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[Grundrechte & Global Issues... ]

Started by lemonhorse, August 04, 2008, 01:40:39 PM

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Quote[...] BERLIN taz | Die Killer kamen in zwei Vans, sie hatten großkalibrige Waffen. Ende September 2020 töteten sie den mexikanischen Wasser- und Indigenen-Aktivisten Óscar Eyraud Adams. Er hatte dagegen gekämpft, dass Konzerne wie die niederländische Brauerei Heineken in seiner Heimatregion im Bundesstaat Baja California riesige Mengen Wasser fördern, aber viele Indigene nicht einmal ihre Felder bewässern dürften. Eyraud wurde nur 34 Jahre alt.

Der Mexikaner gehört zu den weltweit mindestens 227 UmweltaktivistInnen, die der Nichtregierungsorganisation Global Witness zufolge vergangenes Jahr ermordet worden sind. Noch nie war die Zahl so hoch, nachdem sie bereits 2019 den damaligen Rekordwert von 212 erreicht hatte. ,,Während die Klimakrise sich verschärft, eskaliert die Gewalt gegen Verteidiger des Planeten", heißt es in einer an diesem Montag veröffentlichten Studie von Global Witness. Waldbrände, Dürren und Überflutungen verschlimmerten zudem die Lage vieler Bevölkerungsgruppen und Umweltschützer.

Seit im Jahr 2016 das Pariser Übereinkommen zum Klimaschutz unterzeichnet wurde, sind den Angaben zufolge jede Woche im Schnitt vier Umweltschützer getötet worden. ,,Aber diese schockierende Zahl ist so gut wie sicher eine zu niedrige Schätzung", so Global Witness. Denn wahrscheinlich würden wegen zunehmender Einschränkungen von Pressefreiheit und Bürgerrechten etwa in Afrika nicht alle Fälle bekannt.

Mindestens 30 Prozent der erfassten Morde standen laut Studie im Zusammenhang mit der Ausbeutung von Ressourcen – von der Holzgewinnung über Staudämme und andere Infrastrukturprojekte, Bergbau bis zur großflächigen Landwirtschaft. Die Forstwirtschaft wurde mit 23 Morden in Brasilien, Nicaragua, Peru sowie den Philippinen in Verbindung gebracht und steht damit auf Platz eins.

Die meisten Morde an UmweltaktivistInnen allgemein wurden erneut aus Kolumbien berichtet: Fast die Hälfte der 65 Fälle betrafen Kleinbauern. Wie auch weltweit richteten sich dort viele Angriffe gegen indigene oder afrikanischstämmige Gruppen. An zweiter und dritter Stelle stehen Mexiko mit 30 und die Philippinen mit 29 Morden. Europa war 2020 nicht betroffen.

Die höchste Mordrate im Vergleich zur Bevölkerung hatte Nicaragua mit 12 Fällen. Im Vorjahr waren dort 5 Aktivisten getötet worden. Die Gewalt in dem mittelamerikanischen Land hängt dem Report zufolge mit Siedlern in Gebieten von Indigenen und der Ausweitung der Viehwirtschaft, des Goldbergbaus und des Holzeinschlags zusammen. Die Regierungen seien mitverantwortlich, weil die Täter oft nicht bestraft würden.

,,Die Regierungen haben primär die Pflicht zu garantieren, dass die Menschenrechte der Aktivisten geschützt werden", schreibt Global Witness. Dazu müssten zum Beispiel Gesetze aufgehoben werden, mit denen Umweltschützer kriminalisiert werden.

Hoffnung setzt die Organisation auf zwei Gesetzesvorhaben der Europäischen Kommission: die Initiative für eine nachhaltige Unternehmensführung und Regeln zu Risikorohstoffen aus Wäldern. Global Witness forderte die EU auf, sicherzustellen, dass alle in der Union tätigen Unternehmen Menschenrechtsverstöße und Umweltschäden in ihrer Lieferkette verhindern. Nötig seien auch Strafen für Firmen, die dieser Pflicht nicht nachkommen. Zudem dürften Unternehmen nur noch Holz importieren, wenn die betroffenen indigenen und lokalen Gruppen nach ausreichender Unterrichtung aus freien Stücken zugestimmt haben.


Aus: "Mehr Morde an UmweltschützerInnen" Jost Maurin, Redakteur für Wirtschaft und Umwelt (13. 9. 2021)
Quelle: https://taz.de/Klimakrise-verschaerft-weltweit-Konflikte/!5795906/


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Quote[...] Wegen der angespannten Lage an der EU-Außengrenze mit Belarus will die EU-Kommission Polen, Litauen und Lettland für eine Dauer von sechs Monaten einen restriktiveren Umgang mit Asylbewerbern erlauben. Die Regierungen der drei EU-Staaten, die an Belarus grenzen, hatten mehr Flexibilität bei ihrer Abwehr von illegaler Migration gefordert.

Die Frist, in der die drei Staaten Asylbewerber registrieren müssen, wird von derzeit drei bis zehn Tagen auf vier Wochen ausgedehnt. Sie dürfen Asylbewerber künftig bis zu 16 Wochen in Aufnahmezentren nahe der Grenze unterbringen, die diese nicht verlassen dürfen. Und die Abschiebung abgelehnter Asylbewerber wird vereinfacht.

Menschenrechtsorganisationen warnen vor einer faktischen Einschränkung des Asylrechts. Wenn Asylbewerber die Aufnahmelager nicht verlassen dürfen und diese zudem entfernt von regulären Siedlungen direkt an der Grenze liegen, gleiche das einer Haft.

Die Kommission betont hingegen, der neue Rechtsrahmen verstoße weder gegen Grundrechte noch internationale Verpflichtungen. Es gehe um eine befristete Ausnahme von den geltenden Regeln.

Der neue Kurs ist in der EU-Kommission umstritten und hatte bei internen Beratungen zu Kontroversen geführt. Es ist zugleich ein Kompromiss zwischen Deutschland und weiteren Ländern im Nordwesten der EU, die ein liberales Asylrecht vorziehen, und Mitgliedern im Osten und Süden, die eine konsequentere Abschreckung von Migranten fordern, da diese in der großen Mehrheit kein Anrecht auf Asyl haben.

Manche Kommissionsmitglieder haben die Hoffnung, dass sich die faktische Behandlung von Migranten in Polen verbessert. Die nationalpopulistische PiS-Regierung hat ihre Verpflichtung bekräftigt, Neuankömmlinge von Tag 1 an mit Nahrung, Unterkunft und medizinischer Betreuung zu versorgen und mit internationalen Organisationen wie dem Flüchtlingshilfswerk der UN (UNHCR) zusammenzuarbeiten. Bisher war das nicht der Fall.

Die Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, hatte Polens Regierung kürzlich bei einem Besuch in Warschau ermahnt, die Grundrechte von Migranten einzuhalten. Die PiS-Regierung argumentiert, sie habe es mit illegalen Grenzverletzern zu tun, die ihr Grundrecht auf Asyl gar nicht wahrnehmen, sondern nach Deutschland weiterreisen wollten.

Der Staatschef von Belarus, Alexander Lukaschenko, habe die Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten einfliegen lassen, um Druck auf die EU auszuüben, damit sie die Sanktionen gegen sein Regime lockert. In ihren Pässen seien belarussische Touristenvisa. Und sie sagten, man habe ihnen versprochen, dies sie ihr Weg ins reiche Europa.

Da Polen seit der Eskalation des Konflikts im September den Ausnahmezustand über die Grenzregion verhängt hat, haben internationale Medien keinen Zugang. Es gibt kaum unabhängige Berichte über die Lage und den Umgang mit den Migranten. Der Ausnahmezustand ist Ende November ausgelaufen.

Doch die PiS hat mit ihrer Mehrheit im Parlament rechtzeitig ein neues Gesetz verabschiedet, das den Ausschluss der Medien weiter ermöglicht. Danach darf der Innenminister in Rücksprache mit dem Oberbefehlshaber des Grenzschutzes den Zugang zur Grenze aus Sicherheitsgründen einschränken. Innenminister Mariusz Kaminski sagte am Dienstag, er werde diese Möglichkeit nutzen.

Die liberale Opposition und Polens Ombudsmann für Grundrechte, Marcin Wiacek, fordern einen unbehinderten Zugang für Medien und Hilfsorganisationen zur Grenzregion. Sie konnten sich damit aber nicht durchsetzen.


Aus: "Die EU verschärft vorübergehend ihr Asylrecht" Christoph von Marschall (01.12.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/notsituation-an-der-grenze-zu-litauen-die-eu-verschaerft-voruebergehend-ihr-asylrecht/27853350.html

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QuoteGuido F. Gebauer 10.12.21, 13:58

Assange droht doch Auslieferung - Der Wikileaks-Gründer muss nun damit rechnen, an die USA ausgeliefert zu werden. Ein Londoner Gericht kippte eine vorherige Entscheidung.

Ein Fall unter vielen, der nach meiner Einschätzung deutlich macht, dass sich unsere Menschenrechtspolitik ändern muss: Weg von der selektiven Fokussierung auf die Menschenrechtsverletzungen unserer Gegner, hin zur Abstellung unserer eigenen Menschenrechtsverletzungen und der unserer Verbündeten.

Wie sollen wir glaubwürdig für Pressefreiheit eintreten und gleichzeitig Assange ausliefern? Wie können wir gegen illegale Inhaftierung und Folter eintreten und es gleichzeitig weitgehend unkommentiert lassen, dass Guantanamo nach wie vor geöffnet ist und kein einzige der Verantwortlichen für die schweren Folterungen im Rahmen des Krieges gegen den Terror zur Verantwortung gezogen wird.

Was hilft es den Menschenrechten wirklich, wenn wir Prozesse führen gegen die schweren und unentschuldbaren Menschenrechtsverletzungen unserer Gegner und gleichzeitig selber Menschenrechtsverletzungen begehen?

Den Menschenrechten wirklich helfen könnte nur eine Umkehr, wo diese nicht mehr selektiv betrachtet und strategisch genutzt werden, sondern wo mit eigenem Vorbild vorangegangen und so Menschenrechte glaubhaft universal eingefordert werden können.

Leider sind wir von so einem Zustand bei weitem entfernt, wie u.a. täglich belegen der menschenverachtende europäischer Abwehrwall gegen Geflüchtete, die Tausenden, die wegen ihm mit dem Leben bezahlen und die unzähligen Menschen, die ins Verderben abgeschoben werden.

Menschenrechte sollten damit beginnen, dass wir sie selbst einhalten, sie bei unseren Verbündeten durchsetzen und dann mit moralischem Gewicht von allen einfordern können.

Momentan sehe ich keine Hinweise, dass beispielsweise die neue Bundesregierung zu so einer tatsächlich an Menschenrechten orientierten Politik wechseln wollte oder gar würde.


QuoteOskar 10.12.2021, 12:01

Das ist die westliche Demokratie die wir so lieben.


Zu: https://taz.de/Gericht-kippt-Ablehnung-von-US-Antrag/!5821667/

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Quote[...] Der saudi-arabische Blogger Raif Badawi hätte eigentlich zu Ende des vorigen Monats aus dem Gefängnis entlassen werden müssen. Das ist aber nicht geschehen, Menschenrechtsorganisationen rufen daher die saudischen Behörden auf, Badawi sofort freizulassen.

Badawi hatte 2008 ein Online-Forum mit dem Namen "Die saudischen Liberalen" begründet, in dem er religiöse und gesellschaftliche Themen diskutierte. 2012 wurde er wegen seiner liberalen Ansichten verhaftet und ein Jahr später wegen "Beleidigung des Islams" zu zehn Jahren Gefängnis, 1000 Peitschenhieben, einer Geldstrafe von einer Million Rial und einem Ausreiseverbot für zehn Jahre nach Beendigung seiner Haftstrafe verurteilt. Im Januar 2015 bekam er öffentlich die ersten 50 Peitschenhiebe, der weitere Vollzug wurde aus gesundheitlichen Gründen ausgesetzt.

"Es ist empörend, dass Raif Badawi nach zehn langen Jahren noch immer im Gefängnis sitzt", sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter one Grenzen (RSF). "Er hätte nie auch nur einen einzigen Tag hinter Gittern verbringen dürfen. Jetzt, da er die volle Strafe abgesessen hat, gibt es für die saudischen Behörden keine rechtliche Grundlage mehr, ihn weiterhin festzuhalten."

Heba Morayef, Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika, meint: "Raif Badawis anhaltende Inhaftierung zeigt die völlige Verachtung der saudi-arabischen Behörden für das Recht auf Freiheit, die Meinungsfreiheit und sogar ihre eigenen Gesetze. Es zeigt auch, dass ihre Versuche, der Welt ein progressives Bild zu präsentieren, kaum mehr als eine Nebelwand dienen, um ihre Unterdrückung zu verbergen."

Im April 2020 hatte Saudi-Arabien angekündigt, als Teil der "Vision 2030" die besonders grausame Form der Bestrafung mit Peitschen- oder Stockhieben abzuschaffen. Zur "Vision 2030" gehören auch Reformen im Bereich der Menschenrechte.

Neben Badawi sitzen derzeit mindestens weitere 28 Journalisten, Reporterinnen und Medienmitarbeitende in Saudi-Arabien im Gefängnis, erklärt RSF. Die Organisation habe vor diesem Hintergrund Anfang März 2021 beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe Strafanzeige gegen Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman eingereicht. Kernbestandteil der Strafanzeige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei der Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi, der im Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul grausam ermordet worden.

Badawis Frau Ensaf Haidar lebt seit 2013 im kanadischen Québec. Sie bittet die kanadische Regierung, Badawi die Staatsbürgerschaft zu verleihen. Sie wandte sich auch an den saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, das Ausreiseverbot zu erlassen.

(anw)


Aus: "Saudischer Blogger Raif Badawi hat Haftstrafe abgesessen, kommt aber nicht frei" Andreas Wilkens (07.03.2022)
Quelle: https://www.heise.de/news/Saudischer-Blogger-Railf-Badawi-hat-Haftstrafe-abgesessen-kommt-aber-nicht-frei-6541085.html

QuoteBoMbY, 07.03.2022 13:48

Ahh, ja. Das gute alte Saudi Arabistan ... unser treuer Verbündeter und Waffenkunde.


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"Weltbevölkerung - Wir werden demnächst acht Milliarden sein – oder sind es bereits" Klaus Taschwer (21. August 2022)
Laut neuer Uno-Schätzung wird die Weltbevölkerung im November die Acht-Milliarden-Marke überschreiten. Warum das schon passiert sein könnte und wie es bis 2100 weitergehen wird ... Offiziell wird das Ereignis für den 15. November vorhergesagt. Aber womöglich ist es bereits in den letzten Wochen passiert: Laut dem im Juli veröffentlichten Bericht der Vereinten Nationen wird die Weltbevölkerung an diesem Tag die Acht-Milliarden-Marke überschreiten. "Es kann gut sein, dass wir jetzt schon dort angelangt sind", sagt Wolfgang Lutz und erklärt das mit fehlenden Daten: "In Indien war die letzte Volkszählung 2011, und in vielen Ländern in Afrika hat man noch weniger neue Daten." ...
https://www.derstandard.at/story/2000138368366/wir-werden-demnaechst-acht-milliarden-sein-oder-sind-es-bereits

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Liberale Meinung

Schrecklich.

Seit 1950 verdreifacht.
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1716/umfrage/entwicklung-der-weltbevoelkerung/


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elementaryOchS

Die andere - ergänzende Sicht: Vor 50 Jahren waren es rund 4 Milliarden. Das bedeutet in Summe rund die Hälfte weniger Belastung für die Umwelt. Ich kann das sagen, denn ich genieße das Privileg als Bauernbub aufgewachsen zu sein, und als solcher habe ich beim Entmisten der Ställe gelernt, dass halb so viele Schweine nur halb so viel Mist machen :-) Aber ich verstehe, das Privileg dieser Erkenntnis genießen nur wenige und daher fehlt auch das Verständnis. Es wird über Versiegelung, Verlusst der Biodiversität, Veränderung des Klimas etc. gejammert, ohne die Ursachen dieser Veränderungen anzusprechen. Und solange Symptome bekämpft werden nicht die Ursache ist Besserung kaum in Sicht.


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Snowy, 21. August 2022, 13:29:34

Die Natur wird auch hier regelnd eingreifen bzw. tut sie dies bereits: Pandemie, Dürren, Hungersnöte. Die 9. Milliarde werden wir nie erreichen einfach weil uns Die Natur einen Riegel vorschieben wird


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Menthol, 21. August 2022, 12:27:15

Bin ich froh, daß ich das alles nicht erleben werde. Max. noch 20 Jahre, denn ich will keine 100 werden, obwohl ich prinzipiell gerne lebe.
Ausserdem denke ich, dass wir den Klimawandel nicht packen werden, dafür ist die menschliche Spezies zu dumm.


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NoMoreLies

Warum wird nie thematisiert, daß die Anzahl der Menschen das Problem #1 ist in Richtung Umweltverschmutzung, Zerstörung der Natur, Klimawandel
Das wird wegblendet und verdrängt.


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Enthirnter

Weil aus der Ecke immer das Argument kommt "die Neger solln nicht so viel rammeln, dann geht's auch dem Klima gut", hier ein paar relevante Daten:
https://ourworldindata.org/grapher/cumulative-co-emissions
https://ourworldindata.org/grapher/co-emissions-per-capita
Letztere Karte zeigt zweifelsfrei wer den schwarzen Peter hat (es ist nicht der globale Süden).


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Lucky Bee

Viel zu viele, und darum schafft das unser Planet auch nicht mehr...


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Sigma7

Natur und Planten ist das völlig egal, ...


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Hans Uhlik

Wenn sich die Bevölkerung weiterhin so vermehrt, dann brauchen wir über Klimaschutz gar nicht mehr nachdenken.


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Gereon

Menschen die ihr Schicksal für Gottes Wille halten ... kommt man mit Rationalität nicht bei. ...


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Hosenträgerträger

Wenn Gott aber seinen Willen mit "Seid fruchtbar und mehret euch" ausdrückt, sagt er das zu zwei Menschen und nicht zu 8 Mrd.
Und er sagt auch nicht: Grabt euch selbst das Wasser ab. Ohne ein gerüttelt Maß Rationalität wirds nix mit lebensdienlicher Exegese eines Offenbarungstextes ...


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Quote[...] Das Buch - Arnd Poll­mann: ,,Menschenrechte und Menschenwürde". Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 451 Seiten, 26 Euro

Der Philosoph Immanuel Kant veröffentlichte im Jahr 1795 – sechs Jahre nach der Französischen, knapp zwanzig Jahre nach der Amerikanischen Revolution – eine Schrift unter dem Titel ,,Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf", in der er die Utopie einer Weltgemeinschaft von Demokratien beziehungsweise Republiken erwog: einer Weltgemeinschaft, in der genau deshalb kein Krieg mehr herrschen würde, weil alle Staaten republikanisch regiert werden.

Im Dezember 1948, drei Jahre nach dem Ende des Zweiten, dreißig Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verkündeten die Vereinten Nationen die ,,Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", deren erster Artikel so lautete: ,,Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren."

In seiner ebenso umfang- wie kenntnisreichen Schrift geht der Berliner Philosoph Arnd Pollmann dieser Thematik in drei großen Kapiteln nach. Sie beginnt mit der Frage der einschlägigen Begriffsbestimmungen, entfaltet sodann präzise die Funktionsbestimmungen von Menschenrechten und von Menschenwürde, um endlich auf deren ,,Inhaltsbestimmungen", also auf den Fortschritt von historischer Gewalt zu einem menschenwürdigen Leben aller einzugehen.

Eine solche Begründung ist unerlässlich: Waren doch die ,,Menschenrechte" seit den von Karl Marx in seiner Schrift zur ,,Judenfrage" geäußerten Argumenten scharfer Kritik ausgesetzt – einer Kritik, die bis zu Carl Schmitts Ausspruch ,,Wer Menschheit sagt, will betrügen" sowie Hannah Arendts Einwänden in ihrem 1943 publizierten Aufsatz ,,Wir Flüchtlinge" reichen. Hier und in späteren Arbeiten versuchte ­Arendt nachzuweisen, dass Menschenrechte ohne Zugehörigkeit zu einem Staat, also Staatsbürgerrechten, wertlos sind.

Man kann Pollmanns Studie als einen kritischen Kommentar zu diesen Einwänden lesen. Steht doch bei ihm – immer im Dialog mit Kant – die Frage nach der Positivierung der Menschenrechte im Zentrum. Vor allem: Verdienen die sogenannten Menschenrechte ihren Namen tatsächlich, solange es auch nur einen Staat auf dem Globus gibt, in denen sie nicht positiv-rechtlich gelten?

Diese Frage führt auf die philosophische Begründung der Menschenrechte im Begriff der ,,Menschenwürde" und damit zur Frage, ob und warum diese Rechte wirklich jedem einzelnen Exemplar der biologischen Gattung Homo sapiens zukommen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Fähigkeiten und eigenem moralischen Verhalten beziehungsweise Missverhalten.

Vor diesem Hintergrund stellt Pollmann – ganz im Sinne des Positivierungsproblems – eine historische These auf: ,,Nicht die ,Ideen' der Menschenwürde und der Menschenrechte sind neu, sondern deren systematische Verknüpfung im Rahmen eines revolutionierten Rechtsempfindens."

Und zwar aufgrund der an Grausamkeit nicht zu überbietenden Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Freilich beharrt Pollmann darauf, dass nicht die Idee der Menschenwürde die Menschenrechte begründet, sondern im Gegenteil, dass ein zeitgemäßer Begriff der ,,Menschenwürde" auf den inzwischen positivierten Menschenrechten aufbauen muss.

Indes hat der so positivierte Begriff der ,,Menschenwürde" dann auch Auswirkungen sogar auf unser alltägliches Verhalten: Wer auch nur die Würde eines einzelnen Menschen verletzt, stellt damit nicht nur die Würde aller Menschen, sondern sogar die eigene Würde infrage. Am Ende seiner Ausführungen unternimmt Pollmann den Versuch, die mit der Menschenwürde verbundenen Rechte im Einzelnen zu entfalten.

Demnach hat ein menschenwürdiges Leben diese Dimensionen: des Rechts auf materielle Sicherheit, auf wirtschaftliche Subsistenz, auf Schutz der Privatsphäre, des Rechts gegenüber staatlichen Behörden, auf politische Partizipation und auf gesellschaftliche Teilhabe. Rechte, die allenfalls ein Minimum dessen darstellen, was ein gerechtes gesellschaftliches Gemeinwesen ausmacht.

Pollmann beschließt sein ebenso informatives wie nachdenkliches Werk mit einer Überlegung zum Mehrheitswillen in Demokratien – einem Mehrheitswillen, der eventuell die Rechte von Minderheiten einschränkt. ,,Deshalb", so Pollmann ,,käme es besonders in historischen Krisensituationen darauf an, den Staat in menschenrechtliche Schranken zu verweisen, damit ein menschenwürdiges Leben für alle – und nicht nur für manche – möglich bleibt.


Aus: "Fragil, aber alternativlos" Micha Brumlik (12. 3. 2023)
Quelle: https://taz.de/Buch-ueber-Menschenrechte-und--wuerde/!5919888/


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Quote[...] Arnd Pollmann lehrt als Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Zuletzt erschien von ihm Menschenrechte und Menschenwürde – Zur philosophischen Bedeutung eines revolutionären Projekts (Suhrkamp, 2022).

Es ist noch gar nicht lange her, da sah die Welt euphorisch einem globalen Siegeszug der Menschenrechte entgegen. Was am 10. Dezember 1948 in Paris mit der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begonnen hatte, schien spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer und der Überwindung des Kalten Krieges in ein "Ende der Geschichte" zu münden: In Zukunft würde es kein um internationale Achtung bemühter Staat mehr wagen, sich offen gegen die Idee eines sowohl national wie völkerrechtlich überwachten Menschenrechtsschutzes auszusprechen. Eingebunden in eine globale Staatenwelt gegenseitiger Kontrolle, sollte sich fortan jede politische Herrschaft an der Präambel jener Allgemeinen Erklärung messen lassen, der zufolge die "Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unverlierbaren Rechte aller Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet".

Zwei Jahre lange hatte die von Eleanor Roosevelt geleitete UN-Expertenkommission um geradezu jede Formulierung dieser Erklärung gerungen. Schon damals erlaubte die Blockkonfrontation zunächst nur eine völkerrechtlich unverbindliche Absichtserklärung, die dann erst im Jahr 1966 in verbindliche Verträge umgemünzt werden konnte. Das bahnbrechend Neue an der Allgemeinen Erklärung war weniger die bereits seit dem 18. Jahrhundert geläufige Einsicht, dass legitime Herrschaft unter dem inneren Vorbehalt des Schutzes basaler Individualrechte steht. Revolutionär neu war die äußere Selbstverpflichtung souveräner Nationalstaaten, sich dabei fortan auf die Finger schauen zu lassen. Nach zwei Weltkriegen und dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch gab der UN-Menschenrechtsschutz das Versprechen ab, ein global koordiniertes Bollwerk gegen nationalstaatliche Willkür zu errichten, weil, so heißt es in der Präambel, "die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen".

Doch das vermeintliche Ende der Geschichte währte nur kurz. Schon bald nach 1989 setzte eine desaströse und bis dato nicht abreißende Serie globaler Desillusionierungen ein. Neue Kriege, Staatenzerfall, Völkermord, Terrorismus, Flucht, Klimakrise, Rechtspopulismus und Corona: Mit zunehmenden Vertrauensverlusten in den demokratischen Rechtsstaat schwanden zeitgleich auch einstige Hoffnungen auf eine internationale Ordnung zum Schutze des Friedens und der Menschenrechte. Die aktuellen Kriege in der Ukraine und in Gaza wirken da bloß wie allerletzte Nägel auf dem Sarg des UN-Schutzregimes. Die Strahlkraft dieser "letzten Utopie", wie es beim Rechtshistoriker Samuel Moyn heißt, sei endgültig verblasst. Die Menschenrechte seien eine Art "Kirche", die ihrer "Endzeit" entgegenblickt, sagt etwa der Politikwissenschaftler Stephen Hopgood.

Doch wie genau ist dieser Trend zum pessimistischen Abgesang zu erklären? Mit der kriegerischen Gewalt in der Ukraine und in Gaza drängt sich zunächst ein neuer weltpolitischer Realismus auf. Das dortige Grauen lässt den menschenrechtlichen Humanismus realitätsfern und idealistisch erscheinen. Was nützt den Opfern von russischer Invasion und Hamas das am Ende folgenlose Pochen auf Menschenrechte, wenn gegen rohe Gewalt letztlich nur handfeste Gegengewalt zu helfen scheint? Die Menschenrechte sind in ihrer Durchsetzung von völkerrechtlichen Selbstbindungen souveräner Staaten abhängig. Unter diesen greift derzeit eine neue Bereitschaft um sich, geltendes Völkerrecht schlicht zu ignorieren, falls dies der eigenen Selbsterhaltung dient. Wer da "Menschenrechte" ruft, wird belächelt oder auf bessere Zeiten vertröstet.

Erschwerend hinzu kommt die fatale Schwäche der UN, auf deren Zukunft derzeit kaum noch jemand einen Cent zu setzen gewillt ist. Die Friedensmissionen in Osttimor, Liberia oder Sierra Leone mögen erfolgreich gewesen sein. Aber was ist mit Ruanda, Srebrenica, Irak, Mali, Syrien, Afghanistan? Mit der Ukraine und nun Gaza? Das sich wiederholende UN-Versagen, das die Menschenrechte wie zahnlose Papiertiger erscheinen lässt, hat zum einen mit Konstruktionsfehlern im Sicherheitsrat zu tun, die es den Großmächten ermöglichen, jede für sie ungünstige Resolution per Veto zu blockieren. Zum anderen ist die Organisation bis in das höchste Spitzenamt von Generalsekretär António Guterres derart rückgratlos besetzt, dass sie sich, wie sonst nur die Fifa, von der arabischen Welt dirigieren lässt. In 2022 etwa hat die UN-Generalversammlung allein 15 Resolutionen gegen Israel lanciert – mehr als gegen alle anderen Staaten zusammen.
Der Ukraine-Krieg und die Hamas-Massaker haben zudem einen Trend verstärkt, der sich bereits im Zuge der auf den 11. September 2001 folgenden Kriege in Irak und Afghanistan andeutete: Immer häufiger verleiten solche Großkonflikte zu einem bekenntnishaften Freund-Feind-Denken. Man ist entweder bedingungslos für die Ukraine oder aber ein "Putinknecht". Man steht entweder vorbehaltlos an der Seite Israels oder sympathisiert mit der Hamas. Menschenrechtlich betrachtet ist diese einseitige Parteinahme deshalb problematisch, weil dabei der für die Menschenrechte zentrale Grundgedanke verloren geht: Nicht nur manche, sondern strikt alle Menschen sind als fundamental gleichwertig zu achten.

Doch spielt die Menschenrechtsrhetorik mitunter auch selbst eine unrühmliche Rolle. Es ist auf zynische Weise bezeichnend für deren "Erfolg", dass heute selbst autoritäre Gewaltherrscher nicht ohne den rhetorischen Rückgriff auf völkerrechtliche Schutzansprüche auskommen, wenn sie ihrerseits eine direkt menschenrechtsfeindliche Politik zu rechtfertigen versuchen. Man denke an Putin, der den Einmarsch in die Ukraine mit einem mutmaßlichen "Genozid" an der russischsprachigen Bevölkerung begründete. Und auch hinter dem – in der Sache berechtigten – Hinweis auf gleiche fundamentale Rechte der Menschen in Gaza versteckt sich nicht selten der Versuch einer nachträglichen Relativierung der bestialischen Hamas-Massaker vom 7. Oktober.
Zugleich ist dieser rhetorische Missbrauch, der auch schon den Irak-Krieg herbeiführen half, mitverantwortlich dafür, dass die universellen Menschenrechte heute wieder verstärkt als westliche Geheimwaffe geframet werden; so als ginge es hinterrücks bloß darum, Partikularinteressen der USA durchzusetzen. Wahlweise gelten die Ukraine und der vermeintliche Siedlerkolonialismus Israels dann als imperial verlängerte Arme der USA im osteuropäischen und arabischen Raum. Mal neurechts argumentierend, mal postkolonial, skandalisiert diese Kritik an US-amerikanischer Hegemonie mit den westlichen Verstrickungen in historisches Unrecht die universellen Rechte gleich mit.

Innenpolitisch macht sich dieser Anti-Universalismus vor allem in der Migrationsdebatte bemerkbar, und zwar vor allem in rechtspopulistischen Milieus. Die vermeintliche Überlegenheit des Eigenen soll gegen Veränderung von außen abgeschottet werden. Reaktionäre Angriffe auf den Rechtsstaat, wie man sie hierzulande vor allem von der AfD kennt, aber ähnlich auch von Trump, Erdoğan, Orbán oder der polnischen PiS, lassen sich so als Renaissance eines Kollektivismus nationalistischer oder rassistischer Selbsterhaltung deuten, der auf Kosten unveräußerlicher Menschenrechte anderer verfährt.
Diese kollektivistischen Begehrlichkeiten weisen Parallelen zu Diskussionen über Klimaschutz, Corona oder die Ukraine auf. Auch wenn sich die Positionen hier viel weniger eindeutig als bei der Migration am alten Links-Rechts-Schema orientieren: Angesichts kollektiver Bedrohungslagen und im Namen mutmaßlich höherer Ziele – Abschottung, Klimaschutz, Volksgesundheit, Landesverteidigung – gelten unverlierbare Individualrechte zunehmend als anachronistisch. Zwar lassen die Grund- und Menschenrechte sehr wohl "verhältnismäßige" Eingriffe zu. Doch die Bereitschaft, die verfassungsrechtlichen Kriterien dieser Verhältnismäßigkeit möglichst lax auszulegen, wird größer. Wo aber Gefahr ist, wächst der Kollektivismus auch.

Dabei wird deutlich, wie kostspielig ein konsequenter Menschenrechtsschutz wäre. Lange wurden die Menschenrechte – zumindest hierzulande – als Zumutung primär für Unrechtsstaaten betrachtet. So fiel es leicht, dafür zu sein. Nun aber werden diese Rechte vermehrt hier vor Ort eingeklagt. Und wer fürchtet, mit dem Verlust eigener Privilegien für die Rechte bislang marginalisierter anderer bezahlen zu müssen, wird diese Entwicklung mit Vorsicht genießen. Manche sträuben sich dagegen, dass auch Frauen, Andersgläubige, Eingewanderte, Arbeitslose, Homosexuelle oder Kinder als strikt gleich zu betrachten sind. Andere haben damit zu kämpfen, dass die Menschenrechte auch für Kriminelle, Rechtsradikale, sogenannte Schwurbler, Ungeimpfte oder Klimawandelleugner da sind.

All diese ernüchternden Befunde sprechen dafür, dass die nach 1948 und 1989 gehegten Hoffnungen tatsächlich zu hoch veranschlagt waren. Was man aber leicht übersieht: Die in diesen Krisen zum Tragen kommende Kritik an den Menschenrechten ist eher selten eine Kritik an ihrer Grundidee. Beklagt wird deren empirische Folgenlosigkeit aufgrund mangelnder politischer Konsequenz. Man kritisiert westliche Anmaßung, parteiische Auslegungen, rhetorischen Missbrauch oder ihre Kostspieligkeit. Und teilweise ja auch zu Recht. Doch die Grundidee einer politischen Gleichrangigkeit qua Menschsein wird meist "nur" noch von Personen mit völkischen, rassistischen, fundamentalistischen, misogynen, homophoben oder anderweitig menschenfeindlichen Einstellungen abgelehnt. Und wer in theoriemodische Abgesänge auf die Menschenrechte einstimmt, wird sich fragen lassen müssen, ob man sich mit diesen Gruppen gemein machen will.

An diesem 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wirkt die Forderung nach einer national wie weltweit durchzusetzenden Gleichberechtigung aller Menschen tatsächlich utopisch. Doch machen wir uns mit Blick auf Gaza klar, was verloren ginge, ließen wir dieses egalitäre Erbe fahren. Denn erst der Menschenrechtsgedanke ermöglicht es, darauf zu pochen, dass Gleichheit an Würde und Rechten für alle gilt: ob für Israelis oder Palästinenser, ob für Kinder, Alte, Frauen oder Männer. Ihr Leiden hat jeweils exakt dasselbe Gewicht. Und entsprechend haben all diese Menschen ein gleiches Recht darauf, vor Gewalt und Terror geschützt zu sein. Damit geraten die jeweils vor Ort Herrschenden, nicht die Zivilisten selbst ins Visier der menschenrechtlichen Kritik, wenngleich auf unterschiedliche Weise.

Kommt die Gewalt von außen, so haben die politischen Machthaber nicht nur die Pflicht, eigene Verstöße gegen Menschenrechte zu unterlassen, sondern auch die Aufgabe, ihre Zivilbevölkerung gegen diese äußeren Gefahren zu schützen. Das trifft auf die israelische Regierung zu, die berechtigt ist, Krieg gegen die Hamas zu führen, die aber deshalb keineswegs dazu berechtigt wäre, Verbrechen an der palästinensischen Bevölkerung zu begehen. Die Menschenrechte erlauben eine Gefahrenabwehr, die "verhältnismäßig" ist, nicht aber Rache oder Notwehrexzesse. Für die Hamas, deren bestialische Massaker vollends jenseits aller menschenrechtlichen Rechtfertigung verübt wurden, gilt diese Verpflichtung ebenfalls: Auch sie muss die eigene Zivilbevölkerung schützen, statt sie als Schutzschild zu missbrauchen und so internationale Anteilnahme zu provozieren.
Es ist zu befürchten, dass längst auch Israel Verstöße gegen das Völkerrecht begangen hat; etwa im Rahmen unkontrollierter Luftangriffe oder der Blockade von Strom, Wasser und Lebensmitteln. Dieser Befund darf keinesfalls als eine Relativierung der Verbrechen vom 7. Oktober verstanden werden, denn diese haben den Konflikt erst eskalieren lassen. Vielmehr wird deutlich, dass es in der aktuellen Situation auf die Entschlossenheit und Reformfähigkeit der UN ankäme. Gerade weil der universelle Menschenrechtschutz nicht zwischen israelischer und palästinensischer Menschenwürde unterscheidet, sind die UN längst dazu aufgerufen, deeskalierend und friedenstiftend einzuschreiten. Doch leider ist aufgrund der realpolitischen Kräfteverhältnisse derzeit kaum zu erwarten, dass es tatsächlich zu einer UN-Intervention kommt. Aber warum sollte man diese institutionelle Impotenz den Menschenrechten selbst zur Last legen?

Dieser Tage zeigt sich einmal mehr: Die Welt hätte aus Krieg und Gewalt erneut zu lernen. Derzeit aber schickt sie sich an, das Gegenteil zu tun: Sie verlernt die menschenrechtliche Botschaft. Das betrifft nicht zuletzt auch die historische Bedeutung des Staates Israel: Die Erinnerung an die totalitäre Judenvernichtung ist nicht nur in Artikel 1 des Grundgesetzes, sondern auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufgehoben. Das verpflichtet die UN auch menschenrechtlich zu einer besonderen Berücksichtigung des Existenzrechtes Israels. Aber zugleich eben auch dazu, den strikt egalitären Anspruch auf ein Leben in Menschenwürde nicht auf Kosten der palästinensischen Zivilbevölkerung abzustufen.
Das ist eine schwierige Gratwanderung. Zumal in Gaza die Grenzen zwischen der Hamas und der Zivilbevölkerung mitunter zu verschwimmen drohen. Wer aber übersieht, dass die Menschenrechte für ein historisch mahnendes Gewalterbe stehen, das neben den konkreten Opfern auch die Menschheit insgesamt betrifft, sollte sich klar sein, wem Abgesänge auf die Menschenrechte vor allem dienen: einem politisch sehr konkreten Relativismus rücksichtsloser Willkürgewalt. Aktuell geht es um Israel und Gaza oder auch um die Ukraine und Russland, aber doch zugleich auch um die universelle Frage, wie der Mensch als Mensch leben und wie er gerade nicht regiert werden will. An jedem 10. Dezember ist daran zu erinnern: Die Menschenrechte fordern einen politischen Gegenwiderstand, einen legitimen Widerstand gegen den illegitimen Widerstand autoritärer Herrscher und reaktionärer Denkweisen. Und ein solcher Gegenwiderstand ist besonders dann vonnöten, wenn sich das vielzitierte Rad der Geschichte zurückzudreht.


Aus: "Jedes Leid zählt"  Arnd Pollmann (10. Dezember 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2023-12/menschenrechte-vereinte-nationen-krieg-utopie

Arnd Pollmann (* 1970 in Remagen) ist ein deutscher Philosoph. Seit 2018 ist er Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin. ... Pollmann arbeitet schwerpunktmäßig zur Sozialphilosophie und Ethik, insbesondere zur Philosophie der Menschenrechte, aber auch zur angewandten Ethik in den Bereichen der Medizin, der Technik und des Tierschutzes. Seine Dissertation widmete er dem Begriff der Integrität.
https://de.wikipedia.org/wiki/Arnd_Pollmann


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"Der politisch-moralische Kern. Zur Geschichte des Völkerstrafrechts nach 1945" Alexa Stiller (14. April 2024)
[Alexa Stiller ist Ambizione Fellow am Historischen Seminar der Universität Zürich. Sie hat zur NS-Geschichte und zu den Nürnberger Prozessen geforscht und publiziert. 2022 ist ihr Buch ,,Völkische Politik: Praktiken der Exklusion und Inklusion in polnischen, französischen und slowenischen Annexionsgebieten, 1939-1945" bei Wallstein erschienen. Derzeit forscht sie zur Entstehungsgeschichte des internationalen Strafrechtsregimes in den 1990er Jahren.]
Das Gleichheitsversprechen des Völkerrechts, der Menschenrechte und des Völkerstrafrechts wird immer wieder in Zweifel gezogen. Was bedeutet das für den Internationalen Strafgerichtshof IStGH in Den Haag? Über die Geschichte des Völkerstrafrechts und seine gesellschaftliche und politische Dimension.