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[Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]

Started by lemonhorse, July 10, 2012, 09:20:58 AM

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Quote[...] Das schweizerische Pharmaunternehmen Lonza macht dieser Tage Schlagzeilen: Dort stellte man 2017 fest, dass seine Fabrik in Visp im Kanton Wallis jahrzehntelang immense Mengen an Lachgas (Distickstoffmonoxid) emittiert hat. Dieses hat einen Treibhauseffekt von etwa 600'000 Tonnen Kohledioxid pro Jahr (der Treibhauseffekt von Lachgas ist 300 -mal so stark wie der von CO2), über ein Prozent der gesamten Klimagasemissionen der Schweiz, und das aus einer einzelnen Fabrik! Ein global führender Chemiekonzern, der sich in den letzten Jahren gerne als Vorreiter einer grünen Industrie präsentiert, hat also jahrelang nicht bemerkt, dass er Hunderttausende CO2-äquivalente Extra-Tonnen Klimagas in die Luft bläst. Man würde nach dieser Peinlichkeit denken, dass Lonza daraufhin doch die Emissionen schnell stoppt. Möglich wäre das durch den Einbau eines Katalysators, der das Lachgas in Stickstoff und Sauerstoff umwandelt, es also buchstäblich in Luft auflöst. Pustekuchen. Stattdessen entschied sich der Konzern zu einem Katz-und-Maus-Spiel mit den schweizerischen Behörden, wie Recherchen des schweizerischen Tagesanzeigers aufgezeigt haben. Dabei ging es um die Finanzierung der Katalysator-Anlage, die 12 Millionen Schweizer Franken kostet, ein läppischer Betrag für eine Firma, die im Jahr 2019 fast sechs Milliarden Umsatze und weit über eine Milliarde Franken Gewinn verbuchte. Lonza verlangt nicht nur, dass der schweizerische Staat die 12 Millionen Franken Kosten übernimmt. Denn auf einmal rochen die Manager Geld. Sie forderten, dass der der Bau des Katalysators vom Bund als CO2-Kompensationsprojekt anerkannt wird. Jede Tonne CO2-Reduktion (oder das Äquivalent dazu) können der Firma 95 Franken einbringen. Auf einmal winken der Firma also Dutzende Millionen Franken Extra-Gewinne anstatt nur die Übernahme der 12 Millionen Kosten durch den Staat. In all der Zeit der Verhandlungen (unterdessen sind mehr als drei Jahre vergangen, seit die Firma die Lachgas-Emission entdeckt hat) pustet die Firma Mengen an Klimagas in die Luft, obwohl es so einfach wäre, dieses zu verhindern. Die Öffentlichkeit und die Lonza-Aktionäre wurden über diesen Ausstoss erst zwei Jahre später informiert, und der Katalysator wird voraussichtlich erst im Frühjahr 2022 eingebaut. Die Firma ist kostenmässig dagegen längst aus dem Schneider.

Aus solchen Beispielen wird deutlich, dass das 1776 von Adam Smith eingeführte Konzept der ,,unsichtbaren Hand" in der Realität kaum auf die Weise wirkt, wie sich das die Ökonomen in ihren Modellen gerne vorstellen (es ist umstritten, ob Smith selbst mit diesem Ausdruck gemeint hat, dass, wenn alle Akteure an ihrem eigenen Wohl orientiert sind, eine Selbstregulierung des Wirtschaftslebens zu einer optimalen Produktionsmenge und -qualität und zu einer gerechten Verteilung führt. Aber so ging diese Metapher in die Wirtschaftslehre ein). Ein bedeutender Aspekt, der verhindert, dass ein unbedingter, reiner marktwirtschaftlicher Wettbewerb zu gesellschaftlich akzeptablen Zuständen führt, ist, dass Kosten externalisiert werden. So ist der Ausstoss von Treibhausgasen wie CO2 oder Lachgas nach wie vor mit sehr geringen Kosten für die Verursacher verbunden; die realen Kosten werden weitestgehend in die Zukunft verbucht – und dann von allen bezahlt. Es ist, als würde man Müll aus dem Autofenster werfen. Dies ist für einen selbst die am wenigsten aufwendige und damit kostengünstigste Form der Entsorgung. Dass die Allgemeinheit mit dem Müll belastet wird, beziehungsweise für seine Entsorgung zahlen muss, wird nicht berücksichtigt. Es ist das bekannte Problem der ,,Tragik der Allmende", das bereits Aristoteles in seinem Werk ,,Die Politik" beschrieben hat: ,,Dem Gut, das der grössten Zahl gemeinsam ist, wird die geringste Fürsorge zuteil". Die Marktdynamik bietet keinen Mechanismus, der dieses nur allzu menschliche Verhalten verhindern würde. Die unter Kostendruck stehenden Unternehmen könnten sich den Wettbewerbsnachteil nicht leisten, wenn sie freiwillig den tatsächlichen Preis für Produktion, Nutzung, Nebenkosten und Entsorgung ihrer Produkte kosten, wenn dies ihre Konkurrenten nicht tun.

Konkrete Berechnungen von global externalisierten Klimakosten kommen auf sehr grosse Zahlen:


* Der Internationale Währungsfonds IWF bezifferte 2013 die externalisierten, also nicht im Preis berücksichtigten Kosten der fossilen Energieerzeugung auf ca. 4,9 Billionen US-Dollar pro Jahr. Das sind etwa 5,8 Prozent des globalen Bruttoinlandproduktes.

* Nicholas Stern, Leiter des volkswirtschaftlichen Dienstes der britischen Regierung und ehemaliger Weltbank-Chefökonom, schätzte 2006 die direkten jährlichen Kosten für Klimaschäden ebenfalls auf 5 Prozent des globalen BIP. Bei Berücksichtigung der Kosten, die darüber hinaus durch die Belastung von Umwelt und Gesundheit entstehen, kommt Stern sogar auf ca. 17 Billionen US-Dollar, also auf 20 Prozent des globalen BIP. Umgerechnet auf die ca. 37 Milliarden Tonnen CO2-Emissionen, die im Jahr 2019 emittiert wurden, sind das für jede Tonne emittierten Kohlendioxid Schadenskosten von ca. 450 Dollar.

Kann man den Firmen einen Vorwurf machen, die in einem enormen wirtschaftlichen Wettbewerb stehen, nicht nur um Kosten und Kunden, sondern auch um Investoren und Aktionäre? Die Maxime der «shareholder value»-Optimierung aus den späten 1980er Jahren besagt, dass es nicht reicht nur wettbewerbsfähig zu sein, sondern dass auch der Firmenwert so weit wie möglich gesteigert werden muss. Da stören externe Auflagen natürlich nur. Wirtschaftsethiker stellen genau dieses Paradigma immer mehr in Frage und fordern stattdessen ein ethisches Fundament des wirtschaftlichen Schaffens, z.B. in Form einer Sinngebung, die über die Gewinnmaximierung hinausgeht. Diese könnte darin liegen, den Zweck der Firma für die Gesellschaft klarer zu definieren.

Beispiel für ethisches Fehlverhalten von Firmen gibt es jenseits von Lonza viele. Ein besonders eklatantes gibt uns die schweizerische Firma Glencore, die in den letzten Jahren immer wieder durch Skandale auf sich aufmerksam gemacht hat. Korruptionsvorwürfe, Verstösse gegen Umweltauflagen, Ausbeutung von Land und Bevölkerung in Drittwelt-Staaten, umstrittene Geschäfte zum Beispiel im Kongo und in Venezuela, die Untersuchungen der US-Justiz und kanadischer Behörden nach sich gezogen haben, Klagen von Aktionären wegen missbräuchlicher Geschäftsführung – die Liste der Klagen, die gegen diese Firma vorgebracht werden, ist lang. Und dennoch gedeiht die Firma prächtig, zu ihrem unredlichen Management gehören zahlreiche der reichsten Schweizer. ,,Ich bin Geschäftsmann, kein Politiker", sagte ihr Chef einmal und rechtfertigte diese Aussage damit, dass es völlig in Ordnung sei, Geschäfte mit korrupten, gewalttätigen und rassistischen Regierungen zu tätigen und gegen Umweltauflagen zu verstossen.

Es gibt keine ,,unsichtbare Hand", die ganz von allein die Dinge zum Besseren wendet. Der Ansatz, die Politik solle die Dinge einfach laufen lassen, um ein für alle Menschen bestmögliches Ergebnis zu bekommen, ist grundverkehrt. Denn ethisches Fehlverhalten wird vom Markt nicht zureichend abgestraft. Solange bedeutende Firmen wie Glencore und Lonza, oder auch Exxon und Koch Industries sich selbst keine Grenzen setzen und lieber dem eigenen Gewinnstreben auf Kosten des Gemeinwohls dienen, müssen diese Grenzen von aussen gesetzt werden. Dies ist in erster Linie die Rolle der Politik. Konsumenten und Aktionäre können zwar gewisse Zeichen setzen, doch eine sichere und dauerhafte Änderung dieser Missstände kann allein der Gesetzgeber erreichen. Dass dies möglich ist, zeigen die folgenden Beispiele:

* In der Pharmabranche gelten in der meisten Ländern der Welt strenge Verfahren bei der Zulassung neuer Medikamente. Sie gewährleisten, dass Unternehmensinteressen nicht zu übergrossen Risiken für die Gesellschaft führen. In Deutschland hat nicht zuletzt der Contergan-Skandal Anfang der Sechzigerjahre Politik und Bürger für das Thema sensibilisiert.

* Bei der Kernenergie gibt es klare staatliche Auflagen, was Sicherheit und Entsorgung angeht. KKWs unterstehen daher strengen Auflagen.

* Nach vielen Jahren hat die amerikanische Justiz endlich gegen die jahrzehntelangen unsäglichen Lügen der Tabakindustrie bzgl.- der gesundheitlichen Schäden ihrer Produkte durchgegriffen und sie zur Zahlung von Hunderten von Milliarden Dollar verurteilt.

In der Schweiz gibt es am 29. November 2020 eine Volksabstimmung, die fordert, schweizerischen Firmen in die volle Verantwortung zu nehmen, wenn es um Verletzungen von gesetzlichen Auflagen im Ausland geht. Firmen sollen sich dann im Ausland an die gesetzlichen Regeln halten, ganz so, wie sie es auch im Inland tun müssen. Eine Selbstverständlichkeit sollte man denken. Aber genau darüber tobt zurzeit eine heftige politische Schlacht in der Schweiz, in der die Wirtschaft über den Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit jammert. Bezeichnender geht es nicht.


Aus: "Der Mythos von der «unsichtbaren Hand» – Von Ethik, Anstand und staatlichen Rahmenbedingungen der Wirtschaft" Lars Jaeger (25. Okt 2020)
Quelle: https://scilogs.spektrum.de/beobachtungen-der-wissenschaft/der-mythos-von-der-unsichtbaren-hand-von-ethik-anstand-und-staatlichen-rahmenbedingungen-der-wirtschaft/


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Quote[...] Corona hat die Grenzen des neoliberalen Wirtschafts- und Politikmodells schonungslos aufgezeigt: Das Gesundheitswesen kann nicht allein nach Profitabilitätskriterien organisiert werden, und um eine tiefe Depression zu verhindern, braucht es staatliche Hilfen. Die neoliberalen Theoretiker hatten sich das ganz anders vorgestellt – nicht zuletzt autoritärer.

Philipp Sarasin lehrt Geschichte der Neu­zeit an der Universität Zürich. Er ist Mit­be­gründer des Zentrums Geschichte des Wissens, Mitglied des wissen­schaft­lichen Beirats der Internet­plattform H-Soz-Kult und Heraus­geber von Geschichte der Gegenwart.

Die Meldungen waren aufse­hen­er­re­gend: Sowohl die Finan­cial Times wie auch der Gründer des Davoser Welt­wirt­schafts­fo­rums, Klaus Schwab, spra­chen neben vielen anderen davon, dass die Tage des Neoli­be­ra­lismus als große wirtschafts- und gesell­schafts­po­li­ti­sche Leit­linie mit welt­weiter Wirkung gezählt seien. Die Corona-Krise, aber auch die drohende Klima­ka­ta­strophe hätten gezeigt, dass ,,die Märkte" nicht alle Probleme das Planeten und der auf ihm lebenden Gesell­schaften lösen können. Das Corona-Virus führe gerade dras­tisch vor Augen, dass ein auf Effi­zienz und Profi­ta­bi­lität getrimmtes Gesund­heits­wesen zu wenig Ressourcen, Personal und Redun­danzen bereit­hält, um im Fall einer Pandemie nicht an den Rand des Zusam­men­bruchs oder darüber hinaus gedrängt zu werden. Zudem habe die neoli­be­rale Globa­li­sie­rung nicht nur das Migra­ti­ons­pro­blem verschärft, sondern auch die gefähr­liche Verletz­lich­keit zu langer, welt­um­span­nender Liefer­ketten gezeigt. Mehr Regio­na­lismus tue not. Aber auch im Innern der Gesell­schaften habe die neoli­be­rale Reduk­tion von staat­li­chen Trans­fer­leis­tungen und Regu­lie­rungen und die damit verbun­dene Explo­sion des Reich­tums einiger Weniger zulasten der Vielen popu­lis­ti­sche Gegen­re­ak­tionen provo­ziert, die nichts weniger als die Demo­kratie als Staats­form gefährden.

Ist der Neoli­be­ra­lismus also am Ende? Man wird sehen. Denn ganz abge­sehen davon, dass mit all diesen vielen Meldungen und Stel­lung­nahmen noch kaum klar wird, was ,,der Neoli­be­ra­lismus" genau sei, ist immerhin gewiss, dass man ihn wohl nicht so einfach wieder abschalten könnte wie einen Kühl­schrank, der sich nicht mehr regu­lieren lässt. Denn erstens zeigten die Wahlen in den USA gerade, dass sich dort fast die Hälfte der Wählenden, darunter auch Millionen von Benach­tei­ligten, für eine Politik gewinnen lassen, deren wich­tigste Errun­gen­schaft eine massive Steu­er­re­duk­tion für die Reichen und Super­rei­chen war, und die den Abbau staat­li­cher Leis­tungen und Regu­lie­rungen zum Schutz der Schwa­chen und der Natur laufend voran­trieb. Mit anderen Worten – und abge­sehen davon, dass es ,,den" Neoli­be­ra­lismus nicht gibt, wie die anti-globalistische Politik Trumps zeigte –: Neoli­be­rale Wirtschafts- und Gesell­schafts­po­litik wird durch mäch­tige Inter­es­sen­gruppen gestützt, die jetzt nicht einfach ein Einsehen haben.

Zwei­tens sind viele Elemente des Neoli­be­ra­lismus auch ein akzep­tierter, ja selbst­ver­ständ­li­cher Teil unserer Realität geworden. Es gibt keine grund­sätz­liche Alter­na­tive mehr zu Gesell­schaften, die in über­wie­gender Weise als Markt­ge­sell­schaften funk­tio­nieren. Es gibt vor allem seit den 1970er Jahren eine zumin­dest teil­weise inhalt­liche Kongruenz in der Frei­heits­rhe­torik der neoli­be­ralen Theo­re­tiker (es waren weit über­wie­gend Männer) bezie­hungs­weise Politiker:innen (die Rede ist von Margaret That­cher) auf der einen Seite und vieler linker, auto­nomer und queerer Gruppen und Bewe­gungen auf der anderen. Der Feind beider war der mäch­tige Staat, das büro­kra­ti­sche Monster, der kalte Apparat. Das Ziel beider war ein selbst­be­stimmtes Leben ohne allzu viel Rück­sicht auf Normen, Zwänge und Konven­tionen der Massen- und Sozi­al­staats­ge­sell­schaften, wie sie in zumin­dest ähnli­cher Weise von beiden Seiten für ihren Konfor­mi­täts­druck kriti­siert wurden.

Und drit­tens haben die Neoli­be­ralen, wie insbe­son­dere der ameri­ka­ni­sche Wirt­schafts­his­to­riker Quinn Slobo­dian jüngst in einer beein­dru­ckenden Studie gezeigt hat, als ,,Globa­listen" – so auch der Titel des Buches – seit dem Ende des Ersten (!) Welt­kriegs an einem Rahmen für den Welt­handel gear­beitet, der sich bis heute in Tausenden von Verträgen und recht­li­chen Rege­lungen verdichtet und konkre­ti­siert hat. Lange Jahr­zehnte eher als Theo­re­tiker, ab den 1970er Jahren aber auch als einfluss­reiche wirt­schafts­po­li­ti­sche Berater und Experten auf der Ebene inter­na­tio­naler Orga­ni­sa­tionen tätig, propa­gierten die Globa­listen eine juri­di­sche Struktur für die Welt­wirt­schaft, in der das Privat­ka­pital barrie­re­frei zirku­lieren können sollte. Das heißt, das Kapital sollte sich auf der Suche nach profi­ta­blen Inves­ti­ti­ons­mög­lich­keiten ebenso unge­hin­dert inter­na­tional bewegen können wie in den Kolo­ni­al­rei­chen und Impe­rien des 19. Jahr­hun­derts, die mit dem Ersten Welt­krieg entweder schon zusam­men­ge­bro­chen waren oder sich mit ihrem unver­meid­li­chen Ende konfron­tiert sahen. Das zu diesem Zweck schritt­weise dichte Geflecht von Verträgen und Rege­lungen, die ab dann etwa den 1980er Jahren nicht nur die Libe­ra­li­sie­rung des Kapi­tal­ver­kehrs ermög­lichten, sondern auch den Aufbau globaler Liefer­ketten für alles und jedes, wird kaum so schnell einer gesell­schaft­li­chen Stim­mungs­schwan­kung weichen.

Dennoch ist es notwendig, sich in dieser Situa­tion, in der immerhin ein Stück weit ein wirtschafts- und gesell­schafts­po­li­ti­scher Stra­te­gie­wechsel möglich und auch nötig scheint, genauer zu verstehen, was ,,Neoli­be­ra­lismus" jenseits des allzu beliebig gewor­denen Schlag­wortes bedeutet. Die erste Beob­ach­tung kann vom eben erwähnten Buch von Quinn Slobo­dian ausgehen: Neoli­be­ra­lismus ist nicht die Abwe­sen­heit von Rege­lungen und bedeutet auch nicht die Abwe­sen­heit des Staates. Die Ökonomen, die sich seit einem einfluss­rei­chen Kollo­quium 1938 in Paris auf eine Reform des damals von links wie von rechts geschmähten Laissez faire-Libe­ra­lismus des 19. Jahr­hun­derts verstän­digten und nun eben von ,,Neoli­be­ra­lismus" spra­chen, konstru­ierten ihr Programm grob gesagt über zwei Problem­wahr­neh­mungen: Zum einen sahen sie das Problem des ,,alten" Libe­ra­lismus darin, dass der Staat zu wenig regu­lierte – und zum andern das Problem des Sozia­lismus, dass der Staat alles regu­lieren wolle. Ihnen ging es darum, dass der Staat den Markt ,,einhegen", das heißt durch Regeln und Gesetze schützen und so das gleichsam natür­liche Funk­tio­nieren des Preis­me­cha­nismus, des freien Spiels von Angebot und Nach­frage, sicher­stellen soll. Keines­falls aber solle der Staat in poli­ti­scher, etwa vertei­lungs­po­li­ti­scher Absicht oder gar, um die Produk­tion zu steuern, selbst in den Markt eingreifen.

Was das bedeutet und warum die Neoli­be­ralen diese para­doxe Rolle für den Staat entwarfen, lässt sich sehr gut an der wirt­schafts­po­li­ti­schen oder auch, wenn man so will, wirt­schafts­phi­lo­so­phi­schen Theorie des überaus einfluss­rei­chen österreichisch-britischen Neoli­be­ralen und Nobel­preis­trä­gers von 1974, Fried­rich August von Hayek, zeigen. Hayeks Haupt­ar­gu­ment lautete: Der zentrale (staat­liche) Planer kann gar nicht wissen, was er wissen müsste, um planen zu können. Es war ein klas­si­sches Argu­ment, das schon die libe­ralen Ökonomen des 18. und 19. Jahr­hun­derts vorge­bracht haben: Der Staat kann gar nicht genug Wissen über die Wirt­schaft, über die vielen Produ­zenten und Konsu­menten und alle verwi­ckelten Bedin­gungen ihrer Akti­vi­täten haben, um zum Beispiel die Korn­preise so fest­zu­setzen, dass genügen Korn produ­ziert wird, es in den Handel kommt und die Konsument:innen auch güns­tiges Brot kaufen können. Das könne allein der Markt regeln.

Hayek hat diesen grund­sätz­li­chen Vorbe­halt gegen die staat­liche ,,Präten­tion zu wissen" – so der Titel seiner Nobel­preis­rede – im Stil der Zeit kyber­ne­tisch gefasst: Der Markt sei ein großer Computer, der eine unüber­schau­bare Zahl von Einzel­in­for­ma­tionen verar­beite und den einzelnen wirt­schaft­li­chen Akteuren, ob Produ­zenten oder Konsu­menten, allein über das ,,Preis­si­gnal" anzeige, was sie zu tun haben. Alles, was der Staat daher tun müsse, sei, wie gesagt, sicher­zu­stellen, dass der ,,Computer" funk­tio­niert, dass der Markt die rich­tigen Preis­si­gnale produ­zieren kann.

Die mit diesem an sich gut nach­voll­zieh­baren Argu­ment verbun­denen Probleme zumin­dest der Hayek­schen Vision einer voll­ständig ,,libe­ralen" Gesell­schaft sind aller­dings unüber­sehbar. Denn Hayek leitete aus seiner Beschrei­bung des Preis­me­cha­nismus ab, dass dieser und damit der freie wirt­schaft­liche Austausch im Wesent­li­chen die einzige Form sei, wie moderne ,,Groß­ge­sell­schaften" zusam­men­ge­halten werden: als ein Resultat der Vernet­zungs­ef­fekte des Marktes – und nicht etwa durch einen gemeinsam formu­lierten poli­ti­schen Willen, der sich zum Beispiel vom Gedanken der Vertei­lungs­ge­rech­tig­keit leiten lässt. Das ist ein zentraler Punkt. Das Poli­ti­sche durfte laut Hayek auf keinen Fall über den Schutz des Marktes hinaus Gestal­tungs­kraft erlangen, denn über den Hebel der poli­ti­schen Parti­zi­pa­tion würden sich Sonder­in­ter­essen und Grup­pen­ego­ismen unge­recht­fer­tigte, das heißt nicht über den Markt gere­gelte Anteile am Sozi­al­pro­dukt aneignen. Es gab für Hayek neben dem alles bestim­menden Preis­me­cha­nismus daher nur eine einzige Rahmen­be­din­gung, die nicht markt­förmig war, nämlich die ,,rule of law", das heißt die gemein­same Aner­ken­nung der Herr­schaft des Rechts, der basalen recht­li­chen Grund­sätze und Regeln, auf deren Basis ein Staat auch Gesetze zum Schutz des Marktes und des Privat­ei­gen­tums erlassen könne.

Diese ,,rule of law" als solche müsse aller­dings eben­falls dem poli­ti­schen Willen, dem poli­ti­schen Gestalten entzogen bleiben: Hayek verstand sie als einen Tradi­ti­ons­be­stand, der spätes­tens seit dem 17. Jahr­hun­dert das Rechts­ge­fühl steuert, das heißt den funda­men­talen Wert der persön­li­chen Frei­heit und des Privat­ei­gen­tums garan­tiere. Diese grund­le­genden Werte – die Neoli­be­ralen spre­chen gerne von ,,Menschen­rechten", von ,,human rights", wie die Philo­so­phin Jessica White gezeigt hat – könnten nun, so Hayek, nicht durch eine moderne Verfas­sung ,,konstru­iert" werden, sondern sie seien als Tradi­tion das, was als unver­än­der­liche ,,rule of law" eine Markt­ge­sell­schaft erst ermög­liche.

Abge­sehen davon, dass mit dieser Idee einer selbst­ver­ständ­li­chen Aner­ken­nung der tradi­tio­nellen ,,rule of law" de facto immer schon ein über Besitz, Geschlecht und Haut­farbe homo­ge­ni­siertes ,,Wir" derje­nigen voraus­ge­setzt wurde, die diese Aner­ken­nung teilen, bestand die unmit­tel­bare poli­ti­sche Konse­quenz dieser Konstruk­tion darin, dass Hayek die Demo­kratie als Regie­rungs­form weit­ge­hend ablehnte. Sein Neoli­be­ra­lismus konnte unver­hüllt auto­ritär werden. So schrieb er 1977, kurz vor seinem Besuch im Chile Pino­chets, ,,dass ich eine beschränkt nicht-demokratische Regie­rung einer unbe­schränkten demo­kra­ti­schen [...] vorziehe".  Denn letz­tere, konkret die parla­men­ta­ri­sche Demo­kratie, würde, getrieben von den Umver­tei­lungs­ge­lüsten all jener, denen sie Mitsprache ermög­lichte, ,,jede belie­bige Frage zum Gegen­stand von Regie­rungs­maß­nahmen machen" – das heißt die ökono­mi­schen Akti­vi­täten und Inter­essen der Einzelnen in gren­zen­loser Weise dem Regieren unter­werfen. Sie würde dadurch ,,tota­litär", was Hayek glei­cher­maßen der Sowjet­union, der Regie­rung Allende in Chile wie auch, in der Tendenz, der euro­päi­schen Sozi­al­de­mo­kratie vorwarf. ,,Links­ex­trem" begann in dieser Logik schon bei Willy Brandt.

Die Lehre, die sich aus einem solchen hier nur äußerst knapp und bruch­stück­haft skiz­zierten Rück­blick ziehen lässt, ist im Grunde einfach: Ja, Märkte sind oft die effi­zi­en­testen Allo­ka­ti­ons­me­cha­nismen knapper Güter, und ja, man hat allen Grund, allzu viel staat­liche Macht zurück­zu­weisen. 1978 nannte Michel Foucault ,,Kritik" an der zu großen Macht des Staates die Haltung zu fordern, ,,dass man nicht derartig, im Namen dieser Prin­zi­pien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird". Wir möchten tatsäch­lich nicht in einem zentra­li­sierten Planungs­staat leben – wir müssen einer Regie­rung gegen­über ,,nein" sagen können und wünschen uns recht­liche Struk­turen, die ihre Macht in Schranken halten.

Aber die These Hayeks und der Neoli­be­ralen, dass es über die Siche­rung der persön­li­chen Frei­heit und des Privat­ei­gen­tums hinaus keine weiteren Ziele und Werte geben könne, die eine Gesell­schaft in der Rege­lung ihrer Ange­le­gen­heiten verfolgen kann, ohne dadurch den Markt und damit die Grund­lage des Wohl­standes zu zerstören, ist ebenso falsch wie unplau­sibel. Denn offen­sicht­lich ist der Markt keine unbe­rührte Natur, die, unter Schutz gestellt, ihre Früchte frei­giebig an die Tüch­tigsten verteilt, sondern eine sehr mensch­liche, nur durch Gesetze und Rege­lungen zum Funk­tio­nieren zu brin­gende Einrich­tung. Wenn ,,rule of law" heißt, dass z.B. Regeln für alle gelten sollen, können auch Umwelt­schutz­maß­nahmen oder Sozi­al­stan­dards für alle gelten, ohne den Markt zu ,,verzerren". Das heißt, man kann die Exis­tenz von Märkten dort, wo sie produktiv sind, mit der poli­tisch ausge­han­delten Orien­tie­rung an Zielen und Werten verbinden, die dem Markt als solchem nicht inhä­rent sind und die auch nicht per se mit dem Eigen­in­ter­esse aller Markt­teil­nehmer kongruent sind. Aus der Perspek­tive einer strikt markt­wirt­schaft­li­chen Logik kann es zwar tatsäch­lich kost­spielig und gera­dezu ärger­lich inef­fi­zient sein, im Gesund­heits­wesen zu große Kapa­zi­täten sowie mehr als genug – und über­dies gut bezahltes – Personal zu finan­zieren. Aber wenn ,,der Markt" nicht mit einer Pandemie rechnen kann, ist er offenbar doch nicht die beste aller infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tenden Maschinen, die die Mensch­heit ersonnen hat.


Aus: "#Neoli­be­ra­lismus" Philipp Sarasin (2020)
Quelle: https://geschichtedergegenwart.ch/neoliberalismus/

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"OECONOMIA" Interview mit Carmen Losmann (28. September 2020)
Ich bin der Auffassung, dass unser Leben durchdrungen ist von der Ideologie des modernen Kapitalismus – gleichzeitig ist die Frage nach der Funktionsweise des Kapitalismus seltsam unterrepräsentiert im Film. Ich selber kann nur sagen, dass ich gerne analysiere und begreife, was mich umgibt und durch mich hindurchwirkt. Und weil ich nun mal das Filmemachen gelernt habe, mache ich zu diesen Fragen eben Filme.  ...
http://www.revolver-film.com/oeconomia/

Details: Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Carmen Losmann: "Oeconomia" und die Produktion von Geld
05/12/2020 deutsch Rüdiger Suchsland
Carmen Losmann ist Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin.
Mit Rüdiger Suchsland spricht sie über ihren neuen Film "Oeconomia", welcher auf der Berlinale 2020 Premiere hatte, und die Frage, woher Geld kommt und wer es macht. Dabei geht es auch um die Kapitalisierung des Gesundheitssystems vor dem Hintergrund der aktuellen Krise.
https://www.kurzfilmtage.de/en/blog-festival-2020-en/news-details/news/ruediger-suchsland-im-gespraech-mit-carmen-losmann-oeconomia-und-die-produktion-von-geld/

"Doku "Oeconomia" im Kino:Zum Wachstum verdammt" Martina Knoben (14. Oktober 2020)
Wie kann Geld einfach so aus dem Nichts entstehen und doch überall fehlen? Carmen Losmann stellt in ihrer Finanzwirtschafts-Doku "Oeconomia" Fragen, die selbst Top-Banker ins Schwitzen bringen. ... Dass das Finanzsystem künstlich ist, sich abgekoppelt hat von der Warenproduktion, ja von der Realität, gleichwohl zunehmend unser Wirtschaftssystem und die Politik bestimmt - auf diese Kritik steuert der Film ganz unaufgeregt zu. Außerdem bringt Losmann Ökonomie und Ökologie am Ende zusammen, wenn sie konstatiert, dass es auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen kein unendliches Wachstum geben kann. Das alles ist nicht neu, über vieles können Wirtschaftsexperten auch sicher kundig streiten. Der "Kapitalismus für Dummies"-Ansatz aber funktioniert. Über Geld spricht man nicht? Besser doch. ...
https://www.sueddeutsche.de/kultur/kino-doku-oeconomica-1.5068338


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#63
QuoteUlrich Schneider@UlrichSchneider

Diese Pandemie zeigt es überdeutlich: Der gesamte Gesundheits- und Pflegebereich gehört der Profitlogik entzogen und als Daseinsvorsorge ausschließlich in gemeinnützige und öffentliche Hand. #Bedarfswirtschaft statt Profitwirtschaft!

1:16 nachm. · 30. Dez. 2020

https://twitter.com/UlrichSchneider/status/1344256154831089664

Quoterachel-kim (lach)
@rachelk44138983
Antwort an @UlrichSchneider
das und das Beenden von Immobilien als Spekulationsobjekt würde der Gesellschaft sehr helfen.

1:19 nachm. · 30. Dez. 2020


https://twitter.com/rachelk44138983/status/1344256791878770688

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QuoteDaniel Schwerd @netnrd

Als die Gewinne der Krankenhausgesellschaften sprudelten, wurden sie an die Eigner ausgezahlt. Jetzt, wo Verluste entstehen, springt der Staat ein. Gewinne sind privatisiert worden, Verluste werden sozialisiert. Privatisierung ist super.

8:05 nachm. · 29. Dez. 2020


QuoteChristian Keiler @_Christian_K_
Antwort an @netnrd
und @Michael_Kunz

Ist ja nicht die einzige Ecke, in der Privatisierung "so toll" geklappt hat.


QuoteDaniel Schwerd @netnrd
Antwort an @_Christian_K_ und @Michael_Kunz

Nein, nur ein weiteres Beispiel für das Prinzip.

8:28 nachm. · 29. Dez. 2020


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#65
— UNBOXING UNBOXING: The Amazon Oracle.
The future. Amazon knows.
No second-guessing: one-click-shopping!
veröffentlicht am 19. Dezember 2020 unter dokumentationen, neuigkeiten, theorien
https://www.geheimagentur.net/unboxing-unboxing-the-amazon-oracle/

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Quote[...] In Manhattan lief einmal ein Trickbetrüger herum, der den Namen Confidence Man bekommen hatte. Seine Masche bestand darin, auf Menschen zuzugehen und sie zu fragen: "Würden Sie mir bis morgen Ihre Armbanduhr anvertrauen?" Gaben sie ihm die Uhr, tauchte er ab, und bis er eines Tages gefasst wurde, waren erstaunlich viele Menschen darauf hereingefallen.

Nach seiner Verhaftung konnte man im New York Herald eine sarkastische Beileidsbekundung lesen, dass diesem Confidence Man die Chance entgangen war, für die Wall Street zu arbeiten. "Seine Genialität ist im Kleinen auf dem Broadway zum Einsatz gekommen. Die ihre an der Wall Street. Das ist der einzige Unterschied", hieß es. "Ihm legt die Polizei Handschellen an. Ihnen bringt die Gesellschaft Wertschätzung entgegen. Lang lebe der wahre Confidence Man! – der Confidence Man der Wall Street."

Jia Tolentino, Journalistin des New Yorker und als eine der besten jungen Essayistinnen der USA gefeiert, erzählt diese Geschichte in ihrem Essayband Trick Mirror, der jetzt auf Deutsch erscheint. Sie erzählt sie, weil sie glaubt, jegliche Art von Trickserei sei ihrer Generation, den Millennials, zur "allumfassenden Realität" geworden. Und die Finanzkrise 2008, ausgelöst durch die Confidence Men der Wall Street, sei eine Art Startschuss gewesen für das Erwachsenwerden einer Generation entlang der Betrugsmaschen.

Nach dem Crash folgten soziale Medien wie Facebook, schreibt Tolentino, die Verbundenheit versprachen und stattdessen eine Welt erschufen, in der wir permanent an der Vermarktung unseres Ichs und unserer Beziehungen arbeiten. Es folgte ein marktkonformer Feminismus, der Gleichberechtigung für alle versprach und sich dann darauf beschränkte, den Erfolg einzelner "Girlbosse" als progressive Politik zu verkaufen.

Und dann sind da natürlich die ganz offensichtlichen scams. Ernährungsmythen wie das angeblich gesunde, in Wahrheit aber nur schmutzige raw water. Oder das von berühmten Models wie Kendall Jenner und Emily Ratajkowski beworbene Fyre Festival, das dann gar nicht existierte. Das Gefühl, irgendwie verarscht zu werden, wechselt sich ab mit der Bewunderung für Menschen, die in einer Welt der Taschenspieler einen funktionierenden Trick gefunden haben. Menschen, die etwa 1,5 Millionen Dollar Kapital für eine App eintreiben können, die nur eine Sache macht: das Wort "Yo" unter seinen Usern zu verschicken.

Tolentino beobachtet die feinen Linien, die sich durch unsere Gegenwartskultur ziehen, mit analytischem Gespür und einem bewundernswerten Hintergrundwissen. Sie gilt als manische Leserin, die oft ein halbes Buch vor dem Schlafengehen liest. Und sie ist gleichzeitig very online, wie man auf Englisch so gut sagt. Mit zehn Jahren hatte sie sich eine eigene Website gebaut, auf der sie gleich einen Text einbaute: Wie Jia internetsüchtig wurde. Sie schrieb diverse Blogs voll, diskutiert auf Twitter und geht für Interviews live auf Instagram.

Diese Kombination hat sie bekannt gemacht. Als Susan Sontag der Millennials oder Joan Didion des Internets wird sie immer wieder bezeichnet, was vielleicht weniger fachlich passende Urteile sind als Zeugnisse der schieren Bewunderung für Tolentino. Sie schrieb früh die Art kluger und meinungsstarker Texte, die sich im Netz gut verbreiten. Zunächst für den Blog The Hairpin und später beim feministischen Onlinemagazin Jezebel, dessen stellvertretende Chefredakteurin sie wurde, bevor das Angebot vom New Yorker kam. Sie schrieb über Schwangerschaftsabbruch, über Vaping, über identitätspolitische Fragen im Publishingbusiness oder über die Frage, warum Millenials eigentlich den Ruf haben, alles zu zerstören, von der Autoindustrie bis zu Hotelbranche. Durch Trick Mirror, da sind sich viele Kritikerinnen einig, etabliere sie sich nun endgültig als eine der wichtigsten Stimmen ihrer Generation. Und was normalerweise verdächtig nach Hype klingen würde, ist in diesem Fall völlig angemessen.

Wer Jia Tolentino liest, hat das Gefühl, für einen Moment klarer zu sehen durch den Nebel der Gegenwart, in der so viele Dinge gleichzeitig verwirrend und absolut selbstverständlich scheinen. Sie selbst sei eigentlich ständig verwirrt, schreibt Tolentino. Und wenn "mich etwas verwirrt, dann schreibe ich darüber". Und ihre Suche nach Antworten besteht zu einem großen Teil darin, die eigenen Selbsttäuschungen abzuschütteln, und das ist oft witzig, mutig, überraschend und scharfsinnig.

Dabei hilft ihr besonderes Talent, persönliche Geschichten mit Gedanken zu verweben. Sie scheut sich etwa nicht, über die Zeit zu sprechen, in der sie als Teenagerin an einer Reality-TV-Sendung namens Girls v. Boys: Puerto Rico teilnahm. Aber ihre Erzählung gerät nie zur Nabelschau. Jedes Detail führt zu einem Gedanken. Wenn sie zum Beispiel über ihrem Auftritt am Strand vom Puerto Rico die verschiedenen Schichten der Selbstinszenierung freilegt. Wie etwa die ständige Selbstanalyse aufhörte in dem Moment, in dem sie vor der Kamera stand. Wie es unmöglich wird, bewusst zu performen, wenn alles eine Performance ist. "Das war eine nützliche, wenn auch fragwürdige Vorbereitung auf ein Leben in den Fängen des Internets", schreibt sie.

In einem der stärksten Essays, Ekstase, erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend in der Gemeinde einer evangelikalen Megakirche im texanischen Houston. Sie erzählt von Bibelstunden, von dieser riesigen Stadt, deren Highways eigentlich die einzigen öffentlichen Orte sind, und von "chopped and screwed", einer Remixtechnik, die Hip-Hop-Songs stark verlangsamt und das Gefühl nachahmt, high auf Hustensaft zu sein. Aber vor allem geht es darum, wie sie ihren Glauben verliert, weil das, was sie für Gott hielt, ihr im Drogenrausch ebenso begegnet. Auf Ecstasy fühlt sie sich, "als würde Gott meine Lunge ersetzen", schreibt sie und versucht daraufhin, mit der Literatur der Mystikerin Marguerite Porète und der Philosophin Simone Weil die Formen der Ekstase besser zu verstehen.

Zwei Themen ziehen sich durch fast alle neun Essays des Buches: der Feminismus und das Internet. Und Tolentinos Beobachtungen dazu gehören zu den genauesten, die man in den letzten Jahren dazu gelesen hat. In Optimierung ohne Ende untersucht sie etwa das Bild der perfekten Frau. Mit zunehmender Emanzipation scheinen sich wie zum Ausgleich die Ansprüche an ihr Äußeres zu steigern, beobachtet Tolentino. Die perfekte Frau trägt heute kein Make-up mehr oder Spanx-Wäsche, um kleine Makel verschwinden zu lassen, denn sie hat keine. Mit teurer Skincare ist ihre Haut selbst perfekt so wie ihr Körper, der nicht geformt werden muss, weil er bis auf jeden Muskel schlank und fit ist, wie sie durch ihre enge Yogaleggings beweist. Sich in diesem Sinne "um sich selbst zu kümmern", schreibt Tolentino, ist heute nicht nur eine ästhetische, sondern eine ethische Frage für Frauen geworden.

Tolentino analysiert das, während sie selbst mittendrin steckt. Auch sie besucht teure und seltsam sexualisierte Fitnesskurse. Und während sie die Aufmerksamkeitsspiralen des Internets kritisiert, schaltet auch sie abends die Apps aus, die ihre Bildschirmzeit reduzieren sollen, um weiterscrollen zu können. Das ist nicht nur die millennialtypische Selbstreflexion. Es ist eine Reflexion über Komplizenschaft, die sich durchs ganze Buch zieht. Auch ihre Karriere habe von der "ungesunden Fokussierung des Internets auf Meinungsäußerungen profitiert", schreibt sie, sowie davon, dass sich Feminismus derzeit so gut verkauft.

Es geht um die Komplizinnenschaft, in die ein extrem ungleiches System zwingt, die Komplizinnenschaft, wenn man Dinge einfach will, wie Schönheit, Komfort, Freiheit. Die Komplizenschaft mit den Confidence Men nicht nur an der Wall Street: "Der Hochstapler und sein Opfer wollen beide von einer Situation profitieren; der Unterschied besteht darin, dass der Hochstapler erfolgreich ist."

Was sie wirklich fertigmache in der Ära von Trump und einer ganzen Schwindlerkultur, schreibt Tolentino, sei, dass die beste Strategie, sie zu überstehen, darin bestehe, nur an sich selbst zu denken. Da sei ein Druck, "uns moralisch zu kompromittieren, um weiterhin zu funktionieren". So sucht sie nicht nur Klarheit, sondern noch etwas anderes, das schwierig zu finden scheint – Integrität: "Ich glaube noch immer, in einem unbelehrbaren Winkel meines Ichs, dass ich es hier herausschaffen kann. Schließlich hat es nur etwa sieben Jahre, in denen ich meine eigene Persönlichkeit im Internet verhökert habe, gedauert, an einen Punkt zu gelangen, an dem ich es mir problemlos leisten kann, auf Amazon zu verzichten, um 15 Minuten und fünf Dollar zu sparen."

Diese Treffsicherheit ihrer Gedanken hat etwas Tröstliches. Auch wenn Tolentino keine Lösungen anbietet für die Risse, die sie aufzeigt, meistens nicht einmal abschließende Erklärungen. Aber es gibt diesen Punkt beim Lesen ihrer Essays, da verschiebt sich etwas in einem, als hätte man einen Funken Realität besser verstanden. Zwischen all den Absurditäten hofft Tolentino darauf, dass sich "kleine Wahrheiten" auftun, und das ist vielleicht die treffendste Beschreibung dessen, was man heute von Gegenwartsbeobachtungen erwarten kann. Und davon bekommt man in diesem Buch ganz schön viel.

Jia Tolentino: "Trick Mirror. Über das inszenierte Ich". S. Fischer, 368 Seiten


Aus: "Jia Tolentino: Überall Schwindler" Eine Rezension von Maja Beckers (23. Februar 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/jia-tolentino-trick-mirror-kritik/komplettansicht

QuoteThomas_SF #4

Verarscht worden sind die Menschen immer schon.

Allerdings wird es heute schwieriger, ein Gespür für das Reale zu finden, weil die Welt um uns herum immer künstlicher wird, und wir das, was uns umgibt zunehmend durch Bildschirme und Filter erfahren.


QuoteKassandra 1 #4.1

"Allerdings wird es heute schwieriger, ein Gespür für das Reale zu finden, weil die Welt um uns herum immer künstlicher wird"

Kurz gedacht mag das stimmen, doch wer sorgt dafür, dass die Welt immer künstlicher wird...das sind doch wohl wir Menschen mit unserer grotesken Technikabhängigkeit, unserer Denkfaulheit, unserem Allmachtswahn, der Allen Alles zugänglich machen will und das Individuum zum Zentrum der Universums erklärt.


QuoteOneTrickPony #6

Eine Kritik zu Tolentinos neuem Buch, in dem nicht ein einziges Mal das Wort "Kapitalismus" fällt. Das muss man erst mal schaffen.

Zwei Schlussfolgerungen: Entweder Frau Beckers unterschlägt die Kapitalismuskritik in dem Buch, die sich, wenn man diese angerissenen Themen richtig angehen würde, eigentlich wie ein roter Faden durch dieses Buch ziehen müsste. Müsste.

Oder aber Frau Tolentino kratzt tatsächlich nur an der Oberfläche ...


Quoteihrfodsn #11

Ich bin im gleichen Jahr geboren wie Frau Tolentino. Hab noch nie von ihr gehört. Weder ist sie die Stimme der Generation Y, noch besonders bekannt. Und als ehemalige Jezebel-Autorin (wer es nicht kennt, Hengameh in noch arroganter) wundert mich das auch nicht wirklich.

Mir scheint, Maja Beckers ist der wahre Confidence Man hier.


Quotelosgehen #17

Das Problem ist doch nicht neu. Erich Fromm, Theodor Adorno, Hannah Arendt, Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, Seneca, Aristoteles, Platon usw. usf. haben schon über die (zeitlosen) Probleme der menschlichen Gesellschaft geschrieben, über Lug und Trug, Selbstfindung und Lebensglück durch Wahrhaftigkeit und Selbstliebe. Lösungsansätze für die Menschheit als Ganzes sind auf theoretischer Ebene nicht zu erarbeiten. Lösungsansätze für das Individuum dagegen schon (s.o.)

Das scheint dem Zeit online Leser von heute aber zu hoch und deshalb werden ihm Bücher vorgestellt, die eben keine Lösungsansätze bieten, sondern eine "Gesellschaftsanalyse" liefern, die man als Betroffenheitsliteratur bezeichnen könnte. Mag diese auch wortgewandt daher kommen, sie bleibt genau das, was die Autorin in ihrem Buch kritisiert: Selbstvermarktung.


Quotejack_carlton #18.2

... wie ein Forist hier schrieb, wenn dies eine Kritik am Leben IM Kapitalismus sein soll, UNTER kapitalistischen Bedingungen, und es fällt nicht ein einziges Mal das K-Wort, dann springt die Autorin zu kurz. (Wie gesagt, ich kenne das Buch nicht, aber die Rezension lässt vermuten...)


...

Link

Quote[...] Bis zuletzt blieb er unter dem Radar. Bill Hwang (56) stand bei vielen Investmentbanken auf der schwarzen Liste, schließlich hatte er schon 2012 einen Hedgefonds schließen und eine Strafe wegen Insiderhandels akzeptieren müssen. In Hongkong hat ihn die Börsenaufsicht sogar lebenslang vom Handel ausgeschlossen. Und doch konnte er auf eigene Rechnung mit gewaltigem Kredithebel ein Multi-Milliardenportfolio aufbauen - und ein Großrisiko für den Finanzmarkt schaffen, das jetzt mehreren Großbanken um die Ohren fliegt. ... Hwang, in seiner Jugend als Sohn eines koreanischen Priesters in die USA gekommen und bis heute Beirat des evangelikalen Fuller Theological Seminary im kalifornischen Pasadena, gehört zu den sogenannten Tiger Cubs (Tigerjungen), den Schülern des Hedgefonds-Pioniers Julian Robertson (88). In dessen Tiger Management stieg Hwang als Aktienanalyst auf und verdiente sich zumindest in einem Jahr einen Sonderbonus als Bestperformer der Firma. ... s gehe ihm nicht nur um das schnelle Geld, sagte er in einem 2018 veröffentlichten christlichen Youtube-Interview. "Es geht um die lange Frist, und Gott hat sicher eine langfristige Sicht." ...

"Faith and Work | Bill Hwang on investing in people" (07.03.2018)
Bill Hwang, CEO and Founder of Archegos Capital Management and Fuller Trustee, shares how his faith influences his business practices and the importance of asking "where can I invest to please our God?" He is interviewed by Tod Bolsinger, Vice President and Chief of Leadership Formation.
https://youtu.be/vnbeQ-WFOUU

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Aus: "Die Rückkehr des Tigerjungen" (29.03.2021)
Quelle: https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/hedgefonds-bringt-credit-suisse-in-bedraengnis-wie-bill-hwang-zum-zweiten-mal-investoren-an-der-nase-herum-fuehrte-a-dc359aa2-ab26-4714-9896-35a774534248

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Quote[...] Bill Hwang ist wohl nicht das, was man sich unter einem typischen Hedgefonds-Manager vorstellt: Denn für ihn scheint nicht das Geld der grösste Antrieb zu sein, sondern er will mit seinen Investments das Werk Gottes voranbringen. Deshalb engagiert er sich auch für das evangelikale Fuller Seminar in Kalifornien.

Geld hat der 56-jährige Hwang sowieso schon genug verdient. Er kam als Jugendlicher aus Südkorea in die USA und machte dort in der Finanzbranche Karriere. So verdiente er in den Neunzigerjahren mit Deals in Asien ein Milliardenvermögen. Dieses verwaltet er nun mit seiner eigenen Firma Archegos. ...

... Hwangs Spezialität sind riskante Wetten. Er gehört zu den sogenannten Tiger Cubs. Damit sind die Schüler des legendären Hedgefonds-Managers Julian Robertson gemeint. Für dessen Tiger Management arbeitete Hwang, bis sich Robertson vor zwanzig Jahren zurückzog und das Feld seinen Nachfolgern überliess. Hwang fokussierte sich auf Asien und war dort sehr erfolgreich. Doch erhielt seine Karriere 2012 einen Knick. Damals gestand er gegenüber der US-Börsenaufsicht ein, dass der Erfolg auch auf Insiderhandel beruhte. Hwang bekannte sich schuldig und zahlte insgesamt 44 Millionen Dollar – als Busse und als Entschädigung für private Kläger. Hwang schloss danach Tiger Asia und zog sich etwas zurück.

Mit Archegos begann er wieder von vorne. Der Neustart wurde in den Banken zuerst kritisch gesehen. So wurde er von der US-Grossbank Goldman Sachs lange als zu grosses Risiko angesehen, wie die «South China Morning Post» berichtet. Die Bank weigerte sich noch Ende 2018, mit ihm Geschäfte zu machen. Doch habe sich die Meinung von Goldman Sachs wieder geändert, als die Bank gesehen habe, wie lukrativ Hwang als Kunde gewesen sei. Er brachte den Banken mit seiner Firma hohe Einnahmen. Offenbar war er da schon wieder mit mehreren anderen Banken gut im Geschäft.

Denn Hwang soll einen extrem riskanten Kurs gefahren haben, indem er für seine Deals sehr wenig eigenes Geld und sehr viel Fremdkapital eingesetzt habe. So lukrativ das in guten Zeiten ist, so teuer ist es, wenn der Investor sich verspekuliert. Das ist ihm nun mit Wetten auf die Wertpapiere der US-Medienkonzerne Viacom CBS und Discovery, des kanadischen Onlineshop-Anbieters Shopify und der chinesischen Internetriesen Baidu und Tencent Music passiert.

Als Hwang die von den Banken geforderten Sicherheiten nicht mehr liefern konnte, begannen einige Institute letzten Freitag mit dem Notverkauf der Aktien aus dem Archegos-Portfolio, um sich möglichst schadlos zu halten. Die Folge waren heftige Ausschläge an den Börsen und lange Gesichter bei den Banken, die nun herausfinden müssen, wie gross das Loch ist, das Hwang bei ihnen hinterlassen hat.


Aus: "Wer ist Bill Hwang? - Dieser Finanzmanager sorgt für Panik bei den Grossbanken" Jorgos Brouzos (29.03.2021)
Quelle: https://www.zuonline.ch/dieser-finanzmanager-sorgt-fuer-panik-bei-den-grossbanken-231822374496

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Quote[...] Am Freitag hatte ein Ausverkauf von Aktien in den USA zu markanten Kursverlusten bei einer Reihe von Unternehmen geführt, die einem Insider zufolge mit Archegos in Verbindung stehen. Die Papiere der Medienkonzerne ViacomCBS und Discovery hatten jeweils 27 Prozent an Wert verloren. Die in den USA notierten Anteile der chinesischen Konzerne Baidu und Tencent Music waren im Laufe der Woche um ein Drittel beziehungsweise knapp 50 Prozent abgesackt.

Nach Angaben informierter Kreise hatten die Deutsche Bank, Goldman Sachs und Morgan Stanley im Auftrag von Archegos Aktien im Wert von rund 30 Milliarden Dollar auf den Markt geworfen. Investoren halten systemische Risiken zum jetzigen Zeitpunkt zwar für unwahrscheinlich, zeigten sich allerdings nervös über das Ausmaß der Auflösung von Archegos-Positionen und mögliche weitere Verkäufe.

Das Unternehmen, geführt von Bill Hwang, ging aus dem Hedgefonds Tiger Asia hervor. Der Manager einigte sich 2012 mit der US-Börsenaufsicht SEC gegen Zahlung von 44 Millionen Dollar auf die Einstellung von Ermittlungen zu Insiderhandel. Archegos, auf der Firmen-Internetseite als Family Office bezeichnet, soll Medienberichten zufolge rund zehn Milliarden Dollar verwalten. Hwang war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

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Aus: "Archegos Capital sorgt für Beben US-Hedgefonds-Ausfall trifft Bankenbilanzen" (Montag, 29. März 2021)
Quelle: https://www.n-tv.de/wirtschaft/US-Hedgefonds-Ausfall-trifft-Bankenbilanzen-article22459530.html

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Quote[...] Welche Auswirkungen es haben kann, wenn ein Hedgefonds sich verzockt, hat Anfang des Jahres das Beispiel von Gamestop einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt [https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/gamestop-anhoerung-in-den-usa-wer-hat-verhindert-dass-die-rechnung-der-kleinanleger-aufgeht/26932936.html]. Die Leerverkäufer von Melvin Capital hatten darauf gesetzt, dass die Papiere des Computerspieleverkäufers an Wert verlieren würden. Als diese dann aber massiv stiegen, stand der Hedgefonds dem Vernehmen nach kurz vor dem Aus – und musste mit Milliardenbeträgen gerettet werden. Nicht wenige hatten damals bereits mit einem großen Crash gerechnet.

Nun steckt ein anderer Fonds in Problemen. Und wieder betreffen die Auswirkungen die gesamte Börse. Der US-Hedgefonds Archegos Capital reißt diesmal vor allem Banken mit in Schwierigkeiten. Die Schweizer Großbank Credit Suisse und die japanische Investmentbank Nomura warnten am Montag vor erheblichen Verlusten durch den Ausstieg aus Positionen bei einem US-Hedgefonds. Sie nannten den Namen des Hedgefonds zwar nicht, doch Finanzkreisen zufolge handelt es sich um Archegos.

Auch die Deutsche Bank ist einem Insider zufolge betroffen, allerdings weniger stark als die Wettbewerber. Das Exposure des Frankfurter Geldhauses sei nur ein Bruchteil dessen, das andere hätten, sagte eine mit der Angelegenheit vertraute Person der Nachrichtenagentur "Reuters" am Montag. Bis Freitagnacht habe die Bank keine Verluste aus den Geschäften mit Archegos erlitten und manage die Positionen.

Die japanische Investmentbank Nomura bezifferte den Verlust auf zwei Milliarden Dollar, die Credit Suisse zufolge könnte der Verlust ,,sehr bedeutend und wesentlich" für das Ergebnis des ersten Quartals sein. Die Schweizer erklärten, ein bedeutender Hedgefonds sei Nachschusspflichten – den sogenannten Margin-Calls – nicht nachgekommen. Das bedeutet, er hätte eigentlich Geld nachzahlen müssen, weil sein eingesetztes Kapital unter den für seine Positionen benötigten Wert gesunken ist. Da der Investor kein Geld nachschoss, seien die Schweizer Großbank und andere Geldhäuser nun dabei, diese Positionen aufzulösen. Haben diese nun an Wert verloren, bleibt die Bank auf dem Minus sitzen.

Am Freitag hatte ein Ausverkauf von Aktien in den USA zu markanten Kursverlusten bei einer Reihe von Unternehmen geführt, die einer mit der Sache vertrauten Person zufolge mit Archegos Capital in Verbindung stehen. Die Papiere der Medienkonzerne ViacomCBS und Discovery hatten jeweils 27 Prozent an Wert verloren. Die in den USA notierten Anteile der chinesischen Unternehmen Baidu und Tencent Music waren im Laufe der Woche um ein Drittel beziehungsweise knapp 50 Prozent abgesackt.

Investoren halten systemische Risiken zu jetzigen Zeitpunkt zwar für unwahrscheinlich, zeigten sich allerdings nervös über das Ausmaß der Verkäufe von Archegos und möglich weitere Veräußerungen. Die Aktien der Credit Suisse stürzten am Montag an der Börse in Zürich um 14 Prozent ab – das ist der größte Tagesverlust seit dem Börsencrash vom Frühjahr 2020 ein.

In Tokio waren die Nomura-Anteile 16 Prozent eingebrochen. Auch an der deutschen Börse konnte man die Auswirkungen spüren: Die Titel der Deutschen Bank fielen in Frankfurt um gut fünf Prozent, konnte sich im Laufe des Nachmittags aber wieder auf ein Minus von nur noch gut drei Prozent erholen. Damit waren sie noch immer der schwächste Wert im Leitindex.

Die Credit Suisse lehnte eine weitergehende Stellungnahme ab und stellte mehr Informationen zu gegebener Zeit in Aussicht. Die Warnung ist erneut ein Rückschlag für die Bank, die erwägt, Investoren zu entschädigen, die vom Zusammenbruch von Fonds betroffen sind, die mit der insolventen Finanzfirma Greensill verbunden sind. Bereits im vierten Quartal 2020 war eine Investition in einen Hedgefonds-Anbieter die Credit Suisse teuer zu stehen gekommen: Das Institut musste den Wert der Beteiligung an York Capital um 450 Millionen Dollar berichtigen. (mit rtr)


Aus: "Ein strauchelnder Hedgefonds stellt die Wall Street vor Probleme" Thorsten Mumme (29.03.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/hohe-verluste-befuerchtet-ein-strauchelnder-hedgefonds-stellt-die-wall-street-vor-probleme/27051650.html

Link

Quote[...] Das Aus des Berliner Mietendeckels vor dem Bundesverfassungsgericht hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen – große Erleichterung vor allem in der Immobilienwirtschaft, Frust beim Mieterbund und eher hilflose Appelle des Berliner Senats. ... So sprachen Verbände der Hausbesitzer und Immobilienbranche von der "maximalen Niederlage". Das Gericht habe die Berliner Landesregierung aus SPD, Grünen und Linken "komplett abgewatscht", sagte etwa Haus-&-Grund-Präsident Kai Warnecke. "Nun ist Rechtsklarheit für Mieter und Vermieter gleichermaßen geschaffen worden", sagte der Präsident des Bundesverbands Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW), Andreas Ibel.  ...

... Die Entscheidung aus Karlsruhe ist bitter", sagte der Präsident des Deutschen Mieterbundes, Lukas Siebenkotten. Sie sei aber auch "ein lauter Weckruf an den Bundesgesetzgeber, endlich zu handeln und die Mietenexplosion in vielen deutschen Städten zu stoppen!"

... Mieterinnen und Mieter in Berlin müssten nun gegebenenfalls die Differenz zwischen der Mietendeckelmiete und der Vertragsmiete nachzahlen – wenn sie zuvor eine Mietminderung erwirkt hatten. "Dabei sieht sich der Senat auch in der Pflicht, sozial verträgliche Lösungen für Mieter:innen zu entwickeln", sagte Stadtentwicklungssenator Scheel, dessen Vorgängerin Katrin Lompscher (Linke) den Mietendeckel eingeführt hatte.

... Die AfD-Landesvorsitzende Kristin Brinker sprach von einer "schallenden Ohrfeige mit Ansage", Fraktionschef Georg Pazderski von einem Zeichen gegen "sozialistische Verbote".


Aus: "Vermieter begeistert, Mieterbund frustriert, Senat verspricht Hilfen" (15. April 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-04/mietendeckel-berlin-nachzahlungen-vermieter-mieterbund-bundesregierung

QuotePolitik macht traurig #3

Meine persönliche Meinung - ganz unabhängig vom aktuellen Mietendeckel Thema - ist dass es zur Zeit der Corona-Pandemie eigentlich ein Thema sein sollte Mieten generell zu kürzen oder gar auszusetzen bis die Menschen wieder arbeiten können/dürfen. Jemand der aufgrund der Gesetzeslage nicht arbeiten darf sollte keine Miete zahlen müssen.
Ich frage mich sowieso wie ein Mensch drauf sein muss , im Wissen dass seine Mieter kein Einkommen haben trotzdem Miete zu verlangen. ...


Quotemcurmel #3.1

"Politik macht traurig"

"Ich frage mich sowieso wie ein Mensch drauf sein muss , im Wissen dass seine Mieter kein Einkommen haben trotzdem Miete zu verlangen."

Das einhalten von Zahlungsverpflichtungen von jedem Marktteilnehmer ist eine schlichte Notwendigkeit?
Wenn das nicht mehr gilt, können Sie den Laden hier wirklich besser zusperren und sich ins Ausland absetzen.


QuotePolitik macht traurig #3.10

Sie fordern gerade jemand der durch das Gesetz ein Berufsverbot bekommen hat trotzdem arbeiten soll damit er seine Miete zahlen kann weil er sonst eine Vollkaskomentalität hat?
Verstehe wer will...


Quotemcurmel #3.11

@ Politik macht traurig

"Wie soll eine Zahlungsverpflichtung denn eingehalten werden wenn es per Gesetz nicht erlaubt ist seiner Beschäftigung nachzugehen?"

Im Zweifel gar nicht, nur dann eben auch mit den entsprechenden Konsequenzen.
Ich spreche mich auch nicht grundsätzlich gegen Hilfen aus, nur was Sie vorgeschlagen haben, das man einfach mal sämtliche Zahlungsverpflichtungen aussetzt, ist wirklich gefährlich für den ganzen Wirtschaftskreislauf.


QuoteRagas #3.2

"Das ist unerträglich asozial und so funktioniert keine Gesellschaft."

Leider eben doch. Was meinen Sie, warum Zuschüsse wie Überbrückungshilfen nur die reinen beruflichen Ausgaben (Miete, Strom, Nebenkosten etc) abdecken? Da liegt eine Quersubventionierung der Immobilien-, Telekommunikations- und Energiewirtschaft vor. Selbst die entsprechenden Anteile an Hartz4 sind so gestaltet, dass dem "Jobcenterkunde" zwar kaum noch Teilhabe an Gesellschaft ermöglicht wird andererseits die teils exorbitanten Miete vollständig nach dem örtlichen Mietspiegel zugestanden bekommt.

Aber irgendwo muss die Schere unserer Gesellschaft ja seinen Anfang haben.


Quoteastrolenni #3.13

Letztendlich läuft doch der Coronahilfen-Kreislauf so:

Staat gibt Wirtschaftshilfe an Bürger
Bürger zahlen Miete an Vermieter
Vermieter zahlt Kredit(zinsen) an Bank
Bank gibt Staat Kredit (und würde ohne Niedrigzinsphase, und die ist Corona-unabhängig, dafür Zinsen kriegen)

Letztendlich profitieren am Ende die Banken und Großvermieter, die ohne physische Leistung aus dem ganzen Kreislauf Zinsen bzw. allgemeine Rendite gewinnen, und zwar stärker als je zuvor.


Quotemcurmel #4

Ein positives Signal für alle Marktteilnehmer, egal ob Mieter oder Vermieter. Nun besteht wenigstens die Chance das eine sinnvolle regionale Wohnungsbaupolitik etwas verbessern kann. ...


QuoteIkarus95 #4.3

Wo ist das positive Signal an die Mieter?


QuoteDas grüne Programm #23

Es sind auch die Mieter*innen begeistert, die sich jetzt wieder mit ihrem dicken Geldbeutel die schönen Wohnungen mieten können.


QuoteThelonius Mink #4.1

Die Normalverdiener können ja dann solange unter die Brücke ziehen, bis diese sinnvolle, regionale Wohnungsbaupolitik ihre Segnungen entfalten kann...


QuoteDer Niederbayer #4.5

Wenn die Buden in Berlin so teuer sind, dann zieht doch raus ins Grüne und kauft euch eine Bahncard.


QuoteDieter Bohlen #4.6

Nicht jeder hat Zeit und Lust am Tag 4 Stunden zu pendeln.


QuoteIlloran #4.8

Wäre doch mal ne Maßnahme. Wenn Berlin endlich so weit Gentrifiziert ist, dass es in der Stadt nur noch Banker, Buchhalter und Vermieter gibt die sich gegenseitig über den Tisch ziehen können die ja 4 Stunden aus Berlin rauspendeln aufs Land um dort einzulaufen und sich die Haare schneiden zu lassen.


QuoteLo Manthang #4.10

Mal ehrlich. Hauptsächlich haben vom Mietendeckel doch Leute in hippen Stadtteilen profitiert. Ärmere Menschen hatten davon doch sowieso nichts, da die Miete diesbezüglich noch Platz bis zur Grenze hatte.


QuoteErnst Blache #11

Ein juristisch wohl korrektes Urteil. Nur - als Zeichen ist es fatal. Die explodierenden Mieten in Großstädten sind eine tickende soziale Zeitbombe, die jetzt wieder scharf ist.
Um das grassierende Spekulatentum und seine Folgen einzudämmen wird man irgendwann um die Tabubegriffe Besetzen, Enteignen und Vergesellschaften nicht mehr herumkommen - wenn jetzt nicht endlich drastisch gegengesteuert wird.


QuoteIngwerknolle #11.1

Offensichtlich besteht kein Interesse daran gegenzusteuern.
Berlin wird also das neue London.

Diejenigen, die was daran ändern könnten betrifft es ja eh nicht. Sie profitieren noch davon.


QuoteKalbshaxeFlorida #12

Na Mensch, dann kanns jetzt mit der Gentrifizierung ja so richtig losgehen. Super Entscheidung auch mitten in Zeiten von Corona.


Quotepeter.linnenberg #13

"Sie sei aber auch "ein lauter Weckruf an den Bundesgesetzgeber, endlich zu handeln und die Mietenexplosion in vielen deutschen Städten zu stoppen!"

Früher hat der Staat Sozialwohnungen gebaut. Dann hat er immer mehr davon an grosse Investoren verkauft. Und dann wundert man sich, dass die Mieten steigen? ...


QuoteErnst Blache #13.1

Sie haben sowas von Recht. Wohnen ist eine Grunddaseinfunktion. Es ist in Großstädten aber zu einem reinen Wirtschaftsmodell verkommen.


QuoteErnst Blache #15

"Nur der Bund habe das Recht, so etwas wie einen Mietendeckel vorzuschreiben, nicht eine Landesregierung wie der Berliner Senat." - Nun gut, dann ist jetzt der Bund in der Pflicht. Und zwar schnellstens. Es muss dringend etwas gegen diesen Mietenwahnsinn unternommen werden.


QuoteFliederblüte #15.1

Der Bund hat das Recht. Daraus folgt aber keine Pflicht.


QuoteKreuzberger-10999 #24

Ich finde der Großteil der Mietshäuser in den Großstädten sollten in genossenschaftliches Eigentum übertragen werden und dem Gewinnstreben von
Spekulanten und Fonds entzogen werden.
Genossenschaften könnten viel besser langfristig Planen und vernünftig modernisieren um die Bausubstanz zu erhalten.

Die durch Spekulanten und Fonds hoch getriebenen Mieten sind ein sozialer Sprengstoff.
Hier werden Sozialleistungen wie Wohngeld oder Kindergeld sowie Kaufkraft von Konsumenten in Form von überhöhten Mieten in die Taschen der Reichen umgeleitet.

Ich wohne in einem Gründerzeitbau in Berlin, der der vor 15 Jahren von Privat für 4-5 Millionen an Spekulanten verkauft wurde. Jetzt soll für 20 Millionen weiterverkauft werden.
Seit 30 Jahren wurde an dem Haus nichts gemacht, das Dach, die Fenster, der Keller - undicht, der Farbe im Hausflur abgeblättert. Allein die Wohnungen wurden von den Mietern mit jeweils 20.000 - 30000 Euro renoviert, auf eigenen Kosten Bäder und Küchen eingebaut.
Mittlerweile ist der Investitionsrückstau so groß, man müßte "Millionen" in das Haus stecken, das nur eine "Luxussanierung" lohnt, dann mit Neumieten von geschätzt 16-18 Euro, um die Kosten für den Hauskauf und die Sanierung zu bezahlen.

Der Markt regelt eben nicht alles zum Besten.

Eigentum ist nicht nur Spekulationsmasse sondern auch Verpflichtung, sich um den Erhalt zu kümmern.


QuoteBummerrang #28

Die nun also laut Verfassungsgericht rechtswidrig gekürzten Mieten müssen selbstverständlich zurückerstattet werden. Alles andere wäre ja Diebstahl.
Wenn die Mieter kein Geld haben, dann sollen Sie eben dorthin ziehen wo es günstiger ist. Habe ich mit meiner Familie auch gemacht.
Man kann doch nicht erwarten, dass andere für den eigenen Lebenstil zahlen. ...



QuotegEd8 #32

"Deutschland brauche nun einen "echten Konsens für das gemeinsame Schaffen von mehr bezahlbaren Wohnungen"."

Wie der aussieht, kann schon fast prognostiziert werden: "Leider kann es keinen Konsens geben, demnach müssen die Mieten der Nachfrage angepasst werden, Sie wissen schon, der Markt..."


QuoteEdelfeder #46

Die Berliner haben wirklich geglaubt, sie können Politik gegen das Kapital machen. Diese naiven Kinder!


...

Link

Quote[...] Die Wohnungskrise steht erst am Anfang. Sieben Monate haben Journalistinnen und Journalisten in 16 europäischen Großstädten gemeinsam recherchiert. Das Ergebnis: Die Ursachen der Krise sind gewaltig, die neuen Akteure auch – und die Folgen für die Menschen kaum absehbar.

[Fehlende Datenvisualisierungen nur im Original Artikel... ]

In London ist seit einigen Jahren ein seltsames Phänomen zu beobachten. Wenn es dunkel wird, gehen in besonders begehrten Wohnlagen in Covent Garden oder Chelsea nur noch vereinzelte Lichter in den Fenstern an. Die Wohnungen gehören einer kosmopolitischen Elite, die in mehreren Städten Immobilien besitzt und sie nur bei ihren seltenen London-Aufenthalten braucht. Finanziell lohnt sich das trotzdem. Denn es sind gute Anlageobjekte – selbst unbewohnt.

Auch Paris leert sich abends. Weil es als lukrativer galt, Büros in der Innenstadt zu betreiben, sinkt dort die Zahl der Wohnungen. Weitere 114.000 wurden zu möblierten Apartments für Touristen umgebaut. Auch die stehen in der Pandemie leer.

Auf der anderen Seite des Spektrums liegt Berlin. In der europäischen Hauptstadt der Selbstverwirklichung, wo 83 Prozent zur Miete wohnen, galt der Erwerb einer eigenen Wohnung lange als unlukrativ, unnötig oder zumindest spießig. Mit steigendem Durchschnittseinkommen wird auch Berlin zur Eigentümerstadt, argumentieren viele. So, wie es in Dublin, Madrid oder Oslo schon seit Generationen normal ist. Doch eine europaweite Recherche zeigt: Das könnte ein Trugschluss sein.

... Möglicherweise sind nicht Madrid und Oslo die Vorboten für Berlin, sondern umgekehrt. Berlin mit seinen Wohnungskonzernen, gescheitertem Deckel und dem wütenden Volksbegehren ist kein Relikt, sondern ein erster Vorgeschmack auf das, was kommt: ein europäischer Wohnungsmarkt, eine europäische Wohnungskrise – weitreichend verknüpft mit dem Finanzmarkt. Berlin ist das Labor dafür. Und das hat etwas mit den leeren Wohnungen in London und den leeren Büros in Paris zu tun.

In den letzten sieben Monaten hat ein Rechercheverbund die Wohnungsmärkte in 16 europäischen Städten verglichen. Wir wollten wissen, welches jeweils die größten privaten Wohnungsfirmen der Stadt sind, ob ähnliche Entwicklungen erkennbar werden und ob es Firmen gibt, die bereits europaweit agieren. Das Rechercheprojekt namens ,,Cities for Rent" wird koordiniert unter dem Dach von ,,Stichting Arena for Journalism in Europe" und gefördert vom Investigative Journalism Fund for Europe.

Das Ergebnis: Zwar zeigt sich, dass der Wohnungsmarkt in jeder teilnehmenden Stadt weit unterschiedlicher strukturiert ist als zunächst angenommen. Doch auch wenn es europaweite Megakonzerne für Wohnungen bisher noch nicht gibt: Es bilden sich gerade die ersten heraus. Ihr Vorgehen ist in den verschiedenen Städten ähnlich. Und die Politik ist in allen Städten ähnlich ratlos. Die Marktkräfte, die dahinterstecken, sind überall dieselben. Und sie werden durch die Pandemie beschleunigt.

... Erstens wächst in allen 16 Städten die Bevölkerung in den letzten Jahren – teils sehr stark. Einzige Ausnahme: Athen. Zweitens: In allen Städten steigen die Mieten, selbst im schrumpfenden Athen. Laut Eurostat-Index lagen die Mieten europaweit 2020 um 14 Prozent höher als 2010, die Kaufpreise um 26 Prozent.

Im selben Zeitraum sind zwar auch die mittleren Einkommen gestiegen, in vielen Metropolen aber weniger als im Rest des Landes, während die Wohnungskosten hier stärker steigen. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung beträgt die Mietsteigerungen in Berlin 64 Prozent von 2010 auf 2019 bei Bestands- und 51 Prozent bei Neubauten. In Neukölln wurden laut Immoscout24 von 2007 und 2018 sogar 146 Prozent Steigerung bei den Angebotsmieten verzeichnet.

... Einen europaweiten Städtevergleich bei den Mieten gibt es kaum. Denn es gibt kein europäisches Vorgehen. Das höchste statistische Amt Eurostat kann nichts weiter tun, als die Städte um freiwillige Meldung zu bitten. Das tun wenige. So sind die einzigen Vergleichszahlen meist Investment-Berichte, das Wissen über den Markt ist exklusiv. Selbst EU-Parlamentarier berichten, dass auch keine genauen Informationen haben, welche Konzerne wo in Europa wie aktiv auf dem Wohnungsmarkt sind.

Dazu kommt drittens, dass der Anteil der Haushalte, die zur Miete wohnen in den 16 Städten weit über dem nationalen Durchschnitt liegt. Einzige Ausnahme ist Dublin, wo gerade einmal 23,9 Prozent der Bevölkerung zur Miete wohnen. Doch auch dort wird es immer schwerer zu kaufen. Nur noch 15 Prozent der Bevölkerung in Dublin geben in einer Eurostat-Umfrage an, es sei gut möglich, eine Wohnung zu finden. Damit liegen die Eigentumsstadt Dublin und die Mietstadt Berlin fast gleichauf. Die Tatsache, dass viele Menschen sich immer größere Wohnungen wünschen, verschärft das Problem.

... Real Capital Analytics, eine der wichtigsten globalen Analysefirmen für Immobilientransaktionen, sammelt weltweit Informationen zu großen Wohnungskäufen. Das Unternehmen hat für diese Recherche alle großen Immobiliendeals in den 16 Städten ausgewertet.

2007 lag die Summe der großen Käufe (mindestens zehn Wohneinheiten pro Kauf) bei 17,3 Milliarden Euro. 2009 fielen die Investitionen während der Finanzkrise auf knapp acht Milliarden. Seither explodieren sie. 2019 wurden 66,9 Milliarden Euro in Mietwohnungen investiert. Selbst im Corona-Jahr 2020 gingen die Investitionen nur leicht zurück. Platz eins bei den Investitionen: Berlin.

... Insgesamt 42 Milliarden Euro wurden von 2007 bis 2020 für große Wohnungsdeals in Berlin und Umland ausgegeben, mehr als in Paris und London zusammen. Im Gegensatz zu London kam der Großteil der Investitionen in Berlin noch aus dem Inland. Die Analyse der Herkunftsländer grenzüberschreitender Investitionen zeigt jedoch: Die Investitionen globalisieren sich langsam. Platz eins belegen die USA. Aber auch Deutschland, Frankreich, England und Schweden investieren viel grenzüberschreitend. Katar und Russland sind auch mit dabei. Und je mehr mitbieten, desto höher steigen die Preise.

... ,,Ich glaube, inzwischen ist es absolut eindeutig, dass die Wohnungskrise alle in Europa betrifft, nicht nur eine kleine Gruppe von Menschen", sagt Kim van Sparrentak, Mitglied des EU-Parlaments für die niederländischen Grünen. Sie hat an einem Bericht zur Wohnungssituation mitgearbeitet. Die Krise sei das Ergebnis einer europäischen Politik, die immer nur gefragt habe, wie sich der Markt stärken lasse, sagt sie. Tom Leahy, Senior Analyst für Immobilientransaktionen bei Real Capital Analytics seziert die Situation weit nüchterner: Dem wirklich großen Anlagekapital gehen die wichtigsten Anlageoptionen aus.

Er sagt, der Immobilienmarkt nach der globalen Finanzkrise sei ein völlig anderer als der davor. Wenn man wirklich hohe Mengen von Geld anlegen müsse, beispielsweise als milliardenschwerer Pensionsfonds, kann man nicht das ganze Geld in Aktien oder Währungen investieren. Zu hoch die Schwankungen, zu groß das Risiko. Ein wichtiger Teil des Geldes von Pensionsfonds, Vermögensverwaltungen und reichen Family Offices wurde daher klassischerweise in risikoarme Staatsanleihen investiert. Da die Europäische Zentralbank die Finanzkrise allerdings letztlich damit beendete, den Leitzins auf null zu setzen, gibt es für viele Staatsanleihen nur noch minimale Zinsen, oft sogar Negativzinsen. So werden Investitionen in Immobilien noch attraktiver.

... Wohnungen waren für diese Anlageformen lange nicht so beliebt, sagt der Analyst: ,,Wenn du vorhast, in den nächsten zwei Jahren 600 Millionen Euro für europäische Wohnungen auszugeben, musst du sehr viele kaufen." Gewerbeimmobilien, Büros oder Shoppingcenter waren deshalb das Investitionsobjekt der Wahl. Doch der Zuwachs beim Onlineshopping führt zu leer stehenden Läden, Homeoffice stellt die Bürowüsten infrage. Eine Wohnung hingegen brauchen alle. Und trotz Krise würden 90 Prozent der Mieten weiterhin bezahlt, sagt der Analyst, gestützt von staatlichen Hilfsprogrammen. Damit leisten Wohnungen als Investition: regelmäßige, sichere Rendite.

Die Popularität der Städte und das häufigere Umziehen führt auch dazu, dass Leute durchschnittlich längere Zeit in ihrem Leben mieten, erzählt Tom Leahy, der seine erste eigene Wohnung einige Tage nach dem Interview kaufen wollte. Er hat sich kürzlich die Käufe der 50 größten Investment Manager weltweit angeschaut, Blackstone, Allianz und Generali zum Beispiel. Letztes Jahr gingen demnach 30 Prozent ihrer Immobilieninvestitionen in den Wohnungsmarkt, 2007 waren es nur um die zehn Prozent. Aus Leahys Sicht ist Deutschland deswegen ein reifer Markt. Dem andere folgen werden.

... Der Geldstrom in den Wohnungsmarkt wird zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung. Weil die Wohnungspreise steigen, können sich weniger Leute eine leisten. Die, die es noch können, werden aus Angst vor hohen Mieten trotzdem versuchen, eine zu kaufen, was den Preis noch weiter steigert. Also wohnen langfristig wahrscheinlich eher mehr Leute zur Miete. Und das macht Wohnungen aus Investmentsicht noch rentabler.

Das ist die Sicht von oben. Am Boden, bei den Leuten, wo die Wohnungen nicht Investment heißen, sondern Zuhause, führt die Kapitalverschiebung zu tiefen Rissen im Stadtleben. Denn bevor Wohnungen erst zu Paketen von Hunderten, dann Tausenden geschnürt, renoviert, vermietet und weitergehandelt werden können, sind oft diejenigen im Weg, die darin wohnen.



Aus: "Mietmarktlabor Berlin: Wie internationale Investments den Wohnungs­markt umwälzen" (28. April 2021)
Benedikt Brandhofer, José Miguel Catalatayud, Sidney Gennies, Adriana Homolova, Hendrik Lehmann,
Manuel Kostrzynski, David Meidinger, Moritz Wienert, Helena Wittlich, Nikolas Zöller
Quelle: https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/mietmarktlabor-berlin-wie-internationales-investment-den-mietmarkt-veraendert/

Link

Quote[...] Sie wird einmal viele Millionen erben. Das weiß Marlene Engelhorn seit zwei Jahren. Damals teilte ihre mittlerweile 94-jährige Großmutter ihre Erbschaftspläne mit. Seither überlegt die Enkelin, wie sie 90 Prozent ihres Anteils loswird: Sie will fast ihr gesamtes Erbe spenden, "weil in Österreich Vermögen und damit Macht und Lebenschancen wahnsinnig ungerecht verteilt sind", sagte die Wiener Germanistikstudentin unlängst in der ORF-Sendung Aktuell nach eins: "Ein Prozent der Bevölkerung hält 40 Prozent des Vermögens. Ich werde dazugehören – und ich habe dafür nicht arbeiten müssen." Sie trage "die Verantwortung, dies radikal zu ändern und einen Beitrag zu leisten, der sinnvoll ist".

Es geht, wie der Falter schreibt, um einen zweistelligen Millionenbetrag. Das Vermögen von Erblasserin Traudl Engelhorn-Vechiatto, die in der Schweiz lebt, beläuft sich laut Forbes aktuell auf 4,2 Milliarden Dollar. Die aus Wien stammende Witwe des 1991 verstorbenen Peter Engelhorn, der Gesellschafter des Pharmaunternehmens Boehringer Mannheim (heute Roche) war, ist selbst aktive Mäzenin, die sich mit ihren vier Töchtern massiv für Kultur und Wissenschaft, da vor allem im Bereich Biotechnologie und Life-Sciences, engagiert.

Enkelin Marlene sieht in dem Anteil, der davon an sie gehen wird, einen "riesigen Handlungsspielraum", den ihr ihre Oma eröffne, der aber auch auf "schierem Geburtenglück" basiere, weshalb sie "radikal teilen" will. Eigentlich sollte der Staat "das oberste Prozent in die Pflicht nehmen".

Dafür kämpft sie mit gleichgesinnten jungen Reichen sowie mit den Millionaires for Humanity, die höhere Steuern für ihresgleichen fordern. Sie sagt dort: "Wir brauchen eine Umverteilung von Reichtum, Land und Macht, und wir brauchen einen transparenten und demokratischen Prozess – für mich bedeutet das: Vermögenssteuern."

Bei der in Berlin angesiedelten Guerrilla Foundation, die Initiativen unterstützt, "die auf einen umfassenden systemischen Wandel in ganz Europa hinarbeiten", wird die angehende Philanthropin als "intrepid intern" (unerschrockene Praktikantin) geführt, die neben der Uni Sprachunterricht gibt und in Schulen LGBTQI+-Workshops abhielt.

Zudem hilft sie als Obfrau des 2014 gegründeten Vereins Holzkiste in der Republik Moldau Menschen mit weniger Geburtsglück: 260 Familien konnte die Gruppe mit Brennholz, Kleidung und Winterschuhen buchstäblich "Wärme spenden". 150 Euro "reichen" für Holz für einen ganzen Winter. (Lisa Nimmervoll, 29.4.2021)


Aus: "Marlene Engelhorn: Von einer, die ihr Millionenerbe teilen will" Lisa Nimmervoll (29. April 2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000126244498/marlene-engelhorn-die-ihr-millionenerbe-teilen-will

Quote
Denk_Mal 29. April 2021, 07:18:39

Ich finde diese Entscheidung hat Respekt verdient und ist ein Zeichen dafür, dass Menschen ihre Verantwortung in einer ungleichen Gesellschaft erkennen können. Ich hoffe sie bleibt bei ihrer Entscheidung wenn es soweit ist.


...

Quote[...] Die 29-jährige Wienerin erklärt, warum sie mindestens 90 Prozent ihres Erbes spenden und keinesfalls als Philanthrokapitalistin à la Gates und Co enden will

Interview: Lisa Nimmervoll (23. Mai 2021)

STANDARD: Sie werden einmal sehr viel Geld erben – und sagen schon jetzt: Will ich nicht, so viel brauche ich nicht, ich will fast alles spenden. Warum?

Engelhorn: Das ist in meinen Augen keine Frage des Wollens, sondern eine Frage der Fairness. Ich habe nichts getan für dieses Erbe. Das ist pures Glück im Geburtslotto und reiner Zufall. Die Menschen, die das eigentlich erarbeitet haben, hatten in der Regel wohl nicht sehr viel davon. Es kommt somit eigentlich aus der Gesellschaft, und dorthin soll es zurück. Als die Ankündigung kam, habe ich gemerkt, ich kann mich nicht so recht freuen, und ich habe mir gedacht: Etwas stimmt nicht, es muss was passieren! Mir fällt da immer Bertolt Brecht ein: "Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich." Dann habe ich begonnen, mich ernsthaft damit zu beschäftigen. Das reichste Prozent der österreichischen Haushalte besitzt fast 40 Prozent des gesamten Vermögens. Individueller Reichtum ist in unseren Gesellschaften strukturell mit kollektiver Armut verknüpft. Da wollte ich nicht mitmachen.

STANDARD: Dieses Vermögen Ihrer Familie bildet ja doch auch in gewisser Weise zumindest ein Stück weit auch die Leistung Ihrer Vorfahren ab, die etwas gegründet und viele Arbeitsplätze geschaffen haben. Können Sie das irgendwie auch anerkennen oder sagen Sie: Die Relationen stimmen einfach nicht. Es ist einfach zu viel, was den Eigentümern geblieben ist, und zu wenig, was die arbeitenden Menschen davon bekommen haben?

Engelhorn: Mein voraussichtliches Erbe spiegelt in keinster Weise wider, was eine Einzelperson geleistet haben mag oder nicht. Da kann ein Manager in seinem Büro die besten Entscheidungen treffen, auf ihn allein kommt's nicht an. Wenn es niemanden gibt, der die Produkte erfindet, erarbeitet, rumtüftelt, verkauft, dann gibt's keinen Gewinn. Wir arbeiten in unserer Gesellschaft arbeitsteilig, anders würde es gar nicht funktionieren, und dass einige so viel erwirtschaften können, wie andere durch Erwerbsarbeit niemals bekommen, spiegelt nur wider, dass wir manche Arbeiten als wertvoller erachten. In der Regel ist das die Arbeit von jenen, die ohnehin schon reich sind, und von sich behaupten, ihre Arbeit sei wichtiger. Dann liegt das Geld meist seit Jahren in Anlagen herum und wird von alleine mehr, da muss man nur warten, während andere Menschen jeden Tag arbeiten und besteuert werden.

Wer 11.000 Euro Nettoeinkommen pro Jahr hat, zahlt 20 Prozent Steuern – und dann bekomme ich wahrscheinlich ein Vermögen von mehreren Millionen und muss nichts dafür zahlen. Dabei habe ich nichts dafür getan. Und das soll richtig sein so? Ich bin wahnsinnig privilegiert, ich bin dafür dankbar, ich bekomme dadurch auch viel Freiheit. Auch die Freiheit, mir die Zeit zu nehmen, mich damit auseinanderzusetzen. Das ist ein Riesenluxus, aber auch eine Verantwortungsfrage, und meine Verantwortung ist, dass ich der Gesellschaft etwas zurückgebe. Wenn der Status quo ist, dass man mit Eigentum machen kann, was man will, fast alles, dann darf ich das auch – und ich will es teilen, weil ich mich als Teil der Gesellschaft sehe.

STANDARD: Was sagt eigentlich Ihre Großmutter dazu, dass Sie öffentlich verkünden, Ihr Erbe zu verschenken, noch bevor Sie es überhaupt bekommen haben?

Engelhorn: Meine Großmutter eröffnet mir damit einen riesigen Handlungsfreiraum, den ich jetzt nutzen möchte, um den einen öffentlichen Diskurs ein wenig aufzumachen: Ich habe für das Geld keinen Tag gearbeitet und zahle für den Erhalt keinen Cent Steuer. Das kann es doch nicht sein. Besteuert mich endlich! Salopp formuliert: Wenn's bis dahin keine Erbschafts- oder Vermögenssteuer gibt, mache ich mir halt selber eine. Und wenn das dabei hilft, viele Menschen für gerechtere Steuern zu begeistern, war es jeden Cent wert.

Mir wäre wichtig, dass man das Thema einmal an einem Beispiel ausdiskutieren kann, und mein Beispiel bietet sich an: Wenn Reiche immer im Verborgenen bleiben, dann bleibt eben auch die himmelschreiende Ungerechtigkeit abstrakt. Auch stellvertretend für viele andere in meiner Lage, die selber nicht in die Öffentlichkeit wollen, von denen ich aber viel Zuspruch erhalte.

STANDARD: Dieser Schritt in die Öffentlichkeit hat ja auch einen Preis. Nicht umsonst legen viele Reiche größten Wert auf Anonymität und Privatsphäre. Wie gehen Sie mit Neid oder sonstigen Angriffen, aber auch "Bettelbriefen", die Sie sicher bekommen, um?

Engelhorn: Ich lebe trotzdem sehr bequem. Wenn Vermögen gerecht verteilt wäre, hätten wir das Problem in der Form gar nicht, dann gäbe es keine "überreichen" Menschen, die systematisch einen Teil der eigenen Identität verbergen.

Ganz wichtig: Ich bekomme keine "Bettelbriefe". Mir schreiben Menschen in unglaublich schwierigen Lebenssituationen, die sich ein Herz fassen und sich an mich wenden. Diese Bitten um Unterstützung sind voller Respekt, und auch wenn es mir leid tut, dass ich ihnen Absagen schicke, es sind auch viel zu viele, so ist der Punkt doch der: Es sollte nicht meine Aufgabe sein. Menschen sollten sich nicht meinem Willen oder Wohlwollen ausliefern müssen. Irgendwer hat diese Menschen mit ihren Sorgen und Nöten alleingelassen. Ich würde sagen, die Gesellschaft, die Politik, die das nicht anders geregelt hat, wäre da in die Verantwortung zu nehmen. Wobei da auch die Frage ist: Wer macht die Politik und wer kann sich Einfluss auf sie kaufen? Das können Menschen wie ich.

STANDARD: Wie?

Engelhorn: Ich könnte ja auch nicht in die Öffentlichkeit gehen mit meinen Anliegen für mehr Steuergerechtigkeit, sondern in ein Hinterzimmer laden. Ich könnte es mir ganz leicht machen und mit großzügigen Spenden dafür sorgen, dass eine Partei tut, was mir wichtig ist. Da wäre ich bei weitem nicht die Erste, und solange wir diese Praxis nicht abstellen, ist klar: Meine Stimme ist mehr wert als ihre. Mit Demokratie hat das aber nichts mehr zu tun. Das ist neofeudalistisch. Wer das akzeptiert, sogar gut findet, jedenfalls aber an der extremen Vermögenskonzentration nichts ändern will, ist im Kern kein echter Demokrat. Für mich geht es aber genau um diese demokratische Verantwortung und gesellschaftliche Verbundenheit. Es ist banal: Wir müssen füreinander da sein in einer Gesellschaft, weil sonst sind wir keine Gesellschaft.

STANDARD: Sie sind beim internationalen Netzwerk "Millionaires for Humanity", das im Vorjahr in einem offenen Brief die Regierungen um höhere Steuern für ihresgleichen gebeten hat: "So please. Tax us. Tax us. Tax us. It is the right choice. It is the only choice. Humanity is more important than our money." Wie viel sollte man den Reichen über Vermögenssteuern wegnehmen?

Engelhorn: Mit Wegnehmen hat das nichts zu tun. Wieso fragen wir nicht, wo das Geld herkommt? Wer hat es erwirtschaftet? Ein Mensch ganz allein? Alexandria Ocasio-Ortez, demokratische US-Kongressabgeordnete, hat es wunderbar gesagt: "Every billionaire is a policy failure." Jeder Milliardär ist ein politisches Versagen. Es ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe, herauszufinden, wie wir das regeln. Die Konzepte müssen wir als Gesellschaft diskutieren. Es gibt ja Expertinnen und Experten dafür. Thomas Piketty etwa, der französische Ökonom, meint, fünf Prozent des Staatshaushalts sollten aus Vermögens- und Erbschaftssteuern lukriert werden, und daraus sollte jede Person zum 25. Geburtstag 120.000 Euro als kollektives Erbe erhalten.

STANDARD: Pikettys Modell sähe eine extreme Steuerprogression vor. Für Vermögen oder Erbschaften in Höhe des 10.000-Fachen vom Durchschnittsvermögen wären 90 Prozent Steuern zu entrichten. Mit 200 Millionen von einem Zwei-Milliarden-Vermögen lasse sich immer noch gut leben, sagt er.

Engelhorn: Da hat Piketty verdammt recht. Sein Vorschlag hat im Blick, dass Geld eben mehr ist als die Möglichkeit, Dinge zu kaufen. Mit Geld kommt Handlungsfreiheit: Mit so einer Rücklage traut man sich eher, ein Unternehmen zu gründen oder Kunst zu machen. Oder aber man kann es sich locker leisten, eine Partei über Spenden zu finanzieren oder kauft sich die größte Zeitung eines Landes. Es geht immer um Lebenschancen, aber am Ende ist es eben auch eine Machtfrage.

Wieso ist es der Alleinerzieherin mit Teilzeitjob zumutbar, dass sie auf ihr geringes Einkommen mindestens 20 Prozent Steuern zahlt, und jemand wie ich bekommt ein Vermögen geschenkt? Einfach so. Null Prozent Steuern. Das ist unfair. Man kann auch teilen, und das tut gut. Es hat mit Verantwortung und Respekt zu tun, und, ein kitschiges Wort, das mir aber am Herzen liegt: Nächstenliebe. Ich wünsche mir, dass es auch meinem Nachbarn gut geht, einfach so, weil er ein Mensch ist.

STANDARD: Sie bereiten sich jetzt systematisch darauf vor, wie Sie Ihr angekündigtes Erbe am besten oder am "sinnvollsten" teilen können. Wie wollen Sie das machen und welche Kriterien sind für Sie dabei wichtig?

Engelhorn: Hier fängt das Problem an. Ich darf mir das ganz allein überlegen, was mit dem Geld passiert. Die Gesellschaft sollte sich aber nicht darauf verlassen müssen, dass einzelne Superreiche ihr gegenüber wohlwollend eingestellt sind, das ist Neofeudalismus: gönnerhaft von oben herab spenden. Ich tausche mich mit anderen aus, lerne, so viel ich kann, schaue mir an, was funktioniert und was nicht. Für mich ist der Einsatz für Steuergerechtigkeit sehr wichtig, denn die Frage, wie wir Reichtum und damit Macht verteilen, berührt das Herz der Demokratie.

STANDARD: Inwiefern?

Engelhorn: Jede Demokratie kann extrem konzentrierten Reichtum nur bis zu einem gewissen Punkt ertragen. Die Frage, wie wir damit umgehen, dass manche Menschen zu reich sind, wie etwa auch in meinem Fall, also nicht nur über Vermögen, sondern potenziell über extrem viel Macht verfügen, ist doch eine, die nicht verschwindet, nur weil wir sie nicht stellen.

Noch bin ich nicht reich, ich würde mir wünschen, dass es nicht meine Entscheidung ist, wie viel ich abgebe. Mein Wunsch wäre, dass wir das dann als demokratische Gesellschaft transparent ausverhandelt haben und dass wir uns das holen, was zu viel ist. Nicht im Sinne von Wegnehmen, sondern weil wir uns einig sind, wie viel zu viel ist in einer und für eine Demokratie. Und wie wir es teilen wollen, weil wir wissen, wo es gebraucht wird.

Wir können ja an dieser Demokratie weiterbasteln. Es gibt gute Ideen wie etwa die Bürgerräte in Irland zur Abtreibungsgesetzgebung oder zur gleichgeschlechtlichen Ehe oder den Klimakonvent in Frankreich. Partizipativer wäre auch wichtig, weil unsere repräsentative Demokratie so designt ist, dass in der Regel mittelalte bis alte weiße Herren mit akademischem Abschluss im Parlament sitzen. Im Parlament sitzt ein einziger Arbeiter, obwohl jeder vierte Beschäftigte in Österreich Arbeiter oder Arbeiterin ist. Welches Volk wird da vertreten? Auch da sollten wir ansetzen, damit diese Macht breit zugänglich wird und alle mitentscheiden dürfen, wie die Gesetze gemacht werden, nach denen wir regiert werden. Dann hätten wir wahrscheinlich auch andere Gesetze und andere Verteilungsfragen.

STANDARD: Ein Weg für Menschen, die sich selbst als "zu reich" empfinden, ist Philanthropie, was "allgemeine Menschenliebe" bedeutet. Sind Menschen wie Bill und Melinda Gates, die mit 46,8 Milliarden Dollar die größte Privatstiftung der Welt verwalten und sich etwa der Bekämpfung von Malaria und Kinderlähmung widmen, oder MacKenzie Scott, Exfrau von Amazon-Gründer Jeff Bezos, die im Corona-Jahr 4,2 Milliarden Dollar an 384 Hilfsorganisationen gespendet hat, Vorbilder für Sie?

Engelhorn: Philanthropie als Übergangsphase, bis wir bei der Vermögenssteuer sind. (lacht) Nein, auf gar keinen Fall. Davon will ich mich ganz dringend distanzieren. Wenn Privatpersonen so viel geopolitische Macht bündeln, ist das hochproblematisch, undemokratisch und brandgefährlich. MacKenzie Scott hat in kürzester Zeit das, was sie so großzügig hergegeben hat, über ihre Kapitalerträge aus ihren Amazon-Anteilen wieder erwirtschaftet, und Amazon, wissen wir, beutet Menschen und Klima systematisch aus. Das ist total unehrlich.

Es kann nicht sein, dass man zuerst weltweit an allen Ecken und Enden Steuern spart und dann demonstrativ wohltätig wird und einen Bruchteil des Vermögens spendet. Ganz oft sind diese Stiftungen nichts anderes als eine Möglichkeit, Vermögen zu verschleiern. Da wird mit einem winzigen Teil des Kapitals ein bisschen wiedergutgemacht, was diese großen Anlagen an Mist verbocken. Das ist Philantrokapitalismus. Es ist einfach nicht in Ordnung, dass wir abhängig sind vom Wohlwollen der Superreichen.

STANDARD: Von Fjodor Dostojewski stammt der Satz: "Geld ist geprägte Freiheit." Was löst er bei Ihnen aus?

Engelhorn: Ja, mit Geld kann man sich Freiheiten erkaufen, man ist frei von Hunger oder Not, zumindest für eine kleine Weile. Aber Dostojewski hat das in den "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" geschrieben, er war selbst politischer Häftling in einem sibirischen Lager, wo er Zwangsarbeit verrichten musste. Was er gemeint hat, hat nichts mit dem zu tun, was meine finanzielle Lage darstellt. Der Satz, der besser zu mir passt, ist: "Niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind."

STANDARD: Er stammt vom anarchistischen deutschen Schriftsteller Erich Mühsam, der 1934 im KZ Oranienburg ermordet wurde. Aber was bedeutet Geld an sich für Sie?

Engelhorn: Ich will nicht leugnen, dass Geld notwendig und hilfreich sein kann, sonst würde ich ja auch die Macht von Geld leugnen, wenn es in unvorstellbarer Größenordnung da ist. Sie wissen, eine Münze hat zwei Seiten. Welche ist die richtige: Kopf oder Zahl? Mir bedeuten Menschen einfach grundsätzlich mehr als Geld, darum will ich es teilen.

STANDARD: Wo ziehen Sie für sich persönlich die Grenze, wo Sie sagen, bis da erfüllt Geld auch für mich die Funktion, mir gewisse Freiheiten und ein gutes, materiell nicht prekäres Leben zu ermöglichen? Wie viel gestehen Sie sich selbst zu?

Engelhorn: Ich will mindestens 90 Prozent abgeben. Wie viel ist genug? Was ist das gute Leben für alle? Das sind wichtige Fragen, vor allem politische Aufgaben. Ich persönlich bin schon abgesichert, und ich bin mir auch nicht zu schade, zu arbeiten. Momentan stecke ich alles, was ich an Arbeitskraft habe, in die Auseinandersetzung mit diesem Thema und den Einsatz für Steuergerechtigkeit und hoffe, dass das irgendwann gegessen ist, weil die Politik auf ihren Souverän hört: Umfragen zeigen uns ja, die Mehrheit der Menschen findet die Idee, Superreiche zu besteuern, gar nicht schlecht. (lacht) Und wenn das geschafft ist, gehe ich arbeiten. Das wird vielleicht nicht superleicht sein, weil ich dann eine Lücke im Lebenslauf habe. Aber es ist mir wichtig, dass ich mir mein Geld erarbeite wie jeder andere auch.

STANDARD: Glauben Sie, dass Sie ohne Geld oder mit viel weniger Geld freier und/oder glücklicher wären? Oder ist das der romantisch-stilisierte Selbsttrost derer, die nicht reich sind?

Engelhorn: Geld allein macht weder meine Freiheit noch mein Glück aus. Ich brauche natürlich auch Geld, um abgesichert zu sein, um meine Ausgaben zu decken, um ein angenehmes Leben zu haben. Aber das Wichtigste ist: Geld kauft mir keine ehrlichen Beziehungen und keinen Respekt. Das muss ich mir als Mensch erarbeiten, und das will ich auch. Und ich will nicht, dass mir da Geld im Weg steht, quasi als Mauer zwischen mir und den anderen, und ich ihnen deshalb nicht nah sein kann in anderen Belangen.

STANDARD: Was, wenn Sie Ihren großen Erbverzicht in ein paar Jahren vielleicht bereuen und sagen: "Ach, hätte ich doch damals nicht ..."?

Engelhorn: Ich habe das für mich persönlich konsequent zu Ende gedacht. Ich setze mich dafür ein, dass ich als Teil der Gesellschaft einen Beitrag leisten darf. Ich will teilen. Punkt.

STANDARD: Zum Schluss noch Frage Nummer fünf aus Max Frischs Fragebogen zum Thema Geld: "Wie viel Geld möchten Sie besitzen?"

Engelhorn: Gerade so viel, dass ich meine Grundbedürfnisse gut abdecken kann und die eine oder andere Freude.

Marlene Engelhorn (29) studiert Germanistik an der Uni Wien, konzentriert sich derzeit aber vor allem darauf, sich inhaltlich und strukturell darauf vorzubereiten, ihr künftiges Erbe einmal fast zur Gänze möglichst sinnvoll umzuverteilen. Dazu vernetzt sie sich mit gleichgesinnten Vermögenden und jungen Erbinnen und Erben, die sich für eine gerechte Verteilung von Reichtum und Macht einsetzen, etwa die Millionaires for Humanity. Aktuell arbeitet sie als Volontärin bei der Guerrilla Foundation mit Sitz in Berlin, die Initiativen unterstützt, die auf einen umfassenden systemischen Wandel in Europa hinarbeiten.


Aus: "Millionenerbin Marlene Engelhorn: "Besteuert mich endlich!"" Lisa Nimmervoll (23.5.2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000126792517/millionenerbin-marlene-engelhorn-besteuert-mich-endlich

Quote
Gerhard_L

Sie nervt - Sie kann doch einfach anonym spenden. Warum muss sie uns mit ihrer offensichtlichen Geltungssucht nerven?


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XredrumX

Haben Sie das Gelesene nicht verstanden, oder habens das Interview erst garnicht gelesen?


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Fehlfarbe

solche postings wie ihres nerven. weil sie nicht kapieren worum es geht. es geht darum politische forderungen sichtbar zu machen. eine andere art von gesellschaft zur diskussion zu stellen. das tut man für gewöhnlich nicht im stillen kämmerlein.



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inDubeo
23. Mai 2021, 07:28:18

... Ich kann gar nicht glauben, dass ich das gerade gelesen habe. Die Einstellung im teilweise vermögenden Freundeskreis ist eher..."naja die sind ja selber Schuld dass nix ham..bin ja nicht die Caritas" Oder "Warum soll ich Steuern zahlen, da hat ja schon mal wer Steuern gezahlt"


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Atlantico1

Was ich nicht verstehe, sie redet über ein Vermögen, über das sie heute noch nicht verfügt.


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Isegrim1

So sind die Linken.


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senf & co

Zu dieser zukünftigen Erbin war doch erst kürzlich ein Artikel im Standard.
Solange die Frau M.E. noch gar nichts geerbt hat, weil die Erblasserin noch lebt und es sich ja auch noch anders überlegen könnte, ist alles nur Effekthascherei und leeres Gerede. Selbstinszenierung. Mal sehen, wenn es soweit ist, falls sie tatsächlich nennenswerte Werte erbt und was sie dann wirklich macht.
Sie könnte aber auch Verantwortung übernehmen und die Vermögenswerte positiv administrieren, anlegen, Projekte gestalten - was halt alles Arbeit bedeutet.


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die guten waren schon weg

Sie hat eine Debatte angestossen. Haben sie schon mehr zu dieser Thematik beigetragen?


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praetor vertigo

Seriously? Die hat keine Debatte angestoßen, die gab es schon lange vor ihrer eigenen Geburt.


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die guten waren schon weg

Und, haben sie vor einer Woche mit jemandem darüber diskutiert?


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praetor vertigo

Letzte Woche glaube ich nicht (könnte aber trotzdem sein), aber heuer schon mindestens 10-12 mal. Die Argumente wiederholen sich ohnehin.


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die guten waren schon weg

Wenn sie nichts neues beitragen können müssen sie sich ja nicht beteiligen. Aber werfen sie nicht jemand anderem vor, dass er sich für ein wichtiges Thema engagiert.


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praetor vertigo

Wenn für Sie eines der Argumente neu ist, dann haben Sie eben die letzten Jahre verschlafen oder sich schlichtweg nicht für das Thema interessiert. Aber werfen Sie nicht jemand anderem vor, das er die Leier schon hundert mal gehört hat und verkaufen Sie das Vorbringen selbiger Argumente zum tausendsten Mal nicht als relevante Leistung.


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die guten waren schon weg

Sie hatten nichts zu sagen ausser dass sie von der Debatte gelangweilt sind. Und das ist halt für alle anderen belanglos.


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Ehlogisch

Österreich funktioniert eben so - Das Land ist klein, die wirtschaftliche und politische Elite sind recht schnell auf Du und Du und wenn es auch noch eine Regierungspartei gibt, die alles für die Reichen tut, geht alles klar. Lukas Resetarits nennt ja die ÖVP zurecht Milliardärsgewerkschaft.


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ETRO

Sie erklärt gut das Problem mit den Philantropen. Wird leider sehr oft nicht verstanden.


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Retusche

Die Tragödie ist, dass man zwar ihr Geld besteuern kann,
Es wäre aber noch schöner wenn auch von ihren Gedanken etwas auf fruchtbaren Boden fallen würde.
Für mich ist das einer der "politisch reifsten" Menschen von denen ich je gelesen habe.


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Linker Träumer

Wieviel haben ihr die linken Träumer für das Interview gezahlt?


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DrHugo_Z_Hackenbush

Na, nicht kreativ genug Gutmensch zu
verwenden? Immerhin ist linker Träumer Ihr Profilname.


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DerPhilo

Meine Tochter sagt mir, dass ihr Sweatshirt auch nicht gerade von H+M stammt. Was kostet so ein Nobelshirt? 150 oder 200 Euro???? Sachdienliche hinweise.....


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Retusche

Es scheint mir dass sich ihre Tochter ganz offensichtlich intellektuell nicht ganz mit Frau Engelhorn messen kann.


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Warumbloß

Wie kindisch kann man eigentlich noch sein? Wollen Sie nicht lieber ins Krone-Forum wechseln ...


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weizard


Möglicherweise nur als Denkanstoss gemeint...

Die Kommentare mancher Poster wirken überheblich, neidisch, gehässig und werden auch persönlich angriffig . Als grundsätzliche Überlegung gelten die Aussagen von Frau Engelhorn allemal, wenn man bedenkt, wie rasch heutzutage Reichtum ohne *harte Arbeit* entstehen kann! Siehe z. B. Börsenspekulation, absurde Unternehmensbewertungen, fiktive Währungen etc.


Quote
DerGorg

Faszinierend- die Frau sollte Politikerin werden, da sie Intelligenz, Bildung und Integrität mitbringen dürfte und ein unglaublich gutes Vorbild darstellt, auch wenn es leider äusserst unwarscheinlich erscheint, dass unser oberstes Prozent sich ihrem Besispiel anschließen wird.


Quote
Gerd 5775

Mein Gott, wo sind die Politiker, die Frau Engelhorns Ansichten mit Herzblut vertreten?


Quoten--n

Dass ich sowas heutzutage in Österreich lesen darf, das berührt mich jetzt tatsächlich.


...


Link

Quote[...] Der Sainsbury's-Supermarkt im Nordlondoner Stadtbezirk Harringay an einem ganz normalen Werktag zur Mittagszeit: In den Regalen klaffen Lücken allerorten. Egal ob frische Milch, gekühlte Fertiggerichte oder monatelang haltbare Nudeln – überall ist die bunte Vielfalt der Konsumenten stark eingeschränkt.

Die Momentaufnahme vom Mittwoch dieser Woche wiederholt sich seit Wochen allerorten auf der Insel. Tankstellen bleiben geschlossen, in Supermarktregalen herrscht gähnende Leere. Die Fastfoodkette Nando's sah sich zur zeitweiligen Schließung von 45 Filialen gezwungen, weil das Hauptnahrungsmittel Hähnchenflügel nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht. Diese Woche machte McDonald's Schlagzeilen: Wegen "vorübergehender Lieferprobleme" muss die durstige Kundschaft bis auf weiteres auf ihre angestammten Milkshakes verzichten.

Wegen der andauernden Versorgungsschwierigkeiten schlagen jetzt Firmen und Lobbyverbände wie der Industrieverband CBI Alarm: Der Lagerbestand im Einzelhandel befindet sich auf dem niedrigsten Niveau seit fast vier Jahrzehnten. Sogar EU-feindliche Medien müssen einräumen: Der Brexit gehört zu den wichtigsten Gründen für die mittlerweile dramatischen Engpässe. "Das lässt sich nicht mehr als kurzzeitiges Problem abtun", warnt Andrew Sentance von der Beratungsfirma Cambridge Econometrics. "Diese Situation könnte länger andauern, als die Leute meinen."

... Das für Einwanderung zuständige Ministerium hat [ ] gering Qualifizierte zu unerwünschten Personen erklärt. Gerade diese aber seien "für die Aufrechterhaltung der Ernährung im Land ungemein wichtig", erläutern die Züchter.

Verbrauchermärkte, die Bauindustrie, Obst- und Gemüsebauern, die Gastronomie – allerorten fehlen seit Jahresbeginn günstige Arbeitskräfte. Die Brexit-Regierung unter Premier Boris Johnson hat nach Kräften versucht, das Problem kleinzureden oder der Pandemie in die Schuhe zu schieben. Immer klarer aber kristallisiert sich als Hauptgrund der EU-Austritt heraus: Mit dem endgültigen Verlassen von Binnenmarkt und Zollunion haben EU-Bürger seit 1. Jänner die Freizügigkeit auf der Insel verloren.

Nun fehlen der polnische Klempner und die rumänische Altenpflegerin, die spanische Kellnerin und der belgische Putzmann. Über die vergangenen Jahrzehnte haben Millionen vor allem junger Kontinentaleuropäer auf der Insel die schlecht bezahlten Jobs gemacht, zu denen die einheimische Bevölkerung nicht zu überreden ist.


Aus: "Versorgungsengpass: Briten stehen immer öfter vor leeren Regalen" Sebastian Borger aus London (25. August 2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000129171487/versorgungsengpass-briten-stehen-immer-oefter-vor-leeren-regalen

Quote
Polly Esther

Aber der Johnson hat doch gesagt, dass ...


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Grünweisse Grinsekatze

Es ist halt auffällig, dass immer jene Branchen "händeringend" suchen, in denen am schlechtesten gezahlt wird oder die Zustände sonst irgendwie übel sind.


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Green Pepper
25. August 2021, 19:01:02

Das Ende der Fahnenstange ist erreicht

In den oberen Einkommensklassen wissen manche nicht wohin mit dem Geld und hinterlassen mit ihrem Lebensstil einen übergroßen CO2-Abdruck. Die unteren haben mit ihrem Einkommen kein Auskommen. Europa 2021.

Danke an die Konservativen.


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Aplantea

Jetzt kommt bei mir sowas wie Schadenfreude auf. Obwohl das irgendwie auch zu kurz gedacht ist. Irgendwie ist es nämlich auch erschreckend, wie schnell unser Wirtschaftssystem zusammenbricht, sobald die schlecht bezahlten und oft ausgebeuteten Arbeitskräfte fehlen.


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Montgomery McFerryn

Lohndumping hat also in GB ein Ende, das sind doch gute Nachrichten. Die Wirtschaft jammert natürlich aber endlich bekommen die Leute ein Gehalt von dem sie leben können.


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Braffin 25. August 2021, 18:27:15

"Über die vergangenen Jahrzehnte haben Millionen vor allem junger Kontinentaleuropäer auf der Insel die schlecht bezahlten Jobs gemacht, zu denen die einheimische Bevölkerung nicht zu überreden ist."

Da davon auszugehen ist, dass das glorreiche Empire eine neoliberale Lösung des Problems anstrebt (alles andere wäre immerhin nicht britisch), bietet es sich an in den nächsten Jahren den weiteren Fortgang der Entwicklung zu betrachten.

Wir haben hier wirklich eine schöne, regional begrenzte, kleine Modellregion zu Studienzwecken :)

Mit etwas Glück lernen wir dabei sogar, dass das derzeitige Missverhältnis zwischen Lohn und Leistung zwingend korrigiert werden muss, um die gesellschaftliche Stabilität zu erhalten.


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Warumauchned

Play stupid games, win stupid prices..


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belladonna43

Österreich, du hast es besser!
Bei uns kann man die importierten Landarbeiter immer noch mit 6 Euro abspeisen und die Putzfrau ist mit ein paar Netsch zufrieden.

Teile der Bevölkerung haben sich der Ansicht der Regierung angeschlossen
In deren Augen sind das ohnehin nur Pöbel und Tiere.

Die Entwicklung in England scheint natürlich bedrohlich. Da soll schwere Arbeit tatsächlich besser bezahlt werden.


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Stormtrooper87

Keine billigen Helfer, die die Drecksarbeit machen die keiner sonst auch nur in erwägungziehen würde

Schon blöd, da müssen die Unternehmer ihren Angestellten vernünftige Löhne zahlen und auch noch für anständige Arbeitsbedingungen sorgen.


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Alkolix

Das ist merkwürdig

In UK ist gerade eine Situation die dafür sorgt, dass Hungerlohnjobs aufgewertet werden.
Selbst das berüchtigte Amazon kann dort mit seinen Beschäftigen nicht mehr so umspringen. In Deutschland fliegen sie einfach billige Arbeitskräfte ein wenn gestreikt wird.
Und hier meinen die Leute, dass es den Briten so schlecht geht weil gerade nicht die Auswahl in den Supermärkten eingeschränkt ist?


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alsoz

Capitalism in a nutshell...

Das zeigt ja eigentlich sehr deutlich das Kernproblem unserer Gesellschaft (läuft bei uns ja nicht anders): Der Wohlstand einiger - immer weniger - ist immer noch abhängig von der Masse "billiger" und gering ausgebildeter Arbeitskräfte. Ist das wirklich nachhaltig? Wollen wir das wirklich als Gesellschaft? Die Parteien, die dieses System vertreten, meist nationalistisch-konservative Populisten, egal ob in UK, Polen, Ungarn, Österreich, etc. haben es perfektioniert, genau diese Menschen in den unteren Einkommensschichten für sich zu gewinnen. Denn die lassen sich am besten durch Angst mobilisieren. Und wenn einer "die Grenzen dicht macht", ist das für 90% der Wähler egal, welche Wirtschaftspolitik danach kommt...


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Rohling

Moderner globaler Kapitalismus benötigt den freien Nachschub an Ressourcen, die durch freie Konkurrenz immer billiger werden.
Wir danken GB für den Versuch, wie es auch anders gehen kann, oder eben nicht.


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Quote[...] Millenials In Großbritannien wünschen sich zwei Drittel der Menschen unter 35 die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Was ist los mit der jungen Generation?

Owen Jones ist Kolumnist der Tageszeitung The Guardian
Übersetzung: Carola Torti



... Laut einem im Juli publizierten Bericht der rechten Denkfabrik Institute for Economic Affairs (IEA) ist unter den Jüngeren in Großbritannien ein klarer Linksruck zu verzeichnen. Fast 80 Prozent machen den Kapitalismus für die Wohnungsnot verantwortlich, 75 Prozent halten die Klimakrise für ,,speziell ein Problem des Kapitalismus" und 72 Prozent sind für eine weitreichende Verstaatlichung. Alles in allem wollen 67 Prozent der Befragten gern in einem sozialistischen Wirtschaftssystem leben.

Angesichts einer – nach der Überwindung des Corbynismus – scheinbar hegemonialen Konservativen Partei im Höhenflug sei die Umfrage ein ,,Weckruf" für Unterstützer des Marktkapitalismus, warnt das IEA. ,,Die Ablehnung des Kapitalismus ist vielleicht nur ein abstrakter Wunsch. Aber das war der Brexit auch." Das gleiche auffällige Phänomen eins Linksrucks zeigt sich übrigens auch auf der anderen Seite des Atlantiks: Laut einer Studie der Harvard University im Jahr 2016 lehnten mehr als 50 Prozent der jungen Leute im wichtigsten Land der Laissez-Faire-Wirtschaft den Kapitalismus ab. Und 2018 ergab eine Gallup-Umfrage, dass nur noch 45 Prozent der jungen Amerikaner Kapitalismus positiv bewerteten, während das 2010 noch 68 Prozent taten.

Der 33-jährige Jack Foster, der in Salford für eine Bank arbeitet, ist ein Beispiel dafür, wie gelebte Erfahrung die Enttäuschung über den Kapitalismus verstärkt hat. Nachdem er sein Studium abgebrochen und in einem Callcenter – ein ,,schrecklicher Job" – gearbeitet hatte, beeinflusste, wie bei vielen, in seiner Generation der Finanzcrash seine politische Einstellung. Dabei war das Thema Wohnen von besonders großer Bedeutung. ,,Ich lebte in einer Mietwohnung und dachte: ,Wie soll ich mir je ein eigenes Haus leisten können?'", erzählt er . ,,Meine Mutter war Reinigungskraft, mein Vater hatte eine Behinderung, und alle Leute, die ich kannte und die sich ein Haus leisten konnten, wurden von ihren Eltern unterstützt. Es war keine Frage von Arbeiten und Sparen; man musste Geld erben."

... Wie die Linken erklärt auch er die wachsende Attraktivität durch die enorme Wohnungskrise. ,,Ob man Vertreter des freien Marktes, Konservative, Vertreter der Mitte oder Mitte-links oder Sozialisten fragt, alle sind sich einig, dass Großbritannien in einer Wohnungskrise steckt und das ein enormes Problem ist. Nur haben alle unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach den Ursachen und was sich dagegen tun lässt", erklärt er. ,,Wenn Leute abgezockt werden und glauben, dass der Markt gegen sie arbeitet, ist es eine mögliche Reaktion, zu verallgemeinern: ,So ist der Kapitalismus – so ist der Markt', und dann stärker mit sozialistischen Ideen zu sympathisieren."

... statt der vom Thatcherismus versprochenen ,,Wohneigentumsdemokratie" sieht es in Großbritannien eher nach einem Paradies für Vermieter aus. Im Jahr 2017 waren 40 Prozent der im Rahmen des Ankaufsrechts veräußerten Wohnungen im Besitz von privaten Vermietern, die das Doppelte an Miete im Vergleich zu Sozialwohnungen verlangen. Tatsächlich ist innerhalb von zwei Jahrzehnten die Chance eines jungen Erwachsenen mit mittlerem Einkommen nur noch halb so groß, ein eigenes Haus zu besitzen. Diese jungen Menschen werden als ,,Generation Rent", Generation Miete, bezeichnet, weil rund die Hälfte der unter 35-jährigen in England auf einem freien Markt mietet, der häufig von Wuchermieten und Unsicherheit geprägt ist. Die Miete kostet in England annähernd die Hälfte des Nettoeinkommens der Mieter, in London sogar krasse 74,8 Prozent, ein Anstieg um ein Drittel seit Beginn des Jahrhunderts. Und wenn Millennials für den Hauskauf auf ein elterliches Rettungsboot setzen, winkt Enttäuschung: Die meisten erben erst im Alter zwischen 55 und 64 Jahren. Zudem liegt das Median-Erbe bei 11.000 britischen Pfund (knapp 12.800 Euro), was bedeutet, dass die Hälfte der Erben weniger erhält.

Es gibt einfach keinen rationalen Grund für junge Leute, dieses Wirtschaftssystem zu verteidigen. Laut Umfrage der Kinder-Hilfsorganisation Barnardo's im Jahr 2019 gehen Zwei Drittel der Unter-25-jährigen davon aus, dass es ihrer Generation schlechter gehen wird als ihren Eltern. Dieser Pessimismus ist neu, sagt Keir Milburn, Wissenschaftler und Autor des Buches Generation Left, in dem er argumentiert, breite linke Sympathien unter jungen Menschen seien ein modernes, von den ökonomischen Bedingungen gefördertes Phänomen. ,,Für jemanden, der in den 60er-Jahren geboren und dann erwachsen wurde, gab es ein Gefühl von Optimismus, also dass die Lage besser wird", erklärt er. ,,Es ist die aus der Zeit der Aufklärung stammende, modernistische Haltung, dass die Lage sich verbessert, dass die Gesellschaft, allgemein gesagt, immer Fortschritt verzeichnet. Jetzt denkt das nur noch Steven Pinker" (ein US-amerikanischer Psychologe und Autor des Buches Enlightenment Now – Aufklärung jetzt).

Für den 30-jährigen David Horner, der in London für eine Wohltätigkeitsorganisation arbeitet, begann die Desillusionierung angesichts des herrschenden Systems schon im Studium. Jetzt bekommt er bald ein Kind und sorgt sich darum, in welche Welt er es hineinsetzt. Beim Blick auf seine Arbeit mit Jugendlichen aus ärmeren Verhältnissen und die Erfahrungen von Freunden, die in krisengeschüttelten Gesundheits- und Bildungseinrichtungen arbeiten, liegt für ihn das Problem auf der Hand. ,,Dabei erzählt man uns, das gegenwärtige sei das beste volkswirtschaftliche System, das wir kriegen können. Jede Alternative – selbst wenn sie scheinbar nicht sehr radikal ist – wird einfach abgelehnt, weil es angeblich so sein muss, wie es ist", klagt er. ,,Mit zunehmendem Alter beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Ich will nicht mehr alles einfach hinnehmen. Aber es geht um viel Macht: Da sind die Konzerne und Leute mit Eigeninteresse am Kapitalismus und der Art und Weise, wie die Wirtschaft im Moment funktioniert."

Einer ganzen Generation wurde gesagt, es sei wichtig zu studieren, um ein Gehalt zu haben, von dem man leben kann. Doch das Einkommensgefälle zwischen Studierten und Nicht-Studierten hat sich erheblich verringert. Und obwohl Englands Hochschulabsolventen im Jahr 2020 Schulden in Höhe von fast 47.000 Euro angehäuft hatten, arbeitet mehr als ein Drittel der Hochschulabsolventen in Jobs, die keinen solchen Abschluss erfordern.

In den Jahren nach dem Finanzcrash und der folgenden Sparpolitik waren es die Gehälter und Löhne der jungen Arbeitnehmer, die in einer beispiellosen Senkung des Lebensstandards am stärksten zurückgingen. Formale Bildung plus wirtschaftliche Unsicherheit sind eine riskante Mischung. Aber das ist nicht das einzige Phänomen, das eine Rolle spielt. Zusätzlich wurden nicht-akademische Wege zu einem gesicherten Lebensstandard gestrichen, wie die qualifizierten Lehrstellen, von denen so viele 16-jährige Schulabgänger zuvor profitierten. Junge Wähler aus der Arbeiterklasse stimmten 2017 mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit für Labour als ihre Altersgenossen aus der Mittelschicht.

Aber auch eine wichtige existenzielle Frage führt dazu, dass viele junge Leute das ganze Wirtschaftssystem kritisch sehen. ,,Vor kurzem las ich einen Post auf Instagram mit der Frage, ob man lieber hundert Jahre in die Vergangenheit oder hundert Jahre in die Zukunft reisen würde. Und alle Kommentare fragten: ,Wird es in hundert Jahren überhaupt noch Menschen geben?'", erzählt der 22-jährige Uni-Absolvent Haroon Faqir. ,,Das fasst die Leute in meinem Alter und ihre Einstellung zu den Problemen, die in einem kapitalistischen System vor uns liegen, gut zusammen."

Die 20-jährige Studentin Emily Harris aus London sagt, ihre größte Sorge sei, dass ,,es dann nicht einmal einen Planeten mehr gibt: Wir haben Jeff Bezos, der sich selbst in den Weltraum schickt, während in Las Vegas das Wasser ausgeht und die halbe Welt brennt. Wenn diese Milliardäre aufhören würden, Geld zu machen, könnten sie alle Probleme lösen und immer noch Milliarden auf der Bank haben."

Während die Mainstream-Medien wenig Sympathien für die Unsicherheiten und Wünsche der jüngeren Briten aufbringen, ist im Internet politische Bildung zu finden. Die Journalistin Chanté Joseph ist 25, was sie in der Grenzregion zwischen Millennial und Zoomer ansiedelt. ,,[Die Mikro-Blogging-Seite] Tumblr hat mich radikalisiert", erzählt sie. ,,Ich las dort über Rassismus, Identität und Klasse und dachte: ,Das ist alles verrückt.' Es hat mir die Augen geöffnet."

Viele in ihrer Generation seien zu Twitter und TikTok abgewandert, ,,wo junge Leute eine Menge politische Inhalte teilen, die wirklich persönlich und nachvollziehbar sind. Das ist der Grund, warum viele jüngere Leute sich radikaler fühlen – es scheint normaler zu sein, wenn diese Ideen auf eine Art und Weise erklärt werden, bei der man denkt: ,Wie kann man da anderer Meinung sein?'"

Mehr als ein Drittel der Arbeitnehmer mit Null-Stunden-Verträgen – die häufig von Woche zu Woche nicht wissen, wie viel Geld sie verdienen werden – sind unter 25. Viele andere sind ,,scheinselbständig", während sie doch einen Vertrag mit einem Arbeitgeber haben, nur dass ihnen Rechte wie Mindestlohn oder bezahlten Urlaub vorenthalten werden. Versprochen wurde ihnen, dass der freie Markt ihnen Freiheit bringt; tatsächlich geliefert wurde Unsicherheit.

Durch die Opfer, die viele junge Leute während der Pandemie gebracht haben, kristallisierte sich noch stärker ein Gefühl von Ungerechtigkeit heraus. Die 22-jährige Studentin Hannah Baird ist in Rotherham aufgewachsen und haderte schon immer mit dem Status Quo. Ihre Angst vor der Klimakrise und kritische Meinungen auf den Sozialen Medien verstärkten ihre Unzufriedenheit. ,,Während der Pandemie bekam man den Eindruck, dass junge Leute sehr stark für die Fallzahlen verantwortlich gemacht werden", erzählt sie. ,,Dabei zahle ich weiter die gleichen Studiengebühren, kriege dafür aber seit eineinhalb Jahren nur Online-Lehre. Das fühlt sich an wie eine Ohrfeige. Bei Lockerungsplänen scheinen die Unis auch immer als Letzte erwähnt zu werden. Generell kriegt man den Eindruck, die Regierung kümmert unsere Generation wenig, so als ob man uns vergessen würde."

Das bedeutet nicht, dass die junge Generation sich in überzeugte revolutionäre Sozialisten verwandelt hat. Aber von den Millennials, die Karl Marx kennen, sehen ihn die Hälfte positiv, im Vergleich zu 40 Prozent der Generation X und nur 20 Prozent der Babyboomer.

Auch in Schöne Welt. Wo bist du? – Millennial-Autorin Sally Rooneys neuestem Buch – ist nicht nur der Sex sexy. Einer der Charaktere im Buch denkt darüber nach, dass neuerdings alle über Kommunismus sprechen. ,,Als ich früher Marxismus ins Gespräch warf, wurde ich ausgelacht. Heute stehen alle darauf." Wahrscheinlich ist Marxismus nicht das Rückgrat der Sprüche in den neu belebten Nachtclubs in Newcastle oder Cardiff. Aber ohne Zweifel ist die Post-Kalter-Krieg-Jugend viel offener für diese von vielen rundweg abgelehnte Philosophie des 19. Jahrhunderts. Viele Jüngere hatten für die Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme Hoffnungen auf Jeremy Corbyn als Labour-Chef gesetzt; jüngste Umfragen zeigen, dass jüngere Labour-Wähler fast doppelt so wahrscheinlich glauben, dass er ein besserer Parteichef gewesen wäre als Keir Starmer.

Die meisten jungen Leute lesen keine radikale Literatur. Aber politisierte Zoomer und Millennials hinterlassen einen ideologischen Fußabdruck in ihren Freundeskreisen. Das heißt nicht, dass die Linke die beiden heranwachsenden Generationen als selbstverständlich nehmen und darauf warten sollte, dass die Demographie irgendwann automatisch den bisher nicht erreichten politischen Sieg bringt. Wie der Wirtschaftswissenschaftler James Meadway kürzlich in einem Artikel mit dem Titel ,,Die Generation Links ist vielleicht gar nicht so links" warnte, könnten sich auch rechtspopulistische Antworten auf die Desillusionierung der Jugend durchsetzen. In Frankreich etwa sind viele junge Menschen nach rechts gerückt. In Großbritannien sind auch nur wenige in der Altersgruppe Mitglied in einer der Gewerkschaften, die in der Vergangenheit dazu beitrugen, eine antikapitalistische Einstellung zu entwickeln. Zudem gibt es das Phänomen, dass sich bei vielen jungen Menschen mit linken Haltungen parallel auch einige traditionell rechte Einstellungen finden.

Die Reichen – in der Pandemie noch reicher geworden – wird keiner essen. Aber junge Leute sehen auch keinen rationalen Grund, ein System zu unterstützen, dass wenig mehr als Unsicherheit und Krise zu bieten scheint.



Aus: "Esst die Reichen!" (23.09.2021)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/esst-die-reichen-kapitalismus-sozialismus-millenials

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Holger Braun | Community

Klar die Leute unter 35 haben Nullahnung wie scheisse Sozialismus ist. Handy heute bezahlen und in 5 Jahren geliefert bekommen. Ich denke dann hat die Begeisterung schnell ein Ende. Ah, ich vergaß das war der falsche, real existierende Sozialismus, im richtigen wird das alles anders und besser. Aber mit dem richtigen Sozialismus ist es wie mit Godot.



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Quote[...] Welcher Berufstätige hat nicht schon einmal davon geträumt, mit einem "Ich kündige!" seinen Job einfach hinzuschmeißen? Immer mehr Amerikaner träumen nicht nur davon, sondern verlassen tatsächlich den regulären Arbeitsmarkt. Seit dem Frühjahr 2021 haben mehr als 33 Millionen freiwillig ihre Kündigung eingereicht, ein Phänomen, das hier als "Great Resignation" bekannt wurde. Viele suchen sich einen neuen, besseren Job. Denn die Wirtschaft in den USA ist trotz der hochansteckenden Virusvarianten Delta und Omikron seit dem vergangenen Herbst auf Erholungskurs und Arbeitgeber suchen dringend nach Bewerbern. Die Arbeitslosenquote lag im vergangenen Monat bei 3,8 Prozent – im Februar 2020, bevor die Pandemie die USA in eine Rezession schickte, hatte sie bei 3,5 Prozent gelegen.

Kaum ein Restaurant, Laden oder Fabriktor, an dem nicht ein "Help-Wanted"-Schild hängt. Auch in Schulen, Kindertagesstätten, bei Speditionen und in Lagerhallen – quer durch alle Branchen fehlt Personal wie nie zuvor. Die Zahl der offenen Stellen im Januar belief sich laut dem Bureau of Labor Statistics auf 11,3 Millionen, so viele wie noch nie. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ein Teil der Aussteiger offenbar keine Lust mehr auf eine reguläre feste Stelle hat. Ein Blick auf die Entwicklung der Erwerbsquote zeigt das, sie misst den Anteil der Erwerbstätigen und derjenigen, die eine Erwerbstätigkeit suchen, an der Bevölkerung im Alter über 16 Jahre. Sie ist um 1,1 Prozent geschrumpft. Demnach sind trotz des heiß gelaufenen Arbeitsmarkts immer noch 1,8 Millionen US-Bürger weniger in einem Angestelltenverhältnis als noch vor der Pandemie.

Ein großer Teil des Rückgangs der Erwerbsquote ist auf die über 65-Jährigen zurückzuführen. In den USA wollen oder müssen viele Ältere weiter arbeiten, doch angesichts von Covid-19, das vor allem für diese Altersgruppe gefährlich ist, bleiben viele offenbar lieber zu Hause.

Schwerer zu erklären ist der ebenfalls statistisch messbare Rückzug der Arbeitnehmer zwischen 45 und 54 Jahren und der jungen Generation zwischen 25 und 34 Jahren. Die "Great Resignation" verblüfft Ökonomen, Personalabteilungen und Medien. Bis vor Kurzem gehörte die Frage nach dem Job zu den wenigen Themen, die beim Smalltalk noch unproblematisch waren. "Hard working" zu sein, war ein großes Lob und etwas, dass Amerikaner anspornte. Doch jetzt erfreuen sich Internetforen wie der Subreddit "Antiwork" wachsender Beliebtheit. Das Motto des Forums lautet: "Arbeitslosigkeit für alle, nicht nur für die Reichen". Im Oktober waren dort 180.000 Nutzer gemeldet, heute sind es über 1,8 Millionen.

In ihren Beiträgen berichten Teilnehmer oft von ausbeuterischen und ungerechten Vorgesetzten. Etwa der Reddit-Forist, der sich ChknShtOutfit nennt, der für wochenlange Überstunden und Mehreinsatz als Belohnung eine Pizza spendiert bekam. Oder die Kellnerin, die schildert, wie der Restaurantmanager den einzigen Mann im Team befördert, der erst wenige Wochen dabei ist, statt eine der zwölf langjährigen weiblichen Angestellten. Zwar spielt die Bezahlung nach wie vor die größte Rolle bei Kündigungen. Doch die Gefühle, keine Chance auf Weiterentwicklung zu haben und schlecht behandelt zu werden, sind fast ebenso so wichtig, wie eine Umfrage des Pew Research Center ergab. Sogenannte "Idler" erklären in dem Forum, wie sie zwar immer noch angestellt sind, jedoch ihren Job im Leerlauf absolvieren und tatsächlich nur das Mindeste leisten, um nicht gefeuert zu werden.

Andere Foristen setzen statt eines festen Gehalts auf gig work – kurze Projekte oder Tätigkeiten als Selbständige und Subunternehmer. Es ist sicher kein Zufall, dass die Zahl der Selbständigen im Land 10 Millionen erreicht hat – rund 400.000 mehr als noch vor Covid-19. Die "Post Paycheck Economy", nannte das Wall Street Journal den massenhaften Abschied vom Gehaltsscheck kürzlich.

Doreen Ford, eine Pionierin der "Antiwork"-Bewegung, arbeitete jahrelang im Einzelhandel, bis die heute 30-Jährige sich entschied, stattdessen ihre Liebe zu Hunden auszuleben und ihren Lebensunterhalt als dog walkerin zu verdienen. Ford war eine der prominentesten Moderatorinnen des Subreddit "Antiwork" – bis sie im Januar dieses Jahres Fox News ein Interview gab, das der reaktionäre Sender unter der Schlagzeile "Der Krieg gegen Arbeit" laufen ließ.

Selbst Zuschauer, die Fords Einstellungen teilen, beschrieben das Livegespräch als einen "car crash", einen medialen Unfall. Ford, die sich selbst als autistisch bezeichnet, erschien schlecht ausgeleuchtet und nicht zurechtgemacht vor ihrer Computerkamera in ihrem unaufgeräumten Zimmer. Ihr Gegner – als Interviewpartner kann man den Fox-Moderator Jesse Watters wohl kaum bezeichnen – brauchte drei Minuten und 23 Sekunden, um sie auf die Karikatur einer faulen, einfältigen Vertreterin der Millennial-Generation zu reduzieren. Ihre Reddit-Gemeinde fühlte sich von ihr verraten und sie verlor ihre Rolle als Moderatorin. Das Forum wurde sogar kurze Zeit für die Öffentlichkeit gesperrt und war nur noch Mitgliedern zugänglich.

Doch Populisten wie Watters übersehen in ihrer Schadenfreude, dass
hinter Ford und anderen "Antiwork"-Teilnehmern ernstzunehmende Fragen an das herrschende Wirtschaftssystem stehen. So populär ist die "Antiwork"-Bewegung inzwischen, dass die Investmentbank Goldman Sachs in einer Analyse davor warnte, der Arbeitsmarkt könnte langfristige Folgen davon tragen. Zumal die Sinnkrise schon lange vor dem Ausbruch von Covid-19 begonnen hat. In seinem Buch Bullshit Jobs kritisierte der Anthropologe David Graeber 2018, bei einem Großteil der heutigen beruflichen Tätigkeiten handle es sich um sinnentleerte Beschäftigungen, die psychologisch schädlich seien. Graeber, der 2020 starb, war einer der Mitinitiatoren der "Occupy-Wall-Street"-Aktionen, die oberflächlich ohne langfristige gesellschaftliche Wirkung blieben. Vielleicht geht der Wunsch vieler Unternehmer, konservativer Politiker und Ökonomen in Erfüllung, dass mit der Pandemie auch die Revolte der amerikanischen Beschäftigten wieder einschläft. Aber es besteht die Chance, dass vor allem die Jüngeren sich nicht mit ein paar Dollar abspeisen lassen. Dass sie einen ganz anderen American Dream von Selbstbestimmung träumen.   



Aus: "Sie kündigen in Massen" Eine Kolumne von Heike Buchter, New York (21. März 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-03/anti-work-kuendigungen-usa-arbeitsmarkt-doreen-ford

QuoteÜlkü #4

"bei einem Großteil der heutigen beruflichen Tätigkeiten handle es sich um sinnentleerte Beschäftigungen"

Gerade die Pandemie hat gezeigt, worauf man alles verzichten kann. ...


QuoteKabeljau #23

Sinnentleerten Tätigkeiten und A*löchern als Vorgesetzte wollen immer mehr entfliehen.

Beides gab es früher auch schon, aber eine Gesellschaft der die Ziele anhanden gekommen sind fällt es schwer eine Begründung zu liefern, warum man das aushalten sollte.


Quoteherold69 #4.12

"Ein System, das auf einem unrealistischen Wachstumsmantra basiert und nur dann funktioniert, wenn andauernd neuer Schrott unter mehr oder weniger prekären Bedingungen produziert und konsumiert wird, ist langfristig eine Sackgasse."

Deshalb versucht man ja besonders in den USA dauernd mit disruptiven, skalierbaren Ideen noch ein bisschen was rauszukitzeln.
Aber irgendwann sind allen Dingen Grenzen gesetzt. Das wird nur immer wieder gerne verdrängt.



QuoteDarth Nihilus #5

Bei uns sind 15% der US Stellen unbesetzt. Das wird wirklich zum Problem. Wenn jemand neu kommt, ist er nach zwei Wochen wieder weg, weil die Konkurrenz 30% mehr Lohn bietet oder ein sattes Startgeld oder Fahrzeug, etc.
Unsere Nicht-US-Angestellten müssen Reallohnverluste hinnehmen und den US Kollegen zahlen wir 5% mehr. Leider ist der durchschnittliche Lohnanstieg in der Branche 9%. Da können mir nicht mithalten.

Und da unsere Konkurrenten bis zu 10x grösser sind (Boeing, GM, etc.) können wir auch kaum mit den immensen Investitionen in die Arbeitsplätze und Kultur mithalten. Beste Bürolagen, Armeen von Coaches und Freizeitaktivitäten.

Hier bildet sich gerade eine Mehrklassengesellschaft in der Wirtschaft heraus.


QuoteKaffebohne #5.1


Bei Hochqualifzierten ist das in der Tat so. Die sind rar und können sich aussuchen wohin sie gehen. Um die ging es im Artikel eher weniger. Der bezieht sich auf Geringverdienerjobs.


QuoteSalix babylonica #12

Ich habe als Selbständiger vor der Pandemie das dreifache verdient, aber auch dreimal soviel ausgegeben. Die 6-Tage-Woche war eigentlich der Standard, jetzt bin ich von Freitag bis Sonntag auf dem Land zum gärtnern. Ich fühle mich zehn Jahre jünger und viele gesundheitliche Probleme haben sich in Luft aufgelöst. Warum soll ich mich wieder ins Hamsterrad begeben, für das Finanzamt?


Quote________ #20

- "Arbeitslosigkeit für alle, nicht nur für die Reichen". (Zitat)

Das ist soziale Gerechtigkeit.


Quotedasisnichlinksdasislogisch #25

Antiwork und great resignation als begriffe zeigen schon, welches narrativ hier aufgebaut wird bzw der kapitalismus schon seit jahrhunderten in den usa pflegt ... die leute gehen einfach dahin wo es bessere arbeitsbedingungen gibt und ansatzweise faires gehalt gibt ...


Quotedasisnichlinksdasislogisch #25.1

aber einen sehr guten einblick vor allem in die arbeitswelt in den Usa gibt es hier:
https://www.reddit.com/r/antiwork/


QuoteResponsibleGambling #32

Man nehme einen neuen fetzigen Name und tue das gleiche wie vor 50 Jahren.
Siehe Kommunenbewegung der Hippies in den 70ern.


QuoteBananenkönig #35

Ich denke nicht, dass es hier im den American dream geht. Die Leute kündigen nicht weil sie reich werden wollen oder endlich das Haus haben wollen was ihnen immer versprochen wurde. Diese Resigmation ist nicht von Gier nach mehr oder Neid auf die Reichen getrieben sondern was die Menschen vor allem wollen, ist wenigstens nicht ärmer werden. Ob und wie ein Aufstieg möglich ist hat mit der Lebensrealität der meisten Leute nichts zu tun, denn die sind erstmal voll damit beschäftigt nicht ab zu steigen. Mit der Frustration niemals reich zu werden kan man leben. Die Frustration trotz Arbeitsverdichtung, zusätzlicher Jobs usw. trotzdem immer weniger Geld, geschweigedenn Vermögen, zur Verfügung zu haben ist hingegen auf Dauer nicht hinnehmbar.


QuoteAlbert Einhorn #36


»Die "Great Resignation" verblüfft Ökonomen, Personalabteilungen und Medien.«

Mich verblüfft daran lediglich, dass es so lange gedauert hat.
Auch die Reaktion der tankrabattierten Sektenangehörigen des Heiligen Wachstums™ vermag mich nicht zu verblüffen.

Exakt das meinten die US-Republikaner, als sie sagten, Menschen fürs 'Nichtstun' besser zu bezahlen, sei gefährlich und kommunistisch.

»Menschen gewöhnen sich daran, nicht zu arbeiten.« - Friedrich Merz
Die ganze Panik der Nutznießer von Millionen Bullshitjobs in einem Satz.
Autos zu Hunderttausenden auf Halde zu bauen ist zum Beipiel auch einer. Aber das merken die Betreffenden auch bald.


QuoteChapoloco #37

Reddit-Foren unterliegen oftmals einer Art Evolution. So auch das subreddit "Antiwork".
Ursprünglich war es wirklich dazu gedacht, Tipps zu geben, wie man mit möglichst wenig Arbeit ein gutes Leben führen kann.
Der heutige Tenor der User ist jedoch: Wir wollen Arbeiten, aber bitte nicht zu menschenverachtenden Bedingungen.
Die besagte Doreen ist eine Anhängerin der Ursprungsphilosophie, welche mit der aktuellen Bewegung nichts mehr zu tun hat.


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Quote[...] Die Debatte über die Frage, wie sinnvoll eine Gewinnabschöpfung bei staatsnahen Energiekonzernen ist, ist voll entbrannt. Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat sie mit der Ansage, bei Konzernen wie Verbund oder OMV die durch die Energiekrise entstandenen Zusatzgewinne abschöpfen zu wollen, in Gang gebracht. Nehammers Argument: "Zufallsgewinne bei Unternehmen mit staatlicher Beteiligung gehören dem Volk und nicht dem Unternehmen allein."

Von "fatalen Signalen" für künftige Investitionen aller Unternehmen in diesem Land spricht Eco-Austria-Chefin Monika Köppl-Turyna auf Twitter. Auch (teil)staatliche Unternehmen müssten "im Sinne der Eigentümer bzw. gewinnorientiert agieren". Auch die deutsche Wirtschaftswissenschafterin Dominika Langenmayr führt dort Argumente ins Treffen. Eines davon: "Fängt man einmal an, in Sondersituationen neue Steuern auf erfolgreiche Marktteilnehmer einzuführen, zerstört man das Vertrauen ins Steuersystem."

Solange den Unternehmen der in den Vorjahren übliche Gewinn bleibe und ganz klar sei, dass die Gewinnabschöpfung aus dieser einmaligen, außerordentlichen Situation hergeleitet werde, sehe er ökonomisch keine Probleme, sagt hingegen IHS-Ökonom Christian Kimmich zur APA. Juristische Probleme könnte es geben, wenn teilstaatliche Unternehmen anders behandelt werden als rein private, gibt Kimmich zu bedenken.

Am Kapitalmarkt herrscht hingegen Verwunderung bis Entsetzen. Von "brutal toxisch" bis "Vertrauen schwer beschädigt" ist bei vielen kapitalmarktnahen Personen die Rede – und von schwerem Schaden für den Finanzplatz Wien, sollte dies so umgesetzt werden. Schon am Tag der Ankündigung wollten viele Investoren nur noch raus aus den betroffenen Aktien, um jeden Preis.

Am stärksten betroffen war der Verbund, dessen Börsenwert sich binnen Minuten bei sehr hohen Handelsumsätzen wegen eines 13-prozentigen Kurssturzes um bis zu fünf Milliarden Euro verringerte.

Im Vorjahr betrug der Verbund-Gewinn 874 Millionen Euro. Heuer könnte er dank der Zusatzgewinne, auch "windfall profits" genannt, auf bis zu zwei Milliarden steigen. Warum? Der Stromerzeugung über die Wasserkraftwerke kostet nicht mehr, obwohl die Konsumentenpreise stark gestiegen sind. Das führt zu hohen Gewinnspannen. Allerdings übertrifft der durch die Kanzleraussage um fünf Milliarden verringerte Marktwert des Verbunds die abzuschöpfenden Erträge um ein Vielfaches – kein gutes Geschäft für das Volk. Der Verbund gehört zu 51 Prozent der Republik, inklusive der Beteiligungen an den Landesversorgern EVN, Wiener Stadtwerke und Tiwag sind etwa 80 Prozent im Eigentum der öffentlichen Hand.

Als "sehr negativ" und "irritierend" bezeichnet Alois Wögerbauer, Geschäftsführer der Fondsgesellschaft 3 Banken-Generali, den Vorstoß Nehammers. Dessen Ansicht, die Zusatzgewinne gehörten dem Volk, teilt Wögerbauer nicht: "Das stimmt so nicht." Man könne über vieles diskutieren, es gebe auch andere Möglichkeiten. Der Staat als Mehrheitsaktionär des Verbunds könne diese Gewinne auch über normale Ausschüttungen erhalten.

Der Großteil der Verbund-Dividenden bleibt ohnedies im Inland, 80 Prozent des Versorgers gehören der öffentlichen Hand. Vom 20-prozentigen Streubesitz dürften ein Viertel bis ein Drittel von inländischen Aktionären gehalten werden.

Wögerbauer sieht Nehammers Aussagen vorerst pragmatisch. "Wenn da nichts mehr kommt, ist das in drei Wochen Geschichte." Bei einer Umsetzung der Gewinnabschöpfung sei dies anders. "Dann wird es bei Unternehmen zu einem deutlichen Bewertungsabschlag führen, an denen der österreichische Staat beteiligt ist", warnt Wögerbauer.

"Solche politischen Ansätze sollten in ein Gesamtkonzept einfließen und ausdiskutiert werden", sagt Andreas Zakostelsky, Obmann des Fachverbands der Pensions- und Vorsorgekassen. "Ansonsten könnte dies den heimischen Kapitalmarkt viel an Vertrauen kosten und würde nicht dazu beitragen, den Finanzplatz Österreich für institutionelle Anleger wie uns attraktiv zu gestalten." Ihm zufolge veranlagen die heimischen Pensions- und Vorsorgekassen für rund fünf Millionen Menschen in Österreich rund 44 Milliarden Euro an Sozialkapital.

Lob erntete Nehammer vom Arbeiterkammer-Experten Markus Marterbauer: "Unerwartet, aber sehr erfreulich" sei der Kurswechsel des Kanzlers. Die Verlierer der Situation, die Energiekonsumenten, gehören seiner Ansicht nach entschädigt und im Gegenzug die Zusatzgewinne abgeschöpft – und zwar nicht nur bei Unternehmen mit staatlicher Beteiligung, sondern bei allen.


Aus: "Wem Zusatzgewinne gehören: "Brutal toxisch": Nehammers Gewinnabschöpfung für Energiekonzerne sorgt weiter für Debatten" Alexander Hahn, Regina Bruckner (9.5.2022)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000135536238/brutal-toxisch-nehammers-gewinnabschoepfung-fuer-energiekonzerne-sorgt-fuer-debatten

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NewSea, 8. Mai 2022, 21:32:07


Nur ja nicht armen Großkapitalisten etwas wegnehmen


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garfield11111

Blablabla.....

Welche Menschen interessiert das Gesülze um völlig imaginäre Unternehmens-Aktien-Werte, wenn sie plötzlich Probleme haben, die gesalzene Stromrechnung zu bezahlen?
Und dann noch dazu erfahren müssen, dass die Höhe der Rechnung, gerade in Österreich, eigentlich auf aus der Luft gegriffenen Regeln basiert.

Das ist nur Pfründensicherung in einem bereits völlig ausser Rand und Band geratenem Wirtschaftssystem, daß immer mehr zugunsten der Reichen ausgerichtet ist.


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Swiffer

Wie wäre es denn, wenn die lieben Kritiker hier, einfach selbst Aktionäre werden? ...


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jeff5

Die Energiekonzerne kommen unverdient auf Kosten der Konsumenten zu Milliardenextragewinnen und man soll darüber nicht nachdenken, was man tun soll?


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fizzzzzz

Der Stromerzeugung über die Wasserkraftwerke kostet nicht mehr, obwohl die Konsumentenpreise stark gestiegen sind.
Auf welcher Argumentation basiert dann die Preiserhöhung? Weils woanders auch teurer geworden ist?


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Vorstadt

Ein Windhauch von etwas mehr Gerechtigkeit kommt in Form einer Ankündigung auf und schon ist von Kommunismus die Rede. Und das wird auch noch der ÖVP unterstellt. Man lernt nie aus.


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sociovation

Toxisch ist vor allem die Propagandamacht der Konzerne

Auch aus diesem Artikel zu erkennen. Dabei ist wirtschaftwissenschaftlich längst belegt dass das hier betriebene "Rent-seeking" gesamtwirtschaftlich dysfunktional ist und nur der Vermögensmaximierung einer verschwindenden Minderheit dient. Mangels einer demokratisch wirksamen Medienlandschaft werden sie damit Erfolg haben und Wirtschaft und Demokratie im Sinne des Gemeinwohls sukzessive zerstören. Klima und Umwelt sowieso. Außer die 99% Mehrheit lernt sich zu wehren.


Quote
mx_

Verluste verstaatlichen
Gewinne privatisieren.
Was ist daran neu?


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Quote[...] 1,7 Milliarden Euro Gewinn hat Deutschlands – und auch Berlins – größter Vermieter Vonovia im vergangenen Jahr erzielt. Das freute insbesondere die Aktionäre, die sich über eine Rekorddividende von insgesamt fast 1,3 Milliarden Euro freuen konnten. Umgerechnet auf die 565.000 Wohnungen, die der Konzern besitzt, zahlte je­de:r Mie­te­r:in monatlich 190 Euro direkt an die Aktionäre. Quasi zum Dank hat der Konzern nun Mieterhöhungen in Aussicht gestellt.

Begründet hat Vonovia-Chef Rolf Buch das Vorhaben mit der Inflation. Liege diese ,,dauerhaft bei vier Prozent" – momentan ist es etwa doppelt so viel – ,,müssen Mieten dementsprechend ansteigen", so Buch.

... Die Mieten müssen nicht wegen der Inflation steigen, sondern werden angehoben einzig aufgrund des Strebens des Konzerns nach Maximalprofit – wie es einem Börsenunternehmen inhärent ist. Man kann das mit einem Schulterzucken quittieren oder als Beweis dafür sehen, dass wichtige Lebensbereiche nicht dem Kapitalismus überlassen werden dürfen.

...


Aus: "Politisches Versagen und Mietenwahnsinn: Bitte nicht, liebe Konzerne" Kommentar von Erik Peter (5.6.2022)
Quelle: https://taz.de/Politisches-Versagen-und-Mietenwahnsinn/!5858861/


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Quote[...] In ihrem kürzlich erschienenen Buch Frei – Erwachsen werden am Ende der Geschichte beschreibt die heute in London lehrende Politikwissenschaftlerin Lea Ypi so das Einkaufserlebnis im sozialistischen Albanien der Achtzigerjahre. Millionen Deutschen, die in der DDR aufgewachsen sind, dürfte das bekannt vorkommen. Vieles gab es gar nicht, anderes oft nur mit Wartezeit. Bei einem Trabant konnten schon mal 15 Jahre vergehen.

Dementsprechend gehörten die vollen Regale des Westens zu den größten Trümpfen während der Blockkonfrontation. Im Gegensatz zur Planwirtschaft lieferte die Marktwirtschaft zuverlässig ab und aus. Das hatte zwar buchstäblich seinen Preis, benötigte aber keine privaten Beziehungen. Brauchte es im Sozialismus allzu oft Vitamin B, gilt im Kapitalismus die Faustformel: Was man mit Geld nicht kaufen kann, kann man mit viel Geld kaufen.

Als Systemsiegerin über die sozialistische Mangelwirtschaft besteht das Kernversprechen der Marktwirtschaft deshalb vor allem in einem: volle Verfügbarkeit. Folglich kratzen Lücken im Sortiment aber auch an ihrem Ruf. Und derlei Lücken gab es in den letzten Jahren immer mehr. Wurde durch die Pandemie zunächst das Klopapier knapp, brachen sodann globale Lieferketten, iPhones kamen plötzlich nicht mehr so schnell bei den Käufern an, wie die es gewohnt waren. Die aktuelle Energiekrise könnte zu noch größeren Verwerfungen führen. Brauereien oder Papierhersteller fürchten Engpässe, schlimmstenfalls könnte mancherorts das Licht ausgehen und die Heizung kalt bleiben.

Das wäre zuvorderst ein existenzielles Problem für die Betroffenen. Es würde aber auch an den Grundfesten der Marktwirtschaft rütteln. Denn in ihr soll Mangel stets eine Sache individueller Verantwortung bleiben: Wenn du dir was nicht leisten kannst, musst du eben sparen oder mehr verdienen. Selbst wenn man diesen Mechanismus nicht als Ausweis von Leistungsgerechtigkeit sieht, sondern darin die große neoliberale "You can get it if you really want"–Lüge erkennt, muss man zumindest zugestehen: Sie funktioniert.   

In dem Moment jedoch, in dem der Mangel objektiv wird, die Produktion also selbst nicht hinterherkommt, avancieren leere Regale und Gasspeicher aus liberaler Warte zu Lücken, die der Teufel lässt. Denn dann kommt der Markt als Verteilungsmechanismus an seine massenpsychologischen Grenzen. Angesichts drohender "Jahre der Knappheit" (Christian Lindner) ließe sich theoretisch zwar fordern: Gas, Strom und Bier im Zweifelsfall nur für jene, die sich's leisten können. Doch wissen selbst Die-Hard-Liberale, dass sich das praktisch nicht mehr als Leistungsgerechtigkeit verkaufen ließe.

Das wiederum führt insbesondere die FDP in ein ideologisches Dilemma. Lehnt man dort die beiden alternativen Steuerungsmechanismen – dirigistische Eingriffe des Staates einerseits, moralische Appelle zur individuellen Verhaltensregulierung andererseits – doch gleichermaßen ab. Sie hat in den letzten Jahren die Warnung vor einer vermeintlichen Moraldiktatur medial so hochgejazzt, dass sie sich über Habecks Duschempfehlungen oder Kretschmanns Waschlappen-Lob geradezu zwangsläufig empören muss.

So haben sich Kubicki und Co. den aus liberaler Sicht eigentlich verträglicheren Weg verbaut, mit dem Mangel ideologisch umzugehen. Weil man moralische Verzichtsappelle ablehnt, muss man nun die einzig verbleibende Alternative, staatsdirigistische Eingriffe, mittragen. Das ist die paradoxe Pointe. Auch Liberale stimmen jetzt für das Heizverbot von privaten Schwimmbädern. Dass man sich auch mit viel Geld nicht mal mehr einen warmen Swimmingpool kaufen kann, dürften Teile der FDP-Kernklientel indes fast als Planwirtschaft empfinden. Aber so lange die Liberalen keine andere Antwort auf den Mangel haben, werden sie das bisschen Sozialismus wohl ertragen müssen. 


Aus: "Das Ende der Leistungsgerechtigkeit" Nils Markwardt (2. September 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-09/energiekrise-inflation-entlastungspakete-marktwirtschaft

QuoteKenan79 #31

Was sagen eigentlich die zusammengerechnet drei Milliarden Chinesen und Inder sowie die eine Milliarde Afrikaner zu den Luxusproblemen der Deutschen?
Sicher werden die keine Hilfspakete schnüren. Die werden doch aber sicher Mitleid äußern.


Quotejjkoeln #31.1

Klassisches "What about ..."


QuoteClimateJustice #2

Zum Problem generell: "In Deutschland ist der Ressourcenverbrauch laut UNICEF zu hoch: Für die dortige Lebensweise würden im Weltmaßstab 2,9 Erden benötigt."
https://www.tagesschau.de/ausland/unicef-ressourcen-verbrauch-101.html

Der deutschlandspezifische Overshoot Day war in diesem Jahr der 4. Mai:
https://www.umweltbundesamt.de/themen/erdueberlastungstag-ressourcen-fuer-2022-verbraucht


QuoteTatamei #2.5

... Der Ressourcenverbrauch steigt proportional mit dem Einkommen.


Quotedifferenziert #3

"Als Systemsiegerin über die sozialistische Mangelwirtschaft besteht das Kernversprechen der Marktwirtschaft deshalb vor allem in einem: volle Verfügbarkeit. Deshalb kratzen Lücken im Sortiment aber auch an ihrem Ruf. Und derlei Lücken gab es in den letzten Jahren immer mehr. Wurde durch die Pandemie zunächst das Klopapier knapp, brachen sodann globale Lieferketten, iPhones kamen plötzlich nicht mehr so schnell bei den Käufern an, wie die es gewohnt waren. "

Unter anderem nicht zu vergessen das Thema Babymilchpulver in den USA.
Ein so reiches Land kann/ konnte seine Säuglinge (jene die darauf angewiesen sind) nicht ernähren, aufgrund von monopolisierten Marktstrukturen. Wenn es nicht so traurig wäre... irre komisch. Analytisch gesehen als Symptom hoch interessant, aber keine Überraschung.


QuoteM.Aurelius #6

"Durch die Energiekrise drohen hierzulande immer mehr Knappheiten. Das rüttelt auch an den psychologischen Grundfesten der Marktwirtschaft."

Den Begriff "Markt" in einem Zusammenhang mit "Energie" zu erwähnen, zeugt von der Idealkombination aus Ignoranz und Inkompetenz. Ein Markt ohne hinreichende Konkurrenz hat so viel Substanz wie eine Fata Morgana und der Energiemarkt ist ungefähr so transparent wie London im Nebel.


QuoteKarmakarl #8

Die Mär vom ewigen Wachstum. Einst Verheißung, jetzt wohl eher Untergang.


Quoteschulzholger #15

Dies ist kein Artikel über Marktwirtschaft, dies ist eine Abrechnung des Autors mit der FDP.

Immerhin interessant, das er damit eigentlich implizit erklärt, das ausser der FDP keine andere Partei offen für die Marktwirtschaft ist.

In einer Marktwirtschaft bilden sich die Preise durch Angebot und Nachfrage. Die Idee dahinter ist das höhere Preise Menschen dazu motivieren ein Gut herzustellen oder Ersatzgüter anzubieten. Und umgekehrt, das Menschen wenn etwas zu teuer wird anfangen nach Ersatzprodukten zu suchen.


Quotemwasaa #17

"Leistungsgerechtigkeit" ist eh ein Witz. "Ungerechtigkeit durch Erben und Netzwerke" beschreibt die Realität viel besser.
Beispiel: meine Großeltern haben ihr Leben lang geschuftet, als Vertriebene und dann DDR-Bürger, aber vergleichsweise Pech gehabt und waren mütterlicherseits stolz darauf, sich die eigene Beerdigung bezahlen zu können, väterlicherseits dasselbe + ein etwas baufälliges Haus als finanzielle Lebensbilanz. Gleichalte auf der anderen Seite der Mauer erwarben durch eine ähnliche Leistung Haus, Auto(s), Auslandsurlaube und Pipapo + in einigen Fällen Unternehmen und Netzwerke, von denen dann die nach ihnen kommenden Familienmitglieder zehrten und zehren. Mit verschiedenem Ausmaß von Leistung hat das alles gar nichts zu tun.


QuotePI Circle #20

Im Vergleich zu den heutigen Marktskeptikern hatten die Sozialisten der Vergangenheit wengistens eine ausgearbeitete ökonomische Theorie - hat trotzdem nicht funktioniert.


QuoteEinfacher Bürger #36

Neo-Liberalismus stolpert nicht über eine temporäre Knappheit von Toiletten-Papier. Das ist Wunschdenken.

Der Neo-Liberalismus, der in großen Teilen der Welt längst zum Neo-Feudalismus mutiert ist, wird noch für lange Zeit gar nicht stolpern.

Warum?

Weil der Neo-Liberalismus in Wahrheit der Kampf "Reich gegen Arm" ist. Ganz bewußt in dieser Reihenfolge. Muss man ein Linker sein, um es so zu sehen? Definitiv nicht. Es reicht, die Welt nüchtern zu betrachten, wie z. B. der Multimilliardär Warren Bufett.

"There's class warfare, all right, but it's my class, the rich class, that's making war, and we're winning."

Frei übersetzt: Es läuft längst ein Klassenkampf, den wir Reichen begonnen haben - und wir werden gewinnen.

Warum hat er dummerweise recht? Weil die Politik, die eigentlich das gesamte Volk vertreten soll, nicht die Kraft (oder den Mut, oder das Interesse) sich mit diesen Leuten anzulegen. Als Stichworte seien nur mal Dinge genannt wie höherer Spitzensteuersatz für Höchstverdiener, Vermögensteuer, Übergewinnsteuer, Schließen von Steuerlücken und Trockenlegen von Steueroasen.

Nichts davon geschieht (wirklich). Ein bisschen Flickschusterei hier, ein bisschen Kosmetik da, aber nichts Substanzielles.

Der Neo-Liberalismus an sich ist also noch lange nicht in Gefahr, erst recht nicht global, aber die FDP als deren Speerspitze in Deutschland sehr wohl. Die 5%-Marke rückt immer näher. Nur, selbst wenn sie rausfliegt, bleibt immer noch die Union.


QuoteFliesenFriese #36.1

Neo-Liberalismus...
ist erstens ein Kampfbegriff der Linken.
Und zweitens ein Kompliment, wenn man mal nachdenkt.


QuoteEinfacher Bürger #36.2

Neo-Feudalismus ist Ihnen lieber?

Mir auch, denn er beschreibt viel treffender die Realität.

Neo-Liberalismus hat völlig zu Unrecht die Konnotation von "Freiheitskampf", dabei ist in Wirklichkeit nur die Freiheit der Reichen und Mächtigen gemeint, die anderen 99% der Menschheit, also auch Sie und mich, auszulutschen.

Wie das eben im Feudalismus auch war.


QuoteHerr-Bert #36.3

Nun Neoliberalismus ist eigentlich eine moderate Alternative zum Liberalismus – so wie er im 19. Jahrhundert praktiziert wurde. Leider gilt heute nur noch die Lehre von Friedman als die Wurzel des Neoliberalismus. Also die Denkschule, die hier in Deutschland immer noch maßgeblich unsere Wirtschaftspolitik beeinflusst, hat was gegen Monopole und feudale Strukturen. Sicher ist das nicht perfekt gelöst vielleicht noch nicht mal gut. Einiges sollte auch mal wieder in die Spur gebracht werden – aber einen Systemwechsel ? Alle anderen Systeme haben bisher augenscheinlich schlechter funktioniert.


QuoteFliesenFriese #36.4

Sorry - Ich lese auch aus Ihrem Nachfolge-Kommentar lediglich linken Hass, Leistungsneid und sozialistischen Populismus heraus.

Somit gibt es - zumindest bei diesem Thema - nicht zwischen uns zu diskutieren.


QuoteSerail #36.7

"Neo-Liberalismus ist erstens ein Kampfbegriff der Linken."

"Kampfbegriff" ist auch ein Kampfbegriff!

Wechselseitige Denunziationsformeln sind zwar Demarkationen politischer Gegner, entfalten aber sicher nicht den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" (Jürgen Habermas).


Quotedifferenziert #36.5

"Neo-Liberalismus ist erstens ein Kampfbegriff der Linken. Und zweitens ein Kompliment, wenn man mal nachdenkt."

Beides richtig, jedoch wird die neue Deutung des Begriffes immer mehr angenommen und verstanden.
Beschreiben wir ""Neo-Liberalismus" mit anderen Begriffen würde ich sagen: Radikaler Wirtschaftsliberalismus.


QuoteBirnenpflücker #38

Der Autor des Artikels hat eindeutig keine Ahnung, wenn er von Schlangen stehen in Albanien oder damaligen DDR spricht, vor allem, wenn er sagt; ,,das bisschen Sozialismus müssen nun alle ertragen". Daran erkennt man, dass er höchstwahrscheinlich nie in so einem System gelebt hat (außer darüber etwas gelesen). Es klingt so etwa nach dem Motto: ,,endlich können wir es den Kapitalisten zeigen! kein warmes Wasser im Pool! ...


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"IT-Business - Vorwurf: Amazon vernichtet weiterhin tonnenweise zurückgeschickte Neuwaren" (13. Oktober 2022)
Neue Untersuchung zeigt altbekannte Probleme. Greenpeace: An der Praxis hat sich seit Jahren wenig geändert – der Vorgang werde jetzt anders benannt ... Ob Laptop oder neue Schuhe, all das kann man bei vielen Anbietern bestellen und bei Nichtgefallen einfach wieder zurückschicken – und zwar kostenlos. Eine Praxis, die aber eine äußerst unerfreuliche Schattenseite hat: Viele dieser zurückgesendeten Produkte landen nämlich einfach im Müll. Das hat über die Jahre für viel Kritik gesorgt, allen voran am Branchenprimus Amazon. Also folgten Versprechen, dass Produkte, bei denen ein Weiterverkauf nicht möglich ist, gespendet oder recycelt werden sollen. In einzelnen Ländern gibt es mittlerweile gar Gesetze, die die massenhafte Vernichtung von neuwertiger Ware verhindern sollen – darunter auch in Deutschland. An der Realität scheint das aber wenig geändert zu haben. ...
https://www.derstandard.at/story/2000139922972/vorwurf-amazon-vernichtet-weiterhin-tonnenweise-zurueckgeschickte-neuwaren

Quotebella_e_saggia

Wenn Vernichtung billiger ist als anderweitig zu verwerten oder zu spenden, dann wird vernichtet. Amazon ist schließlich ein börsennotierter Konzern und keine Wohlfahrtsorganisation. ...


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Quote[...] Spätestens seit der Finanzkrise ist der Neoliberalismus zum Kampfbegriff geworden, mit dem wirtschaftliche und politische Fehlentwicklungen gebrandmarkt werden. Als er in den späten 1930er-Jahren entstand, sollte er totalitären Systemen entgegenwirken.


Januar 2021, Berlin-Moabit: Auf dem Carl-von-Ossietzky Platz haben sich etwa hundert Menschen für eine Demonstration versammelt. Sie wollen ihren Unmut gegen die Corona-Politik äußern. Neoliberal sei diese. ,,Ich gehe gegen Neoliberalismus auf die Straße, weil es für mich ein kapitalistisches System ist und eine ideologische Denkstruktur, die den Profit von großen wirtschaftlichen Unternehmen über das Wohl von Menschen stellt", sagt einer der Demonstranten. Außerdem stehe Neoliberalismus ,,für eine Individualisierung und Privatisierung, für mehr Polizei, für mehr Militär" und erhalte damit ,,kapitalistische, patriarchale und rassistische Strukturen" tagtäglich aufrecht. Darunter würden alle leiden.
,,Als neoliberal wird ja alles – in Anführungsstrichen – kritisiert, was Vorteile von Märkten betont, oder als neoliberal werden Dinge bezeichnet, die eigentlich Missstände sind und überhaupt nichts mit Marktwirtschaft zu tun haben – der Missbrauch von Marktmacht von irgendwelchen Konzernen in Schwellenländern und ähnliches mehr", sagt Clemens Fuest. Er berät als Leiter des ifo Instituts in München die Bundesregierung. ,,Natürlich ist das ahistorisch und das Ganze diskreditiert natürlich den Begriff liberal und Marktwirtschaft und Wettbewerb."
Fuest wird immer wieder als Neoliberaler bezeichnet und empfindet den Begriff als leer und nichts aussagend. ,,Für mich hat der historische Neoliberalismus in der Tat versucht, die Stärken des klassischen Liberalismus mitzunehmen, aber etwas zu lernen." Neoliberalismus im heutigen Sprachgebrauch als Kampfbegriff habe dagegen eine völlig andere Bedeutung. Es gibt politische Kampfbegriffe, die Gegner denunzieren sollen – aber die Überzeugten stehen dazu: ,,Kommunist!" Da sagen überzeugte Kommunistinnen und Kommunisten: Ja, das bin ich. Aber: ,,Neoliberaler!" – so will sich niemand bezeichnen lassen. Nicht einmal Friedrich Merz vom Wirtschaftsflügel der CDU.

,,Ich habe mich nie als Neoliberaler empfunden", betont er auch einer Pressekonferenz im Oktober 2018. ,,Das ist ein politischer Kampfbegriff geworden. Anders, als er ursprünglich mal von denen, die den Liberalismus in Deutschland formuliert haben, gedacht war. Deswegen habe ich mich von diesem Begriff auch immer distanziert."


Rückblick: Die Welt in den 1930er-Jahren. Hitler. Mussolini. Stalin. Franco. Salazar. Faschismus. Kommunismus. Diktaturen in fast allen europäischen Ländern. Die westlichen Demokratien sind in der Defensive.
In dieser Zeit versucht eine kleine Gruppe, eine Minderheit von Intellektuellen, den Liberalismus, der im 19. Jahrhundert eine so starke politische und gesellschaftliche Strömung war, wiederzubeleben, zur Überwindung des Totalitarismus ihrer Zeit. Sie setzen auf einen neuen, den Neo-Liberalismus.
Paris, August 1938: Auf Einladung des Ökonomie-Professors Louis Rougier treffen sich 26 Männer in Paris, im Institut International de Coopération Intellectuelle. In Sakkos und Anzügen sitzen sie in einem holzvertäfelten Raum mit langen, schweren Vorhängen vor den Fenstern.


Die Herren kommen aus verschiedenen europäischen Ländern und den USA. Krieg liegt in der Luft: Hitlerdeutschlands aggressive Politik bedroht den Weltfrieden. Die in Paris versammelten Herren sind überzeugt, dass nach der katastrophalen Weltwirtschaftskrise die Rückkehr zu einem echten Liberalismus die einzige Chance ist, um den Lebensstandard der breiten Masse zu verbessern und den Frieden zwischen den Nationen zu sichern. Dies ist die Geburtsstunde des Neoliberalismus.
,,Die Idee zu dem Kolloquium, das uns heute zusammenkommen lässt, entstand unter Freunden von Walter Lippmann aus einem gemeinsamen Gefühl der überragenden, ja der entscheidenden Bedeutung seines Buches ,The Good Society'." Mit diesen Worten begrüßt der französische Philosophieprofessor Louis Rougier die Gäste. Der amerikanische Journalist Walter Lippmann greift in seinem neuen Buch ,,The Good Society" Ideen auf, die zur selben Zeit auch in anderen Werken verbreitet werden. Die Pariser Zusammenkunft im Sommer 1938 ist als Walter-Lippman-Colloquium in die Geschichte eingegangen.


,,Das Buch von Walter Lippmann beweist auf überzeugende Weise, dass Sozialismus und Faschismus zwei Sorten derselben Spezies sind", schreibt dazu Louis Rougier. ,,Beide gehen sie von der verbreiteten Überzeugung aus, dass es möglich ist, eine gerechtere, sittlichere und wohlhabendere Gesellschaft zu schaffen, wenn die auf Privateigentum und dem Markt-Preis-Mechanismus basierende Marktwirtschaft ersetzt wird durch eine Planwirtschaft."
Sowohl Sozialismus als auch Faschismus, so Louis Rougier, würden das Gesetz von Angebot und Nachfrage und den Besitz privater Produktionsmittel durch eine staatliche Planwirtschaft ersetzen wollen. Eine Planwirtschaft führe aber zu Zwangsarbeit und Mangel und könne einer Gesellschaft keinen hohen Lebensstandard ermöglichen. Stattdessen brauche es den Liberalismus, nicht Kollektivismus und Planwirtschaft.


Der Kollektivismus ist für Rougier entscheidend, die Unterschiede zwischen Sozialismus und Faschismus spielen für ihn keine Rolle. ,,Weit entfernt davon, sittlicher und vernünftiger zu sein, kann eine solche Volkswirtschaft nur eine blinde, willkürliche und tyrannische Wirtschaft sein, die zu einer riesigen Verschwendung wirtschaftlicher Güter und einer Verschlechterung des Lebensstandards der Massen führt", schreibt er. Statt Planwirtschaft brauche es Marktwirtschaft. Und die funktioniert über die Preisbildung. Der Markt-Preis-Mechanismus ist ein zentrales Thema, über das beim Lippmann-Kolloquium debattiert wird.
Katrin Hirte ist Soziologin an der Universität Linz. Sie erklärt den Kerngedanken der Ökonomen, die im Sommer 1938 in Paris dem Liberalismus neues Leben einhauchten: die Idee, dass sich Käufer und Verkäufer auf Märkten treffen und dort auf Preise reagieren. ,,Die Preise sind das Signal. Das kann man sich auch sehr gut vorstellen. Wenn jemand in den Medien sagen würde, morgen oder übermorgen gibt es keine Butter mehr, würden alle Butter kaufen. Die Butter wäre alle und in dem Moment, wo sie alle ist, die Nachfrage sehr intensiv und sehr hoch ist, würde dann faktisch der Anbieter der Butter reagieren können."
Die Anbieter würden aufgrund der hohen Nachfrage die Preise der Butter erhöhen. Nicht der Staat legt nach neoliberaler Vorstellung die Preise fest, sondern der Markt bestimmt durch Angebot und Nachfrage die Preise. Mit der Knappheit steigt oder fällt der Preis. ,,Und dadurch wird auch entschieden, was produziert wird und wieviel produziert wird und auch für wen", erläutert Hirte. ,,Das ergibt sich faktisch wie von alleine."

Der Staat soll nicht künstlich einen niedrigen Butterpreis erzwingen, damit sich auch arme Menschen Butter leisten können. Stattdessen entscheidet der Markt, welchen Preis die Butter hat. Wenn die Nachfrage hoch ist, dann steigt auch das Angebot, und der Preis sinkt wieder. So sorgt der Markt dafür, dass ein bestimmtes Produkt vermehrt produziert wird, weil es knapp und teuer ist. So reagiere die liberale Marktwirtschaft viel besser auf die Bedürfnisse in der Bevölkerung als jede Planwirtschaft. Das ist das Credo der Ökonomen beim Walter Lippmann-Kolloquium 1938 in Paris. Wie weit dieses ökonomische Prinzip in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens anwendbar ist: Diese Frage spielt in der Geburtsstunde des Neoliberalismus noch keine Rolle.
,,Neoliberales Denken bedeutet aber auch die Vorstellung, die kam aber auch erst dann in den Siebzigerjahren auf, dass alles so funktionieren könnte", so Hirte. ,,Auch unsere Krankenhäuser könnten so funktionieren, unsere Schulen könnten so funktionieren, die Polizei könnte so funktionieren. Das ist dann schon wirklich radikaler Neoliberalismus."


So weit gehen die Vordenker des Neoliberalismus 1938 nicht. Im Gegenteil: Der Staat hat für sie eine wichtige Funktion. Er soll garantieren, dass es einen freien Markt gibt, auf dem sich Käufer und Verkäufer überhaupt erst treffen können, um nach den Prinzipien von Angebot und Nachfrage Preise auszuhandeln.
Damit dieser Wettbewerb entstehen kann, muss Eigentum geschützt werden, Verträge müssen eingehalten und Währungen stabilisiert werden. All das sind Aufgaben des Staates. Auf dem Lippmann-Kolloquium unterstreicht der französische Philosoph Louis Rougier diesen Aspekt. ,,Das zweite Verdienst von Walter Lippmanns Buch ist es, gezeigt zu haben, dass das liberale System nicht bloß das Ergebnis einer natürlichen, spontan entstehenden Ordnung ist", so Rougier. ,,Sondern, dass es ebenso das Ergebnis einer Rechtsordnung ist, die einen gesetzlichen Interventionismus des Staates voraussetzt. Das Wirtschaftsleben entfaltet sich innerhalb eines rechtlichen Rahmens, der das System von Eigentum, Verträgen, Währung- und Bankwesen etabliert."
Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre hatte zu hoher Arbeitslosigkeit und sozialem Elend geführt. Ohne ausreichende Sozialversicherung waren viele Arbeitslose auf sich selbst gestellt. Die Idee des sogenannten Laissez-faire-Liberalismus, in dem der Markt ohne staatliche Regulierung zu einer erfolgreichen Gesellschaft führt, war gescheitert, und viele kehrten dem Liberalismus den Rücken.

1938 versuchen die Intellektuellen des Lippmann-Kolloquiums den Liberalismus neu – neo – zu definieren und von einem nicht-regulierten Laissez-faire-Liberalismus abzugrenzen. Dieser neue Liberalismus zeichnet sich nach Rougier und Lippmann durch ein klares staatliches Regelwerk aus, innerhalb dessen der Markt frei agieren kann. ,,Liberal zu sein bedeutet nicht, wie beim ,Manchester'-Liberalismus, Autos in alle Richtungen fahren zu lassen, wie sie wollen, was zu Staus und unendlich vielen Unfällen führen würde", betont Rougier. ,,Es bedeutet nicht, wie ein ,Planer' für jedes Auto seine Startzeit und seinen Weg vorzuschreiben. Vielmehr bedeutet es, einen Code de la Route vorzuschreiben und dabei anzuerkennen, dass ein solches Regelwerk im Zeitalter schneller Transportmittel nicht zwangsläufig so aussehen wird wie zur Zeit der Postkutschen."


Der Staat soll die Wirtschaft nicht planen, nicht aktiv in die Wirtschaft eingreifen, er soll nur den Rahmen festsetzen. Der Staat bestimmt die Verkehrsregeln, sodass alle Autos frei fahren können. Er bestimmt das Regelwerk des freien Marktes. ,,Das Bild, das hier immer wieder Verwendung findet, ist das Bild vom Schiedsrichter", sagt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher. ,,Ein Schiedsrichter, der nicht selbst aktiv ins Spielgeschehen eingreift und auch nicht eingreifen darf natürlich, der aber eben unparteilich und geradezu stoisch eben die Regeln durchsetzt, die für die Märkte gelten sollen."
Eine entscheidende Frage ist: Wie entstehen die Regeln? Der Schiedsrichter habe damit natürlich wenig zu tun, sagt Biebricher. ,,Das wirft ein bezeichnendes Licht auf das neoliberale Denken. Die sich nämlich dafür sehr wenig interessieren, also inwieweit das auf demokratische Weise zustande kommt, dieses Regelwerk. Was denn überhaupt passiert, wenn die Spieler auf dem Spielfeld sagen: Die Regeln passen uns aber eigentlich gar nicht. Dann würde man bei einem normalen Spiel einfach aufhören zu spielen." Aber das gehe eben nicht so einfach. Der Staat soll durch Regeln und Gesetze einen Rahmen definieren, innerhalb dessen Wettbewerb funktioniert. Es ist die Ironie der Geschichte, dass mit Neoliberalismus heute oftmals Deregulierung verbunden wird, während der Ausgangsgedanke die staatliche Durchsetzung von Regeln war.


Das Kolloquium in Paris ist die Geburtsstunde des Neoliberalismus. Weitere Treffen sind angesetzt. Doch dann erschüttert der Zweite Weltkrieg die Welt. Erst im April 1947, neun Jahre nach Paris, gibt es in der Schweiz ein Wiedersehen.
Dieses Mal lädt der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek ein. Hayek wird eine Schlüsselfigur in der Entwicklung des Neoliberalismus. Trotz der Wirren des Krieges hatte er viele Kontakte behalten und Netzwerke aufgebaut.
36 Wissenschaftler kommen 1947 zusammen und gründen an dem Schweizer Berg Mont Pelerin die Mont Pelerin Society. Es ist die zweite Geburt des Neoliberalismus. ,,Die Mont Pelerin Society versuchte, einerseits das Projekt, das mit den Worten des Lippmann-Kolloquiums begonnen hatte, fortzuführen, eine Vernetzung von internationalen liberalen Kräften und intellektuellen Denkern und auch durchaus Politikern", sagt Thomas Biebricher. Das sei auch vor dem Hintergrund der Sorge geschehen, ,,dass es in der Nachkriegszeit großen Auftrieb für im weitesten Sinne sozialistische, sozialdemokratische Vorstellungen in Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt".


Während Intellektuelle wie Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises oder Wilhelm Röpke bereits beim Lippmann Kolloquium 1938 dabei waren, kommen andere neu dazu – wie der US-amerikanische Ökonom Milton Friedman. ,,Es war das erste Mal, dass ich in Übersee war, das erste Mal, dass ich Ökonomen und andere Wissenschaftler aus anderen Ländern traf", erinnert er sich später. ,,Das Treffen wurde organisiert, weil zu diesem Zeitpunkt die Zahl der Menschen auf der ganzen Welt, die Anhänger der Freiheit und einer klassischen liberalen Sichtweise der menschlichen Gesellschaft waren, sehr gering war und sie überall als kleine Minderheit belagert wurden." Das ist das Gefühl der Neoliberalen 1947. Die Mont Pelerin Society ist eine geschlossene Gesellschaft. Mitglieder werden eingeladen und vorgeschlagen.
Aus diesem Gefühl, einer wissenden Elite anzugehören, ziehen sie Kraft, erklärt die Ökonomin Katrin Hirte. ,,Es war eine Gesellschaft der Vordenker, so verstand man sich, wortwörtlich sogar: der besseren Bürger, die ihr Denken in die Welt tragen, die von vornherein davon überzeugt sind, dass sie das bessere Denken haben, und das bessere Denken war genau dies: Gesellschaften nach diesem Marktmechanismus zu organisieren mit der Vorstellung, dass man damit faktisch neu die Gesellschaft infizieren muss mit diesem Denken."


Der strategische Kopf ist Friedrich August von Hayek. Er habe etwa 20 bis 30 Jahre dafür veranschlagt, dass sich erste Erfolge einstellen, so Hirte. Dafür sollten ganz gezielt Organisationen und Netzwerke aufgebaut werden. ,,Man nennt das Denkfabriken, indem man gezielt an dieser Vision arbeitet, diese ausformuliert und gute Argumente findet, um eben die anderen zu überzeugen – und dieses Wissen dann zu streuen in die sogenannten Second Hand Dealers, die dann dieses Wissen weiterverbreiten." Zum Beispiel Journalisten, Wissenschaftler, Politiker. ,,Das war das Grundkonzept von Hayek."
Aber selbst Hayek scheut davor zurück, sich selbst als Neoliberaler zu bezeichnen. ,,In der Anfangszeit in den 40er-, 50er-Jahren hängt es auch damit zusammen, dass es eine Zurückhaltung gibt, sich überhaupt als liberal zu bezeichnen", betont Biebricher. Denn in der Nachkriegszeit habe insgesamt eine skeptische Stimmung gegenüber Kapitalismus, Marktwirtschaft und Wirtschaftsliberalismus geherrscht.


Die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Sowjetkommunismus mit seiner Planwirtschaft als Gegenmodell zum liberalen Kapitalismus breitet sich in Europa aus, und im Westen hat die Idee eines starken Sozialstaats Konjunktur, der Keynesianismus, benannt nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Nach ihm soll der Staat in die Wirtschaft eingreifen, um das erklärte Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen. Besonders in Krisenzeiten soll der Staat die Nachfrage ankurbeln, indem er Geld in die Hand nimmt und investiert. ,,Was die Mont Pelerin Society eint schon zu Beginn und auch darüber hinaus, ist sicherlich das ganz klare Bekenntnis zu marktwirtschaftlichen Vorstellungen im weitesten Sinne, eben auch gerade in Frontstellung gegenüber dem Sowjetkommunismus, aber auch zunehmend Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit, Keynesianismus", so Biebricher. ,,Da ist man schon sehr stark auf einer Linie."
Doch bei dem Treffen 1947 kommt man nur zu einer sehr vage gehaltenen gemeinsamen Abschlusserklärung. Die schon im Lippmann-Kolloquium 1938 erkennbaren unterschiedlichen Positionen werden noch stärker sichtbar. Wie stark soll der Staat eingreifen, um Wettbewerb zu garantieren?


Beginn habe es noch diese Vorstellung gegeben, dass es eben eine Wettbewerbsordnung braucht und allgemeine Ordnungen für die Märkte, meint Biebricher. ,,Aber die amerikanischen und britischen Kollegen werden es über die Jahre hinweg immer weniger so sehen. Da zeigt sich dann doch ein sehr deutlicher Konflikt über die Zeit hinweg." Nach Ansicht von Katrin Hirte geht es um mehr als nur um wirtschaftswissenschaftliche Konzepte. Die Diskussionen spielen sich auf einer philosophischen Ebene ab. Es gehe um die Kernfrage, ob ein Mensch per Vernunft die Vielfalt aller ökonomischen Vorgänge beeinflussen könne oder nicht. ,,Das ist die Kernfrage gewesen und da unterscheiden die sich. Also, wenn der Markt gut funktioniert, kommt der soziale Charakter des Marktes von allein. Das heißt, es gibt keine Krisen, es gibt keine Überhänge, es gibt keine Arbeitslosen. Und das ist die Sozialität des Marktes, die die Ordoliberalen im Visier hatten und nicht einen Ausgleich auf ökonomische Prozesse und ihre unintendierten Folgen, also nicht gewollten Folgen, wie zum Beispiel eben Arbeitslosigkeit."
In Abgrenzung zu ihren angelsächsischen Kollegen nennen sich seit der Nachkriegszeit die westdeutschen Neoliberalen: Ordoliberale. Die Ordoliberalen versammeln sich in der Freiburger Schule um Walter Eucken und um Alfred Müller-Armack, dem Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft. Zu den wichtigsten politischen Vertretern gehört Ludwig Erhard, der westdeutsche Wirtschaftsminister der Nachkriegsjahre. Bei einem Treffen mit Hayek soll er den berühmten Satz gesagt haben: "Ich hoffe, dass Sie mich nicht missverstehen, wenn ich von einer Sozialen Marktwirtschaft spreche. Ich meine damit, dass die Marktwirtschaft als solche sozial ist, nicht, dass sie sozial gemacht werden muss."


Der Markt als solcher ist sozial. Wenn er richtig funktioniert, braucht es keinen sozialen Ausgleich. Ist das die Position der deutschen Ordoliberalen? Brigitte Young widerspricht. Ihrer Meinung nach gibt es zwar eine gewisse Naivität der frühen deutschen Neoliberalen, aber sowohl Walter Eucken als auch Alfred Müller-Armack wollten den sozialen Ausgleich. ,,Da war einerseits diese Gläubigkeit, also eine naive Gläubigkeit, wenn man diesen Rahmen hat und einen freien Wettbewerb hat, dass man dann auch die sozialen Probleme lösen könnte." Gleichzeitig hätten aber beide gesagt, ,,es kann zu Verwerfungen kommen und da braucht man das Soziale".
Es ist umstritten, was genau mit dem Sozialen in der Sozialen Marktwirtschaft und der Vorstellung der deutschen Neoliberalen, der Ordoliberalen, gemeint ist. Es gibt zum einen die These, dass der durch eine Wettbewerbsordnung regulierte Markt schon sozial ist. Gleichzeitig sprechen sich Walter Eucken und andere Ordoliberale für bestimmte sozialstaatliche Instrumente wie etwa ein Versicherungswesen aus, das in der Marktwirtschaft Risiken der Menschen absichert. Die Grundlinie aber bleibt: Das wichtigste sind funktionierende Märkte.


Ein Konflikt besteht laut Thomas Biebricher vor allem in der Frage nach Monopolen. Vor allem hierfür bräuchte es die Wettbewerbsordnung, um Marktmacht zu verhindern – auf der Seite von Unternehmen und von Gewerkschaften.  ,,Und da muss der Staat eingreifen und ist eigentlich beständig aufgefordert, das im Blick zu haben und einzuschreiten in dem Moment, wo diese Machtzusammenballung entsteht." Das sehe man im amerikanischen Neoliberalismus ,,sehr, sehr, sehr anders".
Zwischen einigen Ordoliberalen und Hayek kommt es in den 1960er-Jahren zum Streit. Gründungsmitglieder wie Wilhelm Röpke verlassen die Mont Pelerin Society. Brigitte Young vertritt deshalb die Position, dass es zwei Neoliberalismen gebe. Der Neoliberalismus des Walter-Lippmann-Kolloquiums 1938 habe sich von der Vorstellung eines nicht regulierten, freien Marktes des 19. Jahrhunderts abgegrenzt und eine staatliche Ordnung gefordert, die Monopole und Marktmacht verhindert und soziale Grundsicherungen zur Verfügung stellt.
An dieses ursprüngliche Konzept des Neoliberalismus hätten vor allem die deutschen Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft angeknüpft. Demgegenüber befürworte der angelsächsische Neoliberalismus einen nicht-regulierten, freien Markt wie im 19. Jahrhundert.  ,,Der 30er-Jahre-Neoliberalismus hat sich nicht durchgesetzt. Und die Mont Pelerin Society ist vielmehr dann zurückgegangen, obwohl sie den Begriff Neoliberalismus verwendet haben, ist das eigentlich ein Begriff, der viel mehr zu tun hat mit dem Manchesterkapitalismus, mit dem Laissez-faire. Das ist das wichtige daran! Deshalb: Es gibt zwei Neoliberalismen."
Den regulierten Neoliberalismus der Gelehrten auf dem Lippmann-Kolloquium 1938 und den später vorherrschenden Neoliberalismus, der systematisch gegen Regulierungen vorgeht. Katrin Hirte und Thomas Biebricher dagegen sprechen von unterschiedlichen neoliberalen Spielarten mit einem gemeinsamen Kern: Neoliberalismus zeichne sich demnach, erstens, durch das klare Bekenntnis zu einer Marktwirtschaft aus, in der durch Wettbewerb Preise festgelegt werden. Zweitens, durch einen Staat, der in Gesetzen und Verfassungen die Grundlage für Wettbewerb schafft, ohne dass der Staat aktiv in die Wirtschaft eingreift und drittens seien die gemeinsamen Gegner des Neoliberalismus Kollektivismus und ein umfangreicher Wohlfahrtsstaat.


In den 1950er- und 1960er -Jahren sind die Neoliberalen Außenseiter. International vorherrschend ist die keynesianische Idee eines intervenierenden Staates, der für Vollbeschäftigung und wirtschaftlichen Aufschwung sorgen soll. Doch die neoliberalen Theoretiker kämpfen darum, dass sich ihre Ideen verbreiten.
In den 50er- und 60er -Jahre sei die Vernetzungsarbeit des internationalen Neoliberalismus weitergetrieben worden, sagt Biebricher. Insbesondere der britische Unternehmer Anthony Fisher, Mitglied der Mont Pelerin Society und glühender Verehrer von Hayek, macht es sich in den 1960er-Jahren zur Aufgabe, liberale Institute zu gründen: das Institute of Economic Affairs, 1955, das Fraser Institut in Vancouver, das International Center of Economic Policy Studies in New York, das Pazifik Institut für Public Policy in San Francisco. ,,Und so geht es dann immer weiter", meint Katrin Hirte.
Anfang der 1980er-Jahre gründet Fisher die Atlas Economic Research Foundation. Ihre Aufgabe ist es, weitere liberale Denkfabriken zu gründen und zu vernetzen. Nach eigenen Angaben unterstützt die Atlas Foundation heute rund 500 marktliberale Thinktanks. Durch die Veröffentlichung von Analysen, Artikeln und Statements tragen diese Denkfabriken ihre Positionen in die Öffentlichkeit.
Die Neoliberalen wissen in den 1950er- und 1960erJahren, so Thomas Biebricher: ,,Im Moment ist unsere Zeit noch nicht gekommen. Aber wenn sie dann eben kommt, dann müssen wir bereit sein. Und diese Arbeit, diese Vorbereitungszeit, diese Vorbereitungsarbeit muss jetzt getan werden."


Dieser Moment kommt, als 1973 die Allende-Regierung in Chile gestürzt wird. Mit Hilfe des US-Amerikanischen Geheimdienstes CIA stürzen Militärs den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende.
Unter der Militärherrschaft wird Chile das erste Land, in dem der Neoliberalismus als realpolitisches Projekt ausprobiert wird, nach Konzepten von Schülern Milton Friedmans von der University of Chicago, den sogenannten Chicago Boys. ,,Die allgemeine Stoßrichtung ist eine radikale Privatisierung all dessen, was der Staat besitzt", betont Biebricher. Grundsätzlich. ,,Aber auch von sozialstaatlichen Leistungen, also Privatisierung von Rentensystem beispielsweise, im Bildungsbereich, massive Privatisierungsmaßnahmen und damit verknüpft eben auch eine wirklich sehr repressive Haltung gegenüber Gewerkschaften, wo es wirklich Verfolgung einfach und Ermordung von vielen Menschen, aber eben auch gerade von Angehörigen von Gewerkschaften gibt, die da eben als Hindernis gesehen werden. Und von daher wirklich ein sehr repressiver und sehr autoritärer logischerweise Neoliberalismus, der sich da vollzieht."
Die Reformen werden in einer neuen Verfassung festgehalten. Die neue Verfassung, erstellt in einer brutalen Militärdiktatur, wird ironischerweise ,,Verfassung der Freiheit" genannt – 1960 hatte Hayek ein Buch mit eben diesem Titel veröffentlicht. Die Folge der Wirtschaftspolitik ist eine steigende Ungleichheit im Land.  ,,Die Rolle von Chile kann man schon so definieren, dass es hier ein Experiment gibt", so Thomas Biebricher. ,,Man könnte sagen, wenn es auch leicht menschenverachtend klingt, das ist sicher so eine Art Laborversuch, inwieweit es wirklich möglich ist, diese Art von radikalen Reformen durchzuziehen – und wie die Wirkung aussehen wird."


,,Es könnte durchaus sein, dass künftige Historiker die Jahre 1978 bis 1980 als einen revolutionären Wendepunkt in der globalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte interpretieren", schreibt der Sozialtheoretiker David Harvey 2007 in seinem Buch ,,Die kleine Geschichte des Neoliberalismus".  1978 unternimmt Deng Xiaoping in China die ersten Schritte zur Liberalisierung der kommunistischen Volkswirtschaft. 1979 wird Margaret Thatcher in Großbritannien zur Premierministerin gewählt, ein Jahr später Ronald Reagan in den USA zum Präsidenten.
Die Zeit der hohen Wachstumsraten der Nachkriegsjahre ist vorbei. Das abnehmende Wirtschaftswachstum und hohe Inflationsraten – in Großbritannien 17 Prozent im Dezember 1979 – führen dazu, dass neue politische Antworten gesucht werden.


,,Wir sprechen von Thatcherism und wir sprechen von Reaganomics oder Reagan-Revolution", sagt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher, der sich intensiv mit dem Neoliberalismus auseinandergesetzt hat. ,,Tatsächlich ist es so, dass es etwas unterschiedliche Strategien in beiden Fällen gibt, aber die doch eine ganz klare neoliberale Handschrift zeigen."
Während zuvor nur eine kleine Minderheit von Intellektuellen neoliberale Ideen vertrat, erlangen diese Ende der 1970er-Jahre politische Bedeutung. ,,Die Inflation stieg. Das heißt, wenn die Inflation steigt, wird das Geld weniger wert und man kann sozusagen weniger dafür kaufen", sagt Julia Rischbieter. Die Historikerin und Juniorprofessorin forscht an der Universität Konstanz zu Inflation und Schulden. ,,Und unter diesen Bedingungen geriet der Keynesianismus in die Kritik, weil diese Nachfragepolitik hier keinerlei Erfolg hatte."


Nachfragepolitik: Vorher hatte der Staat versucht, die Wirtschaft durch immer höhere Löhne und staatliche Konjunkturprogramme anzukurbeln. Doch statt zu weiterem Wachstum kommt es jetzt zu steigender Inflation. Zwar widersprechen Anhängerinnen und Anhänger des Keynesianismus, dass die Nachfragepolitik allein für die Inflation verantwortlich ist und verweisen auf steigende Preise etwa durch die Ölkrisen. Fakt ist: Der Keynesianismus gerät Anfang der 1970er-Jahre in eine Krise.
Damit öffnet sich ein Möglichkeitsfenster für Theorien, die bis dahin politisch kaum beachtet worden waren. Die Gelehrten, die 1938 in Paris den Liberalismus durch einen Neoliberalismus neu beleben wollten und 1947 mit der Mont Pelerin Society einen neuen Anlauf unternahmen, haben Netzwerke in der Wissenschaft und Publizistik gesponnen. Politisch aber haben sie bisher nur Experimentierfelder erobert – Chile, Argentinien, Militärdiktaturen. Nun aber schlägt ihre Stunde, die Stunde des Neoliberalismus.
Kernelemente sind Steuersenkungen, die vor allem Wohlhabenden zugutekommen, geringe Sozialstaatsausgaben und: unabhängige Zentralbanken. Zentralbanken sind dafür verantwortlich, für Staaten Geld zu drucken und einen Überblick über die Geldmenge zu behalten, die im Umlauf ist. Umstritten ist, wie viel Einfluss die Politik auf die Zentralbank nehmen soll. Während nach keynesianischer Auffassung Zentralbanken, wenn es politisch gewollt ist, mehr oder weniger Geld zur Verfügung stellen können, widersprechen neoliberale Ökonominnen und Ökonomen.


Zentralbanken sollen nach ihrer Vorstellung politisch unabhängig sein. Sie sind allein für eine geringe Inflation, also stabile Preise und Zinsen zuständig – unabhängig von politischen Wünschen, oder, wie Milton Friedman es ausdrückt: den ,,täglichen Launen politischer Autoritäten". Wenn dabei die Arbeitslosigkeit steigt, wird das als notwendiges Übel verstanden, um die Ökonomie auf einen langfristigen Wachstumskurs zu bringen. ,,Und diese Zentralbank sollte darüber, dass sie eine bestimmte Geldpolitik macht, sozusagen im Hintergrund die Wirtschaft lenken", so Rischbieter. Sie sollten politisch unabhängig sein.
1979 wird Paul Volcker Vorsitzender der US-Amerikanischen Zentralbank, der Federal Reserve. Er habe sich an Milton Friedman orientiert, sagt die Ökonomin Rischbieter. Als Mittel gegen die hohe Inflation erhöht die amerikanische Zentralbank die Zinsen. Plötzlich können sich Unternehmen nicht mehr so einfach Geld leihen wie zuvor. Es wird weniger produziert, weniger gebaut, weniger gekauft, es kommt zu einer Rezession. Die Inflation ist gebändigt, aber die zuvor schon hohen Arbeitslosenzahlen steigen weiter an.

Das keynesianische Rezept wäre nun gewesen, Staatsschulden aufzunehmen und Konjunkturprogramme aufzulegen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Nach 1979 jedoch etabliert sich ein neues Narrativ.  ,,Die Rhetorik ist erst einmal, dass Schulden etwas Schlechtes sind und minimiert werden müssen, Steuern gesenkt werden müssen", sagt Rischbieter. ,,Das ist das zweite große Ziel. Weniger Steuern, weniger Steuern, vor allem für die Reichen und die Ausgaben des Staates senken und damit auch die Staatsverschuldung."

1975 liegt der Spitzensteuersatz in Großbritannien noch bei 83 Prozent. Im Laufe der Amtszeit von Magaret Thatcher wird er um mehr als die Hälfte gesenkt und liegt 1989 bei nur noch 40 Prozent. Stattdessen werden indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer erhöht, die alle zahlen müssen, was besonders die unteren Einkommensgruppen trifft.


,,Wenn ich von Steuersenkungen spreche, denke ich daran, dass jede größere Steuersenkung in diesem Jahrhundert die Wirtschaft gestärkt, neue Produktivität erzeugt und am Ende neue Einnahmen für die Regierung gebracht hat, indem sie neue Investitionen, neue Arbeitsplätze und mehr Handel unter den Menschen geschaffen hat", sagt Ronald Reagan in seiner Antrittsrede nach der Wahl zum US-Präsidenten 1980. In den USA wird der Spitzensteuersatz von rund 70 Prozent auf 28 Prozent gesenkt – dem niedrigsten Steuersatz in den Industrieländern zu dieser Zeit.
Gleichzeitig kommt es zu Kürzungen im Sozialstaatsbereich – mit einer Begründung, die breite Schichten weißer Amerikaner ansprechen soll. ,,Eine Figur, die hier besonders hervorsticht, ist die sogenannte Welfare-Queen, die immer wieder mobilisiert wird, von Reagan und von der gesamten Administration", sagt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher. ,,Um darauf hinzuweisen, dass insbesondere afroamerikanische Frauen eben nicht bereit seien zu arbeiten, eher Kinder kriegen würden und sich dann vom Staat aushalten lassen. ,,Diese Figur sei ,,wahnsinnig wirkmächtig" gewesen, ,,zur Rechtfertigung von einer Politik, wo es um das Zurückfahren von Sozialstaatlichkeit geht".



Die Anti-Wohlfahrtspolitik benötigt eine spezielle PR, um auch bei denen zu verfangen, die von den Leistungskürzungen betroffen sind: dazu dient die Ausgrenzung marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Das Staatsverständnis verändert sich. ,,Man kann die Frage, wie sich Staatlichkeit transformiert unter dem Neoliberalismus, so beantworten, dass es praktisch zwei Arme des Staates gibt: Es gibt einen fürsorglichen Staat und es gibt die harte Hand, den repressiven Arm des Staates, und dieser repressive Arm wird tendenziell ausgebaut, und da gibt es auch genug Geld", so Biebricher. ,,Der fürsorgliche Arm wird tendenziell eben zurückgefahren."
Als US-Präsident Reagan die neuen Leitideen für Politik und Wirtschaft verkündet, zahlt sich in den angelsächsischen Ländern die Netzwerk-Arbeit aus, die neoliberale Thinktanks seit der Mont-Pelerin-Konferenz 1947 geleistet haben.
,,In London ist es zum Beispiel das Centre for Policy Studies. Da war Magaret Thatcher, das ist ganz interessant, 1974 schon integriert", sagt Katrin Hirte, Autorin des Buches ,,Netzwerke des Marktes". ,,Das heißt also, sie war in diesem Thinktank und aktiv, bevor sie die Wahl gewann." Schon vor ihrer Amtszeit hat Thatcher das Centre for Policy Studies gegründet, ein zur neoliberalen Atlas Foundation gehörendes Institut, eng verbunden mit der Mont Pelerin Society.
Das Center for Policy Studies schreibt explizit auf seiner Website, dass sie regelmäßig Studien veröffentlichen – mit dem Ziel, die politische Debatte zu beeinflussen. Laut Thatcher ist es der Ort, an dem die ,,konservative Revolution" begann. Auf der Website heißt es: ,,Die Zähmung der galoppierenden Inflation, die Eindämmung der Macht der Gewerkschaften, die Privatisierungsrevolution, die Schrumpfung des Staates und Großbritanniens Umarmung des Unternehmertums – all das begann beim Centre for Policy Studies."


Während in den USA die Transformation des Staates relativ geräuschlos verläuft, wird in Großbritannien der Bergarbeiterstreik 1984/85 zum Schlachtfeld im Kampf um die Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik.
Die staatliche Organisation für Kohlebergbau, the National Coal Board, hatte verkündet, 20 Zechen schließen zu wollen, mit dem Verlust von ungefähr 20.000 Arbeitsplätzen. Von März 1984 bis März 1985 gehen Hunderttausende Bergarbeiter auf die Straße.

,,Sie sind die Feinde der Demokratie, sie sind nicht interessiert an der Zukunft der Demokratie, sie töten Demokratie für ihre eigenen Zwecke", sagt Thatcher, bleibt hart und setzt sich durch. 25 Zechen werden geschlossen. Nach einem Jahr Streik ist die Macht der Gewerkschaft gebrochen. Außerdem wird das Streikrecht eingeschränkt.
Im Kampf gegen die Gewerkschaften geht es nicht nur um Löhne und Arbeitsplätze, sondern auch ein anderes Thema: Die Privatisierung von Staatseigentum ist zentral für die Politik Reagans und Thatchers. Es ist die Vorstellung, dass private Unternehmen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb einer Gesellschaft eher zu Wohlstand verhelfen als staatliche Unternehmen. Denn der Staat sei kein guter Unternehmer. Dieser Gedanke hatte schon 1938 in Paris eine Rolle gespielt. Jetzt wird er zu einer mächtigen Triebkraft in der Politik.
Die Wasserwerke sollten privatisiert werden. In England und den USA seien außerdem das Telefon privatisiert worden, sagt die politische Ökonomin Brigitte Young. In den Jahren zwischen 1984 und 1990 werden in Großbritannien die British Steel, British Airways, British Telecom, British Gas und weitere staatliche Betriebe privatisiert – Betriebe, die für die öffentliche Infrastruktur wichtig sind und traditionell als hoheitliche Aufgaben eines Staates gelten. Dem britischen Staat, der unter einer hohen Staatsverschuldung leidet, verschafft die Privatisierungsstrategie kurzfristig hohe Staatseinnahmen.

,,Sicherlich hätten Thatcher und Reagan gesagt, aber in der langen Perspektive machen wir jetzt alles, damit dann vielleicht der Staat sozusagen weniger Einfluss hat", sagt die Historikerin Julia Rischbieter. Aber kurzfristig seien das natürlich starke dirigistische Eingriffe, in die Sozialpolitik, in die Rentenpolitik, in die Arbeitsmarktsituation. ,,Und ironischerweise hat das auch alles viel Geld gekostet."
Nach den neoliberalen Konzepten soll der Staat weniger Geld ausgeben und seine Schulden senken. In der politischen Realität steigen jedoch in der Ära Reagan die Staatsausgaben und die Schulden. Der Staat, der schlanker werden soll, investiert große Summen in Sicherheit und Rüstung.
Zur Privatisierung staatlicher Wirtschaftsbereiche kommt die Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte. 1986 dereguliert Thatcher schlagartig den britischen Finanzmarkt. Ausländische Banken lassen sich in London nieder. Die Revolution in der Mikroelektronik ermöglicht, dass der traditionelle, persönliche Handel auf elektronischen Handel umgestellt wird, Computer erhalten Einzug in die Finanzwelt und digitalisieren die Finanzindustrie.
Es ist der ,,Big Bang", London wird zum internationalen Finanzzentrum, weil hier die Entfesselung der Kapitalmärkte spekulatives Wirtschaften und spekulative Kapitalanlagen in ganz neuen Dimensionen ermöglicht.

Mit der Deregulierung gibt der Staat nicht nur Aufsichts- und Gestaltungsmacht im Finanz- und Bankenwesen ab. Er gerät auch unter Druck, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren und den Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes zu überlassen, wie im Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts. Hintergrund ist die Globalisierung des Wirtschaftens, bei der nationale Regelungen, etwa gewerkschaftliche Errungenschaften im Arbeitsrecht, hinderlich sind. Die Liberalisierung, das bedeutete: die Öffnung der Märkte. ,,Dass eben ein Staat nicht mehr Kontrolle hatte über die eigenen nationalen Regeln", so Brigitte Young. ,,Die Märkte wurden geöffnet und es gab eben durch die WTO diese internationalen Regeln. Schutz für Klima oder Schutz für Arbeiter und Arbeiterinnen wurde dann als Tarifhemmnis eingestuft."

Die Leitidee ist: angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Es ist die Vorstellung, dass Unternehmen durch geringere Steuern, geringere Auflagen im Arbeits- und Umweltschutz effizienter, ungehemmter und mehr produzieren können und dies dann zu höherem Wirtschaftswachstum und damit zu mehr Wohlstand führt.
Mit dieser Vorstellung setzt sich der Gegenentwurf zur keynesianischen Nachfragepolitik durch – die davon ausgeht, dass nicht Unternehmen gestärkt werden müssen, sondern Konsumentinnen und Konsumenten und ihre Kaufkraft, um die Wirtschaft anzukurbeln.
In der neoliberal ausgerichteten Politik verschieben sich die Gewichte zwischen Kapital und Arbeit zugunsten des Kapitals. Die nachlassende Gestaltungsmacht der Gewerkschaften ist ein systemimmanenter Teil dieser Politik. Mit statistisch ablesbaren Folgen: etwa beim Anstieg ökonomischer Ungleichheit in den Gesellschaften. Während 1986 die reichsten zehn Prozent in den USA 63 Prozent des gesamten privaten Vermögens besitzen, sind es 2012 77 Prozent.

In einem Interview sagt Margaret Thatcher 1987 einen Satz, der Berühmtheit erlangt hat, weil er das Gesellschaftsbild offenlegt, das der neoliberalen Wende in der Wirtschaftspolitik zugrunde liegt: ,,So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht", sagt sie. ,,Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und ihre Familien, und keine Regierung kann irgendetwas tun, außer durch Menschen, und Menschen müssen sich zuerst um sich selbst kümmern."
Das Individuum sei zentral für eine neoliberale Ordnung, sagt Thomas Biebricher. ,,Das Individuum soll von seiner individuellen Freiheit produktiven Gebrauch machen, sich in Märkte, in Wettbewerbe einbringen. Aber das entwickelt sich eben in gewisser Weise dann auch zu einem Zwang, von dieser Freiheit diese Art von Gebrauch zu machen. Von daher ist es halt nicht so, dass man mit dieser Freiheit anfangen kann, was man will, sondern man muss in Konkurrenz treten mit anderen."

Zur Entfesselung der Kapitalmärkte in der Wirtschaft kommt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Ökonomisierung allen gesellschaftlichen Lebens. ,,Dass wir dazu angehalten werden, eigentlich uns immer weiter zu optimieren, uns immer zu verbessern, nie stillzustehen, immer Ausschau zu halten nach neuen Möglichkeiten, um uns selbst zu verwirklichen oder um Profit einzustreichen", erläutert Biebricher.  ,,Diese Vorstellung, dass es nie einen Ruhepunkt geben kann und darf, dass es immer weitergehen muss, dass Stillstehen schon Zurückfallen heißt, das ist einer der ganz großen sozialpsychologischen und individualpsychologischen Effekte des Neoliberalismus."
Wie ein Unternehmen zu denken: effizient, kostensparend und profitorientiert, das ist ein universeller Anspruch an alle – an Bürgerinnen und Bürger, an den Staat und seine gesellschaftlichen Einrichtungen, an Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, die Wohnungs- oder die Wasserversorgung.


Dass diese Ideen verinnerlicht werden, liegt auch an der medialen Begleitmusik zur neoliberalen Politik. ,,Free to Choose": So heißt eine zehnteilige Serie, die Milton Friedman, Gründungsmitglied der Mont Pèlerin Society und ökonomischer Berater von Thatcher und Reagan, 1980 im US-Fernsehen startet.
Eine Textilfabrik in New York. Schummriges Licht. Dutzende Frauen sitzen an kleinen Tischen und arbeiten in Akkordarbeit an ihren Nähmaschinen. In der Mitte steht Milton Friedman. Die meisten Arbeiterinnen der Fabrik seien in die USA immigriert, erzählt er, sie würden hier aber nicht lange bleiben. Die Fabrik gibt ihnen die Möglichkeit, in den USA anzukommen, sich hochzuarbeiten, eigenen Wohlstand aufzubauen. Ohne einen freien Markt wäre das nicht möglich.
Diese Fabrik verletzt alle Arbeitsrechte. Sie ist überfüllt, schlecht belüftet und es gibt keinen Mindestlohn. Aber wem würde es nützen, würde die Fabrik geschlossen werden, fragt eine Stimme aus dem Off. Sicherlich nicht den Frauen, so die Stimme, sie bauen den Wohlstand für die nächsten Generationen auf. "Im Gegenteil. Sie und ihre Kinder werden ein besseres Leben haben, da sie die Möglichkeiten, die Ihnen ein freier Markt gibt, zum Vorteil machen", betont Friedman.
,,Free to Choose" bezeichnet der Historiker Sören Brandes als ,,neoliberalen Populismus". Er hat in seiner Doktorarbeit Milton Friedmans Serie analysiert. ,,ImKern geht es darum, dass es immer ein Narrativ ist, wo auf der einen Seite wir stehen, also die normalen Menschen, und auf der anderen Seite steht der Staat, Big Gouvernement." Der neoliberale Rahmen dabei sei. ,,Der Markt kann alles, der Markt ist gut, der Markt ist das, was uns nicht nur befreien wird, sondern was uns halt auch mehr irgendwie ökonomischen Wohlstand beschert."
,,Free to Choose" ist ein Erfolg. Bei der Erstausstrahlung schalten pro Folge rund drei Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner ein. Die Sendung wird nicht nur in den USA ausgestrahlt, sondern in vielen Ländern auf der Welt, unter anderem auch im Bayrischen Rundfunk, sie trägt so zu einem gesellschaftlichen Narrativ bei: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Wer will und sich anstrengt, kann sich Wohlstand erarbeiten.
Diese Verheißung ist das Fundament, auf dem die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophie aufbaut. Wer arbeitslos ist, trägt selbst Verantwortung für sein Schicksal beziehungsweise für das, was aus ihm wird. Strukturelle Ungleichheit spielt in diesem Gesellschaftsbild, das ganz auf die Individuen setzt, keine Rolle.

Die neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik hat weltweite Konsequenzen, vor allem auch für den Globalen Süden, angefangen mit der Verschuldungskrise. ,,Diese Verschuldungskrise der 80er-Jahre war dann auch eine Situation, wo neoliberale Konzepte im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme in die Welt gebracht wurden", sagt Julia Rischbieter von der Uni Konstanz. ,,In der internationalen Verschuldungskrise der 80er-Jahre sind ungefähr 47 Länder bankrottgegangen."


Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank folgen dem Dreiklang aus Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung. Doch all diese Länder konnten, auch wenn sie die Maßnahmen ergriffen haben, ihre Schulden kaum reduzieren, ,,hatten verschiedenste Wirtschaftskrisen, Finanzkrisen, Währungskrisen, neben noch ganz massiven anderen sozialen Kosten für die Bevölkerung, Kindersterblichkeit und so weiter und so fort".
In diesem Zusammenhang spielt auch das Ende des Kolonialismus ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine Rolle, als die ehemaligen Kolonien dafür kämpften, souveräne Nationalstaaten zu werden.
Ein Kartell aus Ölstaaten, die OPEC-Staaten, demonstriert in den 1970er-Jahren ihre neue Macht. Der kanadische Historiker Quinn Slobodian, hat hierzu intensiv geforscht. ,,Die Ölkrise in den 1970er-Jahren war ein wichtiger Moment", betont er. ,,Es war das erste Mal, dass die Länder des globalen Südens in der Lage waren, eine Art Einfluss und Druckmittel auf die reicheren Nationen Europas und Nordamerikas auszuüben. Es machte den Vereinigten Staaten klar, dass sie auf andere Teile der Welt als ihr eigenes Territorium angewiesen waren."
Die wichtigste Erkenntnis: die Entstehung souveräner Staaten bedroht Kapitalinteressen. Deshalb wird es, laut Slobodian, zum zentralen Anliegen der Neoliberalen, einen supranationalen Rechtsrahmen zu entwerfen, der international Privateigentum gegen Enteignung und radikale Umverteilung schützen kann.

Das Ende des Kalten Krieges eröffnet neue Möglichkeiten. 1995 wird die Welthandelsorganisation gegründet. Nach Slobodian die Krönung neoliberaler Bemühungen. ,,Was sie wirklich hofften, was sie versuchten zu fördern, war, eine Welt in der die Staaten mit ihren Institutionen es als extrem wichtig ansehen würden, Eigentumsrechte zu schützen, egal wo auf der Welt sie sich befinden, und die Welthandelsorganisation ist in gewisser Weise ein schönes Beispiel dafür in Aktion."
Laut Quinn Slobodian verkörpert die WTO die neoliberale Idee, die sich seit seinen Anfängen in den 1930er-Jahren durchzieht: Es ist die Idee, dass es einen gesetzlichen Rahmen braucht, der den Markt schützt. Ein gesetzlicher Rahmen, der ökonomische Ziele festschreibt und sie dem staatlichen und damit dem Einfluss von Bevölkerungen entzieht. Gesetze, die Kapitalinteressen schützen.
Dagegen formiert sich allerdings eine so starke Widerstandsbewegung, dass eine WTO-Konferenz in Seattle 1999 abgesagt werden muss. In den führenden westlichen Ländern setzt sich das neoliberale Denken dennoch in Wirtschaft und Politik immer weiter durch.

Um die Jahrtausendwende regiert in den USA der Demokrat Bill Clinton, Tony Blair in Großbritannien, die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder in Deutschland. Sie alle folgen in ihrer Politik neoliberalen Ideen. Nun zeigt sich, so Thomas Biebricher, ,,dass in diesen für diese Entwicklungen zentralen Ländern, Großbritannien und USA, die politische Konkurrenz von links der Mitte, letztendlich die zentralen Vorstellungen von Reagan und Thatcher übernimmt. Das zeigt eben, dass der Neoliberalismus in der Phase wirklich so etwas wie eine hegemoniale Stellung hat, wenn die politische Konkurrenz die Ideen übernimmt, dann muss man sagen: Das ist hegemonial. Und dann mit einer kleinen Verzögerung findet sich das auch in Deutschland." Dabei laute das Stichwort Hartz IV. Darüber hinaus ,,haben wir es mit einer Deregulierung des Arbeitsmarktes zu tun, die Einführung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen, ein riesiger Niedriglohnsektor, der hier entsteht – nach manchen Messungen der größte in Europa. Das sind auf jeden Fall die zentralen neoliberalen Pfeiler dieser Politik."


2008 folgt die Weltfinanzkrise. Eine Zäsur, meint Biebricher, die darin bestehe, ,,dass sich ein Bild von Kapitalismus zeigt, wo eigentlich gar keine Güter oder gar nichts Nützliches mehr produziert wird, sondern wo es einfach eine Geldvermehrungsmaschine gibt". Um einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verhindern, greift der Staat massiv in die Wirtschaft ein.
Staaten knüpfen Rettungspakete, retten Banken und Unternehmen und regulieren Teile der Finanzmärkte. Der Staat als Retter in der Not. Der Mythos vom sich selbst regulierenden Markt scheint enttarnt. Doch trifft das den Kern des Neoliberalismus? ,,Möglicherweise ist das eben ein Missverständnis", wendet Thomas Biebricher ein. ,,Weil Neoliberalismus gar nicht zentraler Weise die Idee beinhaltet, dass es um selbst regulierende Märkte geht."


Als Ende der 1970er neoliberales Denken hegemonial wird, dominiert ein verengter Freiheitsbegriff: in dem die Freiheit des Einzelnen vor allem als wirtschaftliche Freiheit verstanden wird. Der Mensch ist Teil eines Wettbewerbssystems, dem man sich nicht wie in einem Spiel entziehen kann. Der Staat soll nach neoliberaler Vorstellung kein fürsorglicher, kein Wohlfahrtsstaat sein. Letztlich soll er die gesamte Daseinsvorsorge an die Privatwirtschaft abgeben – Krankenhäuser, Schulen, Wohnen, Wasser. Doch in der Weltfinanzkrise gibt es nur einen, der die Weltwirtschaft retten kann: der Staat.
,,Ich denke, einer der größten Fehler, den die Leute machen, wenn sie versuchen, den Neoliberalismus als Philosophie zu verstehen, ist, dass sie ihn als einen Versuch sehen, den Staat abzuschaffen oder den Staat zurückzudrängen oder die Rolle des Staates im Wirtschaftsleben zu reduzieren", meint der kanadische Historiker Quinn Slobodian und bringt damit eine Lebenslüge neoliberaler Denkmuster zum Ausdruck. Auch im Neoliberalismus wird der Staat gebraucht, um den Markt, Privateigentum und Wettbewerb zu schützen.
Offen ist seit 2008, wie sich die Weltfinanzkrise auf den Neoliberalismus, seine Theorien und seinen politischen Einfluss auswirkt. Die zweite und dritte Frage sind: ob mit der Klimakrise und der Pandemie die neoliberalen Aufbrüche von 1938 und 1947 an ihr Ende kommen.


Aus: "Geschichte des Neoliberalismus - Ein Gespenst geht um in der Welt" Kristin Langen, Regie: Giuseppe Maio, Redaktion: Winfried Sträter (28.12.2021)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-geschichte-des-neoliberalismus-100.html

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Quote[...] Liz Truss vergöttert Margaret Thatcher – und scheiterte als britische Premierministerin ausgerechnet an den Folgen der Politik ihres Idols. Der Neoliberalismus stösst weltweit an seine eigenen Grenzen.

Die Episode muss bürgerlichen Politiker:innen auch hierzulande zu denken geben: Liz Truss wollte als neue britische Premierministerin das Werk ihres Idols Margaret Thatcher weiterführen, die ab 1979 von Grossbritannien aus die globale neoliberale Revolution eingeläutet hatte – und beendete damit ihre Politkarriere schneller, als ein Salat verwelkt, wie das Finanzblatt «The Economist» böse bemerkte.

Anders als vielerorts behauptet, waren es jedoch nicht allein die Investor:innen, die Truss stürzten, indem sie die Finanzmärkte auf die Achterbahn schickten. Auch die britische Zentralbank hatte ihre Finger mit im Spiel.

Truss, die sich unlängst in der Ukraine wie Thatcher während des Falklandkriegs auf einem Kampfpanzer ablichten liess, hatte nach ihrer Amtsübernahme Anfang September die grösste Steuersenkung seit einem halben Jahrhundert angekündigt: Stempelsteuern sollten gestrichen, ein Deckel für Boni abgeschafft und die Spitzensteuersätze für Reiche von 45 auf 40 Prozent gestutzt werden. Sie verfolge damit drei Prioritäten, rief Truss ihrer Partei zu: «Wachstum, Wachstum, Wachstum!»

Damals, als Thatcher das Ruder übernahm, steuerte die Wirtschaft wie heute auf eine Rezession zu, während die Inflation nach oben schoss, wird sich Truss gesagt haben. Und was tat ihr Idol? Die Steuern für Reiche senken (wobei sie auch die Mehrwertsteuer anhob), während sie den Kampf gegen die Inflation der Bank of England überliess. So wie es US-Ökonom und Prediger Milton Friedman riet.

Nach Bekanntgabe von Truss' Plänen sackte das Pfund in die Tiefe, während die Zinsen für den verschuldeten Staat senkrecht in die Höhe schossen. Die Investor:innen zweifelten, dass der Staat für seine Schulden würde geradestehen können. Dies jedoch nur deshalb, weil Zentralbankchef Andrew Bailey die Zügel seit Sommer wie kaum ein anderer Amtskollege angezogen und den Leitzins auf 2,25 Prozent hochgeschraubt hatte. Zwar schritt er kurz ein, um den grossen Crash zu verhindern; von seinem grundsätzlichen Kurs liess er sich jedoch nicht abbringen.

Als Thatcher 1979 ihre Revolution einläutete, hatten Europa und die USA dreissig üppige Jahre hinter sich. Dies mit einem Wirtschaftssystem, das heute vielen bereits als linksextrem gelten würde, obwohl es nach dem Krieg auch von Rechten mit aufgebaut worden war: Wichtige Betriebe waren verstaatlicht, die Steuern erhöht und der Sozialstaat stark ausgebaut worden. Mächtige Gewerkschaften sorgten für steigende Löhne. All dies trieb den Konsum und damit das Wachstum an – so wie es der liberale britische Ökonom und Vordenker John Maynard Keynes vorgesehen hatte.

Dreissig Jahre nach dem Krieg waren die Staaten so wenig verschuldet wie kaum je zuvor. Auch untere soziale Schichten sassen im Lift nach oben. Dies bot Thatcher oder dem kurz nach ihr gewählten US-Präsidenten Ronald Reagan viel Platz, um sich auszutoben: Tiefe Schulden ermöglichten nicht nur Steuersenkungen für Reiche und Konzerne, sondern auch höhere Zinsen – je tiefer die Schuld, desto höhere Zinsen können sich Staaten leisten. Nach dreissig goldigen Jahren – die auch die Inflation antrieben – war es zudem einfacher, Härte zu fordern: Im Rausch von Friedmans Wirtschaftsdoktrin schraubte US-Notenbankchef Paul Volcker die Zinsen auf rund zwanzig Prozent. Damit schickten die Zentralbanken weltweit Millionen Arbeiter:innen in die Arbeitslosigkeit – und halfen so, die von ihnen gewonnene wirtschaftliche Macht zu zerschlagen.

1985 liess Thatcher zudem den Streik der Bergarbeiter mit Polizeiknüppeln beenden. Seither jagt in allen Ländern eine Deregulierung des Arbeitsrechts die nächste. Die Arbeitsmärkte wurden so umgekrempelt, schrieb die Bank für Internationalen Zahlungsverkehr (BIZ) kürzlich, dass die «Macht der Arbeit, Preise zu setzen», entschieden geschwächt worden ist.

Die Welt, die Truss bei Amtsantritt vorfand, ist trotz äusserlicher Ähnlichkeiten mit den siebziger Jahren nicht mehr dieselbe. Die Politik der letzten vierzig Jahre hat die Ungleichheit in den Industrieländern drastisch verschärft, wie unzählige Studien belegen, was zu einem steilen Anstieg der Schulden geführt hat: Da die sinkenden Löhne der unteren Schichten den Konsum und damit das Wachstum gefährdeten, kompensierten die Staaten dies unter anderem mit Sozialleistungen. Weil sie jedoch gleichzeitig die Steuern senkten, mussten sie dafür Schulden aufnehmen. Statt Reiche zu besteuern, lieh man sich nun das Geld lieber bei ihnen.

Insbesondere Grossbritannien kurbelte den Konsum an, indem es den Leuten durch die Deregulierung der Banken erlaubte, sich selber zu verschulden. Als diese Schuldenblase 2008 in der Finanzkrise platzte, lud sich die Regierung zur Rettung der Banken einen Teil der Schulden auf die eigenen Schultern, sodass die Staatsschuld innert Kürze von 42 auf 87 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sprang. Weltweit sind die Schulden von Staaten und Privathaushalten laut Internationalem Währungsfonds von rund 60 auf heute 160 Prozent geklettert.

Damit die Leute und die Staaten ihre Schulden stemmen konnten, senkten die Zentralbanken die Zinsen ab den achtziger Jahren wieder allmählich – bis sie nach 2008 auf null fielen. Mit der schuldengetriebenen Nachfrage wurde lediglich die Nachfrage ersetzt, die durch den sozialen Kahlschlag weggefallen war. Entsprechend blieb die Inflation tief.

Die Welt, die Truss bei Amtsantritt vorfand, ist trotz äusserlicher Ähnlichkeiten mit den siebziger Jahren nicht mehr dieselbe. Die Politik der letzten vierzig Jahre hat die Ungleichheit in den Industrieländern drastisch verschärft, wie unzählige Studien belegen, was zu einem steilen Anstieg der Schulden geführt hat: Da die sinkenden Löhne der unteren Schichten den Konsum und damit das Wachstum gefährdeten, kompensierten die Staaten dies unter anderem mit Sozialleistungen. Weil sie jedoch gleichzeitig die Steuern senkten, mussten sie dafür Schulden aufnehmen. Statt Reiche zu besteuern, lieh man sich nun das Geld lieber bei ihnen.

Insbesondere Grossbritannien kurbelte den Konsum an, indem es den Leuten durch die Deregulierung der Banken erlaubte, sich selber zu verschulden. Als diese Schuldenblase 2008 in der Finanzkrise platzte, lud sich die Regierung zur Rettung der Banken einen Teil der Schulden auf die eigenen Schultern, sodass die Staatsschuld innert Kürze von 42 auf 87 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sprang. Weltweit sind die Schulden von Staaten und Privathaushalten laut Internationalem Währungsfonds von rund 60 auf heute 160 Prozent geklettert.

Damit die Leute und die Staaten ihre Schulden stemmen konnten, senkten die Zentralbanken die Zinsen ab den achtziger Jahren wieder allmählich – bis sie nach 2008 auf null fielen. Mit der schuldengetriebenen Nachfrage wurde lediglich die Nachfrage ersetzt, die durch den sozialen Kahlschlag weggefallen war. Entsprechend blieb die Inflation tief.

Mit einer Staatsschuld von heute über 100 Prozent des BIP im Nacken blieben Truss' Steuersenkungspläne chancenlos. Dies zumindest vor dem aktuellen Hintergrund, wo die Zentralbanken die Zinsen erhöhen wollen, um die Inflation zu senken. Wobei die Inflation gerade den Banken als Vorwand dient, um nach fünfzehn Jahren Nullzinspolitik endlich wieder höhere Zinsen zu fordern: Je höher die Zinsen, desto mehr Geld lässt sich verdienen.

Seit 2008 sind unter der Nullzinspolitik die britischen Schulden um über sechzig Prozent des BIP angestiegen, ohne dass dies ein:e Regierungschef:in bisher den Kopf gekostet hätte: Solange die Banken bei der Zentralbank gratis Geld erhielten, waren sie bereit, dem Staat immer weiter Geld zu leihen; umso mehr, als die Zentralbank ihnen die Schuldpapiere abkaufte. Truss stürzte jetzt, weil Zentralbankchef Bailey die Zügel angezogen hat. Sie wurde Opfer einer Zentralbank, die nicht nur unabhängig und mächtig ist, wie vom Thatcherismus angestrebt, sondern eine ebenso eiserne Politik verfolgt. Die britische Politik befinde sich an einem «dunklen Ort», twitterte die eher linke Wirtschaftsprofessorin Daniela Gabor.

Nach vierzig Jahren, in denen die Ungleichheit stetig zugenommen hat, leben derzeit zwanzig Prozent der Brit:innen in Armut, und die rasche Teuerung treibt Millionen auf die Strasse zum Protest. So war es für Truss anders als für Thatcher auch nahezu unmöglich, ihre Steuersenkung mit Sparmassnahmen zu kompensieren. Sie sah sich vielmehr gezwungen, sich für die Subventionierung von Erdgas zu entscheiden. Auch Truss' Nachfolger Rishi Sunak wird es mit seinen Sparplänen nicht leicht haben.

An eine Grenze geraten schliesslich auch die Zinserhöhungen der Zentralbanken: Mit einer globalen Schuld bei Privathaushalten und Staaten von 160 Prozent des BIP steigt die Gefahr von Insolvenzen, die sich zu einer Finanzkrise ausdehnen. Die Uno spricht von einer «gefährlichen Wette» der Zentralbanken, die eine «Kaskade von Insolvenzen» zur Folge haben könnten. Es drohe ein Crash.

Kommt hinzu: Anders als in den siebziger Jahren, als die Inflation – neben den hohen Ölpreisen – stark durch die steigenden Löhne angetrieben wurde, ist zumindest in Europa der Hauptgrund heute das verknappte Angebot, wie in Studien der Europäischen Zentralbank nachzulesen ist. Je knapper Rohstoffe und andere Güter wegen Lockdowns in China oder des Kriegs gegen die Ukraine sind, desto stärker steigen die Preise. Das bedeutet: Mit den Zinserhöhungen soll nicht eine steigende Nachfrage gebremst werden, die das Angebot übertrifft und so zu Inflation führt. Die Nachfrage soll vielmehr auf ein geschrumpftes Angebot runtergestutzt werden, indem Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben werden.

Kurz: Zur Bekämpfung der Inflation sollen die Leute nicht langsamer reich werden, sie sollen ärmer werden. Inzwischen warnt selbst der eher rechte US-Ökonom Gregory Mankiw die US-Notenbank vor «Übertreibung».

Die Nachfrage könnte im Kampf gegen die Inflation auch anders gestutzt werden. Und zwar indem Vermögende höher besteuert werden. Sie stossen durch ihren übermässigen Konsum ohnehin zu viel CO₂ aus: So produzieren die reichsten zehn Prozent der Europäer:innen laut einer im «Nature»-Magazin publizierten Studie jährlich rund 29 Tonnen CO₂ pro Kopf, die untere Hälfte dagegen nur 5 Tonnen. Mit höheren Steuern für Reiche liessen sich auch die erdrückenden Schulden der Privathaushalte und der Staaten reduzieren – ihre Schulden sind die Vermögen der Begüterten. Mit der Hälfte der 211 Billionen US-Dollar, die das weltweit reichste Prozent laut Credit Suisse besitzt, liessen sich sämtliche Staatsschulden auf einen Schlag tilgen.

Truss meint, dass die Reichen mehr investierten, wenn man ihnen mehr in der Tasche lässt. Fakt ist: Obwohl seit 1979 die Unternehmenssteuern von über 50 auf unter 20 Prozent gekürzt wurden, sind die Investitionen laut Weltbank von 25 auf 17 Prozent des BIP geplumpst. Ein Bild, das sich in nahezu allen Industriestaaten zeigt. Das Geld landete vielmehr an der Börse, wo es die Preise der Wertpapiere in die Höhe trieb.

Dass einige noch immer daran glaubten, der Reichtum einiger weniger nütze am Ende allen, mache ihn «krank und müde», twitterte US-Präsident Joe Biden just einen Tag, bevor er Truss vor einem Monat in New York traf. Das sei «Voodoo-Ökonomie», meinte der spätere US-Präsident George Bush senior bereits 1980. Nach vierzig Jahren scheint dieser Voodoo an seine eigenen Grenzen zu stossen.


Aus: "Weltwirtschaft in der Krise: Thatchers Schuld" Yves Wegelin (Nr.  43 – 27. Oktober 2022)
Quelle: https://www.woz.ch/2243/weltwirtschaft-in-der-krise/weltwirtschaft-in-der-krise-thatchers-schuld/%21PXX7M0Y0MMV2

https://de.wikipedia.org/wiki/Margaret_Thatcher