Quote[...] ,,Die Macht werden sie nie erringen", schrieb der Schriftsteller Jörg Fauser 1984 in einer grandiosen TransAtlantik-Story über die neu gegründeten und ziemlich bescheuerten Grünen. Wenn es ihnen aber gelänge, ,,Risse in die Betonmauern der Macht zu hämmern", dann hätten sie ihren Platz gefunden. Das entsprach noch viele Jahre dem Existenzialismusgefühl jener, die ,,alternativ" sein wollten, im Glauben, sie könnten am Rand eines schlimmen ,,Systems" – A14 aufwärts besoldet – ein gesellschafts- und staatskritisches Leben führen.
Aber manche Menschheitsbewegungen werden halt für ein Ziel gegründet, das sie noch gar nicht kennen können, weil es zu weit in der Zukunft liegt. Wenn die Zeit dann sichtbar eine andere geworden ist, geht es darum, Verantwortung für das zu übernehmen, was jetzt ist und was ansteht. Deshalb war es konsequent, dass Winfried Kretschmann und dann bundespolitisch Robert Habeck die Grünen programmatisch und kulturell in das Zentrum der Gesellschaft und der politischen Macht geführt haben.
Dort allerdings scheinen die Grünen im Moment ziemlich allein zu sein. Das Problem der Grünen besteht jedoch nicht darin, dass ihnen die Wähler davonlaufen, sondern in den beiden anderen an der Bundesregierung beteiligten Parteien. Die FDP wird von Christian Lindners Kette politischer Fehler zurückgeworfen, die SPD ist seit Jahren in einem existenziellen Niedergang. Der aktuelle Trick 17 des politischen und medialen Diskurses besteht darin, dass man beiden einzureden versucht, beziehungsweise die sich einreden, dass ihr Pro�blem nicht sie selbst seien, sondern die Grünen.
Die oppositionelle Union tut gar so, als seien die Grünen ein nationales Unglück und an allem schuld, was CDU und CSU in den letzten Jahrzehnten in Regierungsverantwortung gemacht oder eben nicht gemacht haben. Besonders bemühte Strategen legen noch eins drauf, indem sie behaupten, eine Koalition mit den Grünen würde Unionswähler scharenweise zur AfD treiben. Das ist der zentrale Spin derzeit: Die Grünen sind giftig, wer sich mit ihnen einlässt, verliert.
Demokraten, Bürger: Die Grünen sind bei allen Dysfunktionalitäten – von der unpolitischen Jugendorganisation bis zur sich selbst genügenden Fraktion – die einzige Partei, die auf das Ende der ,,Normalität", also des Lebens, wie wir es kannten, politisch reagieren will. Sie ist die zentrale politische Kraft der gemäßigt progressiven Leute, die den Staat und seine Verfassung schützen und seine Wirtschaft postfossil und damit zukunftstauglich machen wollen.
Das sind Leute, die dafür selbstverständlich bereit sind, Kompromisse mit allen anders tickenden Demokraten zu schließen. Wenn manche von denen jetzt so tun, als seien die Grünen alles Irre, dann ist das der Versuch, der Veränderungsnotwendigkeit auszuweichen. Es ist auch ein völlig unakzeptabler Affront gegen ihre Wähler, also hart arbeitende Leute, die das Land, seine Wirtschaft und den Sozialstaat mit am Laufen halten.
Es ist vor allem – siehe Schlüttsiel und zuletzt am Aschermittwoch in Biberach und Schorndorf – ein gefährlicher Spin, der die Zivilität dieser Gesellschaft erodiert, die notwendigen Kompromisse für eine gemeinsame Zukunft desavouiert und damit letztlich nur den Demokratiefeinden nützt.
Es gibt darauf aber nur eine Antwort: Gegen die Wut auf den Zeitenbruch verbindliche und klare Argumente setzen, um mehr Leute dafür zu gewinnen. Gegenwut hilft sicher nicht, nett sein auch nicht. Aber wir müssen jetzt die Risse in der Gesellschaft kitten, nicht weiter aufreißen.
Aus: "Partei als Feindbild: Sind die Grünen giftig?" Eine Kolumne von Peter Unfried Chefreporter der taz (20.2.2024)
Quelle: https://taz.de/Partei-als-Feindbild/!5990187/
QuoteKohlrabi
Ich wohne dort, wo die Grünen auf 40% kommen. All Time High.
Grün zu wählen und zu "sein" ist ein Signal an die Außenwelt: Wir haben es geschafft, wir sind außerhalb des proletarischen Hamsterrades, wir sind keine Proleten mehr, wir sind jetzt bürgerlich und postmaterialistisch, aber trotzdem noch ... äh ... cool und kritisch.
Kein Wunder, dass das von außerhalb der Blase Abneigungen auf sich zieht.
Aber deshalb sind die Grünen auch relativ stabil, weil sie keine Klasse repräsentieren, sondern ein diffuses Milieu, das sich selbst - teils irrtümlich - im gesellschaftlichen Aufstieg begreift.
QuoteKarl Murks
Die Grünen sind eine Partei, die man leicht hassen kann. Lauter Leute, die den ganzen Tag erzählen, sie seien heiliger als du und nur im Auftrag von Fortschritt und Glückseeligkeit unterwegs. Dazu kommt dann noch eine sehr oberlehrerhafte Art der Kommunikation und eine geringe Neigung dazu, andere Sichtweisen zu akzeptieren.
QuoteSam Spade
Zwei Dinge mögen Menschen gar nicht: Wenn man versucht ihre Gewohnheiten zu ändern und wenn ihr Weltbild beeinträchtigt wird.
Merkel und Kohl haben in diesem Sinne Politik betrieben, indem sie den Bürgern ja nicht zuviel zumuten wollten. Das Ergebnis waren insgesamt 32 Jahre Reformstau. Mit verhängnisvollen Folgen nicht nur im Bereich des Klimaschutzes.
Und dann kommt eine Partei mit an die Regierung die lösungsorientiert handelt und konkrete Vorschläge unterbreitet und was passiert: statt Aufbruchstimmung machen sich Verlustängste bei großen Teilen der Bevölkerung breit. Und zudem wird sie noch von den eigenen Koalitionspartnern ausgebremst.
Das Ganze ist an Absurdität nicht mehr zu überbieten.
QuoteMustardman
Die Grünen haben einfach nicht kapiert, dass sie ihre Politik auch richtig verkaufen müssen. Gerade wenn man so angreifbar ist, muss man das sehr systematisch und nachdrücklich angehen. Also erreichbare Ziele formulieren, konsequent darauf hinarbeiten und nie vergessen, den anderen Parteien bei jeder Gelegenheit einen reinzuwürgen.
Aber ganz im Gegenteil tun die Grünen immer so, als würde jeder alles von allein einsehen, dabei sind sie die missverstandenste Partei von allen. Was auch daran liegt, dass sie von allen Seiten ganz systematisch attackiert werden und das auf fruchtbaren Boden fällt.
Kurz: Die Grünen sind einfach politisch völlig ungeschickt, was den Transport und die Durchsetzung ihrer Ziele angeht. Da fehlt einfach die Frechheit, Unverschämtheit und Unverfrorenheit von Leuten wie Lindner, Söder und anderswo Trump und Putin. Und Frechheit siegt nunmal.
Ganz anständig und wortkarg unterzugehen ist nur gesinnungsethisch eine Tugend, praktisch gesehen ist es nur hinter beleidigter Resignation versteckte Inkompetenz.
Sorry, aber wer das Ziel will, muss auch die Mittel wollen, da darf man ruhig auch zynisch und bösartig sein, wenn es nur hilft. Letztlich verhalten die Grünen sich oft wie ein Mobbingopfer. Ihnen fehlen einfach ein paar zynische Machtmenschen. Die braucht man nämlich auch, sonst ist man immer nur Opfer, nie Täter (im produktiven Sinn).
QuoteAl Dente
@Mustardman Wenn die Maßnahmen für den Klimaschutz dazu führen, dass das Leben von immer mehr Menschen nicht mehr funktioniert (weil sie z. B. entweder energetisch 'optimalen' Wohnraum nicht bezahlen können, oder aber ihre Heiz-/Energiekosten), dann werden sie sich für die Zusage einer CO2-Neutralität im Jahr 2045 nicht mehr interessieren.
Man kann von dem, was vermutlich (gut begründet!) nötig ist, immer nur das umsetzen, was real (und sozialverträglich!) möglich ist. Und ja - 'sozialverträglich' meint in diesem Zusammenhang vorrangig die eigene Gesellschaft und nicht die ganze Welt; übrigens nicht, weil diese Gesellschaft sich für 'besser' hält als andere.
Ich gehe darum auch auch davon aus, dass z. B. das Verbrenner-Aus für 2035 nicht Bestand haben wird. Wir sind (aus meiner Sicht) auf dem richtigen Weg, aber die Etappenziele sind völlig irrational und die Mittel zu ihrer Durchsetzung oft kontraproduktiv.
"Da fehlt einfach die Frechheit, Unverschämtheit und Unverfrorenheit von Leuten wie Lindner, Söder und anderswo Trump und Putin."
"Ihnen [den Grünen] fehlen einfach ein paar zynische Machtmenschen. Die braucht man nämlich auch, sonst ist man immer nur Opfer, nie Täter (im produktiven Sinn)."
Gruselige Vorstellung!
Ich habe die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass unsere Demokratie stabil genug (konstruiert) ist, um genau das verhindern zu können.
QuoteRudolf Fissner
Wenn die Grünen giftig sind, was ist dann die SPD mit ihren weitaus horrenderen Umfrageergebnissen?
Die Grünen haben ihr Bundestags-Ergebnis gehalten. Die SPD hat 10% verloren.
Giftig sind die Grünen offensichtlich nur gefühlt.
QuoteManuel Bonik
Früher waren die Grünen die schrägen Vögel. Jetzt scheinen sie mir die einzige Partei, die erwachsen und zeitnah auf Probleme oder gar Krisen reagiert.
QuoteCiro
Ich denke auch: der Politik wird oft vorgeworfen, sie wäre nicht ehrlich. Und dann ist da eine Partei, die sagt, wir können nicht so weitermachen mit der Zerstörung des Planeten, und es ist auch wieder nicht recht.
QuoteFilou
Die Grünen haben wieder das Problem als Verbotspartei gesehen zu werden. Verbote, das mögen die Menschen nicht. Die Grünen haben zwar konstant ihre Stammwähler, aber das war's momentan auch.
QuoteNina Zabienski
Der Hass und die Hetze gegen die Grünen von seitens Söder und Co waren oft so überdimensioniert, dass man vielleicht auch mal nach der Psychologie dieses Tuns fragen könnte. Baerbock, Habeck und Lemke agieren zielorientiert, souverän, mit neuen Kommunikationsmustern, die gut ankommen. Und auch viele andere Grünen äußern sich oft mit einer Ernsthaftigkeit, die gegen das allgemeine Blabla der etablierten PolitikerInnen hervorsticht. Ja, wer jetzt am lautesten gegen die Grünen hetzt, der kann wohl auf der Persönlichkeits-und Charakterebene vieler Grünen so gar nicht mithalten, ein möglicher Grund für unterirdische Machtkämpfe.
QuoteJim Hawkins
Die Grünen machen alles richtig, nur sind die Leute zu dumm oder zu manipuliert, um das zu begreifen.
So kann man es auch drehen.
QuoteWalterismus
"Aber wir müssen jetzt die Risse in der Gesellschaft kitten, nicht weiter aufreißen."
Der Riss verläuft zwischen der Stadt und dem Land. Und genau hier sieht man bei den Grünen auch ein Kompetenzproblem, sowie Interessenproblem. Die Grünen Wähler sind hauptsächlich in Urbanen Räumen stark. Dementsprechend ist auch die Grüne Politik auch eher aus einem Stadtblickwinkel.
Wenn man mal die Forderungen der Grünen im Verkehrssektor durchliest und den Blickwinkel der Ländlichen Regionen annimmt, dann merkt man schnell das die Ideen auf dem Land nicht darstellbar sind und sogar die Stadt weiter aufwertet, wogegen das Land herunter fällt.
Sammeltaxi Idee vs. Ausbau der U-Bahnen
Die Grünen sind nicht für alles Schuld, sie sind aber mit ihrem Theoretischen und Einseitigen Blickwinkel für die Gesellschaft problematisch.
Die Anfeindungen sind unschön, aber nicht verwunderlich, wenn ein Großteil der Bevölkerung auf dem Land das Gefühl hat, die Grüne Politik bringt nur Nachteile im Gegensatz zur Stadt.
QuoteSuryo
"Dabei ist sie doch die einzige, die auf das Ende der ,,Normalität" ernsthaft reagieren will."
Mag sein, aber genau solche Äußerungen machen sie dann eben wieder unsympathisch.
Die Grünen sind die Streberpartei. Der Streber mag recht haben, bzw. mag Wissen gut reproduzieren können, aber es mag ihn eben keiner.
QuotePerkele
gestern, 12:51
Die Grünen sind unbequem - trotz aller Unzulänglichkeiten. Unbequemlichkeit jedoch will niemand an sich selbst erleben. Das genau ist der Hebel, mit dem CDSUAFDP ansetzen: "Wer uns wählt, braucht sich nicht umzustellen. Wir regeln alles technologieoffen!" Das wollen die Leute hören, auch wenn es wider besseres Wissen ist. Lügen und Verleumdungen gehören nun mal zu den "westlichen Werten" - da kommt's dann eh nicht mehr drauf an.....
QuoteKamu
Moderator
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