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Erweiterter Machtdiskurs (Politik) / [Grundrechte & Global Issues... ]
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[...] Arnd Pollmann lehrt als Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Zuletzt erschien von ihm Menschenrechte und Menschenwürde – Zur philosophischen Bedeutung eines revolutionären Projekts (Suhrkamp, 2022).
Es ist noch gar nicht lange her, da sah die Welt euphorisch einem globalen Siegeszug der Menschenrechte entgegen. Was am 10. Dezember 1948 in Paris mit der Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte begonnen hatte, schien spätestens mit dem Fall der Berliner Mauer und der Überwindung des Kalten Krieges in ein "Ende der Geschichte" zu münden: In Zukunft würde es kein um internationale Achtung bemühter Staat mehr wagen, sich offen gegen die Idee eines sowohl national wie völkerrechtlich überwachten Menschenrechtsschutzes auszusprechen. Eingebunden in eine globale Staatenwelt gegenseitiger Kontrolle, sollte sich fortan jede politische Herrschaft an der Präambel jener Allgemeinen Erklärung messen lassen, der zufolge die "Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unverlierbaren Rechte aller Mitglieder der menschlichen Gemeinschaft die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet".
Zwei Jahre lange hatte die von Eleanor Roosevelt geleitete UN-Expertenkommission um geradezu jede Formulierung dieser Erklärung gerungen. Schon damals erlaubte die Blockkonfrontation zunächst nur eine völkerrechtlich unverbindliche Absichtserklärung, die dann erst im Jahr 1966 in verbindliche Verträge umgemünzt werden konnte. Das bahnbrechend Neue an der Allgemeinen Erklärung war weniger die bereits seit dem 18. Jahrhundert geläufige Einsicht, dass legitime Herrschaft unter dem inneren Vorbehalt des Schutzes basaler Individualrechte steht. Revolutionär neu war die äußere Selbstverpflichtung souveräner Nationalstaaten, sich dabei fortan auf die Finger schauen zu lassen. Nach zwei Weltkriegen und dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch gab der UN-Menschenrechtsschutz das Versprechen ab, ein global koordiniertes Bollwerk gegen nationalstaatliche Willkür zu errichten, weil, so heißt es in der Präambel, "die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen".
Doch das vermeintliche Ende der Geschichte währte nur kurz. Schon bald nach 1989 setzte eine desaströse und bis dato nicht abreißende Serie globaler Desillusionierungen ein. Neue Kriege, Staatenzerfall, Völkermord, Terrorismus, Flucht, Klimakrise, Rechtspopulismus und Corona: Mit zunehmenden Vertrauensverlusten in den demokratischen Rechtsstaat schwanden zeitgleich auch einstige Hoffnungen auf eine internationale Ordnung zum Schutze des Friedens und der Menschenrechte. Die aktuellen Kriege in der Ukraine und in Gaza wirken da bloß wie allerletzte Nägel auf dem Sarg des UN-Schutzregimes. Die Strahlkraft dieser "letzten Utopie", wie es beim Rechtshistoriker Samuel Moyn heißt, sei endgültig verblasst. Die Menschenrechte seien eine Art "Kirche", die ihrer "Endzeit" entgegenblickt, sagt etwa der Politikwissenschaftler Stephen Hopgood.
Doch wie genau ist dieser Trend zum pessimistischen Abgesang zu erklären? Mit der kriegerischen Gewalt in der Ukraine und in Gaza drängt sich zunächst ein neuer weltpolitischer Realismus auf. Das dortige Grauen lässt den menschenrechtlichen Humanismus realitätsfern und idealistisch erscheinen. Was nützt den Opfern von russischer Invasion und Hamas das am Ende folgenlose Pochen auf Menschenrechte, wenn gegen rohe Gewalt letztlich nur handfeste Gegengewalt zu helfen scheint? Die Menschenrechte sind in ihrer Durchsetzung von völkerrechtlichen Selbstbindungen souveräner Staaten abhängig. Unter diesen greift derzeit eine neue Bereitschaft um sich, geltendes Völkerrecht schlicht zu ignorieren, falls dies der eigenen Selbsterhaltung dient. Wer da "Menschenrechte" ruft, wird belächelt oder auf bessere Zeiten vertröstet.
Erschwerend hinzu kommt die fatale Schwäche der UN, auf deren Zukunft derzeit kaum noch jemand einen Cent zu setzen gewillt ist. Die Friedensmissionen in Osttimor, Liberia oder Sierra Leone mögen erfolgreich gewesen sein. Aber was ist mit Ruanda, Srebrenica, Irak, Mali, Syrien, Afghanistan? Mit der Ukraine und nun Gaza? Das sich wiederholende UN-Versagen, das die Menschenrechte wie zahnlose Papiertiger erscheinen lässt, hat zum einen mit Konstruktionsfehlern im Sicherheitsrat zu tun, die es den Großmächten ermöglichen, jede für sie ungünstige Resolution per Veto zu blockieren. Zum anderen ist die Organisation bis in das höchste Spitzenamt von Generalsekretär António Guterres derart rückgratlos besetzt, dass sie sich, wie sonst nur die Fifa, von der arabischen Welt dirigieren lässt. In 2022 etwa hat die UN-Generalversammlung allein 15 Resolutionen gegen Israel lanciert – mehr als gegen alle anderen Staaten zusammen.
Der Ukraine-Krieg und die Hamas-Massaker haben zudem einen Trend verstärkt, der sich bereits im Zuge der auf den 11. September 2001 folgenden Kriege in Irak und Afghanistan andeutete: Immer häufiger verleiten solche Großkonflikte zu einem bekenntnishaften Freund-Feind-Denken. Man ist entweder bedingungslos für die Ukraine oder aber ein "Putinknecht". Man steht entweder vorbehaltlos an der Seite Israels oder sympathisiert mit der Hamas. Menschenrechtlich betrachtet ist diese einseitige Parteinahme deshalb problematisch, weil dabei der für die Menschenrechte zentrale Grundgedanke verloren geht: Nicht nur manche, sondern strikt alle Menschen sind als fundamental gleichwertig zu achten.
Doch spielt die Menschenrechtsrhetorik mitunter auch selbst eine unrühmliche Rolle. Es ist auf zynische Weise bezeichnend für deren "Erfolg", dass heute selbst autoritäre Gewaltherrscher nicht ohne den rhetorischen Rückgriff auf völkerrechtliche Schutzansprüche auskommen, wenn sie ihrerseits eine direkt menschenrechtsfeindliche Politik zu rechtfertigen versuchen. Man denke an Putin, der den Einmarsch in die Ukraine mit einem mutmaßlichen "Genozid" an der russischsprachigen Bevölkerung begründete. Und auch hinter dem – in der Sache berechtigten – Hinweis auf gleiche fundamentale Rechte der Menschen in Gaza versteckt sich nicht selten der Versuch einer nachträglichen Relativierung der bestialischen Hamas-Massaker vom 7. Oktober.
Zugleich ist dieser rhetorische Missbrauch, der auch schon den Irak-Krieg herbeiführen half, mitverantwortlich dafür, dass die universellen Menschenrechte heute wieder verstärkt als westliche Geheimwaffe geframet werden; so als ginge es hinterrücks bloß darum, Partikularinteressen der USA durchzusetzen. Wahlweise gelten die Ukraine und der vermeintliche Siedlerkolonialismus Israels dann als imperial verlängerte Arme der USA im osteuropäischen und arabischen Raum. Mal neurechts argumentierend, mal postkolonial, skandalisiert diese Kritik an US-amerikanischer Hegemonie mit den westlichen Verstrickungen in historisches Unrecht die universellen Rechte gleich mit.
Innenpolitisch macht sich dieser Anti-Universalismus vor allem in der Migrationsdebatte bemerkbar, und zwar vor allem in rechtspopulistischen Milieus. Die vermeintliche Überlegenheit des Eigenen soll gegen Veränderung von außen abgeschottet werden. Reaktionäre Angriffe auf den Rechtsstaat, wie man sie hierzulande vor allem von der AfD kennt, aber ähnlich auch von Trump, Erdoğan, Orbán oder der polnischen PiS, lassen sich so als Renaissance eines Kollektivismus nationalistischer oder rassistischer Selbsterhaltung deuten, der auf Kosten unveräußerlicher Menschenrechte anderer verfährt.
Diese kollektivistischen Begehrlichkeiten weisen Parallelen zu Diskussionen über Klimaschutz, Corona oder die Ukraine auf. Auch wenn sich die Positionen hier viel weniger eindeutig als bei der Migration am alten Links-Rechts-Schema orientieren: Angesichts kollektiver Bedrohungslagen und im Namen mutmaßlich höherer Ziele – Abschottung, Klimaschutz, Volksgesundheit, Landesverteidigung – gelten unverlierbare Individualrechte zunehmend als anachronistisch. Zwar lassen die Grund- und Menschenrechte sehr wohl "verhältnismäßige" Eingriffe zu. Doch die Bereitschaft, die verfassungsrechtlichen Kriterien dieser Verhältnismäßigkeit möglichst lax auszulegen, wird größer. Wo aber Gefahr ist, wächst der Kollektivismus auch.
Dabei wird deutlich, wie kostspielig ein konsequenter Menschenrechtsschutz wäre. Lange wurden die Menschenrechte – zumindest hierzulande – als Zumutung primär für Unrechtsstaaten betrachtet. So fiel es leicht, dafür zu sein. Nun aber werden diese Rechte vermehrt hier vor Ort eingeklagt. Und wer fürchtet, mit dem Verlust eigener Privilegien für die Rechte bislang marginalisierter anderer bezahlen zu müssen, wird diese Entwicklung mit Vorsicht genießen. Manche sträuben sich dagegen, dass auch Frauen, Andersgläubige, Eingewanderte, Arbeitslose, Homosexuelle oder Kinder als strikt gleich zu betrachten sind. Andere haben damit zu kämpfen, dass die Menschenrechte auch für Kriminelle, Rechtsradikale, sogenannte Schwurbler, Ungeimpfte oder Klimawandelleugner da sind.
All diese ernüchternden Befunde sprechen dafür, dass die nach 1948 und 1989 gehegten Hoffnungen tatsächlich zu hoch veranschlagt waren. Was man aber leicht übersieht: Die in diesen Krisen zum Tragen kommende Kritik an den Menschenrechten ist eher selten eine Kritik an ihrer Grundidee. Beklagt wird deren empirische Folgenlosigkeit aufgrund mangelnder politischer Konsequenz. Man kritisiert westliche Anmaßung, parteiische Auslegungen, rhetorischen Missbrauch oder ihre Kostspieligkeit. Und teilweise ja auch zu Recht. Doch die Grundidee einer politischen Gleichrangigkeit qua Menschsein wird meist "nur" noch von Personen mit völkischen, rassistischen, fundamentalistischen, misogynen, homophoben oder anderweitig menschenfeindlichen Einstellungen abgelehnt. Und wer in theoriemodische Abgesänge auf die Menschenrechte einstimmt, wird sich fragen lassen müssen, ob man sich mit diesen Gruppen gemein machen will.
An diesem 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wirkt die Forderung nach einer national wie weltweit durchzusetzenden Gleichberechtigung aller Menschen tatsächlich utopisch. Doch machen wir uns mit Blick auf Gaza klar, was verloren ginge, ließen wir dieses egalitäre Erbe fahren. Denn erst der Menschenrechtsgedanke ermöglicht es, darauf zu pochen, dass Gleichheit an Würde und Rechten für alle gilt: ob für Israelis oder Palästinenser, ob für Kinder, Alte, Frauen oder Männer. Ihr Leiden hat jeweils exakt dasselbe Gewicht. Und entsprechend haben all diese Menschen ein gleiches Recht darauf, vor Gewalt und Terror geschützt zu sein. Damit geraten die jeweils vor Ort Herrschenden, nicht die Zivilisten selbst ins Visier der menschenrechtlichen Kritik, wenngleich auf unterschiedliche Weise.
Kommt die Gewalt von außen, so haben die politischen Machthaber nicht nur die Pflicht, eigene Verstöße gegen Menschenrechte zu unterlassen, sondern auch die Aufgabe, ihre Zivilbevölkerung gegen diese äußeren Gefahren zu schützen. Das trifft auf die israelische Regierung zu, die berechtigt ist, Krieg gegen die Hamas zu führen, die aber deshalb keineswegs dazu berechtigt wäre, Verbrechen an der palästinensischen Bevölkerung zu begehen. Die Menschenrechte erlauben eine Gefahrenabwehr, die "verhältnismäßig" ist, nicht aber Rache oder Notwehrexzesse. Für die Hamas, deren bestialische Massaker vollends jenseits aller menschenrechtlichen Rechtfertigung verübt wurden, gilt diese Verpflichtung ebenfalls: Auch sie muss die eigene Zivilbevölkerung schützen, statt sie als Schutzschild zu missbrauchen und so internationale Anteilnahme zu provozieren.
Es ist zu befürchten, dass längst auch Israel Verstöße gegen das Völkerrecht begangen hat; etwa im Rahmen unkontrollierter Luftangriffe oder der Blockade von Strom, Wasser und Lebensmitteln. Dieser Befund darf keinesfalls als eine Relativierung der Verbrechen vom 7. Oktober verstanden werden, denn diese haben den Konflikt erst eskalieren lassen. Vielmehr wird deutlich, dass es in der aktuellen Situation auf die Entschlossenheit und Reformfähigkeit der UN ankäme. Gerade weil der universelle Menschenrechtschutz nicht zwischen israelischer und palästinensischer Menschenwürde unterscheidet, sind die UN längst dazu aufgerufen, deeskalierend und friedenstiftend einzuschreiten. Doch leider ist aufgrund der realpolitischen Kräfteverhältnisse derzeit kaum zu erwarten, dass es tatsächlich zu einer UN-Intervention kommt. Aber warum sollte man diese institutionelle Impotenz den Menschenrechten selbst zur Last legen?
Dieser Tage zeigt sich einmal mehr: Die Welt hätte aus Krieg und Gewalt erneut zu lernen. Derzeit aber schickt sie sich an, das Gegenteil zu tun: Sie verlernt die menschenrechtliche Botschaft. Das betrifft nicht zuletzt auch die historische Bedeutung des Staates Israel: Die Erinnerung an die totalitäre Judenvernichtung ist nicht nur in Artikel 1 des Grundgesetzes, sondern auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aufgehoben. Das verpflichtet die UN auch menschenrechtlich zu einer besonderen Berücksichtigung des Existenzrechtes Israels. Aber zugleich eben auch dazu, den strikt egalitären Anspruch auf ein Leben in Menschenwürde nicht auf Kosten der palästinensischen Zivilbevölkerung abzustufen.
Das ist eine schwierige Gratwanderung. Zumal in Gaza die Grenzen zwischen der Hamas und der Zivilbevölkerung mitunter zu verschwimmen drohen. Wer aber übersieht, dass die Menschenrechte für ein historisch mahnendes Gewalterbe stehen, das neben den konkreten Opfern auch die Menschheit insgesamt betrifft, sollte sich klar sein, wem Abgesänge auf die Menschenrechte vor allem dienen: einem politisch sehr konkreten Relativismus rücksichtsloser Willkürgewalt. Aktuell geht es um Israel und Gaza oder auch um die Ukraine und Russland, aber doch zugleich auch um die universelle Frage, wie der Mensch als Mensch leben und wie er gerade nicht regiert werden will. An jedem 10. Dezember ist daran zu erinnern: Die Menschenrechte fordern einen politischen Gegenwiderstand, einen legitimen Widerstand gegen den illegitimen Widerstand autoritärer Herrscher und reaktionärer Denkweisen. Und ein solcher Gegenwiderstand ist besonders dann vonnöten, wenn sich das vielzitierte Rad der Geschichte zurückzudreht.
Aus: "Jedes Leid zählt" Arnd Pollmann (10. Dezember 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2023-12/menschenrechte-vereinte-nationen-krieg-utopie
Arnd Pollmann (* 1970 in Remagen) ist ein deutscher Philosoph. Seit 2018 ist er Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice Salomon Hochschule Berlin. ... Pollmann arbeitet schwerpunktmäßig zur Sozialphilosophie und Ethik, insbesondere zur Philosophie der Menschenrechte, aber auch zur angewandten Ethik in den Bereichen der Medizin, der Technik und des Tierschutzes. Seine Dissertation widmete er dem Begriff der Integrität.
https://de.wikipedia.org/wiki/Arnd_Pollmann