und in Berlin verrufene Meile; hier trugen sich in der Silvesternacht Gewaltexzesse zu. ...
Die Frau des Imbiss-Chefs ist sorgfältig geschminkt, trägt ihr Kopftuch eng anliegend, ihre Kinder besuchen eine islamische Schule. Sie lebt in der High-Deck-Siedlung, in der ein Reisebus in Brand gesetzt und die Feuerwehr am Löschen gehindert wurde. Es sei eine Gruppe von Jugendlichen gewesen, die das gemacht habe, sagt sie. «Vielleicht aus angestauter Aggression». Viele Jugendliche würden von ihren Eltern kaum erzogen. «Ich habe beobachtet, dass viele von ihnen Waffen besassen», sagt die 30-Jährige. «Woher hatten sie die? Wo liegt der Fehler im System?» Dennoch, sie liebe die Sonnenallee, sagt sie. Jeden Tag passiere hier etwas. Eines Tages werde sie ein Buch darüber schreiben. ...
Aus: "«Ich hatte Angst, meine Frau hat geweint»: ein forschender Spaziergang auf der Sonnenallee nach der Silvesternacht" Fatina Keilani, Berlin (04.01.2023)
Quelle:
https://www.nzz.ch/international/silvester-in-berlin-neukoelln-das-sagen-die-anwohner-ld.1719570-
[...] Angesichts der Angriffe auf Polizei- und Rettungskräfte in der Silvesternacht insbesondere in der Neuköllner High-Deck-Siedlung fordert der Neuköllner Sozialstadtrat Falko Liecke (CDU) mehr Polizeipräsenz und die Einrichtung einer Brennpunktwache in dem Viertel. „Wir brauchen ein permanentes Auftreten der Staatsmacht, um zu zeigen, wer hier die Straße bestimmt. Der Staat darf sich hier nicht vertreiben lassen“, sagte er dem Tagesspiegel.
Die Vorkommnisse in der Silvesternacht seien Ausdruck einer verfehlten Integrationspolitik. „Das sind überwiegend arabische Jugendliche, die hier völlig freidrehen, außer Rand und Band sind und unseren Staat vollkommen ablehnen“, sagte der Sozialstadtrat.
Die Böllerei sei nur ein Mittel gewesen, um „mit aller Brutalität“ gegen den Staat vorzugehen. Die nach der Silvesternacht aufgekommene Diskussion um ein Böllerverbot sei vor diesem Hintergrund eine „reine Scheindebatte“.
Integrationspolitisch habe ein „völliges Versagen“ stattgefunden, erklärte der CDU-Politiker. Der Bezirk bekomme vom Land nicht genügend Mittel und Unterstützung für die Kinder- und Jugendarbeit im Kiez. „Probleme hat man einfach laufen gelassen“, sagte Liecke.
Nach den Attacken auf Polizei und Feuerwehr in der Silvesternacht in Berlin entspinnt sich eine Debatte über die Hintergründe der Ausschreitungen. Nach Ansicht der Neuköllner Integrationsbeauftragten Güner Balci sind die Taten nur von einer kleinen Gruppe ausgegangen. „Das sind totale Dumpfbacken“, sagte Balci in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ am Montag.
Einige der Personen kenne sie persönlich. Es handle sich dabei um „hoffnungslos Abgehängte“. Diese hätten, auch wegen sozialer Medien, anders als vor 20 Jahren aber eine hohe Deutungsmacht. Dennoch seien sie „platt gesagt: absolute Loser“, bei denen auch Drogen eine Rolle gespielt hätten.
Der Psychologe und Autor Ahmad Mansour fordert hingegen eine bundesweite Integrationsdebatte. „Wir haben es mit einer Gruppe zu tun, die nicht integriert ist, die nicht angekommen in dieser Gesellschaft ist. Eine Gruppe, die die Polizei und den Rechtsstaat teilweise verachtet und ablehnt“, sagte Mansour am Montag in Berlin.
Dieser These widerspricht der Neuköllner Abgeordnete Ferat Koçak (Linke). „Statt stigmatisierender Zuschreibungen in Bezug auf migrantische Jugendliche brauchen wir einen entschiedenen Kampf gegen deren Perspektivlosigkeit und gegen den systematischen Rassismus, dem diese ständig ausgesetzt sind“, sagte er dem Tagesspiegel.
Aus: "„Arabische Jugendliche, die völlig freidrehen“: Neuköllner Stadtrat Liecke will Brennpunktwache in der High-Deck-Siedlung" Christian Latz (03.01.2023)
Quelle:
https://www.tagesspiegel.de/berlin/arabische-jugendliche-die-vollig-freidrehen-neukollner-stadtrat-liecke-will-brennpunktwache-in-der-high-deck-siedlung-9122338.html-
[...] Die High-Deck-Siedlung ist eine Großsiedlung mit rund 6000 Bewohnern im Berliner Ortsteil Neukölln des gleichnamigen Bezirks. Die Siedlung entstand in den 1970er und 1980er Jahren im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus. Das städtebauliche Konzept wandte sich gegen die bauliche Dichte der übrigen Berliner Großsiedlungen mit aneinandergereihten Hochhäusern wie im Märkischen Viertel oder der Gropiusstadt und setzte auf eine baulich-funktionale Trennung von Fußgängern und Autoverkehr. Hochgelagerte, begrünte Wege (die namensgebenden „High-Decks“) verbinden die überwiegend fünf- bis sechsgeschossigen Gebäude, die über rund 2400 Wohnungen verfügen. Die Straßen und Garagen mit mehr als 1000 Stellplätzen liegen unter den High-Decks. Spätestens 25 Jahre nach dem Bau galt das als innovativ gepriesene Konzept der Siedlung bereits als gescheitert.
In den 1970er Jahren waren die Wohnungen wegen ihres Zuschnitts begehrt und Inbegriff für zeitgemäßes Wohnen am grünen Rand West-Berlins. Die Wohnungen lagen unweit der Berliner Mauer an der Grenze zum Ost-Berliner Bezirk Treptow. Nach der politischen Wende und der Maueröffnung verlor das Quartier seine ruhige Grenzlage, büßte an Attraktivität ein und entwickelte sich in den 1990er Jahren durch Segregation zum sozialen Brennpunkt. 2007 lebte mehr als die Hälfte der Einwohner von Transferleistungen. Mit der Einrichtung eines Quartiersmanagements und weiteren Sozial- sowie Kunstprojekten versucht die Stadt Berlin gegenzusteuern und die Siedlung wieder aufzuwerten. ...
Quelle:
https://de.wikipedia.org/wiki/High-Deck-Siedlung-
[....] Sie liegt da wie angezählt. Erschöpft. Nass vom Winterregen, der dunkel über den Waschbeton läuft. Zerschnitten von der Sonnenallee, auf der in diesem Bereich Tempo 30 gilt, woran sich aber kaum jemand hält. Über der Straße erhebt sich das Brückenhaus, schaut trotzig herab. Keine hundert Meter Luftlinie weiter steht an einem Samstagabend im Januar groß und breitschultrig Ali, der lacht und sagt: „Ich hänge emotional an dieser Scheißgegend.“
Das ist Neukölln: liebevoller wird’s nicht.
Die High-Deck-Siedlung war ein städtebauliches Modellprojekt, als sie Mitte der 70er Jahre errichtet wurde: ein Wohngebiet, das Auto- und Fußgängerverkehr konsequent trennte. Gefahren wurde unten, gelaufen oben, auf den High-Decks. Es ist das einzige, das sich über all die Jahrzehnte nicht geändert hat.
2551 Wohnungen umfasst die Siedlung zur Rechten und Linken der Sonnenallee. Im zuständigen Quartiersmanagementgebiet – grob zwischen Siedlung und S-Bahn-Ring – leben 8361 Menschen, 70 Prozent haben einen Migrationshintergrund. Etwa 50 Prozent sind Transferleistungsempfänger. Ende 2020 waren 76 Prozent der Kinder arm.
In der öffentlichen Wahrnehmung taucht die Siedlung seit Jahren vor allem mit schlechten Schlagzeilen auf: Messerstecherei, brennende Müllcontainer, Verwahrlosung. Kürzlich meldete die Polizei, 15 bis 20 Personen hätten dort nachts randaliert: „Die Männer schlugen mit Straßenschildern, Ästen, Flaschen und Baseballschlägern auf vorbeifahrende Autos ein oder warfen nach ihnen.“ Vor ein paar Jahren wurden hier Szenen für die Gangster-Serie „4 Blocks“ gedreht. Die Gegend zehrt von ihrem Ruf – aber sie hadert auch damit. Je nachdem, wen man fragt.
Die High-Deck-Siedlung ist das Betongewordene schlechte Gewissen Berlins. Zu unangenehm, um sich ausdauernd damit zu beschäftigen, zu groß, um es zu ignorieren.
Ende 2020 stellte das Landesdenkmalamt die Siedlung unter Schutz und erklärte in einem Youtube-Film: „Sie ist einzig, nicht artig.“ Denkmalgeschützte Gangster-Romantik? Sie ist nur ein Teil der Wahrheit. Wie lebt es sich hier? Wer lebt hier?
„Die Gegend prägt Menschen“, sagt Ali. „Du willst hier nicht weg.“ Ali, der seinen Nachnamen nicht veröffentlichen will, ist 24 Jahre alt und in der High-Deck-Siedlung aufgewachsen, nah am Sonnencenter, dem Einkaufszentrum, wo es einen Edeka-Markt gibt, einen Thai-Imbiss, ein Café und eine Sportsbar. Die Familien seiner Eltern stammen aus der Türkei. Sein Vater arbeitet als Taxifahrer, seine Mutter hat alle möglichen Jobs gemacht, von Erzieherin bis Security. Ali steckt gerade mitten im ersten Staatsexamen für Jura.
„Ich hatte eine super Kindheit“, erinnert er sich. Man brauchte nur nach der Schule aufs High Deck vor der Haustür zu treten – irgendwer war immer da. Die Architektur machte es möglich, von den Eltern beobachtet und trotzdem allein spielen zu können. „Im Prinzip wachsen die Nachbarskinder heute genauso auf wie wir damals“, sagt Ali. Mit den meisten Freunden hält er Kontakt, auch wenn sie unterschiedliche Wege eingeschlagen haben.
Waffen, Drogen, hier gibt es alles, versichern Jugendliche, die abends auf den Bänken am Sonnencenter abhängen. Manchmal ist es schwer zu sagen, ab wann in ihren Erzählungen die Angeberei überwiegt. Doch der Friseur warnt: im Dunkeln hier als Frau lieber nicht allein unterwegs sein.
Die Polizei verzeichnet für 2015 bis 2021 ein „gleichbleibendes Niveau“ von angezeigten Straftaten in der Siedlung, 609 waren es im vergangenen Jahr. Meistens handelt es sich in dieser Gegend um Diebstahl, gefolgt von Körperverletzung, Betrug und Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz.
„Man kann hier leicht auf die schiefe Bahn geraten“, sagt Ali. Aber rentiert sich das? In welchem Verhältnis steht die Menge des schnellen Geldes durch Drogenverkauf zur Anzahl der Jahre, die im Gefängnis zu verbringen sind, wenn man erwischt wird? Ali beschloss als Jugendlicher: in keinem.
Von seiner Oberschule – „99 Prozent Ausländer“ – wechselte er auf ein Gymnasium. „Da dachte ich: das war gar kein Deutsch, was ich vorher gesprochen habe, die hier sprechen Deutsch“, erzählt er lachend. Er wechselte vom Gymnasium an die Uni und dachte: Nee, das hier ist es.
Bauten sie damals Mist und rief jemand ihretwegen die Polizei, schickten sie Ali vor zum Reden. Einmal spielte er mit Freunden Fußball und der Ball landete auf einer Terrasse. Anstatt ihn zurückzugeben, stach ihn der Nachbar kaputt. „Das war ein guter, grau-roter Ball von Adidas“, sagt Ali und klingt noch immer entrüstet. „Das war Sachbeschädigung.“
Dass er sich durchsetzen könne, habe er in der High Deck gelernt, sagt er und faltet seine fast zwei Meter Körperlänge bescheiden hinter eine Tasse Kaffee ohne Milch und Zucker. Klar, wie die meisten Sonnencenter-Jungs hat er mal Kampfsport gemacht. Aber er meint das gar nicht körperlich. „In meinem zukünftigen Beruf ist es notwendig, aufzustehen und Contra zu geben.“
Als die Mutter ihn fragte, was er mal sein wolle, sagte er: Richter. Die Vorstellung, mit einem Hammer auf den Tisch zu schlagen und alle tun, was er sagt, war verlockend. Heute will er Strafrechtler werden. „Egal was die Leute angestellt haben, jeder hat ein Recht auf Verteidigung“, sagt er. In gewisser Weise ist das Aufwachsen in der High-Deck-Siedlung die beste Vorbereitung.
Schon heute bitten ihn Nachbarn um Rat. Hab was geklaut/Steuern hinterzogen/Kuddelmuddel mit Corona-Hilfen, was kann ich tun? Hab jemanden abgestochen und bin weggerannt. Ruhe bewahren, sagt Ali dann.
Er erinnert sich an den ersten Tag in der Uni. Frankfurt (Oder), erst mal online schauen, wie man da hinkommt: Bahnhof Friedrichstraße, dann in die Regionalbahn, zum ersten Mal in seinem Leben. Er fragte sich durch, stellte sich zu einer Gruppe junger Menschen mit Rucksäcken und lief ihnen, in Frankfurt angekommen, einfach hinterher.
Geht einer aus der High Deck in den Hörsaal, Berlinisch für: Steht ein Manta vor der Uni? Von wegen! Die meisten hier kriegen die Kurve. Nur sieht man niemandem seinen Bachelor-Abschluss an. Ali formuliert es so: „Ich sehe halt nicht gebildet aus, sondern wie ein Kanake.“
Er grinst. Dabei nervt es ja. „Wir werden scheiße behandelt, weil wir aus der Gegend kommen“, sagt er. Da sei etwa die Polizei, die sie anhalte. Einmal saß im Auto auch ein Mitglied einer bekannten Großfamilie. Ach, sagten die Beamten, kommt ihr aus der Shisha-Bar von deinem Cousin?
Jeder spielt die Rolle, die er muss.
Andererseits: kommt die Polizei in die Siedlung, sind die Jungs von heute stolz darauf, dass sie, zack, zwischen den Treppchen und Gängen, den Büschen und Sträßchen verschwinden können. Was aus der Luft geometrisch geordnet aussieht, ist zu Fuß erstmals abgelaufen recht verwirrend – und je nach Tageszeit auch ziemlich düster.
Auf den High Decks kann man ganz gut kicken. Leider ist es offiziell verboten.
Es ist Vor- und Nachteil der High Deck, dass sie abgeschottet wie eine Insel wirkt. Wer nicht hinein muss, geht auch nicht hinein. Nicht mal der Wechsel von der einen auf die andere Seite der Siedlung wird einem leicht gemacht. Es gibt keinen Zebrastreifen über die Sonnenallee.
Das einstige Modellprojekt sieht vergessen aus. Auf den spärlich bepflanzten High Decks spielen mittags ein paar Kinder Fußball. Ausweislich eines Schildes ist das zwar – wie so vieles – verboten, aber an diesem Wintertag sind sie der einzige Farbtupfer im Betongrau. Aus der Luft betrachtet sind die High Decks wie längliche graue Matten zwischen den Wohnblöcken zu ihrer Rechten und Linken ausgebreitet. Zu den Hauseingängen führen Treppen. Hinter den Häusern liegt jeweils ein kleiner Park, dann folgt die nächste Häuserreihe – und wieder ein High Deck.
Ein kurzer Schreckensschrei, als der Ball der Kinder beinahe über die Brüstung und hinunter auf die Straße springt. Von den Decks führen in Abständen Treppen hinab ins Reich der Kraftfahrzeuge. Unter den Fußgängerwegen liegen Parkplätze, stehen in Käfigen Mülltonnen.
Die Fensterrahmen der Siedlung sind ursprünglich bunt. Doch wo sie ersetzt werden mussten, hat man sich nicht die Mühe gemacht, wieder die gleiche Farbe zu finden, sondern weiße genommen.
„Die Siedlung muss geheilt werden“, sagt der Architekt Felix Oefelein. Es ist ihm ein nahezu persönliches Anliegen, geplant und gebaut wurde die Siedlung von seinem mittlerweile verstorbenen Vater Rainer Oefelein, gemeinsam mit dessen Architekten-Kollegen Bernhard Freund. Kurz nachdem Felix Oefelein 1975 geboren wurde, zogen die ersten Mieter entlang der Sonnenallee ein.
In einem Prospekt der Eigentümergesellschaft Stadt und Land, die noch heute einen Anteil der Wohnungen hält, werden sie 1976 freundlich begrüßt: „Die Highdecks an der Sonnenallee werden Gelegenheit bieten, Partnerschaft zwischen Vermieter und Mieter zu demonstrieren.“ Es gab zwei Saunen, Hobbyräume und Gästewohnungen. Die Sonnenallee war damals eine Sackgasse, an ihrem Ende stand die Mauer.
Die High Deck war ein begehrtes Wohngebiet. Doch über die Jahre änderte sich das. 2006 verkaufte Stadt und Land einen großen Anteil ihrer Wohnungen an einen privaten Investor, der mit notwendigen Sanierungsarbeiten begann. Es regnete durch Dächer, Fenster waren undicht, etwa 600 Wohnungen – also fast jede vierte – standen leer. Bald kamen viele Transferleistungsempfänger, arabische und südosteuropäische Familien, die wenig Geld aber jede Menge Probleme hatten.
"Berlin: Problemzone High-Deck-Siedlung: Am südlichen Ende der Sonnenallee wohnen seit kurzem viele Roma-Familien Nachbarn und der Bürgermeister sehen viele Konflikte, die Polizei aber nicht" (08.07.2008)
... Quartiersmanagerin Ines Müller bestätigt, dass es große Probleme mit den Roma-Familien gibt. „Nicht die eigentlichen Mieter verursachen die Schwierigkeiten“, sagt sie, „sondern deren Gäste.“ Oft seien bis zu 30 Leute in einer Wohnung, was bei den Nachbarn zu großem Unmut führe. Denn die Gruppen seien laut, würden die Treppenhäuser und die Grünanlagen als Toiletten benutzen, viel Alkohol konsumieren. Alteingesessene Mieter hätten um ihre Kinder Angst. „Wer kann, zieht weg“, sagt eine türkischstämmige Nachbarin, die seit elf Jahren hier lebt. Beschwerdebriefe an den Eigentümer der Häuser blieben unbeantwortet. ...
https://www.tagesspiegel.de/berlin/problemzone-high-deck-siedlung-1671739.html
Mittlerweile teilen sich die Wohnungsbaugesellschaft Howoge (1917), die Stadt und Land Wohnbauten-Gesellschaft mbH (450) und die Wohnungsbaugenossenschaft EVM (184) den Wohnungsbestand. Sie achten auf Durchmischung, sie engagieren sich im Quartier. Auch Bewohner:innen fühlen sich verantwortlich. 151 haben im vergangenen Jahr ehrenamtlich das dortige Quartiersmanagement unterstützt – 1999 waren es noch drei. Es gibt sehr viele Angebote in der Siedlung, die auch deswegen möglich sind, weil Menschen freiwillig ihre Zeit dafür schenken, etwa Konfliktvermittlung, einen Computerclub, einen Treff für Eltern von Kindern mit Behinderung.
An manchen Tagen scheint es, dass sich alles in der High Deck dagegenstemmt, die High Deck zu sein. Das kostet Kraft.
Bei einem Spaziergang über die Decks spricht Felix Oefelein von deren Begrünung, auch davon, die Zugänge barrierefrei zu gestalten – woran damals noch niemand dachte. Die wirkliche Herausforderung liege jedoch darunter, wo die Autos fahren. Er steigt eine der Treppen hinab. Unten breitet er die Arme aus: Wie wäre es, wenn Fahrzeuge und Straßen verschwinden, eine weiße Leinwand entsteht, die ganz neu gestaltet werden kann? Er denkt an Orte zum Arbeiten, Lernen, Ateliers, auch an Gemeinschaftsaktivitäten. Klar sei, dass ein einheitliches Weiterentwicklungskonzept benötigt werde, sagt er. „Keine Pflasterlösung.“
Ein Pflaster tut es hier eh nicht mehr.
Sein Vater, mit dem er vor 20 Jahren gemeinsame Überlegungen begann, wie das Sonnencenter umgebaut werden könnte, war über die Entwicklung der Siedlung so betrübt, dass er befürchtete, die Stadt würde den Abriss und die Neubebauung in Betracht ziehen.
Mit der Wohnungsbaugesellschaft Vonovia, die eine Weile den Großteil der Wohnungen in der Siedlung hielt, begann er mit dem Berliner Partner-Büro Killinger & Westermann Architekten eine Machbarkeitsstudie: Welche Potenziale hat die Siedlung? Nun, da die Vonovia zum 1. Januar 2022 alles an die Howoge verkauft hat, arbeitet er mit denen weiter.
„Es wäre eine super Möglichkeit, etwas Tolles und Spannendes für Berlin zu tun“, sagt Felix Oefelein. „Das Bauen im Bestand macht einfach Sinn, ökologisch, sozial, kulturell und wirtschaftlich gesehen.“ Allein, wo das Geld herkommen soll, was sich überhaupt mit dem Denkmalschutz arrangieren ließe – ist noch unklar.
Howoge und Denkmalschutzbehörde erstellten derzeit einen Denkmalschutzmaßnahmenplan, „um grundsätzliche Lösungsansätze zu klären und die Genehmigungsphase abzukürzen“, teilt das Unternehmen mit. Eine Planung für Sanierungen gibt es noch nicht.
Sicher ist, wie sehr sich die Bewohner freuen würden. Denn die fühlen sich häufig ebenso vergessen wie ihre Behausungen. Eine Aufwertung der Siedlung käme eine Aufwertung ihrer selbst gleich. Wertschätzung ist nichts, was ihnen oft begegnet.
Wer abends durch die High Decks spaziert, trifft Menschen, die sagen, dass sie hier keinen Rassismus spüren und meinen: wenigstens hier nicht. Da steht andererseits das zwölfjährige Mädchen aus einer Roma-Familie mit ihrer Mutter und erzählt, dass ihre muslimischen Mitschüler und Nachbarn sie mobben; dass ihr großer Bruder nur noch mit Messer und Pfefferspray in der Siedlung unterwegs sei, nachdem er neulich zusammengeschlagen wurde. Wie zum Beweis rempelt sie im Vorbeigehen ein dicker Junge an und grunzt. „Siehst du“, sagt sie und: „Ich will hier nur weg.“
Die meisten sagen trotz allem: wir leben gerne hier. „Mich hat das ganze Wohngebiet fasziniert“, erzählt Margitta Lüder-Preil, schlank und elegant, ehemals Schauspielerin und Mannequin. Wenn sie abends aus dem Theater kam und die Sonnenallee hinunter heimwärts nach Treptow fuhr, fiel ihr die bunte Siedlung jedes Mal ins Auge. Als sie und ihr Mann ihre großzügige Altbau-Wohnung verlassen mussten, teilten ihnen die Vermieter – Stadt und Land – mit, dass in ihrem Bestand in der High-Deck-Siedlung noch Platz sei.
„Diese Wohnung war die erste, die wir besichtigten“, sagt Margitta Lüder-Preil. Dass sie eine Garage hat, war ein Plus. Wichtiger aber war, dass die Couchgarnitur hineinpasste: das braune Ledersofa und die drei Sessel, die in wärmender Umarmung jeden umschließen, der darauf Platz nimmt. 1997 zogen sie ein.
„Wir waren von Anfang an glücklich“, sagt Margitta Lüder-Preil und führt auf den kleinen Balkon, von dem sie aus dem fünften Stock hinab in den winterkargen Park schauen. Fragt einer entgeistert „wo lebt ihr?“, entgegnen die Eheleute: Komm doch mal vorbei. Und es ist ja auch gemütlich bei den beiden, die, so sagen sie scherzhaft, „längst über das Verfallsdatum“ sind. Manfred Lüder, Professor für Anästhesiologie, ist im November 91 Jahre alt geworden, Margitta Lüder-Preil nur neun Jahre jünger. Kennengelernt haben sie sich, als sie bei ihm auf dem OP-Tisch lag – das ist die knappe Version. 1988 heirateten sie.
Die vielen Collagen in der Wohnung, zusammengestellt aus Fotografien und Zeitungsartikeln, liebevoll gerahmt, hat Manfred Lüder für seine Frau gestaltet. Es sind Erinnerungen an berufliche Stationen. Sie sagt: „Ich bin nicht wichtig, mein Mann ist der wichtige, der Arzt!“ Doch das wunderbare, das sie in dieser Wohnung haben, ist: einander. Wenn sie gemeinsam auf dem Sofa sitzen und sie ihm vorliest zum Beispiel. 900 Seiten Marlene-Dietrich-Biografie. Ein Lockdown macht es möglich.
Und wer würde sich nicht gern von einer ausgebildeten Schauspielerin vorlesen lassen? Ihr Zuhause war ihnen nicht nur während der Pandemie geliebtes Schneckenhaus. Was nicht heißt, dass sie nicht rausgehen, spazieren am nahen Heidekampweg zum Beispiel oder im Schulenburgpark schräg gegenüber an der Sonnenallee.
„Von den ganzen kriminellen Dingen hier haben wir immer nur gehört“, sagt Manfred Lüder. Obschon er sich jüngst sehr geärgert hat über den dritten Kellereinbruch in Folge, meint er mit kriminell doch eher das, was in der Presse zu lesen ist, wenn es um die Siedlung geht.
Margitta Lüder-Preil und Manfred Lüder pflegen das Verhältnis mit der direkten Nachbarschaft, 13 Parteien sind es. Man müsse guten Willen haben, um miteinander klarzukommen, sagen sie. Das klingt anstrengend, ist aber gar nicht so gemeint.
Weil er der älteste im Haus ist, fragen die anderen Mieter manchmal um Erlaubnis: Darf ich hier ein Blümchen hinstellen? Darf ich dieses oder jenes tun? Als im Haus geheiratet wurde, gingen sie vorbei und hängten Herzen an die Tür; feiern die Nachbarn Ramadan, bringen diese Essen vorbei – für Margitta Lüder-Preil extra laktose- und glutenfrei. Und stehen sie mit vollen Einkaufstüten vor der Garage oder Haustür, kommt beinahe garantiert jemand und bietet Hilfe beim Tragen an.
Von den zahlreichen deutschen Familien, die bei ihrem Einzug in der High Deck lebten, Mittelständler, Ärzte, Akademiker, blieben nicht viele.
Manfred Lüder ließ sich 2009 in den Quartiersrat wählen, in dem er noch immer mitarbeitet. Einmal kam ihm die Idee, in jedem Haus einen Bewohner oder eine Bewohnerin zu finden, die eine Art Verbindung zum Hausmeister sein, sich zuständig fühlen sollte, wenn es irgendwo ein Problem gibt. Er lacht. „Aber niemand wollte es machen.“
Ein paar Jahre lang trainierte er Bewerbungsgespräche mit Jugendlichen, die sich für Pflegeberufe interessierten. Er verkleidete sich als „Personalchef“, bat die Bewerber in ein Büro und führte ein fingiertes Gespräch. „Wir haben uns sehr gefreut, wenn die jungen Menschen dann einen Job bekommen haben“, sagt er. „Ohnehin begeistert mich, wie viele Menschen hier doch wirklich sehr engagiert sind.“
Es gibt so viel Bedarf! Viele kleine Anstrengungen versuchen hier Großes zu bewegen.
Vier Minuten Fußweg entfernt, ebenfalls in einem fünften Stock, in einer kleinen Wohnung mit zwei Zimmern, sitzt die 59-jährige Khazneh Hamdan auf einem Sofa neben ihrem Mann und ihrem älteren Sohn und sagt: „Ich will einfach nur leben wie ein Mensch.“
2006 floh sie aus dem Krieg im Libanon nach Berlin, ihr Mann Moussa El-Sahhar, 69, folgte mit dem älteren Sohn Hussam 2009. Ihr jüngerer Sohn Haitham kam 2007, die Behörde aber wies ihm einen Platz in einem Wohnheim in Neubrandenburg zu, wo er bis heute lebt. Sie alle sind geduldet – seit mehr als zehn Jahren.
Eine Duldung ist laut Paragraf 60a des Aufenthaltsgesetzes eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung. Nur dass im Fall der Familie El-Sahhar/Hamdan das Vorübergehende nie vorüberzugehen scheint. Keiner von ihnen hat je die Erlaubnis bekommen zu arbeiten, der Vater als schwerbehinderter Mann hätte es nicht gekonnt, seine Söhne dafür umso lieber getan.
Haitham El-Sahhar, 32, hat sich selbst Deutsch beigebracht, auf der Straße. Gemeinsam mit einem Bekannten der Familie übersetzt er das Gespräch. Wer geduldet ist, bekommt kein Geld für einen Sprachkurs, muss nicht an einem Integrationskurs teilnehmen. Wozu?, scheint das Gesetz zu fragen, wenn derjenige doch eh unerwünscht ist.
Hussam El-Sahhar, 36, sucht ein Deutsch-Lehrbuch und ein Übungsheft aus einer kleinen Kommode. Etwa die Hälfte der Seiten hat er sorgfältig mit Bleistift bearbeitet. Er und seine Mutter haben versucht, einen solchen Kurs privat zu bezahlen – aber das sei zu teuer gewesen. Nun schaut er manchmal deutsches Fernsehen mit Untertiteln. Deutsche Freunde und Bekannte hat er nicht.
Als er 2009 im Asylbewerberheim ankam, sagte ein Dolmetscher zu ihm: Dich sehen wir bald in der U-Bahn wieder. Er meinte als Dealer.
Wovon träumen Sie, Herr El-Sahhar? Er überlegt, zuckt mit den Schultern. Das hat er sich schon lange nicht mehr gefragt.
Seit 16 Jahren ist Khazneh Hamdan nicht zuhause gewesen, denn wer eine Duldung hat, darf nicht ausreisen. Beziehungsweise: dürfen schon. Aber dann erlischt die Duldung. „Ich vermisse alles“, sagt sie. „Familie, Freunde, das Meer.“ Sie pflegt ihren Mann. Dabei geht es ihr selber nicht gut, ihr Rücken ist ein einziger Bandscheibenvorfall.
Was haben Sie heute den Tag über gemacht? „Auf Ihren Besuch gewartet.“
Das ganze Leben, sagen sie, „stoppt mit der Duldung“. Die Eltern sind darüber alt geworden. Aber die Söhne wünschten sich sehr, es ginge mal weiter.
Wer lebt in der High-Deck-Siedlung? Das ist gar nicht leicht zu beantworten. Die einen haben sich sofort gemütlich eingerichtet, die anderen dürfen auch nach Jahren nicht richtig ankommen.
Um Familien wie El-Sahhar/Hamdan zu unterstützen, hat das Deutsch-Arabische Zentrum (DAZ), eine Einrichtung des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerks EJF, Projekte in der Siedlung gestartet. Beziehungsweise: so halb. Die aufsuchende Familienarbeit, mit der DAZ-Leiter Nader Khalil gern beginnen würde, verzögert sich durch Corona. Wie viele Menschen mit Duldung in der High Deck leben, kann er derzeit nur schätzen: etwa 700.
„Wir wollen etwas ändern“, sagt Nader Khalil, „deswegen sind wir hier.“ Nun kümmern sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eines Projekts um straffällig gewordene Jugendliche. Samstags und sonntags bietet das DAZ Arabischunterricht für 8- bis 14-Jährige an – sie hatten sofort mehr als 70 Anmeldungen. Nader Khalil und seine Kolleginnen und Kollegen sind Ansprechpartner bei Sorgen innerhalb der arabischen Community. Die größte betrifft das Verhältnis zwischen „alten“ und „neuen“ Flüchtlingen. Seit langem Geduldete beklagen, dass beispielsweise Syrer all das bekommen, was sie gern hätten: Aufenthaltstitel, Deutschkurse, Hilfe vom Jobcenter, zwei Mal im Jahr Geld für neue Kleidung…
Wer sehen möchte, welch konkrete Auswirkungen Gesetzgebung hat, kann das in der High Deck beobachten. Kultur und Sprache mag die Menschen einen, vor dem Gesetz sind sie alles andere als gleich.
Auch Basma Hashim wurde vor knapp zehn Jahren mit Abschiebung gedroht. Sobald die jüngste ihrer drei Töchter 18 sei, müsse sie zurück in den Irak. Beim Landesamt für Einwanderung empfahl man ihr: Heiraten Sie doch einen Deutschen, wenn Sie bleiben wollen. Doch Basma Hashim, 43, studierte Bauingenieurin, zog vor Gericht. Kurz vor der ersten Corona-Welle wurde sie eingebürgert.
Gemeinsam mit der Syrerin Hana Natour, 49, sitzt Hashim im Nachbarschaftstreff „mittendrin“ an der Sonnenallee, um von ihrem Leben in der High-Deck-Siedlung zu erzählen. Die beiden Frauen haben sich dort kennengelernt, sie wohnen in derselben Straße und sind mittlerweile Freundinnen. Basma Hashim hatte zuvor am Potsdamer Platz gelebt und eine günstigere Wohnung gesucht. Sie erinnert sich, wie sie im Bus M41 saß und dachte: „Der fährt ja immer weiter, wohin denn bloß?“ Die Siedlung erschien ihr entfernt von allem, was für sie bislang Stadt gewesen war.
Zuhause im Irak und in Syrien sei es üblich, dass man als Familie nah beieinander lebe, sagen die beiden Frauen. Die Siedlung ermögliche das quasi auch. „Es ist fast wie ein Dorf hier“, sagt Hana Natour und lächelt. In der High-Deck-Siedlung war sie lange Stadtteilmutter, die ruhigere Basma Hashim ist es noch. Als solche unterstützt sie Familien mit Migrationshintergrund.
Sie wünschten sich beide, in der Siedlung würde noch mehr für die Kinder und Jugendlichen getan. Mehr als der Kindertreff „Waschküche“ und der Jugendtreff „The Corner“ ohnehin schon leisten. Wie es ist, hier insgesamt sechs Kinder großzuziehen, wissen die beiden sehr gut. Sind Basma Hashims Töchter, die jüngste 15, im Dunkeln allein unterwegs, telefonieren sie so lange miteinander, bis die eigene Haustür in Reichweite ist.
Hana Natour versucht gerade, ihren ältesten Sohn zu unterstützen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Ohne Beschäftigung droht Langeweile. Mit der Langeweile kommt das Zeittotschlagen, kommen alternative Beschäftigungsmodelle, die sich keine Mutter für ihren Sohn wünscht.
Weil sie wollte, dass sie ordentlich Arabisch lernen, schickte sie wie viele Eltern hier ihre Kinder in die nahe Al-Nur-Moschee zum Unterricht. Irgendwann, erzählt Hana Natour, habe ihre Tochter Flyer mit nach Hause gebracht, auf denen für Demonstrationen geworben wurde. Sie fragte nach und stellte fest, dass der Sprachunterricht mit Politik gemischt wurde. Sie meldete die Tochter ab.
Das Private ist hier politisch. Woran glaubst du, wer bist du, Sunnit, Schiit, Alevit, das sei vielen wichtig. „Eine Frau fragte mich: welchen Koran liest du?“, erzählt Basma Hashim und schüttelt ungläubig den Kopf. Als habe das heilige Buch Editionen je nach Neigung.
„Es müsste Arabischunterricht in den Schulen geben“, sagt Hana Natour und die Freundinnen nicken. Es wäre eine Aufwertung von dem, womit sie und ihre Kinder sich identifizieren: eine kulturelle Kompetenz, die noch allzu oft als das Gegenteil gilt. Wer die High Deck heilen will, der muss am Knochengerüst vorbei zum Herz.
Zuletzt, es muss zu Beginn der Pandemie gewesen sein, sind in der Siedlung die ersten Hipster gesichtet worden.
Aus: "Diebstahl, Schlägerei, Drogen und Randale: Wie lebt es sich in einer der härtesten Siedlungen Berlins?" Katja Demirci (28.02.2022)
Quelle:
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/zwischen-armut-und-stolz-wer-lebt-in-der-neukollner-high-deck-siedlung-404218.html...