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Erweiterter Machtdiskurs (Politik) / [SPD (Politik)... ]
« Last post by Link on December 07, 2019, 12:30:07 PM »Quote
[...] Esken ist die Erste, die an diesem Tag vor die Delegierten tritt, um ihre Bewerbungsrede zu halten. Das heißt, so richtig bewerben muss sie sich ja gar nicht mehr. Gewählt wurden die beiden ja bereits durch die Parteimitglieder in einem langwierigen Urwahlprozess. Der Parteitag hat nur noch die Funktion, dies zu bestätigen. Dennoch schlägt gerade der schwäbischen Bundestagsabgeordneten viel Skepsis entgegen. Dagegen will sie anreden.
Sie, die bisher noch nie ein Führungsamt innehatte, ist die politische Aufsteigerin des Jahres. Mit ihrer scharfen Kritik an der großen Koalition hat sie sich von Olaf Scholz und den anderen Ministern abgegrenzt. Ihre Strategie der Polarisierung war letztlich ungemein erfolgreich. Auch wenn sie sich damit nicht überall beliebt gemacht hat.
Das mag ein Grund sein, warum sie auf dem Parteitag erst mal von Brandt erzählt. Sie will hier nicht als Revoluzzerin auftreten, nicht als Umstürzlerin. Sie reiht sich ganz bewusst ein in eine sozialdemokratische Traditionslinie. Aber sie grenzt sich eben auch vom Establishment der vergangenen zwanzig Jahre ab, von jenen Politikern, die in der Ära Schröder und danach aufgestiegen sind. Jene Brandt-Nachfolger seien falsch abgebogen. Falsch abbiegen – das ist eine Metapher, die Walter-Borjans ebenfalls gern gebraucht.
Auch habituell grenzt Esken sich von der bisherigen SPD-Spitze ab. "Ich komme von unten", ruft sie. Sie erzählt, wie schon häufiger in letzter Zeit, von ihrer Vergangenheit als Kellnerin und Paketbotin. Sie habe "nicht vergessen, wo ich herkomme", sagt sie. Es sei die Aufgabe der SPD, Menschen aus diesen prekären Jobs wieder anzusprechen und zu vertreten. Sie kenne die "schrecklichen Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt". Sie werde ihr "ganzes Herzblut investieren, um den Niedriglohnsektor auszutrocknen".
Der Applaus der Delegierten ist ordentlich, aber keinesfalls frenetisch. Es herrscht auch keine gespannte Stille, während Esken spricht. Ja, in manchen Ecken des Saales ist es sogar regelrecht unruhig. Mehrere Delegierte unterhalten sich demonstrativ. Das dürfte auch daran liegen, dass sie keine virtuose Rednerin ist, keine, die Übung darin hat, einen Saal zum Kochen zu bringen. Viele Passagen liest sie vom Blatt ab. Es liegt aber auch an Eskens Vorgeschichte: All jene, die das bisherige Establishment verkörpern, tun sich sichtlich schwer, sie nun abzufeiern. Während die Jusos all ihre Sätze laut beklatschen, rühren die Delegierten aus der Realo-Hochburg Hannover etwa, direkt am Nebentisch, keine Hand.
Ein wenig anders ist das bei Walter-Borjans, der nach Esken spricht. Wie auch schon im innerparteilichen Wahlkampf ist sein Ton versöhnlicher und nachdenklicher. Explizit lobt er die sozialdemokratischen Minister Olaf Scholz, Svenja Schulze und Heiko Maas für ihre Arbeit. Esken hatte zuvor ihre "Skepsis" an der großen Koalition bekräftigt ("Ich habe da meine Meinung nicht geändert").
Walter-Borjans, der frühere Minister und Regierungssprecher, spricht dagegen geschliffener, freundlicher. Auch er betont, dass die SPD sich neu ausrichten und selbstbewusster auftreten müsse. Auch er wirbt für eine "linke Politik", für "ein Jahrzehnt der öffentlichen Investitionen".
Aber Walter-Borjans beschwört gleichzeitig stets den Kompromiss als Tugend in der Politik. "Wir müssen zum Kompromiss bereit sein", ruft er, und: "Wir wollen eine Partei der vielen sein." Oder: "Einigkeit macht stark." Wie so oft erinnert er auch an den Leitspruch von Johannes Rau, seines anderen großen Idols: "Versöhnen statt spalten."
Für manche mag das im Widerspruch zu dem proklamierten "neuen" Kurs stehen. War die Diagnose doch, dass zu viel Kompromisshuberei das sozialdemokratische Profil verwässert habe. Aber dahinter dürfte neben dem rheinischen Gemüt von Walter-Borjans auch machttaktisches Kalkül stecken. Schließlich kennt er das Misstrauen, das ihm und Esken etwa aus der Bundestagsfraktion entgegenschlägt. Die Mandatsträger machten dem neuen Vorsitzenden-Duo in dieser Woche unmissverständlich klar, dass sie bei einem radikalen No-Groko-Kurs nicht mitmachen würden. Daher fiel der Leitantrag auch relativ gemäßigt aus, worüber sich wiederum einige der SPD-Fundis beklagten.
Nach der Rede Walter-Borjans klatschen die Delegierten ausgiebig, rhythmisch, wie man das von Parteiveranstaltungen kennt. Die meisten erheben sich. Nur ganz vorne bleiben einige Herren sitzen. Martin Schulz zum Beispiel, der vor Esken und Walter-Borjans gewarnt hatte, sieht aus, als habe er in eine Zitrone gebissen.
Am Ende steht das Versprechen, nicht leichtfertig aus der großen Koalition auszusteigen, sondern ernsthaft mit der CDU über neue Projekte zu verhandeln. Die SPD erlebt einen "Linksruck", wie Walter-Borjans es leicht selbstironisch nennt, von dem nicht wirklich ein Ruck ausgeht. Die Wahlergebnisse entsprechen letztlich der Stimmung im Saal. Walter-Borjans erhält 89,2 Prozent. Esken 75,9 Prozent.
"Ab heute gewinnt ihr mit uns", ruft die neue Parteichefin den Delegierten zu. Vor dem Parteitag hatten beide angekündigt, die SPD wieder auf das doppelte Niveau führen zu wollen. Von 15 auf 30 Prozent. An ihre Versprechungen dürften die beiden Vorsitzenden noch erinnert werden, wenn sie nicht mehr neu sind.
Aus: "Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken: Links ohne Ruck" Aus einer Analyse von Michael Schlieben (6. Dezember 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-12/norbert-walter-borjans-saskia-esken-spd-parteitag-reden/komplettansicht
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xaenders #12
Ich habe die deutsche Presse lange für besser gehalten als die britische, aber die Art und Weise auf die die gesamte Medienlandschaft, von Bild über Zeit bis zur Süddeutschen diese Parteispitze niederschreibt bevor sie überhaupt angefangen hat... Für das "Verbrechen" die SPD wieder zu einer Mitte-Links-Partei machen zu wollen.
Vor 20 Jahren ist die SPD ein gutes Stück nach rechts gerückt, und nachdem den Leuten die Folgen der Agenda 2010 bewusst geworden sind, versemmelt sie seit 15 Jahren eine Wahl nach der anderen mit ihrem CDU-Light-Kurs. Der oh so heilige "pragmatische Kurs" hat drei Wahlen lang nicht funktioniert. Und jetzt soll eine Rückbesinnung auf alte Werte in den endgültigen Untergang führen?...
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TXL #18
Kann mir jetzt jemand sagen, was der inhaltliche Unterschied von SPD und Linkspartei ist?
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3 Affen #18.4
Könnte ich. Wenn es Sie ernsthaft interessieren würde.
So halte ich mich kurz: Die SPD ist vom Anspruch her eine linke Volkspartei, während die LINKE eigentlich eine Klientelpartei, ähnlich der FDP ist.
Zudem sind beide komplementär, weil die LINKE, jedenfalls im Westen, etwas ist was aus der SPD herausgebrochen wurde, und was dann nie wirklich ersetzt worden ist.
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Kiwi23 #18.6
Die SPD sind neoliberale Zentristen und Die Linke sind links.
Ist doch nicht so schwer.
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Paul18 #28
Die SPD Willy Brandts hat sich seitdem bereits zweimal aufgespalten. Sowohl die Grünen, als auch die Linken, zumindest in den westlichen Bundesländern, sind SPD- Ableger. ...
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Bärenholz #56
Wird sich die SPD wandeln? Nein. Würde man den Kurs ändern, hieße das ja, dass man jahrzehntelang in falscher Richtung unterwegs war. Wer eingestandenermaßen solche langen Irrwege zurücklegt, dem wird letztlich auch nicht eine vernünftige Neuorientierung zugetraut.
Und Kevin Kühnert? Er ist erfahrungsgemäß nur der Olaf Scholz von morgen; alle Ex-Juso-Anführer sind im Laufe ihrer Karriere zu "Realpolitikern" geworden. Wer das weiß, gibt sich keinen Illusionen hin. Die SPD bleibt, wie sie immer war.
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Thomas Wohlzufrieden #57
Im Zusammenhang mit dem neuen Job von Ursula von der Leyen lesen wir Heute in der "Zeit Online": "Lasst sie doch erst mal machen!" Warum gilt das nicht für die neue SPD-Spitze? Es ist schon phantastisch, wie diese beiden inclusive Kevin Kühnert von bestimmten Medien schlecht geredet werden, bevor sie überhaupt angefangen haben. Ist die Angst vor etwas mehr sozialer Gerechtigkeit wirklich so groß?
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Vorwärtsundnichtvergessen #63
"Martin Schulz zum Beispiel, der vor Esken und Walter-Borjans gewarnt hatte, sieht aus, als habe er in eine Zitrone gebissen."
Das gönne ich ihm.
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klare sache #72
Bevor ich kommentiere,
drei Infos : ich bin 61 Jahre alt, war von 1974 bis 2002 SPD-Mitglied (meistens im Ruhrpott) u. habe u.a. Geschichte studiert!
Die "Neue Zeit" wird in der SPD so regelmäßig ausgerufen , wie uns die Sommer-Winter Zeitumstellung auf die Nerven fällt ; die Zeitumstellung hat allerdings den unschlagbaren Vorteil, daß man zum Zeitpunkt der Umstellung, je nach Perspektive salopp formuliert entweder "davor oder dahinter" ist , keinesfalls aber bleibt die Zeit stehen ; das ist der tragische Unterschied bzgl. der SPD !
Nach meiner Verfolgung des im Sender "Phoenix" live übertragenen Parteitages ist meine Erwartung übererfüllt worden : DIE REVOLUTION IST ABGESAGT !
Nicht daß ich mir diese Revolution herbeigesehnt hätte;
ganz und garnicht ; nur die Revoluzzer-Attitüde, die wie ein hartnäckiger Husten die SPD seit über 100 Jahren immer wieder befällt, ist genau der immergleiche Anlaß, die reale Politik, wenn man sie denn mal überhaupt mitgestalten kann, so misanthropisch zu betrachten !
In der realen Welt haben sich nämlich Sozis weit eher mit Rechten Kräften verbündet als mit Linken ! Beispiele :
Zustimmung f.Kriegskredite im Ersten Weltkrieg,
"Ebert-Groener Pakt" von 1918 ,
"Radikalenerlaß" von 1973,
"Hartz IV" Reformen im 2.Kabinett Schröder
Nur bei der Ablehnung des Hitlerschen Ermächtigungsgesetzes und bei der Umsetzung der Brandtschen "Ostpolitik"passten bei der SPD Wort und Tat absolut zusammen !
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