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#2161
Quote[...] Etwa 30 Prozent der Corona-Patienten auf Berlin-Brandenburgs Intensivstationen sterben.


Aus: "Genesen – nicht gesund: Wie es ist, einen schweren Verlauf von Covid-19 überlebt zu haben" Barbara Nolte (15.05.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/berlin/genesen-nicht-gesund-wie-es-ist-einen-schweren-verlauf-von-covid-19-ueberlebt-zu-haben/25832168.html
#2162
Quote[...] Beinahe scheint es, als gehöre es in diesen Tagen zum guten Ton, sich über Verschwörungstheoretiker lustig zu machen. Kein Wunder: Die wachsende Gemeinschaft der ideologischen Schwurbler gibt laufend neuen Anlass. Immer abstruser wird das Gerede von der großen Gates-Verschwörung, der drohenden Zwangsimpfung mit Mikrochip-Implantaten und der planvollen Vernichtung der Weltbevölkerung. In Deutschland folgen Tausende dem manisch insinuierenden Ken Jebsen oder dem raunenden Xavier Naidoo um gegen eine vermeintliche ,,Corona-Diktatur" aufzubegehren.

Und witzig ist das längst nicht mehr. Kochbuchautor Attila Hildmann fabulierte am vergangenen Wochenende vor dem Reichstag gar von ,,kleinen Eliten, die nur böses vorhaben" und warnte die Anwesenden: ,,Viele von Euch werden umgebracht." Beinahe wirkte es, als habe er sich das Vokabular seiner Rede in der antisemitischen Hetzschrift der ,,Protokolle der Weisen von Zion" geborgt. Zwar machte Hildmann nicht Juden für die Situation verantwortlich, doch Rhetorik und Argumentationsformen erinnerten in beängstigender Weise an das Pamphlet.

Die Protokolle gelten als Prototyp moderner Verschwörungstheorien. Ihre Wirkungsgeschichte steht beispielhaft dafür, wie schwer es ist, gegen solche Ideologien vorzugehen. Die vermeintlichen Dokumente einer jüdischen Weltverschwörung wurden in einem international beachteten Schweizer Strafprozess in den 1930er Jahren als Fälschung entlarvt. Den mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten konnte das trotzdem nicht stoppen. Hannah Arendt stellte später fest: ,,Wenn (...) eine so offensichtliche Fälschung wie die Protokolle der Weisen von Zion von so vielen geglaubt wird (...), so handelt es sich darum zu erklären, wie dies möglich ist, aber nicht darum, zum hundertsten Male zu beweisen, was ohnehin alle Welt weiß, nämlich, dass man es mit einer Fälschung zu tun hat."

Heute sind Verschwörungstheoretiker eine wissenschaftlich gut erforschte Spezies. Experten wurden in den vergangenen Wochen nicht müde zu erklären, dass Menschen in Krisen versuchen, Kontrolle über ihre Unsicherheit zu erringen. Für abstrakte Problemstellungen wie eine Pandemie werden dabei kurzerhand Einzelpersonen und Gruppen verantwortlich gemacht. Es sind ihre abstrusen Analysen, weswegen Verschwörungstheoretikern oftmals der Stempel des irrationalen Außenseiters, psychisch Kranken oder schlicht des Spinners aufgedrückt wird. Doch das ist zu einfach.

Denn wirre Ideologien stehen keineswegs im Widerspruch zum Ideal einer aufgeklärten Gesellschaft. Nicht umsonst war das 18. Jahrhundert, die große Epoche der Aufklärung, eine Blütezeit von Verschwörungstheorien. Wo nicht mehr Gott oder mythische Kräfte das menschliche Schicksal lenken, schien es für das rationale Denken naheliegend zu sein, dass Menschen im Verborgenen handeln müssen, sich heimlich untereinander absprechen. Verschwörungstheorien können darum auch als Schattenseite einer durchrationalisierten Gesellschaft gewertet werden, als hilfloser Versuch einer Antwort in Zeiten existenzieller Verunsicherung.

Dieses Denken ist allerdings keine anthropologische Grundkonstante, sondern verändert seinen Charakter mit den Problemstellungen der jeweiligen historischen Konstellation. So haben vermeintlich absurde Erklärungsmuster auch in der liberalen Demokratie durchaus eine Funktion im gesellschaftlichen und psychologischen Haushalt. Wiederholt stellten Studien fest, dass gefährliches Verschwörungsdenken besonders dort in Erscheinung tritt, wo sich Teile der Gesellschaft permanent bedroht fühlen. Menschen, die ihre Lebenssituation als ungerecht empfinden oder sich von der Politik allein gelassen fühlten, glauben signifikant häufiger an Verschwörungstheorien. Demzufolge könnten diese Denkmuster im Sinne von Theodor W. Adorno durchaus als ,,Wundmale der Demokratie, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird" bezeichnet werden.

Erst im vergangenen Jahr offenbarte die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland damit zufrieden ist, wie die Demokratie funktioniert. Unter Arbeitern waren sogar 70 Prozent unzufrieden. Michael Butter, der ein EU-Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien leitet, führt an, dass auch die erneute Bildung einer Großen Koalition ,,unfreiwillig dazu beigetragen hat, dass der Nährboden für Verschwörungstheorien größer geworden ist". Das Gefühl verstärke sich: Es ist längst egal, wen ich wähle, meine Stimme macht ohnehin keinen Unterschied.

Menschen stehen in modernen Gesellschaften nicht mehr unter der Kontrolle von willkürlichen Herrschern oder fremden Mächten. Stattdessen soll die unsichtbare Hand des Marktes das Geschehen lenken. In Krisenzeiten wird diese aber leicht mit der Hand eines Puppenspielers verwechselt, die die Marionetten der Ökonomie tanzen lässt. Statt das Weltwirtschaftssystem als krisenanfälliges, komplexes gesellschaftliches Verhältnis zu erfassen, schlägt das menschliche Bedürfnis nach Unmittelbarkeit in personalisierendes Denken um.

Das Feindbild Bill Gates könnte dabei auch ein Platzhalter für das Unbehagen gegenüber ökonomischen Machtverhältnissen sein, in denen ein einziger Mensch so viel Geld wie ganze Volkswirtschaften besitzt. Nein, Gates steuert die Weltgesundheitsorganisation nicht, um perfide Sterilisationspläne durchzusetzen – aber ohne seine Stiftung als privater Geldgeber würde die Koordinationsbehörde der Vereinten Nationen womöglich zusammenbrechen.

Wo das Recht auf Privateigentum höher eingeschätzt wird als demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten, können Verschwörungstheorien durchaus als gefährlicher Ausdruck einer erlebten Ohnmacht gewertet werden. Wenn Menschen ein Ablassventil für ihre diffuse Frustration suchen, liegt der Griff zur Ideologie nahe. Verschwörungstheorien sind somit auch ein Warnsignal, ein Ausweis der geistigen Entfremdung des Individuums von der Gesellschaft.

Es gilt wachsam zu bleiben: Im Zuge der ,,Mitte-Studie" bejahten im vergangenen Jahr übrigens auch die Hälfte der Befragten die These, es gäbe geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Ebenso viele stimmten der Aussage zu, den eigenen Gefühlen mehr zu vertrauen als Experten. Und so scheint nicht erst mit der Krise der Nährboden für Verschwörungstheorien bereitet zu werden. Vielmehr ist sie das Brennglas, das ein tiefergreifendes Problem offenbart. Und die perfekte Bühne für Querfrontstrategen, um das Heer der Verängstigten zu mobilisieren.


Aus: "Ideologien in der Coronakrise: Warum Verschwörungstheoretiker nicht einfach nur Spinner sind" Hannes Soltau (19.05.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/ideologien-in-der-coronakrise-warum-verschwoerungstheoretiker-nicht-einfach-nur-spinner-sind/25844136.html

QuoteLiKoDe 09:32 Uhr

    Warum Verschwörungsvermutungen nicht einfach nur Spinnereien sind, sondern Zeichen einer geistigen Entfremdung einiger Individuuen von der Gesellschaft.

Nun, tatsächliche Verschwörungen waren, sind und werden immer real sein. Denn Eine Verschwörung ist eine geheime Zusammenarbeit mehrerer Personen zum Nachteil Dritter. Man gucke dazu in die Geschichte sowie ins BGB, StGB oder GG.

Je weniger man sich Vorgänge selbst erklären kann, desto eher wird man irgendwas vermuten, das man womöglich nicht bestätigen oder widerlegen kann. Im Austausch mit anderen wird daraus dann schnell ein Gerücht, das über Selbst- und Fremverstärkung sich verbreitet und ausweitet.

Verfügt man aber über ausreichende Kenntnisse in Sprache, Physik, Chemie, Biologie, Technik, Mathematik und Gesellschaftslehre, kann man die Wahrheit selbst erkunden und von Lug und Trug unterscheiden, wie Sir Arthur Conan Doyle es seinen Sherlock Holmes machen lässt:

    "Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag."


QuoteUrbanJazz 19.05.2020, 20:59 Uhr

    Auch die Hälfte der Befragten

    Ebenso viele stimmten der Aussage zu, den eigenen Gefühlen mehr zu vertrauen als Experten.

Der Mensch ist ein irrationales Wesen. Und das zeigt sich derzeit wieder deutlich. Entweder man hat Angst vor Corona oder aber das Lustprinzip triumphiert (wir wollen aber unseren Urlaub!).


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#2163
Quote[...] Beinahe scheint es, als gehöre es in diesen Tagen zum guten Ton, sich über Verschwörungstheoretiker lustig zu machen. Kein Wunder: Die wachsende Gemeinschaft der ideologischen Schwurbler gibt laufend neuen Anlass. Immer abstruser wird das Gerede von der großen Gates-Verschwörung, der drohenden Zwangsimpfung mit Mikrochip-Implantaten und der planvollen Vernichtung der Weltbevölkerung. In Deutschland folgen Tausende dem manisch insinuierenden Ken Jebsen oder dem raunenden Xavier Naidoo um gegen eine vermeintliche ,,Corona-Diktatur" aufzubegehren.

Und witzig ist das längst nicht mehr. Kochbuchautor Attila Hildmann fabulierte am vergangenen Wochenende vor dem Reichstag gar von ,,kleinen Eliten, die nur böses vorhaben" und warnte die Anwesenden: ,,Viele von Euch werden umgebracht." Beinahe wirkte es, als habe er sich das Vokabular seiner Rede in der antisemitischen Hetzschrift der ,,Protokolle der Weisen von Zion" geborgt. Zwar machte Hildmann nicht Juden für die Situation verantwortlich, doch Rhetorik und Argumentationsformen erinnerten in beängstigender Weise an das Pamphlet.

Die Protokolle gelten als Prototyp moderner Verschwörungstheorien. Ihre Wirkungsgeschichte steht beispielhaft dafür, wie schwer es ist, gegen solche Ideologien vorzugehen. Die vermeintlichen Dokumente einer jüdischen Weltverschwörung wurden in einem international beachteten Schweizer Strafprozess in den 1930er Jahren als Fälschung entlarvt. Den mörderischen Antisemitismus der Nationalsozialisten konnte das trotzdem nicht stoppen. Hannah Arendt stellte später fest: ,,Wenn (...) eine so offensichtliche Fälschung wie die Protokolle der Weisen von Zion von so vielen geglaubt wird (...), so handelt es sich darum zu erklären, wie dies möglich ist, aber nicht darum, zum hundertsten Male zu beweisen, was ohnehin alle Welt weiß, nämlich, dass man es mit einer Fälschung zu tun hat."

Heute sind Verschwörungstheoretiker eine wissenschaftlich gut erforschte Spezies. Experten wurden in den vergangenen Wochen nicht müde zu erklären, dass Menschen in Krisen versuchen, Kontrolle über ihre Unsicherheit zu erringen. Für abstrakte Problemstellungen wie eine Pandemie werden dabei kurzerhand Einzelpersonen und Gruppen verantwortlich gemacht. Es sind ihre abstrusen Analysen, weswegen Verschwörungstheoretikern oftmals der Stempel des irrationalen Außenseiters, psychisch Kranken oder schlicht des Spinners aufgedrückt wird. Doch das ist zu einfach.

Denn wirre Ideologien stehen keineswegs im Widerspruch zum Ideal einer aufgeklärten Gesellschaft. Nicht umsonst war das 18. Jahrhundert, die große Epoche der Aufklärung, eine Blütezeit von Verschwörungstheorien. Wo nicht mehr Gott oder mythische Kräfte das menschliche Schicksal lenken, schien es für das rationale Denken naheliegend zu sein, dass Menschen im Verborgenen handeln müssen, sich heimlich untereinander absprechen. Verschwörungstheorien können darum auch als Schattenseite einer durchrationalisierten Gesellschaft gewertet werden, als hilfloser Versuch einer Antwort in Zeiten existenzieller Verunsicherung.

Dieses Denken ist allerdings keine anthropologische Grundkonstante, sondern verändert seinen Charakter mit den Problemstellungen der jeweiligen historischen Konstellation. So haben vermeintlich absurde Erklärungsmuster auch in der liberalen Demokratie durchaus eine Funktion im gesellschaftlichen und psychologischen Haushalt. Wiederholt stellten Studien fest, dass gefährliches Verschwörungsdenken besonders dort in Erscheinung tritt, wo sich Teile der Gesellschaft permanent bedroht fühlen. Menschen, die ihre Lebenssituation als ungerecht empfinden oder sich von der Politik allein gelassen fühlten, glauben signifikant häufiger an Verschwörungstheorien. Demzufolge könnten diese Denkmuster im Sinne von Theodor W. Adorno durchaus als ,,Wundmale der Demokratie, die ihrem eigenen Begriff eben doch bis heute noch nicht voll gerecht wird" bezeichnet werden.

Erst im vergangenen Jahr offenbarte die Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland damit zufrieden ist, wie die Demokratie funktioniert. Unter Arbeitern waren sogar 70 Prozent unzufrieden. Michael Butter, der ein EU-Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien leitet, führt an, dass auch die erneute Bildung einer Großen Koalition ,,unfreiwillig dazu beigetragen hat, dass der Nährboden für Verschwörungstheorien größer geworden ist". Das Gefühl verstärke sich: Es ist längst egal, wen ich wähle, meine Stimme macht ohnehin keinen Unterschied.

Menschen stehen in modernen Gesellschaften nicht mehr unter der Kontrolle von willkürlichen Herrschern oder fremden Mächten. Stattdessen soll die unsichtbare Hand des Marktes das Geschehen lenken. In Krisenzeiten wird diese aber leicht mit der Hand eines Puppenspielers verwechselt, die die Marionetten der Ökonomie tanzen lässt. Statt das Weltwirtschaftssystem als krisenanfälliges, komplexes gesellschaftliches Verhältnis zu erfassen, schlägt das menschliche Bedürfnis nach Unmittelbarkeit in personalisierendes Denken um.

Das Feindbild Bill Gates könnte dabei auch ein Platzhalter für das Unbehagen gegenüber ökonomischen Machtverhältnissen sein, in denen ein einziger Mensch so viel Geld wie ganze Volkswirtschaften besitzt. Nein, Gates steuert die Weltgesundheitsorganisation nicht, um perfide Sterilisationspläne durchzusetzen – aber ohne seine Stiftung als privater Geldgeber würde die Koordinationsbehörde der Vereinten Nationen womöglich zusammenbrechen.

Wo das Recht auf Privateigentum höher eingeschätzt wird als demokratische Mitgestaltungsmöglichkeiten, können Verschwörungstheorien durchaus als gefährlicher Ausdruck einer erlebten Ohnmacht gewertet werden. Wenn Menschen ein Ablassventil für ihre diffuse Frustration suchen, liegt der Griff zur Ideologie nahe. Verschwörungstheorien sind somit auch ein Warnsignal, ein Ausweis der geistigen Entfremdung des Individuums von der Gesellschaft.

Es gilt wachsam zu bleiben: Im Zuge der ,,Mitte-Studie" bejahten im vergangenen Jahr übrigens auch die Hälfte der Befragten die These, es gäbe geheime Organisationen, die Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Ebenso viele stimmten der Aussage zu, den eigenen Gefühlen mehr zu vertrauen als Experten. Und so scheint nicht erst mit der Krise der Nährboden für Verschwörungstheorien bereitet zu werden. Vielmehr ist sie das Brennglas, das ein tiefergreifendes Problem offenbart. Und die perfekte Bühne für Querfrontstrategen, um das Heer der Verängstigten zu mobilisieren.


Aus: "Ideologien in der Coronakrise: Warum Verschwörungstheoretiker nicht einfach nur Spinner sind" Hannes Soltau (19.05.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/kultur/ideologien-in-der-coronakrise-warum-verschwoerungstheoretiker-nicht-einfach-nur-spinner-sind/25844136.html

QuoteLiKoDe 09:32 Uhr

    Warum Verschwörungsvermutungen nicht einfach nur Spinnereien sind, sondern Zeichen einer geistigen Entfremdung einiger Individuuen von der Gesellschaft.

Nun, tatsächliche Verschwörungen waren, sind und werden immer real sein. Denn Eine Verschwörung ist eine geheime Zusammenarbeit mehrerer Personen zum Nachteil Dritter. Man gucke dazu in die Geschichte sowie ins BGB, StGB oder GG.

Je weniger man sich Vorgänge selbst erklären kann, desto eher wird man irgendwas vermuten, das man womöglich nicht bestätigen oder widerlegen kann. Im Austausch mit anderen wird daraus dann schnell ein Gerücht, das über Selbst- und Fremverstärkung sich verbreitet und ausweitet.

Verfügt man aber über ausreichende Kenntnisse in Sprache, Physik, Chemie, Biologie, Technik, Mathematik und Gesellschaftslehre, kann man die Wahrheit selbst erkunden und von Lug und Trug unterscheiden, wie Sir Arthur Conan Doyle es seinen Sherlock Holmes machen lässt:

    "Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag."


QuoteUrbanJazz 19.05.2020, 20:59 Uhr

    Auch die Hälfte der Befragten

    Ebenso viele stimmten der Aussage zu, den eigenen Gefühlen mehr zu vertrauen als Experten.

Der Mensch ist ein irrationales Wesen. Und das zeigt sich derzeit wieder deutlich. Entweder man hat Angst vor Corona oder aber das Lustprinzip triumphiert (wir wollen aber unseren Urlaub!).


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Quote[...] Die Erde ist hohl. In Tunnelanlagen werden Kinder festgehalten, um ihr Blut zu gewinnen. Die Eliten extrahieren Adrenochrom daraus, um sich zu verjüngen. Wer die Eliten sind, kann man sich denken. Es sind die Illuminaten, oder die Juden. Vielleicht auch Reptilien. Oder alles zusammen. Ihre Chefin heißt Hillary Clinton. Während Sie diese Zeilen lesen, bemühen sich hunderttausend US-Soldaten unter dem Kommando Trumps darum, die Kinder zu befreien. So ungefähr sehen Anhänger des anonymen ,,Q" die Welt.

Richard Hofstadter prägte für solche Erzählungen einst den Begriff der ,,Verschwörungsfantasien". Sie seien durch einen ,,paranoiden Stil" der Welterklärung gekennzeichnet. Ihre Wahnhaftigkeit besteht oft gerade darin, dass es sich um so wohlausgeklügelte Systeme handelt, dass es in ihnen keine Zufälle, keine Widersprüche, keine Ambivalenzen gibt – aber dafür umso dämonischere Individuen und Gruppen, die uns brave Menschen austricksen.

Das widerspricht jeder Erfahrung und erzählt uns mehr über die Anhänger dieser Fantasien als über die Welt, die diese angeblich beschreiben. Die Bösen sind immer die anderen. Wahnvorstellungen nicht unähnlich sind diese Fantasien, denen andere Forscher den Status einer Theorie zugestehen, weil sie einerseits den Anspruch an Belegen an wissenschaftliche Theorien ,,übererfüllen", während sie andererseits unterkomplex sind, also mit sehr wenigen Annahmen sehr viel erklären. ,,Zu schön, um wahr zu sein", wie Forscher das Problem zusammengefasst haben.

Wer nun meint, Verschwörungstheorien seien bloßer Ausdruck von individueller Verrücktheit oder eines kollektiven Rückfalls in mythisches Denken, verkennt ihre Herkunft als Welterklärungsmodelle in der Tradition aufklärerischen Denkens. Ist es Zufall, dass Verschwörungstheorien in der Zeit der Aufklärung besonders virulent waren? ,,Sometimes paranoia's just having all the facts", meinte William Burroughs.

Verschwörungstheorien halfen, die französischen Volksmassen gegen den König, die amerikanischen Kolonisten gegen die Briten aufzubringen. Im vorrevolutionären Frankreich kursierten Berichte über Hungerverschwörungen, die dem König angelastet wurden. In den amerikanischen Kolonien war man sich sicher, dass sich die Briten gegen die Amerikaner verschworen hatten.

Der Republikanismus, die Leitidee der Zeit, berief sich auf die Tugend als die wichtigste positive Eigenschaft des Menschen, den man damals mit Rückgriff auf Aristoteles als Zoon politikon, als politisches Wesen zu begreifen begann. Doch die Menschen haben auch eine dunkle Seite, weswegen für die aufgeklärten Menschen des 18. Jahrhunderts die Annahme von Verschwörungen hinter den Kulissen des politischen Theaters eine selbstverständliche Vorstellung war. Einen okkultistischen Dreh bekam sie erst gut hundert Jahre später: Die Welt ist nicht so, wie sie scheint.

Erst waren es die Jesuiten, die Elitetruppe der Gegenreformation, denen unterstellt wurde, hinter den Kulissen die Strippen zu ziehen. Dann drehten konservative Autoren die Perspektive um, und behaupteten, die Freimaurer, Illuminaten und Juden hätten es darauf abgesehen, die gottgegebene Ordnung auf den Kopf zu stellen, indem sie überall Revolutionen anzettelten. Text­ana­ly­sen haben ergeben, dass die antisemitischen ,,Protokolle der Weisen von Zion" aus einer antijesuitischen Verschwörungsfantasie abgeschrieben wurden.

Wenn Anhänger solcher Theorien Ihnen heute erklären, die Propaganda der Mainstreammedien könnten Sie für sich behalten, denn man ziehe es vor, ,,selber zu denken", dann nehmen diese – trotz aller Resistenz gegenüber Auffassungen, die mit wissenschaftlichen Verfahren begründet werden – letztendlich doch Kant für sich in Anspruch: ,,Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."

Als Kant diese Sätze 1784 veröffentlichte, war die kurpfalzbayerische Regierung gerade dabei, die Illuminaten zu verbieten, die noch heute manche Menschen für die wahren Herren der Welt halten, die hinter allem stecken, was uns die Moderne an Unliebsamem so zu bieten hat. Die Illuminaten seien ein ,,für die Religion und den Staat höchst gefährliches Complott", meinte damals Karl Theodor, Kurfürst von der Pfalz und von Bayern.

Die Illuminaten waren weit davon entfernt, die Herrschaft in Bayern oder der Welt an sich zu reißen. Richtig ist, dass sie sich gegen den Einfluss der katholischen Kirche auf das Denken der Menschen und die Politik wandten und sich daher nur im Geheimen verständigten, was man ihnen nicht verdenken kann. Es war üble Propaganda, als Karl Theodor über den Chef der Illuminaten, Adam Weishaupt, sagte, dieser sei ein ,,Bösswicht, Blutschänder, Kindsmörder, Volksverführer". Weishaupt hatte nach dem Tod seiner Frau seine Schwägerin ehelichen wollen und, als sie schwanger wurde, versucht, das Kind abzutreiben. Das eine galt als Blutschande, das andere als Kindsmord.

Ein Revolutionär war Weishaupt nicht, trotz seines Pseudonyms ,,Spartacus". Über seine im Jahr 1776 gegründete geheime Gesellschaft schrieb er: ,,Wenn sie sich von Königsmord, Empöhrungen der Unterthanen enthält, nur dem Laufe der Natur folgt, ihr die Hand biethet, nichts weiter thut, als auf allen Wegen das Licht zu verbreiten, und den Menschen die grosse Kunst lehret, sich selbst regieren zu können, solte dieses wohl unrecht seyn?"

Aufklärerische Gesellschaften waren damals in Mode, Geheimbünde zählten auch dazu. Adam Weishaupt war ein junger Doktor der Philosophie und Professor der Rechte und des Kirchenrechts an der bayerischen Landesuniversität in Ingolstadt, die Illuminaten waren anfangs ein Zirkel von Studenten. Erst als der Neu-Illuminat Adolph Freiherr von Knigge anfing, Mitglieder zu rekrutieren, gewannen die Illuminaten Einfluss in Politik, Wissenschaft und Kultur. Schiller sympathisierte mit ihnen, Goethe wurde angeblich nur Mitglied, um sich über ihre Umtriebe zu informieren. Der spätere Begründer des modernen bayerischen Staatswesens, Maximilian von Montgelas, war als junger Mann Illuminat gewesen.

Das individuelle Ziel, das die Adepten erreichen sollten, war ,,die bestmöglichste Ausbildung ihrer gesammten körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Kräfte". Das politische Ziel der Illuminaten war die aufklärerische Modernisierung des bayerischen Staats, auch wenn Weishaupt darüber spekulierte, ob in einer aufgeklärten Welt der Staat eines Tages vielleicht nicht mehr gebraucht werden würde: ,,Wie aber, wenn alle Staaten nur Mittel oder Stufen wären, um noch etwas besseres hervorzubringen?"

Seit der Aufdeckung ihres ,,Complotts" und ihres Verbots im Jahr 1785 beschäftigen die Illuminaten die Fantasie der Leute. Im Jahr 1798 bezichtigten stramme Puritaner Thomas Jefferson, ein antichristlicher Illuminat zu sein. Heute wird man im Netz darüber aufgeklärt, dass Angela Merkels Raute ein Erkennungszeichen der Illuminaten sei.

Auf gewitzte Weise haben sich Robert Shea und Robert Anton Wilson der Illuminaten angenommen. Ihre ab 1975 erscheinende ,,Illuminatus!"-Trilogie war eine Satire auf den paranoiden Stil der amerikanischen Kultur. Shea und Wilson hatten für das Leserforum des Playboy gearbeitet, das wie ein Vorläufer des Internets erscheint. Viele verschwörungstheoretische Motive ihrer so gelehrten wie lustigen Bücher hatten Shea und Wilson Leserbriefen an die Playboy-Redaktion entnommen.

Das bringt uns zurück in die Gegenwart. Manche Anhänger von Q glauben, dieser Prophet, der gern aus der Bibel zitiert, arbeite bei einem der vielen amerikanischen Geheimdienste. Andere sind sich sicher, dass Q kein Geringerer als Donald Trump selbst ist. Es gibt aber auch skeptische Stimmen, die sagen, die frühen Texte von Q seien in Wahrheit Parodien auf das irre Geraune der Trumpisten gewesen.

Es gibt viele merkwürdige Dinge in der Welt. Manche fallen merkwürdigerweise nicht einmal Verschwörungstheoretikern auf. Warum hat außer dem Autor dieser Zeilen noch niemand bemerkt, dass sich in der Mitgliederliste des Illuminatenordens der Name eines gewissen ,,Joh. Coronini" findet? Zufall?


Aus: "Die Geschichte der Verschwörungstheorien: Mut zu Verstand" Ulrich Gutmair (20. 5. 2020)
Quelle: https://taz.de/Die-Geschichte-der-Verschwoerungstheorien/!5685683/

#2164
Quote[...] KARLSRUHE taz | Das Bundesverfassungsgericht hat die BND-Novelle von Ende 2016 in vollem Umfang für verfassungswidrig erklärt. Zugleich haben die Richter klargestellt, dass deutsche Grundrechte den BND auch im Ausland binden. Die anlasslose Auslandsaufklärung des BND wurde aber nicht generell verboten. Der Bundestag hat für eine Neuregelung Zeit bis Ende 2021.

Der amerikanische Whistleblower Edward Snowden hatte 2013 enthüllt, wie US-Geheimdienste systematisch den internationalen Telefon-, E-Mail- und SMS-Verkehr überwachen und auswerten. Bald wurde jedoch deutlich, dass auch der BND im Ausland ähnlich agiert. Ende 2016 schuf die Bundesregierung im BND-Gesetz immerhin eine gesetzliche Grundlage für die Auslandsaufklärung des BND.

Gegen diese Ergänzung des BND-Gesetzes klagten sechs internationale Journalisten sowie die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG). Die globale Überwachung des BND schüchtere investigative Journalisten ein. Das Gesetz ziele zwar nicht auf Journalisten, es schütze sie aber auch nicht angemessen, so ROG-Geschäftsführer Christian Mihr.

In der mündlichen Verhandlung im Januar wurde dann bekannt, in welchem Ausmaß der BND weltweit die Kommunikation von Ausländern im Ausland überwacht. So sucht der BND mit Hunderttausenden Suchbegriffen in den Telekommunikationsnetzen nach verdächtigen Nachrichten. Suchbegriffe ­können Namen, Orte oder Chemikalien sein. Zu 90 Prozent geht es jedoch um Telefonnummern und E-Mail-Adressen, ,,sogenannte technische Selektoren". Der BND greift dazu auf Internetknoten, Tiefseekabel oder Satellitenkommunikation zu.

Mit Hilfe von Filtern sollen Deutsche und teilweise auch EU-Bürger vor der BND-Ausspähung geschützt werden. Für sonstige Ausländer ist aber kaum Schutz vorgesehen. Täglich gebe es 154.000 Treffer, so der BND, wobei am Ende aber nur 262 Telefonate, E-Mails oder SMS für den BND wirklich relevant seien.

Die Bundesregierung hielt die Klage der internationalen Journalisten für unzulässig. Die Grundrechte des Grundgesetzes gälten nur auf deutschem Boden, so ihre Argumentation. Dem hat das Bundesverfassungsgericht nun in voller Deutlichkeit widersprochen. Die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte bleibe auch dann bestehen, wenn sie im Ausland agiert.

Der Senatsvorsitzende Stephan Harbarth sprach von einer ,,Klarstellung", es habe also noch nie etwas anderes gegolten. Tatsächlich war die Frage bisher aber hoch umstritten und wurde jetzt erstmals vom Bundesverfassungsgericht geklärt. Schon insofern handelt es sich um ein echtes Grundsatzurteil.

Als Folge dieser Weichenstellung wurde die BND-Novelle nun gleich doppelt für verfassungswidrig erklärt. Zum einen fehle der Hinweis, in welche Grundrechte das Gesetz eingreife. Zum anderen sei es auch in der Sache verfassungswidrig, weil die Eingriffe in Fernmelde- und Pressefreiheit völlig unverhältnismäßig seien.

Der federführende Richter Johannes Masing stellte aber klar, dass die anlasslose Selektoren-Fahndung des BND nicht generell gegen das Grundgesetz verstößt. Die Bedrohung aus dem Ausland habe zugenommen, die Früherkennung von Gefahrenlagen werde wichtiger. Bis Ende 2021 kann der BND unverändert fortfahren. Ab dann müssen die jetzt aufgestellten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts beachtet werden.

So muss sich die Früherkennung auf ,,schwerwiegende" Gefahren und bestimmte geografische Regionen beschränken. Eine globale Überwachung halten die Richter für unzulässig. Die Kommunikation von Deutschen müsse schon vor der Prüfung ,,bestmöglich" herausgefiltert werden. Wird sie erst bei der Prüfung erkannt, müsse sie sofort gelöscht werden. Wenn die Kommunikation den Kernbereich privater Lebensgestaltung betrifft, zum Beispiel weil es um Sex oder Religion geht, muss die Überwachung abgebrochen werden.

Der BND müsse sein Verfahren durch interne Regeln klar strukturieren, um die Kontrolle zu erleichtern, so die Richter. Soweit Algorithmen bei der Auswertung zum Einsatz kommen, müsse deren Arbeitsweise nachvollziehbar bleiben. Alle sechs Monate müsse geprüft werden, ob Daten gelöscht werden können. Verkehrsdaten (,,Wer hat wann mit wem kommuniziert") darf der BND im Ausland zwar auf Vorrat speichern und auswerten, muss sie aber spätestens nach sechs Monaten löschen.

Die wichtigste Forderung des Bundesverfassungsgerichts betrifft aber die Stärkung der Geheimdienstkontrolle. Bisher gab es für die Auslandsüberwachung des BND nur ein relativ zahnloses ,,unabhängiges Gremium" (UG). Künftig soll der Bundestag ein ,,gerichtsähnliches" Gremium einrichten, das viele BND-Aktionen vorab genehmigen muss.

So müsse die neue Kontrollinstanz zum Beispiel die gezielte Überwachung von Journalisten und Anwälte vorab prüfen, weil diese Berufsgruppen besonders auf vertrauliche Kommunikation angewiesen seien. Auch bei Personen, die nicht nur als Informationsmittler überwacht werden, sondern weil sie selbst als gefährlich gelten, müsse das neue Gremium vorab zustimmen, weil für sie auch die Überwachung bedrohlich werden könnte, etwa durch die Weitergabe von Daten.

Neben dem gerichtsähnlichen Gremium soll es noch eine ,,administrative" Kontroll­instanz geben, die mit Stichproben auf die Einhaltung des Rechts achtet. Sie soll mit mindestens 30 Mitarbeitern ausgestattet werden. Bei der Ausgestaltung der beiden neuen Kontrollgremien hat der Bundestag großen Gestaltungsspielraum, solange die Effizienz gewahrt ist.

Zulässig bleibt künftig auch die Kooperation mit anderen Nachrichtendiensten. Bisher bekommt der BND rund 60 Prozent seiner Selektoren von Partnerdiensten, denen er dann auch die Ergebnisse liefert. Je mehr man an andere Dienste liefert, desto mehr bekommt man auch zurück, so die Logik der Branche. Die Verfassungsrichter haben nichts dagegen, denn das Grundgesetz sei auf internationale Zusammenarbeit angelegt, auch bei der Sicherheit.

Allerdings wird ein ,,Ringtausch" von Daten ausdrücklich verboten. Der BND darf also nicht Briten in Großbritannien überwachen, damit der englische Dienst GCHQ Deutsche in Deutschland überwacht. Der BND bestreitet, dass es einen derartigen Ringtausch überhaupt gegeben habe.

Auch dürfe die Kooperation der Dienste nicht die Geheimdienstkontrolle beschränken, so die Karlsruher Vorgabe. Bei künftigen Kooperationen müsse die ,,Third Party Rule" so ausgestaltet werden, dass die Weitergabe von Informationen an die deutschen Kontrolleure nicht von anderen Diensten genehmigt werden muss. Das jedenfalls ist ein großer Fortschritt.

Das 140-seitige Urteil beeindruckte alle Verfahrensbeteiligten. Der CDU-Innenexperte Armin Schuster sprach von einem ,,starken und sehr gut durchdachten Urteil". Christian Mihr der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen nannte das Urteil einen ,,Meilenstein".


Aus: "Bundesverfassungsgericht zu BND: Grundgesetz gilt auch im Ausland" Christian Rath (19. 5. 2020)
Quelle: https://taz.de/Bundesverfassungsgericht-zu-BND/!5684241/

QuoteBlue Screen of Death
gestern, 19:53

endlich, nach 71 Jahren, eine Klarstellung, das der Artikel 1 des Grundgesetzes eine globale Wirkung hat.


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Quote[...] Paukenschlag in Karlsruhe: Die anlasslose Massenüberwachung des Bundesnachrichtendienstes (BND) von Ausländern im Ausland verstößt in ihrer jetzigen Form formell und inhaltlich gegen Grundrechte. Die derzeitige Fassung im BND-Gesetz sei aus formalen und inhaltlichen Gründen verfassungswidrig, erklärte der frischgebackene Gerichtspräsident Stephan Harbarth bei der Verkündung des Urteils am Dienstag (Az. 1 BvR 2835/17). Mit der mit Spannung erwarteten Entscheidung halten die Richter zum ersten Mal fest, dass der deutsche Staat das Fernmeldegeheimnis und die Pressefreiheit auch im Ausland wahren muss und an das Grundgesetz gebunden ist.

Der Bundesnachrichtendienst überwache die Telekommunikation an der Schnittstelle von Internationalisierung, wachsender sicherheitsbezogener Herausforderungen und der Digitalisierung, die auch eine zunehmende "Verwundbarkeit von Rechtsgütern" mit sich bringe, erläuterte Harbarth, der im Herbst 2016 als CDU-Bundestagsabgeordneter noch für die einschlägige Gesetzesnovelle gestimmt hatte. Eine anlasslose strategische Aufklärung des Geheimdienstes unter Verzicht von Eingriffsschwellen dürfe es in diesem sensiblen Umfeld nicht geben. Nötig sei ein Verbot pauschaler globaler Überwachung, stellte Harbarth klar.

Der Gesetzgeber müsse Zwecke der Spionage klar festlegen und etwa spezifische Anforderungen an die "Bevorratung" von Daten und den Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen aufstellen, appellierte er an seine früheren Kollegen im Parlament. Nötig seien "Löschungspflichten" und auch beim Transfer von Informationen an ausländische Stellen bedürfe es klarer Vorgaben. Der individuelle Rechtsschutz der Betroffenen müsse durch eine ausgebaute, objektiv-rechtliche Kontrolle erhalten werden, die gerichtlich und administrativ sicherzustellen sei.

Besonders erschwerend falle die außerordentliche Streubreite der strategischen Telekommunikationsüberwachung ins Gewicht, unterstreichen die Richter in ihrem typischen "Ja, aber"-Urteil. Die Maßnahme sei "anlasslos gegenüber jedermann einsetzbar" und erlaube "gezielt personenbezogene Überwachungen", objektive Eingriffsschwellen gebe es nicht: "Das Instrument erlaubt heute, tief in den Alltag hinreichende, auch höchst private und spontane Kommunikationsvorgänge zu analysieren und zu erfassen sowie bei der Internetnutzung zum Ausdruck kommende Interessen, Wünsche und Vorlieben aufzuspüren."

Andererseits helfe "die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen" ihr, "sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten" und "folgenreiche Fehlentscheidungen" zu vermeiden. Insoweit gehe es mittelbar zugleich darum, die demokratische Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung zu wahren.

Ein weiterer Gesichtspunkt für die "Rechtfertigungsfähigkeit" der strategischen Überwachung liege darin, dass sie durch eine Behörde vorgenommen werde, "die selbst grundsätzlich keine operativen Befugnisse hat". Einige Auflagen, wie das Werkzeug grundrechtskonform ausgestaltet werden soll, hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber ins Hausaufgabenbuch geschrieben.

Zunächst müsse dieser "einschränkende Maßgaben zum Volumen der für die jeweiligen Übertragungswege auszuleitenden Daten" auf- und sicherstellen, "dass das von der Überwachung abgedeckte geographische Gebiet begrenzt bleibt". Die Inlandskommunikation sowie erforderlichenfalls ein Austausch, an dem auf mindestens einer Seite Deutsche oder Inländer beteiligt sind, müsse der BND "vor einer manuellen Auswertung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik bestmöglich" ausfiltern.

Die Befugnis, Verbindungs- und Standortdaten im Rahmen der Auslandsüberwachung gesamthaft zu speichern und zu bevorraten, muss den Verfassungshütern zufolge "hinsichtlich der davon erfassten Datenströme begrenzt bleiben". Eine Speicherdauer von sechs Monaten dürfe nicht überschritten werden.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung für Zwecke der Strafverfolgung im Inland steht noch aus. Die Richter fordern "besondere Anforderungen für den Schutz von Berufs‑ und Personengruppen, deren Kommunikation eine gesteigerte Vertraulichkeit verlangt". Ein gezieltes Eindringen in solche schutzwürdigen Vertraulichkeitsbeziehungen etwa von Rechtsanwälten oder Journalisten könne nicht schon allein damit gerechtfertigt werden, dass die angestrebten Informationen nachrichtendienstlich nützlich sind.

Zudem sei dem Kernbereich privater Lebensgestaltung stärker Rechnung zu tragen. "Nicht hinreichend begrenzt ausgestaltet sind auch die angegriffenen Regelungen zur Übermittlung von Erkenntnissen der Auslandsüberwachung an andere Stellen", rügt das Gericht. Soweit Daten an ausländische Dienste wie die NSA übermittelt würden, müsse der Gesetzgeber zusätzlich "eine Vergewisserung über den rechtsstaatlichen Umgang mit den Daten auf Empfängerseite vorschreiben". Der bisher einfach mitgeschickte "Disclaimer" reicht folglich nicht aus. Die gesetzlichen Regeln müssen ferner "insbesondere einen Austausch von Erkenntnissen aus auf Deutschland bezogenen Überwachungsmaßnahmen ausländischer Dienste unterbinden", konstatieren die Richter.

Ein solcher "Ringtausch" sei verfassungsrechtlich verboten. Nach der BND-NSA-Selektorenaffäre verlangt der 1. Senat zudem, dass die Suchbegriffe von den Partnerdiensten "plausibilisiert werden", um das "Ausspähen unter Freunden" oder Industriespionage zu verhindern. Der BND dürfe zudem von ihm erhobene Verbindungs- und Standortdaten nicht "unselektiert" ohne jede Kontrollmöglichkeit aus der Hand geben. Zu gewährleisten ist laut dem Urteil "eine Kontrolle in institutioneller Eigenständigkeit". Hierzu gehörten ein eigenes Budget, eine eigene Personalhoheit sowie Verfahrensautonomie. Die zuständigen Stellen "sind personell wie sächlich so auszustatten, dass sie ihre Aufgaben wirksam wahrnehmen können". Inhaltlich müssten sie gegenüber dem BND "alle für eine effektive Kontrolle erforderlichen Befugnisse haben".

Gegen Teile des 2016 novellierten BND-Gesetzes, das dem Auslandsgeheimdienst eine Überwachung ganzer Internetknoten und Netze erlaubt, hatten Anfang 2018 sieben größtenteils im Ausland investigativ arbeitende Journalisten Einspruch erhoben, die Bereiche wie Korruption und Wirtschaftskriminalität beackern. Auch die Organisation Reporters sans Frontieres und damit die Mutter des deutschen Ablegers Reporter ohne Grenzen (ROG) als juristische Person, erhob Einspruch. Unterstützt wurden sie etwa von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), der Deutschen Journalisten-Union (dju), dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) sowie dem Netzwerk Recherche.

Der in Karlsruhe verhandelte Streit drehte sich neben der Frage, ob das Grundgesetz auch für eine Sicherheitsbehörde im Ausland gilt, vor allem um die "strategische Fernmeldeaufklärung" des BND mit dem Schwerpunkt Ausland. Der Geheimdienst darf demnach prinzipiell mit dieser "strategischen Kontrolle" die internationale Telekommunikation mit bis zu hunderttausenden Selektoren wie Telefonnummern, E-Mail-Adressen oder Pseudonymen von Nutzern durchforsten und die Inhalte analysieren, die in diesem Datenstaubsauger hängenbleiben.

Dieses weitgehende Instrument wollte der 1. Senat dem BND nicht ganz aus der Hand schlagen. Er befand, dass es verhältnismäßig und damit verfassungsgemäß ausgestaltet werden könne. Die beanstandeten Vorschriften gelten daher bis zum Jahresende 2021 fort, um dem Gesetzgeber eine weitere Reform unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen zu ermöglichen.

Die "Rohmasse" des Datenstaubsaugers ist riesig: Allein am Frankfurter Internetknoten De-Cix kann der BND täglich laut Medienberichten rund 1,2 Billionen Verbindungen ausleiten. Davon sollen nach dem Aussortieren erster IP-Adressen mit klarem regionalen Bezug zu deutschen Nutzern rund 24 Milliarden Rohdaten übrigbleiben. Im Inland dürfen die darauf angesetzten Suchbegriffe keine Identifizierungsmerkmale enthalten, mit denen sich bestimmte Telekommunikationsanschlüsse gezielt erfassen lassen. Für das Ausland gilt dies nicht. Aber auch dort sind für den BND etwa Telefonnummern deutscher Staatsangehöriger oder einer deutschen Gesellschaft tabu, solange es sich nicht um "Beifang" handelt.

Ausländer im Ausland galten bislang für den Bundesnachrichtendienst als "vogelfrei", monierten Kritiker in den vergangenen Jahren immer wieder. Verletzt sei schon der allgemeine Gleichheitssatz aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz, argumentierte etwa der Verfassungsrechtler Eggert Schwan, weil es keinen sachlich zu rechtfertigenden Grund für diese auf den Unterschied zwischen Deutschen und Nichtdeutschen abstellende Ungleichbehandlung gebe. Die Verfassungsbestimmungen richteten sich an Jedermann, an "alle Menschen".

Eine Wende um 180 Grad hatte der vormalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, an diesem Punkt bereits vollzogen. Das CSU-Mitglied hat nach seinem Ausscheiden aus der Richterbank mehrfach seine neue Ansicht zu Protokoll gegeben, dass auch die Kommunikation im Ausland zwischen Ausländern grundrechtsgeschützt ist. Die BND-Zugriffe auf Datenaustauschpunkte wie den De-Cix bezeichnete Papier sogar als "insgesamt rechtswidrig". Das ganze "strategische" Konstrukt passe nicht mehr auf die Internetkommunikation.

Ex-BND-Chefs wie Gerhard Schindler oder August Hanning hatten vor dem Urteilsspruch betont, dass Deutschland einen starken, von Dritten unabhängigen Auslandsgeheimdienst brauche. Der BND habe immer wieder entscheidende Informationen über das weltpolitische Geschehen wie zum Irak-Krieg durch das Abhören von Telefonaten und das Mitlesen von Mails erhalten. Die Väter des Grundgesetzes würden sich im Grabe umdrehen, wenn etwa die Kommunikation der Taliban von Artikel 10 Grundgesetz geschützt sein solle.

Aktive und frühere Geheimdienstler sahen sogar die Sicherheit Deutschlands bei einer möglichen harten Entscheidung des Gerichts bedroht. Sie schlossen nicht aus, dass hinter dem Verfahren eine gezielte geheimdienstlich gesteuerte Aktion stecken könnte, um der Bundesrepublik zu schaden.

(kbe)


Aus: "Bundesverfassungsgericht schränkt BND-Massenüberwachung deutlich ein" Stefan Krempl (19.05.2020)
Quelle: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Bundesverfassungsgericht-schraenkt-BND-Massenueberwachung-deutlich-ein-4723874.html

-

Quote[...] Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag die Überwachung des weltweiten Internetverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst (BND) in seiner aktuellen Form für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Der Richterspruch setze "neue Standards im internationalen Menschenrechtsschutz und für die Freiheit der Presse", lobte die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die die Verfassungsbeschwerde gegen Teile des 2016 novellierten BND-Gesetzes zusammen mit fünf Medienorganisationen unterstützt hatte. Mit der Ansage, dass deutsche Behörden auch im Ausland an die Grundrechte gebunden sind, werde auch "die Glaubwürdigkeit Deutschlands in der Welt" gestärkt.

Christian Mihr, Geschäftsführer der an der Klage beteiligten Reporter ohne Grenzen, freute sich, "dass Karlsruhe der ausufernden Überwachungspraxis des Bundesnachrichtendienstes im Ausland einen Riegel vorschiebt". Das Urteil setze neue Standards im internationalen Menschenrechtsschutz und für die Pressefreiheit. Die Bundesregierung bekomme damit die Quittung "für ihre jahrelange Weigerung, die digitale Massenüberwachung einzuhegen".

Die Linksfraktion fühlt sich in ihrer Kritik an der Reform des BND-Gesetzes bestärkt. Fraktionsvize André Hahn begrüßte als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags (PKGr), dass den Überwachern der Überwacher elementare Informationen über Kooperationen des BND mit anderen Auslandsgeheimdiensten nicht mehr vorenthalten werden könnten. Der BND dürfe seine grundrechtswidrige Überwachungspraxis nicht bis zu einer Novelle ungeniert fortführen. Martina Renner, frühere Obfrau der Linken im NSA-Untersuchungsausschuss, konstatierte, dass die "schallende Ohrfeige" die jahrzehntelang praktizierte "Weltraumtheorie" genauso als Mumpitz entlarve wie die im BND ebenfalls angewandte "Funktionsträgertheorie".

Die Verfassungsrichter hätten herausgearbeitet, "dass unsere Werte und elementaren Grundrechte nicht an der Landesgrenze enden und auch in der Kooperation mit ausländischen Diensten berücksichtigt werden müssen", meinte FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae. Es müsse nun gewährleistet werden, "dass der BND sein Vorgehen bei der Fernmeldeaufklärung stärker begründet".

Konstantin von Notz, Vize-Fraktionschef der Grünen und stellvertretender PKGr-Vorsitzender, bezeichnete das Urteil als "wegweisend für die Arbeit von Nachrichtendiensten in der digitalen Welt und bedeutend für die Grundrechte von Millionen Menschen weltweit". Die Enthüllungen Snowdens und die anschließende Aufklärung des Bundestags hätten die Rolle der deutschen Sicherheitsbehörden ans Tageslicht gebracht. Die Bundesregierung müsse jetzt schnell die Konsequenzen ziehen.

"Im Zeitalter digitaler Kommunikation" hätten die Verfassungshüter "das Fernmeldegeheimnis entschieden gestärkt" und dessen "extraterritoriale Schutzwirkung" erläutert, kommentierte Klaus Landefeld, Vizechef des eco-Verbands der Internetwirtschaft. Sie sähen vor allem eine "umfassende, unabhängige Kontrolle aller Maßnahmen vorab als notwendig an".

Enttäuscht gab sich der EU-Abgeordnete Patrick Breyer, da das Gericht "anlasslose Massenüberwachung und flächendeckende monatelange Vorratsdatenspeicherung" nicht generell untersagt habe. Das Mitglied der Piratenpartei fordert zudem: "Verpflichtende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und wirksame Anonymität müssen unsere Sicherheit technisch gewährleisten." Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC) bedauerte, dass das Gericht nicht die globale BND-Spionage grundsätzlich beendet habe. Es versuche nur, "sie in einen konkreteren rechtlichen Rahmen zu pressen".

Als international "schwer vermittelbar", kritisierte Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, die Entscheidung. Indem das Gericht die BND-Abhörpraxis im Ausland kippe, werfe es "erhebliche Fragen an unsere strategische Operations- und Kooperationsfähigkeit auf – und das in einer Zeit, in der Aggression von außen immer komplexer wird".

Ihn überrasche die Ansage aus Karlsruhe nicht, twitterte der SPD-Abgeordnete Uli Grötsch, der im PKGr sitzt. "Grundrechte heißen so, weil sie grundlegend für Alle gelten müssen!" Es gelte daher nun, schnell das BND-Gesetz anzupassen und dem Geheimdienst "klare Regeln für seine Arbeit" zu geben. Weiter hieß es aus der SPD-Fraktion, sie sehe die eigene Position unterstützt, dass die strategische Fernmeldeaufklärung "verfassungskonform ausgestaltet werden" könne.

Der US-Geheimdienstenthüller Edward Snowden nannte das Urteil einen "Schritt in die richtige Richtung". "Ich hoffe, dass sich andere Staaten am heutigen Gerichtsurteil ein Beispiel nehmen und dass auch internationale Standards entwickelt werden, um den Aufbau solcher Systeme zu verbieten", sagte Snowden laut einer Mitteilung, die sein deutscher Anwalt Wolfgang Kaleck verbreitete. Snowden habe mit seinen Enthüllungen 2013 "auch eine Beweisgrundlage für Gerichte schaffen" wollen.

Die Bundesregierung befürchtete vorab, dass der BND seine Aufgaben nicht mehr erfüllen könne, wenn das Gericht dessen Internetaufklärung zu stark in die Grenzen weise. BND-Präsident Bruno Kahl hatte in der mündlichen Verhandlung im Januar zu bedenken gegeben, der Dienst würde in einem solchen Fall auf einem Auge blind. 20 Prozent der Meldungen, die der Dienst generiere, basierten auf der strategischen Auslandsüberwachung.


Aus: "BND-Urteil: Bundesverfassungsgericht stärkt das Fernmeldegeheimnis international" Stefan Krempl (19.05.2020)
Quelle: https://www.heise.de/newsticker/meldung/BND-Urteil-Bundesverfassungsgericht-staerkt-das-Fernmeldegeheimnis-international-4724784.html
#2165
Quote[...] KARLSRUHE taz | Das Bundesverfassungsgericht hat die BND-Novelle von Ende 2016 in vollem Umfang für verfassungswidrig erklärt. Zugleich haben die Richter klargestellt, dass deutsche Grundrechte den BND auch im Ausland binden. Die anlasslose Auslandsaufklärung des BND wurde aber nicht generell verboten. Der Bundestag hat für eine Neuregelung Zeit bis Ende 2021.

Der amerikanische Whistleblower Edward Snowden hatte 2013 enthüllt, wie US-Geheimdienste systematisch den internationalen Telefon-, E-Mail- und SMS-Verkehr überwachen und auswerten. Bald wurde jedoch deutlich, dass auch der BND im Ausland ähnlich agiert. Ende 2016 schuf die Bundesregierung im BND-Gesetz immerhin eine gesetzliche Grundlage für die Auslandsaufklärung des BND.

Gegen diese Ergänzung des BND-Gesetzes klagten sechs internationale Journalisten sowie die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG). Die globale Überwachung des BND schüchtere investigative Journalisten ein. Das Gesetz ziele zwar nicht auf Journalisten, es schütze sie aber auch nicht angemessen, so ROG-Geschäftsführer Christian Mihr.

In der mündlichen Verhandlung im Januar wurde dann bekannt, in welchem Ausmaß der BND weltweit die Kommunikation von Ausländern im Ausland überwacht. So sucht der BND mit Hunderttausenden Suchbegriffen in den Telekommunikationsnetzen nach verdächtigen Nachrichten. Suchbegriffe ­können Namen, Orte oder Chemikalien sein. Zu 90 Prozent geht es jedoch um Telefonnummern und E-Mail-Adressen, ,,sogenannte technische Selektoren". Der BND greift dazu auf Internetknoten, Tiefseekabel oder Satellitenkommunikation zu.

Mit Hilfe von Filtern sollen Deutsche und teilweise auch EU-Bürger vor der BND-Ausspähung geschützt werden. Für sonstige Ausländer ist aber kaum Schutz vorgesehen. Täglich gebe es 154.000 Treffer, so der BND, wobei am Ende aber nur 262 Telefonate, E-Mails oder SMS für den BND wirklich relevant seien.

Die Bundesregierung hielt die Klage der internationalen Journalisten für unzulässig. Die Grundrechte des Grundgesetzes gälten nur auf deutschem Boden, so ihre Argumentation. Dem hat das Bundesverfassungsgericht nun in voller Deutlichkeit widersprochen. Die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte bleibe auch dann bestehen, wenn sie im Ausland agiert.

Der Senatsvorsitzende Stephan Harbarth sprach von einer ,,Klarstellung", es habe also noch nie etwas anderes gegolten. Tatsächlich war die Frage bisher aber hoch umstritten und wurde jetzt erstmals vom Bundesverfassungsgericht geklärt. Schon insofern handelt es sich um ein echtes Grundsatzurteil.

Als Folge dieser Weichenstellung wurde die BND-Novelle nun gleich doppelt für verfassungswidrig erklärt. Zum einen fehle der Hinweis, in welche Grundrechte das Gesetz eingreife. Zum anderen sei es auch in der Sache verfassungswidrig, weil die Eingriffe in Fernmelde- und Pressefreiheit völlig unverhältnismäßig seien.

Der federführende Richter Johannes Masing stellte aber klar, dass die anlasslose Selektoren-Fahndung des BND nicht generell gegen das Grundgesetz verstößt. Die Bedrohung aus dem Ausland habe zugenommen, die Früherkennung von Gefahrenlagen werde wichtiger. Bis Ende 2021 kann der BND unverändert fortfahren. Ab dann müssen die jetzt aufgestellten Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts beachtet werden.

So muss sich die Früherkennung auf ,,schwerwiegende" Gefahren und bestimmte geografische Regionen beschränken. Eine globale Überwachung halten die Richter für unzulässig. Die Kommunikation von Deutschen müsse schon vor der Prüfung ,,bestmöglich" herausgefiltert werden. Wird sie erst bei der Prüfung erkannt, müsse sie sofort gelöscht werden. Wenn die Kommunikation den Kernbereich privater Lebensgestaltung betrifft, zum Beispiel weil es um Sex oder Religion geht, muss die Überwachung abgebrochen werden.

Der BND müsse sein Verfahren durch interne Regeln klar strukturieren, um die Kontrolle zu erleichtern, so die Richter. Soweit Algorithmen bei der Auswertung zum Einsatz kommen, müsse deren Arbeitsweise nachvollziehbar bleiben. Alle sechs Monate müsse geprüft werden, ob Daten gelöscht werden können. Verkehrsdaten (,,Wer hat wann mit wem kommuniziert") darf der BND im Ausland zwar auf Vorrat speichern und auswerten, muss sie aber spätestens nach sechs Monaten löschen.

Die wichtigste Forderung des Bundesverfassungsgerichts betrifft aber die Stärkung der Geheimdienstkontrolle. Bisher gab es für die Auslandsüberwachung des BND nur ein relativ zahnloses ,,unabhängiges Gremium" (UG). Künftig soll der Bundestag ein ,,gerichtsähnliches" Gremium einrichten, das viele BND-Aktionen vorab genehmigen muss.

So müsse die neue Kontrollinstanz zum Beispiel die gezielte Überwachung von Journalisten und Anwälte vorab prüfen, weil diese Berufsgruppen besonders auf vertrauliche Kommunikation angewiesen seien. Auch bei Personen, die nicht nur als Informationsmittler überwacht werden, sondern weil sie selbst als gefährlich gelten, müsse das neue Gremium vorab zustimmen, weil für sie auch die Überwachung bedrohlich werden könnte, etwa durch die Weitergabe von Daten.

Neben dem gerichtsähnlichen Gremium soll es noch eine ,,administrative" Kontroll­instanz geben, die mit Stichproben auf die Einhaltung des Rechts achtet. Sie soll mit mindestens 30 Mitarbeitern ausgestattet werden. Bei der Ausgestaltung der beiden neuen Kontrollgremien hat der Bundestag großen Gestaltungsspielraum, solange die Effizienz gewahrt ist.

Zulässig bleibt künftig auch die Kooperation mit anderen Nachrichtendiensten. Bisher bekommt der BND rund 60 Prozent seiner Selektoren von Partnerdiensten, denen er dann auch die Ergebnisse liefert. Je mehr man an andere Dienste liefert, desto mehr bekommt man auch zurück, so die Logik der Branche. Die Verfassungsrichter haben nichts dagegen, denn das Grundgesetz sei auf internationale Zusammenarbeit angelegt, auch bei der Sicherheit.

Allerdings wird ein ,,Ringtausch" von Daten ausdrücklich verboten. Der BND darf also nicht Briten in Großbritannien überwachen, damit der englische Dienst GCHQ Deutsche in Deutschland überwacht. Der BND bestreitet, dass es einen derartigen Ringtausch überhaupt gegeben habe.

Auch dürfe die Kooperation der Dienste nicht die Geheimdienstkontrolle beschränken, so die Karlsruher Vorgabe. Bei künftigen Kooperationen müsse die ,,Third Party Rule" so ausgestaltet werden, dass die Weitergabe von Informationen an die deutschen Kontrolleure nicht von anderen Diensten genehmigt werden muss. Das jedenfalls ist ein großer Fortschritt.

Das 140-seitige Urteil beeindruckte alle Verfahrensbeteiligten. Der CDU-Innenexperte Armin Schuster sprach von einem ,,starken und sehr gut durchdachten Urteil". Christian Mihr der Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen nannte das Urteil einen ,,Meilenstein".


Aus: "Bundesverfassungsgericht zu BND: Grundgesetz gilt auch im Ausland" Christian Rath (19. 5. 2020)
Quelle: https://taz.de/Bundesverfassungsgericht-zu-BND/!5684241/

QuoteBlue Screen of Death
gestern, 19:53

endlich, nach 71 Jahren, eine Klarstellung, das der Artikel 1 des Grundgesetzes eine globale Wirkung hat.


-

Quote[...] Paukenschlag in Karlsruhe: Die anlasslose Massenüberwachung des Bundesnachrichtendienstes (BND) von Ausländern im Ausland verstößt in ihrer jetzigen Form formell und inhaltlich gegen Grundrechte. Die derzeitige Fassung im BND-Gesetz sei aus formalen und inhaltlichen Gründen verfassungswidrig, erklärte der frischgebackene Gerichtspräsident Stephan Harbarth bei der Verkündung des Urteils am Dienstag (Az. 1 BvR 2835/17). Mit der mit Spannung erwarteten Entscheidung halten die Richter zum ersten Mal fest, dass der deutsche Staat das Fernmeldegeheimnis und die Pressefreiheit auch im Ausland wahren muss und an das Grundgesetz gebunden ist.

Der Bundesnachrichtendienst überwache die Telekommunikation an der Schnittstelle von Internationalisierung, wachsender sicherheitsbezogener Herausforderungen und der Digitalisierung, die auch eine zunehmende "Verwundbarkeit von Rechtsgütern" mit sich bringe, erläuterte Harbarth, der im Herbst 2016 als CDU-Bundestagsabgeordneter noch für die einschlägige Gesetzesnovelle gestimmt hatte. Eine anlasslose strategische Aufklärung des Geheimdienstes unter Verzicht von Eingriffsschwellen dürfe es in diesem sensiblen Umfeld nicht geben. Nötig sei ein Verbot pauschaler globaler Überwachung, stellte Harbarth klar.

Der Gesetzgeber müsse Zwecke der Spionage klar festlegen und etwa spezifische Anforderungen an die "Bevorratung" von Daten und den Schutz von Vertraulichkeitsbeziehungen aufstellen, appellierte er an seine früheren Kollegen im Parlament. Nötig seien "Löschungspflichten" und auch beim Transfer von Informationen an ausländische Stellen bedürfe es klarer Vorgaben. Der individuelle Rechtsschutz der Betroffenen müsse durch eine ausgebaute, objektiv-rechtliche Kontrolle erhalten werden, die gerichtlich und administrativ sicherzustellen sei.

Besonders erschwerend falle die außerordentliche Streubreite der strategischen Telekommunikationsüberwachung ins Gewicht, unterstreichen die Richter in ihrem typischen "Ja, aber"-Urteil. Die Maßnahme sei "anlasslos gegenüber jedermann einsetzbar" und erlaube "gezielt personenbezogene Überwachungen", objektive Eingriffsschwellen gebe es nicht: "Das Instrument erlaubt heute, tief in den Alltag hinreichende, auch höchst private und spontane Kommunikationsvorgänge zu analysieren und zu erfassen sowie bei der Internetnutzung zum Ausdruck kommende Interessen, Wünsche und Vorlieben aufzuspüren."

Andererseits helfe "die Versorgung der Bundesregierung mit Informationen für ihre außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungen" ihr, "sich im machtpolitischen Kräftefeld der internationalen Beziehungen zu behaupten" und "folgenreiche Fehlentscheidungen" zu vermeiden. Insoweit gehe es mittelbar zugleich darum, die demokratische Selbstbestimmung und den Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung zu wahren.

Ein weiterer Gesichtspunkt für die "Rechtfertigungsfähigkeit" der strategischen Überwachung liege darin, dass sie durch eine Behörde vorgenommen werde, "die selbst grundsätzlich keine operativen Befugnisse hat". Einige Auflagen, wie das Werkzeug grundrechtskonform ausgestaltet werden soll, hat das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber ins Hausaufgabenbuch geschrieben.

Zunächst müsse dieser "einschränkende Maßgaben zum Volumen der für die jeweiligen Übertragungswege auszuleitenden Daten" auf- und sicherstellen, "dass das von der Überwachung abgedeckte geographische Gebiet begrenzt bleibt". Die Inlandskommunikation sowie erforderlichenfalls ein Austausch, an dem auf mindestens einer Seite Deutsche oder Inländer beteiligt sind, müsse der BND "vor einer manuellen Auswertung nach dem Stand von Wissenschaft und Technik bestmöglich" ausfiltern.

Die Befugnis, Verbindungs- und Standortdaten im Rahmen der Auslandsüberwachung gesamthaft zu speichern und zu bevorraten, muss den Verfassungshütern zufolge "hinsichtlich der davon erfassten Datenströme begrenzt bleiben". Eine Speicherdauer von sechs Monaten dürfe nicht überschritten werden.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung für Zwecke der Strafverfolgung im Inland steht noch aus. Die Richter fordern "besondere Anforderungen für den Schutz von Berufs‑ und Personengruppen, deren Kommunikation eine gesteigerte Vertraulichkeit verlangt". Ein gezieltes Eindringen in solche schutzwürdigen Vertraulichkeitsbeziehungen etwa von Rechtsanwälten oder Journalisten könne nicht schon allein damit gerechtfertigt werden, dass die angestrebten Informationen nachrichtendienstlich nützlich sind.

Zudem sei dem Kernbereich privater Lebensgestaltung stärker Rechnung zu tragen. "Nicht hinreichend begrenzt ausgestaltet sind auch die angegriffenen Regelungen zur Übermittlung von Erkenntnissen der Auslandsüberwachung an andere Stellen", rügt das Gericht. Soweit Daten an ausländische Dienste wie die NSA übermittelt würden, müsse der Gesetzgeber zusätzlich "eine Vergewisserung über den rechtsstaatlichen Umgang mit den Daten auf Empfängerseite vorschreiben". Der bisher einfach mitgeschickte "Disclaimer" reicht folglich nicht aus. Die gesetzlichen Regeln müssen ferner "insbesondere einen Austausch von Erkenntnissen aus auf Deutschland bezogenen Überwachungsmaßnahmen ausländischer Dienste unterbinden", konstatieren die Richter.

Ein solcher "Ringtausch" sei verfassungsrechtlich verboten. Nach der BND-NSA-Selektorenaffäre verlangt der 1. Senat zudem, dass die Suchbegriffe von den Partnerdiensten "plausibilisiert werden", um das "Ausspähen unter Freunden" oder Industriespionage zu verhindern. Der BND dürfe zudem von ihm erhobene Verbindungs- und Standortdaten nicht "unselektiert" ohne jede Kontrollmöglichkeit aus der Hand geben. Zu gewährleisten ist laut dem Urteil "eine Kontrolle in institutioneller Eigenständigkeit". Hierzu gehörten ein eigenes Budget, eine eigene Personalhoheit sowie Verfahrensautonomie. Die zuständigen Stellen "sind personell wie sächlich so auszustatten, dass sie ihre Aufgaben wirksam wahrnehmen können". Inhaltlich müssten sie gegenüber dem BND "alle für eine effektive Kontrolle erforderlichen Befugnisse haben".

Gegen Teile des 2016 novellierten BND-Gesetzes, das dem Auslandsgeheimdienst eine Überwachung ganzer Internetknoten und Netze erlaubt, hatten Anfang 2018 sieben größtenteils im Ausland investigativ arbeitende Journalisten Einspruch erhoben, die Bereiche wie Korruption und Wirtschaftskriminalität beackern. Auch die Organisation Reporters sans Frontieres und damit die Mutter des deutschen Ablegers Reporter ohne Grenzen (ROG) als juristische Person, erhob Einspruch. Unterstützt wurden sie etwa von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), der Deutschen Journalisten-Union (dju), dem Deutschen Journalisten-Verband (DJV) sowie dem Netzwerk Recherche.

Der in Karlsruhe verhandelte Streit drehte sich neben der Frage, ob das Grundgesetz auch für eine Sicherheitsbehörde im Ausland gilt, vor allem um die "strategische Fernmeldeaufklärung" des BND mit dem Schwerpunkt Ausland. Der Geheimdienst darf demnach prinzipiell mit dieser "strategischen Kontrolle" die internationale Telekommunikation mit bis zu hunderttausenden Selektoren wie Telefonnummern, E-Mail-Adressen oder Pseudonymen von Nutzern durchforsten und die Inhalte analysieren, die in diesem Datenstaubsauger hängenbleiben.

Dieses weitgehende Instrument wollte der 1. Senat dem BND nicht ganz aus der Hand schlagen. Er befand, dass es verhältnismäßig und damit verfassungsgemäß ausgestaltet werden könne. Die beanstandeten Vorschriften gelten daher bis zum Jahresende 2021 fort, um dem Gesetzgeber eine weitere Reform unter Berücksichtigung der grundrechtlichen Anforderungen zu ermöglichen.

Die "Rohmasse" des Datenstaubsaugers ist riesig: Allein am Frankfurter Internetknoten De-Cix kann der BND täglich laut Medienberichten rund 1,2 Billionen Verbindungen ausleiten. Davon sollen nach dem Aussortieren erster IP-Adressen mit klarem regionalen Bezug zu deutschen Nutzern rund 24 Milliarden Rohdaten übrigbleiben. Im Inland dürfen die darauf angesetzten Suchbegriffe keine Identifizierungsmerkmale enthalten, mit denen sich bestimmte Telekommunikationsanschlüsse gezielt erfassen lassen. Für das Ausland gilt dies nicht. Aber auch dort sind für den BND etwa Telefonnummern deutscher Staatsangehöriger oder einer deutschen Gesellschaft tabu, solange es sich nicht um "Beifang" handelt.

Ausländer im Ausland galten bislang für den Bundesnachrichtendienst als "vogelfrei", monierten Kritiker in den vergangenen Jahren immer wieder. Verletzt sei schon der allgemeine Gleichheitssatz aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz, argumentierte etwa der Verfassungsrechtler Eggert Schwan, weil es keinen sachlich zu rechtfertigenden Grund für diese auf den Unterschied zwischen Deutschen und Nichtdeutschen abstellende Ungleichbehandlung gebe. Die Verfassungsbestimmungen richteten sich an Jedermann, an "alle Menschen".

Eine Wende um 180 Grad hatte der vormalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, an diesem Punkt bereits vollzogen. Das CSU-Mitglied hat nach seinem Ausscheiden aus der Richterbank mehrfach seine neue Ansicht zu Protokoll gegeben, dass auch die Kommunikation im Ausland zwischen Ausländern grundrechtsgeschützt ist. Die BND-Zugriffe auf Datenaustauschpunkte wie den De-Cix bezeichnete Papier sogar als "insgesamt rechtswidrig". Das ganze "strategische" Konstrukt passe nicht mehr auf die Internetkommunikation.

Ex-BND-Chefs wie Gerhard Schindler oder August Hanning hatten vor dem Urteilsspruch betont, dass Deutschland einen starken, von Dritten unabhängigen Auslandsgeheimdienst brauche. Der BND habe immer wieder entscheidende Informationen über das weltpolitische Geschehen wie zum Irak-Krieg durch das Abhören von Telefonaten und das Mitlesen von Mails erhalten. Die Väter des Grundgesetzes würden sich im Grabe umdrehen, wenn etwa die Kommunikation der Taliban von Artikel 10 Grundgesetz geschützt sein solle.

Aktive und frühere Geheimdienstler sahen sogar die Sicherheit Deutschlands bei einer möglichen harten Entscheidung des Gerichts bedroht. Sie schlossen nicht aus, dass hinter dem Verfahren eine gezielte geheimdienstlich gesteuerte Aktion stecken könnte, um der Bundesrepublik zu schaden.

(kbe)


Aus: "Bundesverfassungsgericht schränkt BND-Massenüberwachung deutlich ein" Stefan Krempl (19.05.2020)
Quelle: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Bundesverfassungsgericht-schraenkt-BND-Massenueberwachung-deutlich-ein-4723874.html

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Quote[...] Das Bundesverfassungsgericht hat am Dienstag die Überwachung des weltweiten Internetverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst (BND) in seiner aktuellen Form für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Der Richterspruch setze "neue Standards im internationalen Menschenrechtsschutz und für die Freiheit der Presse", lobte die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die die Verfassungsbeschwerde gegen Teile des 2016 novellierten BND-Gesetzes zusammen mit fünf Medienorganisationen unterstützt hatte. Mit der Ansage, dass deutsche Behörden auch im Ausland an die Grundrechte gebunden sind, werde auch "die Glaubwürdigkeit Deutschlands in der Welt" gestärkt.

Christian Mihr, Geschäftsführer der an der Klage beteiligten Reporter ohne Grenzen, freute sich, "dass Karlsruhe der ausufernden Überwachungspraxis des Bundesnachrichtendienstes im Ausland einen Riegel vorschiebt". Das Urteil setze neue Standards im internationalen Menschenrechtsschutz und für die Pressefreiheit. Die Bundesregierung bekomme damit die Quittung "für ihre jahrelange Weigerung, die digitale Massenüberwachung einzuhegen".

Die Linksfraktion fühlt sich in ihrer Kritik an der Reform des BND-Gesetzes bestärkt. Fraktionsvize André Hahn begrüßte als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestags (PKGr), dass den Überwachern der Überwacher elementare Informationen über Kooperationen des BND mit anderen Auslandsgeheimdiensten nicht mehr vorenthalten werden könnten. Der BND dürfe seine grundrechtswidrige Überwachungspraxis nicht bis zu einer Novelle ungeniert fortführen. Martina Renner, frühere Obfrau der Linken im NSA-Untersuchungsausschuss, konstatierte, dass die "schallende Ohrfeige" die jahrzehntelang praktizierte "Weltraumtheorie" genauso als Mumpitz entlarve wie die im BND ebenfalls angewandte "Funktionsträgertheorie".

Die Verfassungsrichter hätten herausgearbeitet, "dass unsere Werte und elementaren Grundrechte nicht an der Landesgrenze enden und auch in der Kooperation mit ausländischen Diensten berücksichtigt werden müssen", meinte FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae. Es müsse nun gewährleistet werden, "dass der BND sein Vorgehen bei der Fernmeldeaufklärung stärker begründet".

Konstantin von Notz, Vize-Fraktionschef der Grünen und stellvertretender PKGr-Vorsitzender, bezeichnete das Urteil als "wegweisend für die Arbeit von Nachrichtendiensten in der digitalen Welt und bedeutend für die Grundrechte von Millionen Menschen weltweit". Die Enthüllungen Snowdens und die anschließende Aufklärung des Bundestags hätten die Rolle der deutschen Sicherheitsbehörden ans Tageslicht gebracht. Die Bundesregierung müsse jetzt schnell die Konsequenzen ziehen.

"Im Zeitalter digitaler Kommunikation" hätten die Verfassungshüter "das Fernmeldegeheimnis entschieden gestärkt" und dessen "extraterritoriale Schutzwirkung" erläutert, kommentierte Klaus Landefeld, Vizechef des eco-Verbands der Internetwirtschaft. Sie sähen vor allem eine "umfassende, unabhängige Kontrolle aller Maßnahmen vorab als notwendig an".

Enttäuscht gab sich der EU-Abgeordnete Patrick Breyer, da das Gericht "anlasslose Massenüberwachung und flächendeckende monatelange Vorratsdatenspeicherung" nicht generell untersagt habe. Das Mitglied der Piratenpartei fordert zudem: "Verpflichtende Ende-zu-Ende-Verschlüsselung und wirksame Anonymität müssen unsere Sicherheit technisch gewährleisten." Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs (CCC) bedauerte, dass das Gericht nicht die globale BND-Spionage grundsätzlich beendet habe. Es versuche nur, "sie in einen konkreteren rechtlichen Rahmen zu pressen".

Als international "schwer vermittelbar", kritisierte Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, die Entscheidung. Indem das Gericht die BND-Abhörpraxis im Ausland kippe, werfe es "erhebliche Fragen an unsere strategische Operations- und Kooperationsfähigkeit auf – und das in einer Zeit, in der Aggression von außen immer komplexer wird".

Ihn überrasche die Ansage aus Karlsruhe nicht, twitterte der SPD-Abgeordnete Uli Grötsch, der im PKGr sitzt. "Grundrechte heißen so, weil sie grundlegend für Alle gelten müssen!" Es gelte daher nun, schnell das BND-Gesetz anzupassen und dem Geheimdienst "klare Regeln für seine Arbeit" zu geben. Weiter hieß es aus der SPD-Fraktion, sie sehe die eigene Position unterstützt, dass die strategische Fernmeldeaufklärung "verfassungskonform ausgestaltet werden" könne.

Der US-Geheimdienstenthüller Edward Snowden nannte das Urteil einen "Schritt in die richtige Richtung". "Ich hoffe, dass sich andere Staaten am heutigen Gerichtsurteil ein Beispiel nehmen und dass auch internationale Standards entwickelt werden, um den Aufbau solcher Systeme zu verbieten", sagte Snowden laut einer Mitteilung, die sein deutscher Anwalt Wolfgang Kaleck verbreitete. Snowden habe mit seinen Enthüllungen 2013 "auch eine Beweisgrundlage für Gerichte schaffen" wollen.

Die Bundesregierung befürchtete vorab, dass der BND seine Aufgaben nicht mehr erfüllen könne, wenn das Gericht dessen Internetaufklärung zu stark in die Grenzen weise. BND-Präsident Bruno Kahl hatte in der mündlichen Verhandlung im Januar zu bedenken gegeben, der Dienst würde in einem solchen Fall auf einem Auge blind. 20 Prozent der Meldungen, die der Dienst generiere, basierten auf der strategischen Auslandsüberwachung.


Aus: "BND-Urteil: Bundesverfassungsgericht stärkt das Fernmeldegeheimnis international" Stefan Krempl (19.05.2020)
Quelle: https://www.heise.de/newsticker/meldung/BND-Urteil-Bundesverfassungsgericht-staerkt-das-Fernmeldegeheimnis-international-4724784.html
#2166
Quote[...] Der Whistle-Blower Edward Snowden hat in Deutschland wohl mehr erreicht als in seiner Heimat USA. Ohne Snowdens Enthüllungen vor sieben Jahren wäre die globale Überwachung der Telekommunikation durch den Bundesnachrichtendienst kein Thema geworden. Ohne Snowden hätte es deshalb auch keine Verfassungsklagen und eben auch kein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gegeben.

Nun ist das Karlsruher Urteil sicher nicht so radikal wie Snowden, der die anlasslose Massenüberwachung abschaffen wollte. Tatsächlich wurde dem BND jetzt kaum etwas verboten. Sogar die massive Arbeitsteilung mit anderen Nachrichtendiensten wie der amerikanischen NSA bleibt erlaubt. Aber das Urteil zieht so viele rechtsstaatliche Netze ein, dass auch Bürgerrechtler aufrichtig zufrieden sind. Vor allem die Kontrolle des BND wird stark verbessert. Der wahre deutsche Vermittlungsausschuss sitzt in Karlsruhe.

Nun muss der Bundestag das Urteil umsetzen. Er hat dabei einigen Gestaltungsspielraum erhalten, vor allem bei der neuen gerichtsähnlichen Kontrollinstanz. Der Bundestag sollte die Chance nutzen, die ineffiziente Zersplitterung der deutschen Geheimdienstkontrolle auf derzeit vier Gremien zu beenden. Die Orientierung an einem funktionierenden Beispiel im Ausland könnte auch in der CDU/CSU Akzeptanz schaffen. So haben die Richter klare Sympathien für das britische Modell eines starken Investigatory Powers Tribunal erkennen lassen.

Der eigentliche Paukenschlag des Urteils geht aber weit über die BND-Befugnisse hinaus. Erstmals haben die Verfassungsrichter klargestellt, dass deutsche Grundrechte auch für Ausländer im Ausland gelten. Noch vor wenigen Jahren hielt man diesen Gedanken in deutschen Sicherheitskreisen für einen indiskutablen juristischen Spleen. Doch schon bald wird sich auch die Bundeswehr bei ihren Auslandseinsätzen mit Fragen der Verhältnismäßigkeit beschäftigen müssen. Das ist aber nur konsequent. Wenn deutsche Staatsgewalt im Ausland agiert, nimmt sie ihre Grundrechtsbindung mit.


Aus: "Urteil gegen BND-Gesetz: Ein Snowden-Gedächtnis-Urteil" Kommentar von Christian Rath, Rechtspolitischer Korrespondent (19. 5. 2020)
Quelle: https://taz.de/Urteil-gegen-BND-Gesetz/!5685722/

QuoteLatz Irene
gestern, 23:36

Das BVerfG hatte selbst die third-party-rule vor den GG Art. 10 gestellt im Selektoren-Urteil, während des NSA-U.A. - und nun hat es sich tatsächlich korrigiert! Das bewundere ich. Den Mut, umzusteuern und zu korrigieren, zurück zum aufrichtigen Schutz unserer Grundrechte, - es macht mich glücklich! Endlich richtig gute Nachrichten in der causa Edward Snowden, nach so langer Zeit! ...



QuoteBlue Screen of Death
gestern, 20:16

"Wenn deutsche Staatsgewalt im Ausland agiert, nimmt sie ihre Grundrechtsbindung mit." - meines Erachtens gilt dies für alle und für alle Tätigkeiten jenseits des deutschen Staatsgebietes


Quotemife
gestern, 16:46

Wie schön, eine relevante Kraft in unserem Land zu wissen, die das Recht der einzelnen (und natürlich einzelinnen) nicht biegt und bricht, sondern respektiert.

#2167
Quote[...] Die Position von Linken-Parteichefin Katja Kipping ist eindeutig - und nach ihren Angaben mit der Fraktionsführung abgestimmt. Es gebe eine gemeinsame Linie zu Corona-Protesten, sagt Kipping am Montag vor der Presse im Berliner Karl-Liebknecht-Haus, nachdem der Aachener Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andrej Hunko am Wochenende vor selbsterklärten Corona-Rebellen in seiner Heimatstadt aufgetreten ist. Sowohl im Parteivorstand als auch in der Fraktionsführung gebe es eine ,,sehr kritische Haltung zu den sogenannten ,Hygiene-Demos'", sagt die Parteivorsitzende.

Es gebe ,,viele gute Gründe", die Krisenpolitik der Bundesregierung zu kritisieren. Die inzwischen vielerorts von Rechtsradikalen, Verschwörungstheoretikern und Esoterikern organisierten Corona-,,Spaziergänge" und ,,Hygiene-Demos" aber hält sie definitiv nicht für das geeignete Mittel. ,,Die Verharmlosung von Corona ist nicht Protest gegen die Obrigkeit, sondern rücksichtslos gegenüber sozial Schwachen und verletzlichen Teilen der Bevölkerung", erklärt Kipping.

Die Demonstration am Samstag in Aachen hatte der linke Aktivist Walter Schumacher angemeldet. Laut ,,Stolberger Nachrichten" verwiesen Hunko und Veranstaltungsleiter Schumacher auf ein Zitat von Edward Snowden, der die Situation so beschreibe: ,,Das Virus ist schädlich, aber die Zerstörung der Rechte ist tödlich."

Hunko sprach nicht zum ersten Mal vor Corona-Rebellen in Aachen. Ende April trat er auf bei einer Kundgebung, die laut Auskunft der Stadt Ansgar Klein aus Würselen angemeldet hatte, ein in der Region bekannter Verschwörungstheoretiker. Klein nannte sie ,,Mahnwache". Klein sammelt seit Wochen im Netz Unterschriften für eine Petition zur Aufhebung aller in der Coronakrise verfügten behördlichen Maßnahmen, 70.000 hat er nach eigenen Angaben bereits beisammen.

Klein war auch am vergangenen Samstag - neben Hunko - einer von vier Rednern. Er warnte vor einem aus seiner Sicht angeblich drohenden Impfzwang. Er sagte voraus: ,,Wer sich nicht impfen lässt, gilt dann als nicht-immun und ist entscheidender Rechte voraus. Das ist der direkte Weg zur Zwangsimpfung."

Laut ,,Aachener Zeitung" begrüßte Klein den Linken-Politiker Hunko und die anderen Teilnehmer vor drei Wochen mit den Worten: ,,Die Maske ist ein Maulkorb für uns, aber die Meinungsfreiheit ist unser höchstes Gut." Nach Kleins Worten scheint das Coronavirus ,,weniger gefährlich als Grippewellen" zu sein, für die behördlichen Restriktionen gebe es ,,keine überzeugenden Argumente". So steht es in der Begründung seiner Petition.

Hunko, der auch Mitglied des Parteivorstandes ist, sieht das offenbar ähnlich. Der 56-Jährige kritisierte in seiner Rede am vergangenen Samstag eine ,,starke einseitige Ausrichtung auf Impfprogramme". Er erwähnte die Rolle von ,,Einzelpersonen" wie dem US-Unternehmer Bill Gates, die einen ,,nicht zu legitimierenden Einfluss" auf die Ausrichtung der Weltgesundheitsorganisation WHO nehmen würden.

Positiv bezog sich Hunko dagegen beispielsweise auf den früheren SPD-Bundestagsabgeordneten und Lungenfacharzt Wolfgang Wodarg, der wissenschaftlich nicht haltbare Thesen zur Pandemie verbreitet. Leute wie er würden ,,aggressiv aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt" und ,,übel diffamiert", erläuterte Hunko seinem Publikum in Aachen. Scharf kritisierte der Linken-Politiker die ,,sogenannten Mainstream-Medien", deren Darstellung ,,oft eher an Meinungsmache erinnert, denn an journalistische Aufklärung". Der Begriff ,,Lügenpresse" fiel nicht.

Mit den Worten ,,Nina Hinckeldeyn spricht mit aus der Seele" hatte Hunko wenige Tage zuvor zuvor ein Posting der Krimi-Autorin Nina Hinckeldeyn geteilt. Sie vertrat auf Facebook die Auffassung, ,,Verschwörungstheoretiker" sei ein ,,CIA-Kampfbegriff".

Hinckeldeyn kritisierte ,,Linke, die sich mit erhobenem Zeigefinger künstlich darüber empören, dass die, die um ihre Existenz bangen, den Schulterschluss mit der AfD" suchen würden. Sie wandte sich gegen Menschen, die ,,nach einem Impfstoff und noch schlimmer, nach einer Impfpflicht krähen" würden. Oder die ,,als Claqueur" der behördlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus stillschweigend dabei zusehen würden, ,,wie eine völlig losgelöste Regierung Merkel Millionen Menschen an die Wand fährt". Die Autorin warb ferner dafür, ,,zu erkennen, dass Multikonzerne und Finanzoligarchen im Windschatten Coronas eine feindliche Übernahme gestartet haben, um die europäische Mittelschicht zu schlucken".

Hunko räumt später ein, die Wortmeldung von Hinckeldeyn sei ,,sehr emotional" gewesen. Zugleich aber kritisiert er es als ,,völlig falsch", wenn sich die Linke ,,als konsequenteste Lockdown-Partei positioniert", wie es Parteichefin Kipping fordere. Kipping hatte in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel geschrieben: Was die Lockerungslobby ,,als Exitstrategie verkauft, führt nur in eine zweite Infektionswelle". Der Preis werde hoch sein.

In der Fraktionssitzung am Dienstag vergangene Woche hatten die Vorsitzenden Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali mit Nachdruck vor der Teilnahme an Demonstrationen von Corona-Rebellen gewarnt.

Am Samstag, während Hunko in Aachen sprach, positionierte sich auch der nordrhein-westfälische Vorstand der Linken, wie dessen stellvertretender Chef Jules El-Khatib auf Facebook schrieb. Demnach wurde einstimmig beschlossen, ,,weder zu Hygiene-Demos aufzurufen noch sich in irgendeiner Form an ihnen zu beteiligen".

Der Landesvorsitzende der Linkspartei, Christian Leye, sagte dem Tagesspiegel, gerade in Nordrhein-Westfalen habe der Landesverband ,,eine sehr klare Haltung gegenüber dem unverantwortlichen Kurs" von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), der sich ,,unter Druck der Wirtschaft an die Spitze der Öffnungsdebatte gestellt hat". Sollte eine zweite Welle kommen, werde Laschet Antworten liefern müssen, wieso er ausgerechnet Shopping-Malls und Möbelhäuser so schnell geöffnet habe.

,,Dass vor diesem Hintergrund Rechtspopulisten und Nazis bei den Hygiene-Demonstrationen mitlaufen, spricht Bände über deren Verhältnis zum Schutz des Lebens", erklärt Leye weiter. Der Tenor dieser Demonstrationen lenke auch ,,von dem eigentlichen Skandal ab, nämlich der sozialen Schieflage der Rettungspakete".

Es sei die ,,Aufgabe demokratischer Parteien, die berechtigten Sorgen zu trennen von Gaga-Positionen und deren Vereinnahmung von Rechts, damit letztere im Trubel der Krise kein politisches Gewicht erreichen". Auf die Frage nach Hunkos Auftritt in Aachen sagte Leye, er wolle nicht öffentlich den Stab über Genossen brechen, ,,auch wenn sie an Demonstrationen teilnehmen, an denen ich definitiv nicht teilnehmen würde".

[Die Coronavirus-Krise ist auch für die Politik eine historische Herausforderung. Jeden Morgen informieren wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, in unserer Morgenlage über die politischen Entscheidungen, Nachrichten und Hintergründe. Zur kostenlosen Anmeldung geht es hier.]

Der schleswig-holsteinische Bundestagsabgeordnete Lorenz Gösta Beutin, Klimapolitiker der Fraktion, sagte am Montag dem Tagesspiegel: ,,Wie beim Klimaschutz steht die Linke bei der Corona-Bekämpfung auf der Seite der Wissenschaft. Wer glaubt, Bill Gates steht hinter einer weltweiten Pandemie, der glaubt auch, dass die Chinesen den Klimawandel erfunden haben." Auch Beutin fordert, dass die Lasten der Krise gerecht verteilt werden müssten und es zu keinen neuen Ungerechtigkeiten kommen dürfe. Zugleich stellt der Kieler Linken-Politiker aber fest: ,,Die Demokratie in Deutschland funktioniert auch in Pandemie-Krisenzeiten."

Mit Blick auf Hunko sagt Beutin: ,,Linke demonstrieren nicht mit Verschwörungsanhängern, Neonazis und Demokratiefeinden, sondern gegen sie." Die vereinzelte Teilnahme von Linken an ,,Hygiene-Demos" sei keine Parteilinie und nur ,,irrelevante Einzelmeinung".

Hunko war erst im Februar zum stellvertretenden Vorsitzenden der Linken-Bundestagsfraktion gewählt worden. Er war der Wunschkandidat von Bartsch und Mohamed Ali und setzte sich damals in einer Kampfabstimmung gegen die Innenpolitikerin Martina Renner durch. Immer wieder hatte Hunko zuvor innerparteiliche Debatten ausgelöst, etwa mit seinem Moskau-freundlichen Kurs in der Ukraine-Politik und umstrittener Venezuela-Solidarität.

Anfang März war Hunko beteiligt an der umstrittenen Strafanzeige von acht Linken-Bundestagsabgeordneten gegen Kanzlerin Angela Merkel, die angeblich mitverantwortlich für die ,,Ermordung" des iranischen Generals Qassem Soleimani sein soll, weil der ,,völkerrechtswidrige Drohnenangriff" über den US-Luftwaffenstützpunkt in Rheinland-Pfalz gesteuert worden sei.

Mit seinem Kurs zur Annäherung an die Corona-Skeptiker hat Hunko nun erneut größere Teile von Parteivorstand und Fraktion gegen sich aufgebracht. Auf dem Bundesparteitag Ende Oktober/Anfang November in Erfurt - dieser war für Juni geplant, ist aber wegen der Pandemie verlegt worden - könnte der NRW-Bundestagsabgeordnete als Mitglied des Parteivorstandes abgewählt werden.

Die Bundestagsfraktion hat aktuell mehr Sanktionsmöglichkeiten, wie in Parteikreisen erläutert wird. In jeder Sitzungswoche könnte Hunko von seinem Amt als Fraktionsvize abgelöst werden, wenn die Mehrheit der Abgeordneten das wolle, heißt es. Bartsch und Mohamed Ali äußerten sich bisher nicht öffentlich zu der Causa.



Aus: "Auftritt vor Corona-Rebellen in Aachen: Eklat um Linken-Fraktionsvize Andrej Hunko" Matthias Meisner ()
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/auftritt-vor-corona-rebellen-in-aachen-eklat-um-linken-fraktionsvize-andrej-hunko/25839888.html

Quotecrossoverhill 19.05.2020, 10:10 Uhr
Ein, zwei Deppen muss jede Partei ertragen. Schon um die Seriosität der anderen zu belegen.
Nur in der AfD, vor allem in Brandenburg, ist dieses Verhältnis umgekehrt.


QuoteFlo_Mu 18.05.2020, 21:37 Uhr
Sehr geehrter Herr Meisner, meinen Sie nicht, dass es fair wäre, auf den Text der Rede, die Herr Hunko gehalten hat, zu verweisen?
Dann hätten alle Leserinnen und Leser selber unkompliziert die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild von dem Gesagten zu machen!
Das wäre das Mindeste, daher hier der Link auf das vollständige Manuskript: https://www.facebook.com/704862432868718/posts/3229740553714214/?d=n

Andrej Hunko
May 16 at 4:12 AM ·

Redemanuskript für die Kundgebung ,,Die Gedanken sind frei" am 16. Mai in Aachen

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Aachenerinnen und Aachener,

zunächst einmal vielen Dank auf dieser Kundgebung sprechen zu können. Mein Name ist Andrej Hunko, ich bin Bundestagsabgeordneter der Linken aus Aachen und u.a. Mitglied des Sozial- und Gesundheitsausschusses des Europarates. Ich habe mir lange überlegt hier zu sprechen und bin auch von vielen Menschen, die ich sehr schätze, aufgefordert worden, es nicht zu tun. Deshalb ganz kurz hier meine Motive:

Ich spüre seit einigen Wochen einige wachsende Sorge in Teilen der Bevölkerung, dass es im Zuge zu einem längerfristigen Abbau von Grund- und Freiheitsrechten kommen kann, wie es Edward Snowden hier ausdrückt, ,,The virus is harmful, the destruction of rights is fatal", eine Sorge, die sich bei vielen mischt mit der wachsenden Sorge um die eigene soziale und wirtschaftliche Situation, weil die Konsequenzen des Lockdown erst langsam spürbar werden. Diese Sorge braucht eine demokratische Ausdrucksform und Versammlungen wie diese hier sind ein ur-demokratisches Recht, um sich ausdrücken zu können.

Und diese Sorge ist nicht ganz grundlos: Insbesondere die versuchte Einführung eines sog. Immunitätsausweises durch die Bundesregierung vor zwei Wochen, mit einer Koppelung an die Wiederherstellung bestimmter Grundrechte, sei es durch Antikörpertests oder durch Impfung, hat eine Empörungswelle ausgelöst. Ich hatte noch am Tag des entsprechenden Kabinettsbeschlusses eine Anfrage dazu gestellt und unser Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch hat das umgehend öffentlich scharf verurteilt. Wenige Tage später ist dieser Passus durch den öffentlichen Druck aus der Kabinettsvorlage gestrichen worden. Vorgestern wurde diese zweite Novelle zum Infektionsschutzgesetz mit den Stimmen von SPD und CDU (also in Aachen Ulla Schmidt und Rudolf Henke) verabschiedet, allerdings ohne den Passus. Gleichwohl haben wir Linken das Gesetz geschlossen abgelehnt, weil es immer noch zu weitreichende Kompetenzübertragungen an das Gesundheitsministerium enthält und z.B. am neoliberalen Fallpauschalenprinzip in der Krankenhausfinanzierung festhält.

Aber Jens Spahn hat schon angekündigt an dem Vorstoß für einen Immunitätsausweis festhalten zu wollen. Und auch an einer Corona-Tracing-App, die in ihrer ursprünglichen Form mit zentraler Datenspeicherung dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet hätte. Und ich bin froh, dass es dagegen breiten Protest gegeben hat und er auch hier einen Rückzieher machen musste. Ich sage Danke an eine demokratische Zivilgesellschaft, die eben auch in Corona-Zeiten nicht alles durchwinkt. Zurecht hatte die Ethik-Kommission vor einigen Wochen vor dem Hintergrund der Corona-Krise vor einer Gefahr des ,,obrigkeitsstaatlichen Denkens" gewarnt und dieses obrigkeitsstaatliche Denken darf es nicht geben.

Ein Problem der öffentlichen Debatte im Zuge der Corona-Krise ist aus meiner Sicht, dass eine Minderheit, aber eine relevante und gewichtige Minderheit von Experten aber auch Teile der Bevölkerung, die eine andere Sicht auf die Gefahren von Covid-19 und die entsprechenden Maßnahmen haben, aggressiv aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt wurde oder übel diffamiert wurden!

Etwa Wolfgang Wodarg, den ich aus dem Europarat kenne mit dem ich im Untersuchungsausschuss des Europarates zur Schweinegrippe zusammengearbeitet hatte, oder Sucharit Bakhdi oder etwa der ehemalige Leiter des europäischen Zweigs der Epidemiologen Ulrich Keil aus Münster, um nur einige zu nennen. Ihre Sichtweise, die ich mir nicht vollständig zu eigen mache, aber die Teil eines demokratischen Diskurses sein müssten, hat dann über die alternativen Medien enormes Interesse ausgelöst. Ja, es gibt Teile dieser alternativen Medien, die krude Vorstellungen verbreiten, mit denen ich nichts zu tun haben will. Aber die Popularität dieser Medien hat Gründe, die in einer Darstellung in den sog. Mainstream-Medien liegen, die oft eher an Meinungsmache erinnert, denn an journalistischer Aufklärung.

Wenn jetzt diejenigen, die aus Sorge vor langfristigen Grundrechte-Einschränkungen auf die Straße gehen pauschal als ,,irre Verschwörungstheoretiker" oder Rechtsextremisten diffamiert werden, so läuft etwas grundlegend falsch. Diese Unterstellungen müssen aufhören. Aber ich will hier auch ganz klar sagen: Mit tatsächlichen Rechtsextremisten oder mit Leuten, die glauben, hinter Corona stehe ein Masterplan zur Ausrottung der Menschheit will ich auch nichts zu tun haben. Aber das ist nicht die Mehrheit der Menschen, die jetzt auf die Straße gehen.

Und auch nicht mit der AFD, die jetzt am Hauptbahnhof demonstriert und versucht auf den Zug aufzuspringen. Vorgestern im Bundestag habe ich sie damit konfrontiert, dass ihr erklärtes Vorbild Viktor Orban in Ungarn das bei weitem drakonischste Notfallgesetz in Europa eingeführt hat, mit völliger Entmachtung des Parlamentes, Regieren per Dekret und mit einem Desinformationsgesetz, auf der Grundlage Kritiker der Corona-Politik der Regierung Besuch von der Polizei bekommen und abgeführt wurden. Und auch wenn Orban gestern angekündigt hat, die Gesetze zurück nehmen zu wollen, kann es doch nicht sein, dass in einer Demokratie solch weitreichende Aushebelungen von Grundrechten möglich sind. Und ich sage ganz klar: Ähnliche ,,fake-news-Strafgesetze", wie sie auch in Deutschland immer wieder ins Spiel gebracht werden, lehne ich strikt ab.

Ein Wort zur WHO und Bill Gates: Das Grundproblem ist aus meiner Sicht, dass die WHO nur noch zu weniger als 20% aus regulären öffentlichen Mitteln finanziert wird. An die Stelle der Finanzierung durch die Mitgliedsstaaten sind in den letzten 30 Jahren zunehmend private Akteure mit entsprechenden Interessen getreten, etwa große Pharma- und Impfstoffhersteller. Oder Einzelpersonen wie Bill Gates - im Osten würde man sie als Oligarchen bezeichnen –, die einen nicht zu legitimierenden Einfluss auf die Ausrichtung der WHO nehmen.

Etwa auf die starke einseitige Ausrichtung auf Impfprogramme, obwohl andere und einfachere Maßnahmen einen erheblich größeren Effekt auf die globale Gesundheit hätten, z. B. der Zugang zu sauberem Trinkwasser, an dessen Mangel täglich 1500 Menschen sterben - jeden Tag, jahrein, jahraus. Diese Kritik an der WHO, die übrigens nicht parlamentarisch kontrolliert wird, ist oft formuliert worden, auch vom Europarat. Und es muss eine Konsequenz aus der Corona-Krise sein, dass die WHO endlich wieder auf eine solide öffentliche Finanzierung gestellt wird und sich vom Einfluss privater Akteure befreit. Die Linksfraktion im Bundestag wird entsprechende Anträge einbringen.

Und das ist unabhängig davon, welche Motive man Bill Gates unterstellt, etwa ganz finstere Motive, wie es einige behaupten oder ganz humanistische, wie es andere meinen. Es kann einfach nicht sein, dass der zweitreichste Mann der Welt einen solchen Einfluss auf die Gesundheitspolitik der gesamten Menschheit und auch auf unsere Medien hat, das ist mit meiner Vorstellung von Demokratie völlig unvereinbar. An diesem Beispiel kann man auch sehen, wie die gewachsene Ungleichheit auf internationaler Ebene, die gewachsene Macht einiger Multimilliardäre einen negativen Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen hat. Die WHO braucht solide öffentliche Finanzierung und auch mehr demokratische Kontrolle!

Ich bin kein grundsätzlicher Gegner von Impfungen, wie mir manchmal unterstellt wird. Impfungen können sehr sinnvoll sein und ich bin auch gegen viele Krankheiten geimpft. Aber bei der Schweinegrippe war es offensichtlich und ist auch nachgewiesen, dass die Panikmache im Interesse des Vertriebs von möglichst vielen Impfdosen lag, die überflüssig war und die in der Summe etwa 30-40 Milliarden Dollar in die Kassen der Impfstoffhersteller gespült hatte. Seitdem ist der Einfluss der Impfstoffhersteller auf die Gesundheitspolitik eher gestiegen. Das macht die heutige Lage so schwierig: Eine Impfung kann zu einem sinnvollen Ausgang aus der Corona-Bedrohung führen, aber die Herstellung ist bei Corona-Viren äußerst schwierig und kann zu erheblichen Nebenwirkungen führen. Deshalb halte ich es für falsch, alle Hoffnung darauf zu setzen.

Und ich bin auch gegen eine Impfpflicht, wenn es mildere Mittel gibt. Deshalb habe ich vor einem halben Jahr auch gegen die faktische Masern-Impfpflicht von Jens Spahn gestimmt, weil ich nicht davon überzeugt bin, dass diese Impfpflicht die ohnehin sehr hohe Durchimpfungsrate verbessern würde. Und falls es einen Corona-Impfstoff geben sollte, werde ich sehr genau hinschauen.

Liebe Freundinnen und Freunde, noch ein paar Worte zur Situation in Deutschland: Ich kritisiere explizit nicht, dass die Bundesregierung mit Schutzmaßnahmen in Reaktion auf die Corona-Pandemie reagiert hat. Jeder Staat muss das machen und jeder Staat hat es gemacht. Corona ist gefährlich und darauf muss reagiert werden. Und ich bitte darum, mir nicht zu unterstellen, dass ich gegen Schutzmaßnahmen wäre. Und ich behaupte auch nicht, dass es sich bei Corona um eine harmlose Grippewelle handelt. Grippewellen sind im Übrigen oft nicht harmlos sind. Wer erinnert sich etwa noch an die Hongkong-Grippe 1968/69, an der alleine in Deutschland geschätzte 40.000 Menschen starben? Aber ich behalte mir das Recht vor, genau hinzuschauen was gemacht wird, möchte Lehren für die Zukunft ziehen und da tun sich für mich schon Fragen und Widersprüche auf:

Warum etwa wurde so spät reagiert? In Island, dass aus meiner Sicht in puncto Effektivität der Seuchenbekämpfung und Grundrechteschutz weltweit am besten dasteht und übrigens eine linke Gesundheitsministerin hat, wurde ab dem 24. Januar an den Flughäfen kontrolliert und ab Anfang Februar systematisch getestet. In Deutschland wurde gar nicht kontrolliert und dann ab Mitte März die Grenzen geschlossen. Systematisch getestet wird bis heute nicht. Als ich Ende Februar in Lateinamerika war, war dort an den Flughäfen Corona ein großes Thema, bei der Rückkehr in Deutschland nicht. Noch im Februar wurden im Bayrischen Rundfunk diejenigen als Verschwörungstheoretiker abgetan, die behaupteten Corona ist gefährlich. Heute ist es umgekehrt. Freundlich gesagt: Die Vorsorge war unzureichend und chaotisch.

Warum wurden und werden die Zahlen der positiv Getesteten bis heute so intransparent aufbereitet, also ohne Verhältnis zu den negativ Getesteten. Warum gibt es trotz gerade mal 30%-prozentiger Auslastung der Testkapazitäten keine Versuche einer repräsentativen Stichprobentestung, wie ich es seit Ende März fordere. Warum hat das RKI empfohlen, die Gestorbenen nicht zu obduzieren, obwohl die genaue Kenntnis der Todesursache von überragender Bedeutung für die Erkrankten ist? Warum stellt das RKI seine regelmäßigen Pressekonferenzen ein, obwohl das Interesse überragend ist? Warum eröffnen erst shopping-malls, während Kindergärten geschlossen bleiben, obwohl Untersuchungen bestätigen, dass Kinder kein oder nur ein geringes Risiko als Überträger darstellen? Warum wird die an sich sinnvolle Maßnahme der Regionalisierung mit 50 pro 100000 Neuinfizierten in einer Woche nicht geknüpft an eine bestimmte Anzahl von Tests? Warum ist die Reproduktionszahl schon vor dem Lockdown am 23. März unter 1 gefallen? Warum wird eine international umstrittene Maskenpflicht am Ende der jetzigen Pandemie-Welle eingeführt? Und die große Frage: Haben einige der Maßnahmen, insbesondere die grundrechtsbezogenen Maßnahmen, nicht zu einem größeren Schaden geführt, als ihr Nutzen war?

Niemand kann heute all diese Fragen 100% beantworten. Ich unterstelle der Bundesregierung auch nicht, bei den Schutzmaßnahmen in böser Absicht zu handeln. Und in einer unübersichtlichen Situation muss eine Regierung auch weitreichende Schutzvorkehrungen treffen. Aber angesichts der Dimension der Folgewirkungen, angesichts der weitgehensten Grundrechteeinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik, erwarte ich schon eine transparente Aufarbeitung der Geschehnisse eine maximale Evaluierung und Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der einzelnen Maßnahmen.

Liebe Freundinnen und Freunde, noch ein paar Worte zu den sozialen und wirtschaftlichen Folgen: Wir stehen vor dem größten Wirtschaftseinbruch seit dem zweiten Weltkrieg. Die Debatte um die richtige Gesundheitspolitik wird in den nächsten Wochen und Monaten von der Debatte um die richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik verdrängt werden. Viele Menschen werden ihre Existenzgrundlage verlieren. Es wird auch m.E. wieder zu Sozialprotesten kommen.

Angela Merkel hat am Mittwoch in der Fragestunde gesagt, es wird keine Steuererhöhungen und auch keine Vermögensabgabe etwa nach dem Vorbild des Lastenausgleichs Anfang der 50er Jahre geben, wie wir das fordern. Das bedeutet aber auch, dass die Vermögenden geschont werden und die Kosten der Krise andere zahlen sollen, also die sog. kleinen Leute. Es hat im Zuge der Corona-Krise sehr viel Solidarität in der Bevölkerung gegeben, ich finde, diese Solidarität muss man beim Wiederaufbau der Wirtschaft auch von denjenigen erwartet, die es sich leisten können.

Und es kann dabei nicht sein, dass Konzerne Staatshilfen erhalten, die Dividenden ausschütten, die ihren Managern Boni ausschütten oder die in Steueroasen sitzen. Das muss verhindert werden.

Und der durch die notwendigen staatlichen Hilfen gewachsene Einfluss muss auch dazu genutzt werden, die Produktion sozial-ökologisch und klimagerecht auszurichten. In Deutschland und Europa. Die Krise bietet hierzu auch eine Chance.

Und auch das Gesundheitssystem muss als Folge der jetzigen Debatte auf den Prüfstand: Es kann doch nicht sein, dass unser Gesundheitssystem mehr und mehr privatisiert wurde, dass Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen nach betriebswirtschaftlicher Profitlogik funktionieren sollen. Ich finde Gesundheit darf keine Ware sein und gehört in öffentliche Hand!

Zum Schluss noch ein paar Wort zu unserer Kultur untereinander: Es hat ja in den letzten Tagen auch in Aachen einige Auseinandersetzungen gegeben. Und diese Auseinandersetzungen haben eine Schärfe angenommen, die ich mir nur mit der Angst erklären kann: Die einen haben Angst vor dem Virus, das wir angesichts der Lockerungen vor einer zweiten Welle stehen, die anderen haben Angst vor dauerhaften Grundrechte-Einschränkungen oder vor den sozialen Folgen der Maßnahmen. Beide haben gute Gründe für ihre Haltung. Bitte lasst uns respektvoll miteinander umgehen, haltet die Abstandsregeln ein und beschimpft nicht die anderen, die es vielleicht anders sehen.

Bleibt gesund und bleibt kritisch!




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#2168
Quote[...] Die Position von Linken-Parteichefin Katja Kipping ist eindeutig - und nach ihren Angaben mit der Fraktionsführung abgestimmt. Es gebe eine gemeinsame Linie zu Corona-Protesten, sagt Kipping am Montag vor der Presse im Berliner Karl-Liebknecht-Haus, nachdem der Aachener Bundestagsabgeordnete und stellvertretende Fraktionsvorsitzende Andrej Hunko am Wochenende vor selbsterklärten Corona-Rebellen in seiner Heimatstadt aufgetreten ist. Sowohl im Parteivorstand als auch in der Fraktionsführung gebe es eine ,,sehr kritische Haltung zu den sogenannten ,Hygiene-Demos'", sagt die Parteivorsitzende.

Es gebe ,,viele gute Gründe", die Krisenpolitik der Bundesregierung zu kritisieren. Die inzwischen vielerorts von Rechtsradikalen, Verschwörungstheoretikern und Esoterikern organisierten Corona-,,Spaziergänge" und ,,Hygiene-Demos" aber hält sie definitiv nicht für das geeignete Mittel. ,,Die Verharmlosung von Corona ist nicht Protest gegen die Obrigkeit, sondern rücksichtslos gegenüber sozial Schwachen und verletzlichen Teilen der Bevölkerung", erklärt Kipping.

Die Demonstration am Samstag in Aachen hatte der linke Aktivist Walter Schumacher angemeldet. Laut ,,Stolberger Nachrichten" verwiesen Hunko und Veranstaltungsleiter Schumacher auf ein Zitat von Edward Snowden, der die Situation so beschreibe: ,,Das Virus ist schädlich, aber die Zerstörung der Rechte ist tödlich."

Hunko sprach nicht zum ersten Mal vor Corona-Rebellen in Aachen. Ende April trat er auf bei einer Kundgebung, die laut Auskunft der Stadt Ansgar Klein aus Würselen angemeldet hatte, ein in der Region bekannter Verschwörungstheoretiker. Klein nannte sie ,,Mahnwache". Klein sammelt seit Wochen im Netz Unterschriften für eine Petition zur Aufhebung aller in der Coronakrise verfügten behördlichen Maßnahmen, 70.000 hat er nach eigenen Angaben bereits beisammen.

Klein war auch am vergangenen Samstag - neben Hunko - einer von vier Rednern. Er warnte vor einem aus seiner Sicht angeblich drohenden Impfzwang. Er sagte voraus: ,,Wer sich nicht impfen lässt, gilt dann als nicht-immun und ist entscheidender Rechte voraus. Das ist der direkte Weg zur Zwangsimpfung."

Laut ,,Aachener Zeitung" begrüßte Klein den Linken-Politiker Hunko und die anderen Teilnehmer vor drei Wochen mit den Worten: ,,Die Maske ist ein Maulkorb für uns, aber die Meinungsfreiheit ist unser höchstes Gut." Nach Kleins Worten scheint das Coronavirus ,,weniger gefährlich als Grippewellen" zu sein, für die behördlichen Restriktionen gebe es ,,keine überzeugenden Argumente". So steht es in der Begründung seiner Petition.

Hunko, der auch Mitglied des Parteivorstandes ist, sieht das offenbar ähnlich. Der 56-Jährige kritisierte in seiner Rede am vergangenen Samstag eine ,,starke einseitige Ausrichtung auf Impfprogramme". Er erwähnte die Rolle von ,,Einzelpersonen" wie dem US-Unternehmer Bill Gates, die einen ,,nicht zu legitimierenden Einfluss" auf die Ausrichtung der Weltgesundheitsorganisation WHO nehmen würden.

Positiv bezog sich Hunko dagegen beispielsweise auf den früheren SPD-Bundestagsabgeordneten und Lungenfacharzt Wolfgang Wodarg, der wissenschaftlich nicht haltbare Thesen zur Pandemie verbreitet. Leute wie er würden ,,aggressiv aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt" und ,,übel diffamiert", erläuterte Hunko seinem Publikum in Aachen. Scharf kritisierte der Linken-Politiker die ,,sogenannten Mainstream-Medien", deren Darstellung ,,oft eher an Meinungsmache erinnert, denn an journalistische Aufklärung". Der Begriff ,,Lügenpresse" fiel nicht.

Mit den Worten ,,Nina Hinckeldeyn spricht mit aus der Seele" hatte Hunko wenige Tage zuvor zuvor ein Posting der Krimi-Autorin Nina Hinckeldeyn geteilt. Sie vertrat auf Facebook die Auffassung, ,,Verschwörungstheoretiker" sei ein ,,CIA-Kampfbegriff".

Hinckeldeyn kritisierte ,,Linke, die sich mit erhobenem Zeigefinger künstlich darüber empören, dass die, die um ihre Existenz bangen, den Schulterschluss mit der AfD" suchen würden. Sie wandte sich gegen Menschen, die ,,nach einem Impfstoff und noch schlimmer, nach einer Impfpflicht krähen" würden. Oder die ,,als Claqueur" der behördlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus stillschweigend dabei zusehen würden, ,,wie eine völlig losgelöste Regierung Merkel Millionen Menschen an die Wand fährt". Die Autorin warb ferner dafür, ,,zu erkennen, dass Multikonzerne und Finanzoligarchen im Windschatten Coronas eine feindliche Übernahme gestartet haben, um die europäische Mittelschicht zu schlucken".

Hunko räumt später ein, die Wortmeldung von Hinckeldeyn sei ,,sehr emotional" gewesen. Zugleich aber kritisiert er es als ,,völlig falsch", wenn sich die Linke ,,als konsequenteste Lockdown-Partei positioniert", wie es Parteichefin Kipping fordere. Kipping hatte in einem Gastbeitrag im Tagesspiegel geschrieben: Was die Lockerungslobby ,,als Exitstrategie verkauft, führt nur in eine zweite Infektionswelle". Der Preis werde hoch sein.

In der Fraktionssitzung am Dienstag vergangene Woche hatten die Vorsitzenden Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali mit Nachdruck vor der Teilnahme an Demonstrationen von Corona-Rebellen gewarnt.

Am Samstag, während Hunko in Aachen sprach, positionierte sich auch der nordrhein-westfälische Vorstand der Linken, wie dessen stellvertretender Chef Jules El-Khatib auf Facebook schrieb. Demnach wurde einstimmig beschlossen, ,,weder zu Hygiene-Demos aufzurufen noch sich in irgendeiner Form an ihnen zu beteiligen".

Der Landesvorsitzende der Linkspartei, Christian Leye, sagte dem Tagesspiegel, gerade in Nordrhein-Westfalen habe der Landesverband ,,eine sehr klare Haltung gegenüber dem unverantwortlichen Kurs" von Ministerpräsident Armin Laschet (CDU), der sich ,,unter Druck der Wirtschaft an die Spitze der Öffnungsdebatte gestellt hat". Sollte eine zweite Welle kommen, werde Laschet Antworten liefern müssen, wieso er ausgerechnet Shopping-Malls und Möbelhäuser so schnell geöffnet habe.

,,Dass vor diesem Hintergrund Rechtspopulisten und Nazis bei den Hygiene-Demonstrationen mitlaufen, spricht Bände über deren Verhältnis zum Schutz des Lebens", erklärt Leye weiter. Der Tenor dieser Demonstrationen lenke auch ,,von dem eigentlichen Skandal ab, nämlich der sozialen Schieflage der Rettungspakete".

Es sei die ,,Aufgabe demokratischer Parteien, die berechtigten Sorgen zu trennen von Gaga-Positionen und deren Vereinnahmung von Rechts, damit letztere im Trubel der Krise kein politisches Gewicht erreichen". Auf die Frage nach Hunkos Auftritt in Aachen sagte Leye, er wolle nicht öffentlich den Stab über Genossen brechen, ,,auch wenn sie an Demonstrationen teilnehmen, an denen ich definitiv nicht teilnehmen würde".

[Die Coronavirus-Krise ist auch für die Politik eine historische Herausforderung. Jeden Morgen informieren wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, in unserer Morgenlage über die politischen Entscheidungen, Nachrichten und Hintergründe. Zur kostenlosen Anmeldung geht es hier.]

Der schleswig-holsteinische Bundestagsabgeordnete Lorenz Gösta Beutin, Klimapolitiker der Fraktion, sagte am Montag dem Tagesspiegel: ,,Wie beim Klimaschutz steht die Linke bei der Corona-Bekämpfung auf der Seite der Wissenschaft. Wer glaubt, Bill Gates steht hinter einer weltweiten Pandemie, der glaubt auch, dass die Chinesen den Klimawandel erfunden haben." Auch Beutin fordert, dass die Lasten der Krise gerecht verteilt werden müssten und es zu keinen neuen Ungerechtigkeiten kommen dürfe. Zugleich stellt der Kieler Linken-Politiker aber fest: ,,Die Demokratie in Deutschland funktioniert auch in Pandemie-Krisenzeiten."

Mit Blick auf Hunko sagt Beutin: ,,Linke demonstrieren nicht mit Verschwörungsanhängern, Neonazis und Demokratiefeinden, sondern gegen sie." Die vereinzelte Teilnahme von Linken an ,,Hygiene-Demos" sei keine Parteilinie und nur ,,irrelevante Einzelmeinung".

Hunko war erst im Februar zum stellvertretenden Vorsitzenden der Linken-Bundestagsfraktion gewählt worden. Er war der Wunschkandidat von Bartsch und Mohamed Ali und setzte sich damals in einer Kampfabstimmung gegen die Innenpolitikerin Martina Renner durch. Immer wieder hatte Hunko zuvor innerparteiliche Debatten ausgelöst, etwa mit seinem Moskau-freundlichen Kurs in der Ukraine-Politik und umstrittener Venezuela-Solidarität.

Anfang März war Hunko beteiligt an der umstrittenen Strafanzeige von acht Linken-Bundestagsabgeordneten gegen Kanzlerin Angela Merkel, die angeblich mitverantwortlich für die ,,Ermordung" des iranischen Generals Qassem Soleimani sein soll, weil der ,,völkerrechtswidrige Drohnenangriff" über den US-Luftwaffenstützpunkt in Rheinland-Pfalz gesteuert worden sei.

Mit seinem Kurs zur Annäherung an die Corona-Skeptiker hat Hunko nun erneut größere Teile von Parteivorstand und Fraktion gegen sich aufgebracht. Auf dem Bundesparteitag Ende Oktober/Anfang November in Erfurt - dieser war für Juni geplant, ist aber wegen der Pandemie verlegt worden - könnte der NRW-Bundestagsabgeordnete als Mitglied des Parteivorstandes abgewählt werden.

Die Bundestagsfraktion hat aktuell mehr Sanktionsmöglichkeiten, wie in Parteikreisen erläutert wird. In jeder Sitzungswoche könnte Hunko von seinem Amt als Fraktionsvize abgelöst werden, wenn die Mehrheit der Abgeordneten das wolle, heißt es. Bartsch und Mohamed Ali äußerten sich bisher nicht öffentlich zu der Causa.



Aus: "Auftritt vor Corona-Rebellen in Aachen: Eklat um Linken-Fraktionsvize Andrej Hunko" Matthias Meisner ()
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/auftritt-vor-corona-rebellen-in-aachen-eklat-um-linken-fraktionsvize-andrej-hunko/25839888.html

Quotecrossoverhill 19.05.2020, 10:10 Uhr
Ein, zwei Deppen muss jede Partei ertragen. Schon um die Seriosität der anderen zu belegen.
Nur in der AfD, vor allem in Brandenburg, ist dieses Verhältnis umgekehrt.


QuoteFlo_Mu 18.05.2020, 21:37 Uhr
Sehr geehrter Herr Meisner, meinen Sie nicht, dass es fair wäre, auf den Text der Rede, die Herr Hunko gehalten hat, zu verweisen?
Dann hätten alle Leserinnen und Leser selber unkompliziert die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild von dem Gesagten zu machen!
Das wäre das Mindeste, daher hier der Link auf das vollständige Manuskript: https://www.facebook.com/704862432868718/posts/3229740553714214/?d=n

Andrej Hunko
May 16 at 4:12 AM ·

Redemanuskript für die Kundgebung ,,Die Gedanken sind frei" am 16. Mai in Aachen

Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Aachenerinnen und Aachener,

zunächst einmal vielen Dank auf dieser Kundgebung sprechen zu können. Mein Name ist Andrej Hunko, ich bin Bundestagsabgeordneter der Linken aus Aachen und u.a. Mitglied des Sozial- und Gesundheitsausschusses des Europarates. Ich habe mir lange überlegt hier zu sprechen und bin auch von vielen Menschen, die ich sehr schätze, aufgefordert worden, es nicht zu tun. Deshalb ganz kurz hier meine Motive:

Ich spüre seit einigen Wochen einige wachsende Sorge in Teilen der Bevölkerung, dass es im Zuge zu einem längerfristigen Abbau von Grund- und Freiheitsrechten kommen kann, wie es Edward Snowden hier ausdrückt, ,,The virus is harmful, the destruction of rights is fatal", eine Sorge, die sich bei vielen mischt mit der wachsenden Sorge um die eigene soziale und wirtschaftliche Situation, weil die Konsequenzen des Lockdown erst langsam spürbar werden. Diese Sorge braucht eine demokratische Ausdrucksform und Versammlungen wie diese hier sind ein ur-demokratisches Recht, um sich ausdrücken zu können.

Und diese Sorge ist nicht ganz grundlos: Insbesondere die versuchte Einführung eines sog. Immunitätsausweises durch die Bundesregierung vor zwei Wochen, mit einer Koppelung an die Wiederherstellung bestimmter Grundrechte, sei es durch Antikörpertests oder durch Impfung, hat eine Empörungswelle ausgelöst. Ich hatte noch am Tag des entsprechenden Kabinettsbeschlusses eine Anfrage dazu gestellt und unser Fraktionsvorsitzender Dietmar Bartsch hat das umgehend öffentlich scharf verurteilt. Wenige Tage später ist dieser Passus durch den öffentlichen Druck aus der Kabinettsvorlage gestrichen worden. Vorgestern wurde diese zweite Novelle zum Infektionsschutzgesetz mit den Stimmen von SPD und CDU (also in Aachen Ulla Schmidt und Rudolf Henke) verabschiedet, allerdings ohne den Passus. Gleichwohl haben wir Linken das Gesetz geschlossen abgelehnt, weil es immer noch zu weitreichende Kompetenzübertragungen an das Gesundheitsministerium enthält und z.B. am neoliberalen Fallpauschalenprinzip in der Krankenhausfinanzierung festhält.

Aber Jens Spahn hat schon angekündigt an dem Vorstoß für einen Immunitätsausweis festhalten zu wollen. Und auch an einer Corona-Tracing-App, die in ihrer ursprünglichen Form mit zentraler Datenspeicherung dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet hätte. Und ich bin froh, dass es dagegen breiten Protest gegeben hat und er auch hier einen Rückzieher machen musste. Ich sage Danke an eine demokratische Zivilgesellschaft, die eben auch in Corona-Zeiten nicht alles durchwinkt. Zurecht hatte die Ethik-Kommission vor einigen Wochen vor dem Hintergrund der Corona-Krise vor einer Gefahr des ,,obrigkeitsstaatlichen Denkens" gewarnt und dieses obrigkeitsstaatliche Denken darf es nicht geben.

Ein Problem der öffentlichen Debatte im Zuge der Corona-Krise ist aus meiner Sicht, dass eine Minderheit, aber eine relevante und gewichtige Minderheit von Experten aber auch Teile der Bevölkerung, die eine andere Sicht auf die Gefahren von Covid-19 und die entsprechenden Maßnahmen haben, aggressiv aus dem öffentlichen Diskurs ausgegrenzt wurde oder übel diffamiert wurden!

Etwa Wolfgang Wodarg, den ich aus dem Europarat kenne mit dem ich im Untersuchungsausschuss des Europarates zur Schweinegrippe zusammengearbeitet hatte, oder Sucharit Bakhdi oder etwa der ehemalige Leiter des europäischen Zweigs der Epidemiologen Ulrich Keil aus Münster, um nur einige zu nennen. Ihre Sichtweise, die ich mir nicht vollständig zu eigen mache, aber die Teil eines demokratischen Diskurses sein müssten, hat dann über die alternativen Medien enormes Interesse ausgelöst. Ja, es gibt Teile dieser alternativen Medien, die krude Vorstellungen verbreiten, mit denen ich nichts zu tun haben will. Aber die Popularität dieser Medien hat Gründe, die in einer Darstellung in den sog. Mainstream-Medien liegen, die oft eher an Meinungsmache erinnert, denn an journalistischer Aufklärung.

Wenn jetzt diejenigen, die aus Sorge vor langfristigen Grundrechte-Einschränkungen auf die Straße gehen pauschal als ,,irre Verschwörungstheoretiker" oder Rechtsextremisten diffamiert werden, so läuft etwas grundlegend falsch. Diese Unterstellungen müssen aufhören. Aber ich will hier auch ganz klar sagen: Mit tatsächlichen Rechtsextremisten oder mit Leuten, die glauben, hinter Corona stehe ein Masterplan zur Ausrottung der Menschheit will ich auch nichts zu tun haben. Aber das ist nicht die Mehrheit der Menschen, die jetzt auf die Straße gehen.

Und auch nicht mit der AFD, die jetzt am Hauptbahnhof demonstriert und versucht auf den Zug aufzuspringen. Vorgestern im Bundestag habe ich sie damit konfrontiert, dass ihr erklärtes Vorbild Viktor Orban in Ungarn das bei weitem drakonischste Notfallgesetz in Europa eingeführt hat, mit völliger Entmachtung des Parlamentes, Regieren per Dekret und mit einem Desinformationsgesetz, auf der Grundlage Kritiker der Corona-Politik der Regierung Besuch von der Polizei bekommen und abgeführt wurden. Und auch wenn Orban gestern angekündigt hat, die Gesetze zurück nehmen zu wollen, kann es doch nicht sein, dass in einer Demokratie solch weitreichende Aushebelungen von Grundrechten möglich sind. Und ich sage ganz klar: Ähnliche ,,fake-news-Strafgesetze", wie sie auch in Deutschland immer wieder ins Spiel gebracht werden, lehne ich strikt ab.

Ein Wort zur WHO und Bill Gates: Das Grundproblem ist aus meiner Sicht, dass die WHO nur noch zu weniger als 20% aus regulären öffentlichen Mitteln finanziert wird. An die Stelle der Finanzierung durch die Mitgliedsstaaten sind in den letzten 30 Jahren zunehmend private Akteure mit entsprechenden Interessen getreten, etwa große Pharma- und Impfstoffhersteller. Oder Einzelpersonen wie Bill Gates - im Osten würde man sie als Oligarchen bezeichnen –, die einen nicht zu legitimierenden Einfluss auf die Ausrichtung der WHO nehmen.

Etwa auf die starke einseitige Ausrichtung auf Impfprogramme, obwohl andere und einfachere Maßnahmen einen erheblich größeren Effekt auf die globale Gesundheit hätten, z. B. der Zugang zu sauberem Trinkwasser, an dessen Mangel täglich 1500 Menschen sterben - jeden Tag, jahrein, jahraus. Diese Kritik an der WHO, die übrigens nicht parlamentarisch kontrolliert wird, ist oft formuliert worden, auch vom Europarat. Und es muss eine Konsequenz aus der Corona-Krise sein, dass die WHO endlich wieder auf eine solide öffentliche Finanzierung gestellt wird und sich vom Einfluss privater Akteure befreit. Die Linksfraktion im Bundestag wird entsprechende Anträge einbringen.

Und das ist unabhängig davon, welche Motive man Bill Gates unterstellt, etwa ganz finstere Motive, wie es einige behaupten oder ganz humanistische, wie es andere meinen. Es kann einfach nicht sein, dass der zweitreichste Mann der Welt einen solchen Einfluss auf die Gesundheitspolitik der gesamten Menschheit und auch auf unsere Medien hat, das ist mit meiner Vorstellung von Demokratie völlig unvereinbar. An diesem Beispiel kann man auch sehen, wie die gewachsene Ungleichheit auf internationaler Ebene, die gewachsene Macht einiger Multimilliardäre einen negativen Einfluss auf gesellschaftliche Strukturen hat. Die WHO braucht solide öffentliche Finanzierung und auch mehr demokratische Kontrolle!

Ich bin kein grundsätzlicher Gegner von Impfungen, wie mir manchmal unterstellt wird. Impfungen können sehr sinnvoll sein und ich bin auch gegen viele Krankheiten geimpft. Aber bei der Schweinegrippe war es offensichtlich und ist auch nachgewiesen, dass die Panikmache im Interesse des Vertriebs von möglichst vielen Impfdosen lag, die überflüssig war und die in der Summe etwa 30-40 Milliarden Dollar in die Kassen der Impfstoffhersteller gespült hatte. Seitdem ist der Einfluss der Impfstoffhersteller auf die Gesundheitspolitik eher gestiegen. Das macht die heutige Lage so schwierig: Eine Impfung kann zu einem sinnvollen Ausgang aus der Corona-Bedrohung führen, aber die Herstellung ist bei Corona-Viren äußerst schwierig und kann zu erheblichen Nebenwirkungen führen. Deshalb halte ich es für falsch, alle Hoffnung darauf zu setzen.

Und ich bin auch gegen eine Impfpflicht, wenn es mildere Mittel gibt. Deshalb habe ich vor einem halben Jahr auch gegen die faktische Masern-Impfpflicht von Jens Spahn gestimmt, weil ich nicht davon überzeugt bin, dass diese Impfpflicht die ohnehin sehr hohe Durchimpfungsrate verbessern würde. Und falls es einen Corona-Impfstoff geben sollte, werde ich sehr genau hinschauen.

Liebe Freundinnen und Freunde, noch ein paar Worte zur Situation in Deutschland: Ich kritisiere explizit nicht, dass die Bundesregierung mit Schutzmaßnahmen in Reaktion auf die Corona-Pandemie reagiert hat. Jeder Staat muss das machen und jeder Staat hat es gemacht. Corona ist gefährlich und darauf muss reagiert werden. Und ich bitte darum, mir nicht zu unterstellen, dass ich gegen Schutzmaßnahmen wäre. Und ich behaupte auch nicht, dass es sich bei Corona um eine harmlose Grippewelle handelt. Grippewellen sind im Übrigen oft nicht harmlos sind. Wer erinnert sich etwa noch an die Hongkong-Grippe 1968/69, an der alleine in Deutschland geschätzte 40.000 Menschen starben? Aber ich behalte mir das Recht vor, genau hinzuschauen was gemacht wird, möchte Lehren für die Zukunft ziehen und da tun sich für mich schon Fragen und Widersprüche auf:

Warum etwa wurde so spät reagiert? In Island, dass aus meiner Sicht in puncto Effektivität der Seuchenbekämpfung und Grundrechteschutz weltweit am besten dasteht und übrigens eine linke Gesundheitsministerin hat, wurde ab dem 24. Januar an den Flughäfen kontrolliert und ab Anfang Februar systematisch getestet. In Deutschland wurde gar nicht kontrolliert und dann ab Mitte März die Grenzen geschlossen. Systematisch getestet wird bis heute nicht. Als ich Ende Februar in Lateinamerika war, war dort an den Flughäfen Corona ein großes Thema, bei der Rückkehr in Deutschland nicht. Noch im Februar wurden im Bayrischen Rundfunk diejenigen als Verschwörungstheoretiker abgetan, die behaupteten Corona ist gefährlich. Heute ist es umgekehrt. Freundlich gesagt: Die Vorsorge war unzureichend und chaotisch.

Warum wurden und werden die Zahlen der positiv Getesteten bis heute so intransparent aufbereitet, also ohne Verhältnis zu den negativ Getesteten. Warum gibt es trotz gerade mal 30%-prozentiger Auslastung der Testkapazitäten keine Versuche einer repräsentativen Stichprobentestung, wie ich es seit Ende März fordere. Warum hat das RKI empfohlen, die Gestorbenen nicht zu obduzieren, obwohl die genaue Kenntnis der Todesursache von überragender Bedeutung für die Erkrankten ist? Warum stellt das RKI seine regelmäßigen Pressekonferenzen ein, obwohl das Interesse überragend ist? Warum eröffnen erst shopping-malls, während Kindergärten geschlossen bleiben, obwohl Untersuchungen bestätigen, dass Kinder kein oder nur ein geringes Risiko als Überträger darstellen? Warum wird die an sich sinnvolle Maßnahme der Regionalisierung mit 50 pro 100000 Neuinfizierten in einer Woche nicht geknüpft an eine bestimmte Anzahl von Tests? Warum ist die Reproduktionszahl schon vor dem Lockdown am 23. März unter 1 gefallen? Warum wird eine international umstrittene Maskenpflicht am Ende der jetzigen Pandemie-Welle eingeführt? Und die große Frage: Haben einige der Maßnahmen, insbesondere die grundrechtsbezogenen Maßnahmen, nicht zu einem größeren Schaden geführt, als ihr Nutzen war?

Niemand kann heute all diese Fragen 100% beantworten. Ich unterstelle der Bundesregierung auch nicht, bei den Schutzmaßnahmen in böser Absicht zu handeln. Und in einer unübersichtlichen Situation muss eine Regierung auch weitreichende Schutzvorkehrungen treffen. Aber angesichts der Dimension der Folgewirkungen, angesichts der weitgehensten Grundrechteeinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik, erwarte ich schon eine transparente Aufarbeitung der Geschehnisse eine maximale Evaluierung und Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der einzelnen Maßnahmen.

Liebe Freundinnen und Freunde, noch ein paar Worte zu den sozialen und wirtschaftlichen Folgen: Wir stehen vor dem größten Wirtschaftseinbruch seit dem zweiten Weltkrieg. Die Debatte um die richtige Gesundheitspolitik wird in den nächsten Wochen und Monaten von der Debatte um die richtige Wirtschafts- und Sozialpolitik verdrängt werden. Viele Menschen werden ihre Existenzgrundlage verlieren. Es wird auch m.E. wieder zu Sozialprotesten kommen.

Angela Merkel hat am Mittwoch in der Fragestunde gesagt, es wird keine Steuererhöhungen und auch keine Vermögensabgabe etwa nach dem Vorbild des Lastenausgleichs Anfang der 50er Jahre geben, wie wir das fordern. Das bedeutet aber auch, dass die Vermögenden geschont werden und die Kosten der Krise andere zahlen sollen, also die sog. kleinen Leute. Es hat im Zuge der Corona-Krise sehr viel Solidarität in der Bevölkerung gegeben, ich finde, diese Solidarität muss man beim Wiederaufbau der Wirtschaft auch von denjenigen erwartet, die es sich leisten können.

Und es kann dabei nicht sein, dass Konzerne Staatshilfen erhalten, die Dividenden ausschütten, die ihren Managern Boni ausschütten oder die in Steueroasen sitzen. Das muss verhindert werden.

Und der durch die notwendigen staatlichen Hilfen gewachsene Einfluss muss auch dazu genutzt werden, die Produktion sozial-ökologisch und klimagerecht auszurichten. In Deutschland und Europa. Die Krise bietet hierzu auch eine Chance.

Und auch das Gesundheitssystem muss als Folge der jetzigen Debatte auf den Prüfstand: Es kann doch nicht sein, dass unser Gesundheitssystem mehr und mehr privatisiert wurde, dass Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen nach betriebswirtschaftlicher Profitlogik funktionieren sollen. Ich finde Gesundheit darf keine Ware sein und gehört in öffentliche Hand!

Zum Schluss noch ein paar Wort zu unserer Kultur untereinander: Es hat ja in den letzten Tagen auch in Aachen einige Auseinandersetzungen gegeben. Und diese Auseinandersetzungen haben eine Schärfe angenommen, die ich mir nur mit der Angst erklären kann: Die einen haben Angst vor dem Virus, das wir angesichts der Lockerungen vor einer zweiten Welle stehen, die anderen haben Angst vor dauerhaften Grundrechte-Einschränkungen oder vor den sozialen Folgen der Maßnahmen. Beide haben gute Gründe für ihre Haltung. Bitte lasst uns respektvoll miteinander umgehen, haltet die Abstandsregeln ein und beschimpft nicht die anderen, die es vielleicht anders sehen.

Bleibt gesund und bleibt kritisch!




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#2169
Quote[...] Paul Eisenhauer - Sonntag, 22:13

Demokratischer Widerstand mit schwedischer Flagge, Nazis mit Grundgesetz unterm Arm, bunte Echsen und zu jeder Gelegenheit der deutsche Gruß. Bei so viel geballten Wahnsinn hätt sich die Rosa Luxemburg freiwillig in den Landwehr Kanal gestürzt.


zu: "19 Demonstrationen waren angemeldet. Es traten auf: Esoteriker, Verschwörer, Neonazis – und die Antifa. Nach Freiheitsberaubung sah das nicht aus"
Ein Artikel von Pia Stendera (17.5.2020, 18:46 UHR)
https://taz.de/Hygiene-Demonstrationen-in-Berlin/!5683822/

QuoteLittleRedRooster gestern, 12:44

Schon klar: Dieses unhygienische Paralelluniversumspanoptikum als "Hygiene-Demo" zu bezeichnen bezeugt schon einen fortgeschritten Grad der Verwirrung. So weit so gut. Aber eine kritische politische Analyse dieser komplett heterogenen "Bewegung" ist das halt nicht.

Hilfreicher ist da schon diese Analyse der Proteste in München:


Mai 11, 2020Andreas R.1 Kommentar zu Zur Corona-Kundgebung am Münchner Marienplatz am 9. Mai 2020   
Zur Corona-Kundgebung am Münchner Marienplatz am 9. Mai 2020
https://lbga-muenchen.org/2020/05/11/zur-corona-kundgebung-am-muenchner-marienplatz-am-9-mai-2020/

Wirkliche wichtige Unterschiede zum Geschehen in Berlin dürfte es wohl kaum geben.


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#2170
Ende Gelände ist nach eigenen Angaben ,,ein europaweites Bündnis von Menschen aus vielen verschiedenen sozialen Bewegungen" der Anti-Atom- und Anti-Kohlekraft-Bewegung, das seit 2015 jährlich eine Großaktion (2017 und 2019 zwei[2]) in deutschen Braunkohlerevieren organisiert. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Ende_Gel%C3%A4nde

Quote[...] Seit 2015 besetzen die Klima-Aktivisten Kohletagebaue in ganz Deutschland. Nun wurden sie erstmals als ,,linksextremistisch" eingestuft. ... Innensenator Andreas Geisel (SPD) wird heute den Verfassungsschutzbericht vorstellen – der könnte in diesem Jahr selbst zum Politikum geraten. Wie der Checkpoint erfuhr, stufen die Berliner Sicherheitsbehörden die Klima- und Anti-Kohle-Aktivisten von ,,Ende Gelände" auf Seite 162 des Berichts erstmals als ,,linksextremistisch" ein. Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) hat deshalb für die Senatssitzung Gesprächsbedarf angemeldet, genauso die Kulturverwaltung von Klaus Lederer (Linke). Die Anti-Kohle-Bewegung besetzt seit 2015 deutschlandweit Braunkohletagebaue. Der Bundesverfassungsschutz bezeichnete sie im vergangenen Jahr als ,,linksextremistisch beeinflusste Kampagne". Insbesondere die Gruppe ,,Interventionistische Linke" bilde ein Scharnier zwischen zivilen Protestbündnissen und gewaltbereiten Kräften. Der Verfassungsschutz erkennt eine ,,hohe strategische Bedeutung" des Bündnisses für die linksextremistische Szene.

Georg Kössler, umweltpolitischer Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus, ist schockiert über die Entscheidung der Berliner Behörde. ,,Dass sowas in einem rot-rot-grünen Land passiert, ist mir ein Rätsel." Kössler nahm früher selbst bei ,,Ende Gelände" teil, seit er Abgeordneter ist, begleitet er die Proteste als parlamentarischer Beobachter. Bundestagsabgeordnete wie Ulla Jelpe (Linke), Sven-Christian Kindler oder der Europaabgeordnete Erik Marquard (beide Grüne) unterstützen die Aktivisten. Unter denen gebe es auch einige Linksextremisten, sagte Kössler. ,,Aber die Interventionistische Linke ist auch in vielen Anti-Nazi-Bündnissen aktiv und steht dort zusammen mit CDUlern." Viel wichtiger für die Struktur von ,,Ende Gelände" seien Grüne Jugend und die Linksjugend solid. ,,Die Entscheidung der Sicherheitsbehörden kriminalisiert die Jugendorganisationen von Grünen und Linken", sagt Kössler. Innensenator Andreas Geisel wird sich von seinen linken und grünen Amtskollegen ähnliches anhören müssen – ändern wird das für dieses Jahr nichts mehr: der Senat erhält den Bericht lediglich ,,zK": zur Kenntnisnahme.


Aus: "Berliner Verfassungsschutz stuft ,,Ende Gelände" als linksextremistisch ein" Julius Betschka (19.05.2020)
Quelle: https://checkpoint.tagesspiegel.de/langmeldung/24GPeBVCWEsTtjXT3X0RRr?utm_source=tagesspiegel&utm_medium=hp-teaser&utm_campaign=ende-gelaende-von-berliner-sicherheitsbehoerde-als-linksextremistisch-eingestuft


"Ende Gelände: Jugendorganisationen fordern Abschaffung des Verfassungsschutzes" (21. Mai 2020)
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-05/ende-gelaende-verfassungsschutz-jusos-gruene-jugend-solid

Quote
Wark Mupke #1

Den Verfassungsschutz abzuschaffen ist kein allzu abwägiger Gedanke. Zumindest reformieren ist überfällig.



QuoteBombay-Katze #3

"... fordern Jusos, Grüne Jugend und die Linke-Jugendorganisation Solid, den Verfassungsschutz abzuschaffen"

Das ist ein Prüffall für den Verfassungsschutz.


Quotewhiskeyjack #3.1

Der Verfassungsschutz ist ein Prüffall für den Verfassungsschutz.


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#2171
Quote[...] Die gute Nachricht erreicht die Mitglieder der Chatgruppe "QAnons Channel Deutschland" am Montagabend: "Einer mehr. Wir werden täglich mehr", jubelt der Moderator der Gruppe und verlinkt eine ntv.de-Meldung über Sido. Der Rapper bekennt in einem Interview, er glaube, an den Berichten über Promi-Behandlungen mit dem Blut entführter Kinder sei etwas dran.

Sido stellt zwar im weiteren Gesprächsverlauf klar, er nehme die im Internet kursierenden Verschwörungstheorien nicht für bare Münze. Für die fast 20.000 Mitglieder des Telegram-Kanals "QAnons Channel Deutschland" aber ist der Berliner nun ein weiterer Anhänger einer wachsenden Gemeinschaft an Bürgern, die einem unfassbaren Verbrechen auf der Spur sind, das unter dem Kürzel QAnon bekannt ist.

Die verkürzte, in unterschiedlichsten Varianten kursierende Geschichte geht in etwa so: Ein mit den höchsten Kreisen verknüpfter Geheimbund hält Tausende entführter Kinder in Kellern und Tunnelsystemen gefangen. Dort erleiden sie satanische Folterrituale, in denen ihnen Blut abgenommen wird. Es gibt Variationen: Die Kinder werden demnach als Sexsklaven gehandelt oder ihr Blut für ein der Elite vorbehaltenes Supermedikament verwendet.

Zu den Verschwörern zählen demnach die Partei der US-Demokraten, jüdische Zirkel und andere Geheimbünde. Eine wichtige Rolle spiele dabei die frühere US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton. Ihr Gegenspieler, der Mann, der jetzt schon Tausende Kinder im Rahmen von Geheimoperationen befreit habe, ist demnach niemand Geringeres als US-Präsident Donald Trump. Der spricht wie die QAnon-Gläubigen oft von einem "tiefen Staat", gegen den er anzukämpfen habe. Zudem verbreitete er selbst schon Dutzende Tweets von QAnon-Aktivisten. Viele Republikaner - einfache Trump-Anhänger wie Abgeordnete - bekennen sich zu QAnon.

Der Name geht zurück auf einen Eintrag im Internetforum 4Chan, in dem schon 2017 ein Nutzer dieses Namens den Grundstein für die ungeheuerliche Geschichte legte. Wer auch immer der Autor war: Er behauptete, als hochrangiger Regierungsmitarbeiter supergeheime Dokumente einsehen zu können, und versorgt seither das Internet mit kryptischen Informationen. "Es gibt viele Gruppen, die behaupten, QAnon zu sein, das kann ja im Grunde jeder sein", sagt Andre Wolf, Sprecher des Vereins Mimikama, der über Falschinformationen im Internet aufklärt.

Spätestens mit den kruden Videos des Sängers Xavier Naidoo wurde das Phänomen auch einem breiteren Publikum in Deutschland bekannt. Der Zeitpunkt hat viel mit einem ganz anderen Ereignis zu tun: "Bei den Gelbwesten-Protesten in Deutschland waren die Warnwesten eines Herstellers mit einem großen Q schon sehr beliebt, aber diese Explosion der QAnon-Anhänger verzeichnen wir erst seit Corona, in etwa seit Mitte März", sagt Miro Dittrich, der für die Amadeu-Antonio-Stiftung Extremismus im Internet beobachtet.

Den gleichen Zusammenhang beobachtet Wolf in den sozialen Medien: "Seit Anfang April, also mit der Corona-Krise, schwappt das ganz stark nach Europa." Die QAnon-Popularität wächst dabei beinahe parallel zur Verbreitung des Messenger-Dienstes Telegram. Vieles wird zwar auch auf Whatsapp, Facebook und Youtube verbreitet. Allerdings greifen die Betreiber der großen, etablierten Plattformen auf Druck der Gesetzgeber immer strenger durch im Kampf gegen Fake News. Deutschsprachige Videos zum Thema verzeichnen Hunderttausende Aufrufe. Pathetisch, krawallig, aber erstaunlich professionell künden sie von einem Endkampf der Wissenden gegen die Verschwörer.

Die Telegram-Kanäle mit teilweise Zehntausenden Mitgliedern, darunter der Kanal des Kochs Attila Hildmann, dienen dabei nur als Ausgangspunkt. Die Mitglieder arbeiten als Multiplikatoren, indem sie Artikel, Videos und Memes auf ihren eigenen Accounts auf diversen Plattformen weiterverbreiten. Von Chatgruppen wie "Qanons Channel Deutschland" werden auch Aktionen koordiniert. So ruft der anonym bleibende Moderator erfolgreich dazu auf, einen Video-Livechat mit dem Grünen-Vorsitzenden Robert Habeck zu kapern. Viele Fragen und Kommentare mit QAnon-Bezug fluteten daraufhin die Kommentar-Spalte des Chats.

Die QAnon-Legende sei in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich, sagt Dittrich: "Verschwörungstheorien erzählen normalerweise aus der Perspektive des Verlierers und nicht der Mächtigen. Aber diese dient dazu, alles, was beim Machthaber Donald Trump schlecht läuft, zu rechtfertigen - weil Kräfte gegen ihn arbeiten würden, der sogenannte tiefe Staat, oder alles Teil eines größeren, noch geheimen Planes ist." In Deutschland führe das zu besonders unerwarteten Volten: "Es mutet kurios an, dass die Gleichen, die behaupten, Deutschland sei eine von den Alliierten unterdrückte GmbH, jetzt darauf hoffen, dass Trump Deutschland in einer Geheimoperation mit 200.000 US-Soldaten befreit."

Was sind das für Leute, die derart krude Theorien verbreiten? "Die Gruppierung ist alles andere als homogen. Da gibt es Trolle, die das ins Lächerliche überspitzen, und bei anderen nimmt das teilweise gefährliche, krankhafte Züge an", sagt Mimikama-Sprecher Wolf. "Die Leute befinden sich in einem kollektiven Wahn", beobachtet Dittrich. Beide sehen Parallelen zu Sekten, wobei die Elemente der QAnon-Geschichte alte Bekannte seien: "Prinzipiell sind alle darin enthaltenen Erzählungen nichts Neues", sagt Dittrich. "Der blutabnehmende Ritualmord an Kindern durch die Elite: Das kennen wir schon aus antisemitischen Erzählungen aus dem 15. Jahrhundert."

Dass zunehmend auch Normalbürger den bösen Märchen anheimfallen oder zumindest glauben, dass "da schon etwas dran sein" müsse, ist wohl der Ausnahmesituation der vergangenen Wochen geschuldet. "Die Anziehungskraft liegt in den einfachen Antworten auf komplexe Fragen", erklärt Wolf. "Die Menschen suchen Halt und auch ein böses Märchen gibt den Menschen zumindest Orientierung."

So sieht es auch Dittrich: Es sei für viele Menschen einfacher, solche Geschichten zu glauben, als sich einen unsichtbaren Feind - etwa eine Viruspandemie - vorzustellen, der eine Reihe komplexer, unglücklicher Zufälle zugrunde liegt. "Das sind die letzten Anhänger einer geordneten Welt", sagt Dittrich über die von der Realität überforderten QAnon-Anhänger.

Zumal das Misstrauen in die Eliten in Politik und Wirtschaft schon vor Corona groß war. Rund jeder Zweite in Deutschland glaubt, dass geheime Organisationen die Politik beeinflussen würden. Jeder Vierte nimmt an, Politik und Medien steckten unter einer Decke. Zu diesem Schluss kommt zumindest die "Mitte-Studie" der mit der SPD verbundenen Friedrich-Ebert-Stiftung. Hinzu kommt das durch die vielen Verschwörungstheorien und Lügenpresse-Geschichten genährte Misstrauen in "die Medien".

Auch die Attentäter von Halle und Hanau beriefen sich in ihren Pamphleten auf Elemente verbreiteter Verschwörungstheorien. Der Mann, der in Hanau neun Menschen wegen ihres vermeintlich migrantischen Aussehens erschoss, schwurbelte in einem Youtube-Video ebenfalls davon, dass ein Geheimbund, der die US-Politik steuere, Kinder misshandele. In den USA stehen Dittrich zufolge zwei Morde, ein versuchter Mord und zwei Entführungen in Zusammenhang mit QAnon-Anhängern. "Es wird zu zivilem Ungehorsam aufgerufen und Unruhe gestiftet", sagt Wolf über die Inhalte von Chats und Videos.

Die Schwelle zur Gewalt ist bei QAnon-Anhängern womöglich besonders niedrig. Eine Frau, die den US-Präsidentschaftskandidaten Joe Biden töten wollte, habe überhaupt erst einen Monat vor dem Mordversuch begonnen, QAnon-Themen zu posten, sagt Dittrich. "Wenn man in einer apokalyptischen Welt lebt, erzeugt das sehr großen Handlungsdruck." Wer von Tausenden misshandelten Kindern erfahre, könne nicht tatenlos bleiben, gibt Dittrich zu bedenken. "Wenn Prominente diese Geschichten verbreiten, ist das sehr gefährlich."

Die sektenartigen Denkmuster machen es Angehörigen von QAnon-Anhängern nicht leicht. "Man kann jemanden, der da einmal eingetaucht ist, sehr schwer wieder einfangen", sagt Wolf. Dittrich rät: "Auf jemanden einwirken kann man Studien zufolge, wenn es eine persönliche Beziehung gibt. Man kann dann versuchen, kritisch zu hinterfragen, ohne zu sagen, 'Du bist ja ein Trottel.'"

Quelle: ntv.de


Aus: "Verschwörungstheorie QAnon Horrormärchen der Kinderfolterer geht um" Von Sebastian Huld (Dienstag, 12. Mai 2020)
Quelle: https://www.n-tv.de/politik/Horrormaerchen-der-Kinderfolterer-geht-um-article21776816.html

#2172
Quote[...] Als Kieler Schule bezeichnet man eine Gruppe nationalsozialistischer Rechtswissenschaftler, die zur Zeit des Nationalsozialismus an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gewirkt haben.

An der Kieler Universität, die im NS-Sprachgebrauch ,,Grenzlanduniversität des nordischen Raumes Kiel" genannt wurde, mussten nach der nationalsozialistischen Machtergreifung überdurchschnittlich viele jüdische und politisch unliebsame Professoren ihre Stelle verlassen. Ohne neue Professorenstellen zu schaffen, bot sich nun durch zielgerichtete Neubesetzung der Lehrstühle mit jungen systemkonformen Rechtswissenschaftlern die Möglichkeit, aus der Fakultät eine Art nationalsozialistische Musterfakultät (,,Stoßtruppfakultät") zu schaffen, die der nationalsozialistischen Idee der ,,Rechtserneuerung" dienen sollte.

... Die erforderliche Handhabe für die angestrebte personelle Neubesetzung der Lehrstühle der Kieler rechtswissenschaftlichen Fakultät mit Nationalsozialisten boten das ,,Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933 sowie das ,,Gesetz über die Entpflichtung und Versetzung von Hochschullehrern aus Anlass des Neuaufbaus des deutschen Hochschulwesens" vom 31. Januar 1935. Diese Gesetze ermöglichten es, Professoren sowohl aus ,,rassischen" als auch aus ,,politischen" Gründen zu entlassen.


Aus: "Kieler Schule" (17. Februar 2020)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Kieler_Schule

#2173
Quote[...] Missing Link: Geheimdienst und Verfassungsgericht vereint gegen den Rechtsstaat

Dienstag verkündet das Bundesverfassungsgericht sein lange erwartetes Urteil zur BND-Massenüberwachung. Ein Verfassungsrechtler dämpft die Hoffnung der Kläger.

Der Tag der Entscheidung naht: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) spricht am Dienstag sein Urteil zur anlasslosen Überwachung des weltweiten Internetverkehrs durch den Bundesnachrichtendienst (BND). Spätestens seit der mündlichen Verhandlung im Januar sind die Beschwerdeführer zuversichtlich, dass die Karlsruher Richter der breiten Spionage klare Grenzen setzen werden.

Ulf Buermeyer, Vorsitzender der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), die zusammen mit fünf Medienorganisationen wie Reporter ohne Grenzen im Namen von mehreren, größtenteils im Ausland arbeitenden Journalisten Einspruch gegen das 2016 reformierte BND-Gesetz erhoben hat, unterstreicht: "Wir erwarten ein Grundsatzurteil, das das Telekommunikationsgeheimnis erheblich stärken kann, und mit ihm den internationalen Menschenrechtsschutz sowie die Pressefreiheit im digitalen Zeitalter."

Mit dem Verfahren wollen die Beteiligten Grundsatzfragen klären lassen, die in Deutschland seit über 20 Jahren für Diskussionen sorgen: Ist eine anlasslose, nahezu flächendeckende Datenanalyse durch hiesige Geheimdienste mit dem Grundgesetz vereinbar? Sind deutsche Behörden im Ausland an die Grundrechte gebunden? Die Bundesregierung verneint dies, wie sie in der mündlichen Verhandlung auf kritische Nachfragen aus den Reihen des Ersten Senats bekräftigte.

Buermeyer geht davon aus, dass das Gericht dem Gesetzgeber angesichts des durch den Auslandsgeheimdienst "ausgehöhlten Redaktionsgeheimnisses" und den damit verknüpften Gefahren für die Pressefreiheit aufgeben könnte, Vertrauensbeziehungen zwischen Journalisten und ihren Quellen besser zu schützen und die gezielte Überwachung von Medienschaffenden, die dem BND bekannt sind, an gesteigerte Voraussetzungen zu knüpfen. Denkbar seien auch andere Auflagen, um beispielsweise den Transfer von Daten an ausländische Stellen einzuschränken sowie die Kontrolle über die Auslandsüberwachung auszuweiten und zu stärken.

Doch auf Bürgerrechtler könnte eine herbe Enttäuschung zukommen, wenn das BVerfG an seiner seit Jahrzehnten verfolgten Linie zu Belangen der Geheimdienste festhält. Der Verfassungsrechtler Eggert Schwan beschreibt diesen Kurs in seinem aktuellen Buch "Geheimdienst oder Rechtsstaat", das einer schmerzhaften, auch persönlich geprägten Abrechnung mit den "Hütern der Verfassung" auf 200 Seiten gleichkommt: Der Rechtsanwalt vertrat die Journalistin Gabriele "Gaby" Weber in den 1990ern in einem Verfahren gegen das "Verbrechensbekämpfungsgesetz", in dem es ebenfalls bereits mit um die BND-Auslandsüberwachung ging, konnte die Ansprüche der Beschwerdeführer dabei aber nicht in allen Punkten durchsetzen.

Für den Kenner der Materie steht fest: Das höchste Gericht hat sich schon mit dem "skandalösen Abhörurteil" von 1970 "an die Spitze der Apologeten der Geheimdienstideologie gestellt" und auch später immer wieder "einen Großteil seiner Reputation verspielt ", die es sich etwa 1983 mit dem wegweisenden Volkzählungsurteil und dem darin verankerten "informationellen Selbstbestimmungsrecht" erworben hat. Schwan formuliert drastisch: Wenn das BVerfG den Geheimdiensten sogar so "entsetzliche Rechtsbrüche", wie sie der NSA-Whistleblower Edward Snowden offenbart habe, durchgehen lasse, "dann ist es nicht mehr weit davon entfernt, auch vor dem Geheimdienstmord die Augen zu verschließen". Es sei "allerhöchste Zeit und sozusagen der letzte Moment, die Notbremse zu ziehen".

In der Lesart der Karlsruher Richter seien die Geheimdienste inklusive des BND, der zweifellos "der gefährlichste für die verfassungsgemäße Ordnung" sei, "zulässig und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden", fasst der 82-Jährige deren jahrzehntelange einschlägige Rechtsprechung zusammen. Dies gelte inklusive aller Aspekte, die den Charakter der einschlägigen Sicherheitsbehörden ausmachten: "Vorfelderfassung, Geheimhaltung, nachrichtendienstliche Mittel und Lizenz zum Rechtsbruch." Nur zur "Lizenz zum Töten", habe sich das Gericht bisher ausdrücklich nicht geäußert, obwohl diese "zweifellos auch zum Wesen der Geheimdienste gehört".

Laut dem bereits mehrfach ergangenen "Basta" der Verfassungshüter hätten sich "auch die Freiheitsgrundrechte" mit allen damit verknüpften Regeln dem Überwachungswahn zu beugen, obwohl der in sie eingreifende Staat diese eigentlich zu beachten habe, schreibt Schwan. "Das Bundesverfassungsgericht bricht mit seiner Rechtsprechung zu den Geheimdiensten das Verfassungsrecht", urteilt der Beobachter. Es erstelle diesen "Persilscheine für die Missachtung nahezu sämtlicher Regeln des Grundgesetzes".

Schwan geht bei seiner Analyse zurück bis zum Dritten Reich und den Anfängen der Bundesrepublik. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes wollten "den neuen Staat gegenüber den möglicherweise erneut auffrischenden Stürmen des Totalitarismus wetterfest machen", hält er fest. Sie hätten daher die Entscheidungsmacht über den Einsatz der Instrumente der "streitbaren Demokratie" in die Hände des Bundesverfassungsgerichtes gelegt.

Auch die Haltung der Politik gegenüber Spionage und vor allem gegenüber dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) war anfangs von deutlicher Zurückhaltung geprägt. Vor seiner Zeit als Bundeskanzler erklärte Konrad Adenauer zumindest noch: "Wir sind uns ja wohl alle darüber einig, dass der Verfassungsschutz überhaupt nichts zu tun hat mit der Gestapo oder einer ähnlichen Institution."

Ein Geheimdienst hätte das BfV so gar nicht werden dürfen, schlussfolgert der Buchautor. Beim BND seien die Ansprüche an die Rechtsstaatlichkeit dagegen von Anfang an deutlich geringer gewesen. So habe Adenauer diesen in den Räumen belassen, "in denen der General Gehlen mit seiner Truppe schon als 'Sicherheitsdienst der SS' residiert hatte, nämlich in Pullach". Dort habe der BND den alten Geist viel besser verbergen und pflegen können. Bezeichnenderweise habe der CDU-Kanzler auch zu keiner Zeit den Versuch unternommen, dem Auslandsgeheimdienst "die notwendige verfassungsrechtliche Grundlage" durch eine Grundgesetzreform zu verschaffen.

1960 hatte das Bundesverfassungsgericht noch entschieden: "Kein Akt der Exekutive, der in Rechte des Bürgers eingreift, kann richterlicher Nachprüfung entzogen werden." Am 15. Dezember 1970 dann die Kehrtwende just in Bezug auf die Geheimdienste, denen das Parlament mit der Notstandsverfassung 1968 erstmals weitgehende Befugnisse zum Eingriff ins Post- und Fernmeldegeheimnis gegeben hatte: Die Schlapphüte durften von da an etwa Telefongespräche mithören, Funksprüche abfangen und Briefe öffnen. Die Karlsruher Richter ließen mit dem Abhörurteil nicht nur diese Klauseln durchgehen, sondern schränkten auch die Artikel im Grundgesetz für die gerichtliche Kontrolle der "Dienste" ein.

Schwan zitiert aus dem Urteil: Gegen die Verfassungsordnung und die Sicherheit und den Bestand des Staates gerichtete Bestrebungen, Pläne und Maßnahmen gehen demnach meist von Gruppen aus, die ihre Arbeit tarnen und im Geheimen leisten, die wohlorganisiert sind und in besonderer Weise auf ungestört funktionierende Nachrichtenverbindungen angewiesen sind. Diesem "Apparat" gegenüber könne ein Verfassungsschutz nur wirksam arbeiten, wenn seine Überwachungsmaßnahmen grundsätzlich geheim und deshalb auch einer Erörterung innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens entzogen bleiben.

Für den emeritierten Professor für Vollzugsdienst an der Berliner Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege ist diese Ansage ein Unding: Darf man die Streitbarkeit der Demokratie so weit treiben, dass der Verfassungsfeind mit seinen bösen Absichten und hinterlistigen Methoden mit allen nur erdenklichen Mitteln, auch mit denen, die er selbst benutzt, auch im Vorfeld gesucht, verfolgt, zur Strecke gebracht und vernichtet werden darf, fragt er. Dürfe der Staat selbst sich zum Kriminellen, Terroristen und Staatsfeind mausern?

Schwan sieht in der Entscheidung die Überzeugung mitschwingen, "dass die Geheimdienste das Recht haben, im Effekt die gesamte Gesellschaft zum Objekt ihrer Überwachung zu erniedrigen und dass es dabei auf die Rechtmäßigkeit der gewählten Überwachungsinstrumente nicht ankommt". Wenn der Staat meine, sich eines Spitzelapparats bedienen zu dürfen, der die grundrechtlich gesicherten Freiheiten einschränke und geradezu flächenmäßig alle Bürger erfasse, werde "die größte Gefahr für die verfassungsmäßige Ordnung deutlich".

Seit dem Abhörurteil sei das Bundesverfassungsgericht "aus den Schützengräben der Vorfeldideologie" nicht mehr herausgekommen, konstatiert der Schüler von Ex-Bundespräsident Roman Herzog. Dies spiegele sich etwa auch im Urteil vom 14. Juli 1999 zum Verbrechensbekämpfungsgesetz wider. Dieses selbst erklärten die Richter zwar in Teilen für verfassungswidrig. Die Befugnis des Bundesnachrichtendienstes aus dem sogenannten G10-Gesetz, womit dieser zur "Früherkennung bestimmter aus dem Ausland drohender schwerer Gefahren" und zu Zwecken der Unterrichtung der Bundesregierung den Telekommunikationsverkehr überwachen, aufzeichnen und auswerten darf, hielten sie aber grundsätzlich für vereinbar mit Artikel 10 Grundgesetz und dem darin verbrieften Fernmeldegeheimnis.

Der Streit drehte sich damals wie heute vor allem um die "strategische Fernmeldeaufklärung" des BND im Ausland, die etwa auch als strategische Kontrolle bekannt ist und wegen der Amnesty International ebenfalls das BVerfG angerufen hat. Der Geheimdienst darf über dieses Instrument die internationale Telekommunikation mit bis zu hunderttausenden Selektoren wie Telefonnummern, E-Mail-Adressen oder Pseudonymen von Nutzern durchforsten und die Inhalte analysieren, die in diesem Datenstaubsauger hängenbleiben.

Die "Rohmasse" ist dabei riesig: Allein am Frankfurter Internetknoten De-Cix kann der BND täglich laut Medienberichten mehr als eine Billion Verbindungen ausleiten. Davon blieben nach dem Aussortieren erster IP-Adressen rund 24 Milliarden Rohdaten übrig. Im Inland dürfen die darauf angesetzten Suchbegriffe und Kennungen keine Identifizierungsmerkmale enthalten, mit denen sich bestimmte Telekommunikationsanschlüsse gezielt erfassen lassen. Für das Ausland gilt dies nicht. Aber auch dort sind für den BND etwa Telefonnummern deutscher Staatsangehöriger oder einer deutschen Gesellschaft tabu, solange es sich nicht um einen "Beifang" handelt.

Ausländer im Ausland seien derweil für den Bundesnachrichtendienst "vogelfrei", weiß Schwan. "Anschlüsse im Ausland dürfen sogar gezielt abgehört beziehungsweise erfasst werden." Damit ist für den Rechtsgelehrten "der Verfassungsbruch offenkundig". Verletzt sei schon der allgemeine Gleichheitssatz aus Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz, "weil es keinen sachlich rechtfertigenden Grund für diese auf den Unterschied zwischen Deutschen und Nichtdeutschen abstellende Ungleichbehandlung gibt".

Die Verfassungsbestimmungen richteten sich an Jedermann, an "alle Menschen", argumentiert Schwan. "Das Grundgesetz knüpft an die Ausübung deutscher Staatsgewalt an" und gelte überall dort, wo diese ausgeübt werde, "und wenn dies im Weltraum ist". Wäre dies anders, wäre die Staatsgewalt totalitär, nämlich rechtlich nicht gebunden: "Dies zu verhindern ist der Sinn der Verfassung." Klar sei auch, dass die Spione im Auftrag des Staates handelten, selbst wenn ihre Aktivitäten ihre Wirkung auch oder nur im Ausland entfalteten.

Den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz rügten die von ihm vertretenen Beschwerdeführer in der damaligen Klage nicht, räumt der Anwalt ein und entschuldigt sich mit einem "Mea culpa". Hier könnte das BVerfG also diesmal anders entscheiden und der neuen Beschwerde in einem seiner "Ja, aber"-Urteile zumindest teilweise stattgeben.

Eine Wende um 180 Grad hat der frühere Präsident der Institution, Hans-Jürgen Papier, an diesem Punkt bereits vollzogen. Das CSU-Mitglied hat nach seinem Ausscheiden aus der Richterbank mehrfach seine neue Ansicht zu Protokoll gegeben, dass auch die Kommunikation im Ausland zwischen Ausländern grundrechtsgeschützt ist. Die BND-Zugriffe auf Datenaustauschpunkte wie den De-Cix bezeichnete Papier sogar als "insgesamt rechtswidrig". Das ganze "strategische" Konstrukt passe nicht mehr auf die Internetkommunikation.

Schwan zufolge verletzt die BND-Auslandsüberwachung auch das Prinzip der staatlichen Souveränität, weil der deutsche Gesetzgeber sich anmaße, der Exekutive hoheitliche Maßnahmen im Bereich anderer Staaten zu genehmigen, denen diese nicht zugestimmt hätten. Das BVerfG habe sich 1999 aber generell geweigert, die umkämpfte Vorschrift aus dem G10-Gesetz verfassungsrechtlich zu überprüfen: Es habe die Beschwerde des einzigen Ausländers unter den Prozessbeteiligten, der von diesem Artikel betroffen gewesen sei, als unzulässig abgewiesen.

"Ohne Angabe weiterer Einzelheiten geht daraus nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit hervor, dass er durch Maßnahmen, die sich auf die angegriffenen Bestimmungen stützen, in seinen Grundrechten berührt wird", befanden die Karlsruher Richter vor gut 20 Jahren. Geradezu albern sei dies gewesen, meint Schwan und legt dieses Motto so aus: "Bevor ich dir sage, was ich von dir weiß, musst du mir erst einmal sagen, was du vermutest, dass ich es von dir weiß."

Dabei liegt laut dem Rechtswissenschaftler die Vollzugsmaßnahme schon im Anspringen des automatischen Aufnahmegerätes im Augenblick des Auftauchens eines der Suchbegriffe in der überwachten Kommunikation. Über die Dichte des Netzes beziehungsweise Rasters, das mit diesen Suchbegriffen über die Kommunikation gelegt werde, wisse der uruguayische Beschwerdeführer zwar nichts, weil diese "vor ihm und der Öffentlichkeit und dem Gericht geheim gehalten wird". Es sei aber wahrscheinlich, dass der BND seine Telefonate mitschneide: "Es liegt nicht in den Genen eines Geheimdienstes, das zu unterlassen, was er meint, tun zu dürfen".

Neben dem Unwillen der Richter, dem vermutlich Betroffenen zumindest eine "Rechtsschutzmöglichkeit gegen das Ermächtigungsgesetz" zu gewähren, machten Schwan eine Reihe anderer Aspekte schon im Vorfeld der Entscheidung stutzig. So habe die damalige BVerfG-Spitze eingeräumt, ein Vorab-Gespräch hinter verschlossenen Türen mit der Gegenseite geführt zu haben. Wäre er bei dieser Mitteilung nicht völlig überrascht gewesen, hätte er einen Befangenheitsantrag gestellt.

Generell seien bislang viele Entscheidungen aus Karlsruhe darauf hinausgelaufen, "die Datenverarbeitung durch die Geheimdienste von sämtlichen (!) Regeln des grundrechtlichen Datenschutzes freizustellen" und rechtlich vollkommen zu entfesseln, moniert der Verfasser. Damit habe das Gericht gegen die Grundsätze verstoßen, die es selbst anderweitig entwickelt habe. Nahezu nichts sei geschehen, um der "geradezu uferlosen Ausweitung der geheimdienstlichen Überwachungsbefugnis die gebotenen rechtsstaatlichen Zügel anzulegen".

Mit den Überwachern der Überwacher ist es Schwan zufolge auch nicht weit her. Der angeblich gleichwertige Rechtsschutz durch die G10-Kommission habe zu "keiner Zeit das geleistet, was man sich von ihm einst versprochen hat". Dies gelte auch für die vielen anderen Kontrollinstitutionen, "die wie Pilze aus dem Boden schossen und zwar viele Pöstchen für versorgungsbedürftige Bedienstete oder Parteifreunde geschaffen", aber nichts verbessert hätten.

Alle vermeintlichen Kontrollinstanzen sieht der Rechtswissenschaftler endgültig "verhöhnt" durch den Coup der NSA, dem BND Suchbegriffe in die Listen zu schmuggeln, die zu Spionage für die Amerikaner bei deutschen Industriebetrieben geführt hätten. Selbst dem NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestags und der G10-Kommission habe das Gericht daraufhin die Einsicht in die Selektoren mit dem Argument verweigert, dass dem "das Interesse der Bundesregierung an funktionsgerechter und organadäquater Aufgabenwahrnehmung" gegenüberstehe.

Das Geheimhaltungs- überwiege das parlamentarische Informationsinteresse, da die Listen "aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen" gar nicht der Verfügungsgewalt der Exekutive unterfielen, lautete ein weiter Grund für die Absage. Die vom BND und der NSA gemeinsam betriebenen Überwachungsaktivitäten seien aber "in einem erheblichen Umfange rechtswidrig" gewesen, da schon die erforderlichen gesetzlichen Eingriffsbefugnisse gefehlt hätten, hält Schwan dagegen. Die sogar für das Ausspähen von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) benutzten Selektoren seien sozusagen "instrumenta sceleris": Werkzeuge des Verbrechens. Damit entfalle für diese "jedwede Möglichkeit der Rechtfertigung für die Geheimhaltung auch gegenüber dem Parlament und seinen Ausschüssen".

Als besonders empörend empfindet es der Jurist, dass das BVerfG in seiner Entscheidung erneut mit keinem Wort auf die Frage der Rechtmäßigkeit eingehe. Damit habe es wieder Bereitschaft signalisiert, "sich zum Helfershelfer der Geheimdienstideologie zu machen". Zugleich sei mit der mit viel "juristischer Phantasie und Erfindungsgabe" erfolgten Brüskierung des Parlaments kaum ein zynischerer Umgang mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung vorstellbar. Letztlich seien die Richter sogar bereit gewesen, die ihnen von der Verfassung zugewiesenen Aufgaben zu opfern: es gebe hier nur Möglichkeiten einer "eingeschränkten verfassungsrechtlichen Kontrolle".

Geheimschutzabkommen der Geheimdienste untereinander, wie sie die Regierung und die Spitze der Judikative hier ins Feld geführt haben, seien nichtig, betont Schwan. Dies lerne ein Jurastudent prinzipiell schon in den ersten Semestern. Ergebnis sei gewesen: "Die Kanzlerin ist der Meinung: 'Abhören unter Freunden, das geht schon gar nicht'. Der 'Hüter der Verfassung' jedoch ist ganz anderer Meinung und antwortet ihr sinngemäß: 'Doch, doch, das geht sehr wohl, es muss nur geheim bleiben'." Daraus müsse man folgern: "Der Rechtsstaat hat seine Seele, seinen Charakter und sein Gewissen verloren."

Bei ihrer "Vergewaltigung des Verfassungsrechts" haben die Karlsruher Richter laut dem Kämpen "Mittäter" in Form weiterer glühender Anhänger der "Werttheorie" und der damit einhergehenden "Güterabwägungsschaukelei". Diese "Lehre" sei trotz ihres Missbrauchs im Nationalsozialismus auch in der deutschen Staatsrechtslehre nach dem 2. Weltkrieg quasi zu einem Allgemeingut avanciert.

Mit dieser Idee lasse sich "alles rechtfertigen", beklagt Schwan, wobei das Bundesverfassungsgericht sich zum "Champion in der Handhabung dieser merkwürdigen Interpretationsmethode" aufgeschwungen habe. Es spreche immer wieder davon, dass verschiedene zu schützende Rechtsgüter "im gleichen Rang" stünden: "Warum sich daraus die Zulässigkeit der Geheimdienste ergeben soll, die Vorfahrt vor allen anderen angeblich gleichrangigen Werten genießen, bleibt ungeklärt." Genau dies sei aber auch die Methode der Werttheorie.

In Artikel 1 Grundgesetz steht geschrieben, dass es "Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist", die unantastbare Würde des Menschen zu schützen. Da sei nicht etwa "die Staatssicherheit oder die Sicherheit der Bevölkerung vor Gefahren für Leib, Leben und Freiheit" erwähnt, ist dem Juristen nicht entgangen. Schon gar nicht gestatte die Verfassung, dass dem Sud der angeblich gleichrangigen Grundrechte "als giftige Würze auch noch die Einrichtung der Geheimdienste hinzugegeben wird. Die so angerichtete Speise verliert ihre Ungenießbarkeit auch nicht durch das Beiwerk der Begriffe 'Verfassungswert', 'hochrangig' und 'Schutzpflicht'."

Für umso erstaunlicher hält es Schwan, dass das BVerfG als Quelle der Schutzpflicht, die am Ende seiner Argumentationskette die Geheimdienste rechtfertigen solle, auch noch "die Garantie der Menschenwürde" benenne. Es bewege sich damit auf den geistigen Bahnen "des Hohepriesters der nationalsozialistischen Staatslehre", nämlich auf denen von Herbert Krüger, der noch in einer Nachkriegsauflage seiner Staatslehre die Leistung von Gehorsam gegenüber dem Staat als "höchste irdische Selbsterfüllung der Menschenwürde" bezeichnet habe. Die "Wertordnung", auf der die "Hüter der Verfassung" hier aufbauten, gehe auf den "staatsrechtlichen Chefideologen des Nationalsozialismus" zurück: den "Theodor Maunz des Jahres 1943".


Aus: "Missing Link: Geheimdienst und Verfassungsgericht vereint gegen den Rechtsstaat" Stefan Krempl (17.05.2020)
Quelle: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Missing-Link-Geheimdienst-und-Verfassungsgericht-vereint-gegen-den-Rechtsstaat-4722708.html?seite=all

Quoteuid, 17.05.2020 09:32

Klagen ist trotzdem wichtig.

Erschöpfung des Rechtswegs ist nämlich Voraussetzung für Art. 20 Abs. 4.


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#2174
Quote[...] Brandt war empört, dass man von ihm verlangte, "einen solchen Unterwerfungsbrief" zu unterschreiben. Schließlich sei er zum Bundeskanzler gewählt und seinem Amtseid verpflichtet. Die Botschafter könnten ihn wohl kaum absetzen! Da musste er sich belehren lassen, dass Konrad Adenauer diese Briefe unterschrieben hatte und danach Ludwig Erhard und danach Kurt Georg Kiesinger . Dass aus den Militärgouverneuren inzwischen Hohe Kommissare geworden waren und nach dem sogenannten Deutschlandvertrag nebst Beitritt zur Nato 1955 die deutsche Souveränität verkündet worden war, änderte daran nichts. Er schloss: "Also habe ich auch unterschrieben" – und hat nie wieder davon gesprochen.

Schon Adenauer hatte seine Anerkennung der alliierten Oberhoheit wie ein Staatsgeheimnis behandelt. Sie passte nicht so recht in die Atmosphäre zehn Tage vor der Staatsgründung, und die drei Mächte hatten auch kein Interesse, diese Voraussetzung für den 23.Mai 1949 an die große Glocke zu hängen. Das blieb kein Einzelfall.

Die Einschränkungen der deutschen Souveränität existierten völkerrechtlich unverändert, solange Deutschland geteilt blieb und solange sie nicht durch einen Friedensvertrag förmlich beendet wurden. Durch die Kapitulation am 8.Mai 1945 ging die Souveränität des Reiches auf die Sieger über. Deutschland erhielt sie erst mit der Wirksamkeit des friedensvertraglichen Zwei-plus-Vier-Abkommens am 15.März 1991 zurück.

Die Sieger pochten auf ihre unkündbaren Kompetenzen während dieser ganzen Zeitspanne, natürlich nicht nur vor der Geburtsstunde der Bundesrepublik, sondern auch, als sie 1955 zu Verbündeten wurden. Als ich die Kanzlerbriefe einmal gegenüber dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker erwähnte, reagierte er zu meiner Überraschung erstaunt; er hatte von ihnen nichts gewusst. Es bedurfte keiner besonderen Absprache: Die beteiligten Deutschen wie die Alliierten hatten das gleiche Interesse, diese Manifestierung der begrenzten deutschen Souveränität nicht öffentlich werden zu lassen.

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Aus: "Drei Briefe und ein Staatsgeheimnis" Egon Bahr (14. Mai 2009)
Quelle: https://www.zeit.de/2009/21/D-Souveraenitaet

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Quote[....] Ein Staatsgeheimnis Herbst 1969: Bundeskanzler Willy Brandt wird ein Schreiben vorgelegt. Erst weigert er sich, es zu unterzeichnen – dann tut er es doch ... Das Ziel dieser "Übung" ist seit 1949, alle deutschen Kanzler bis in das Jahr 2099 per "Epistulum" darauf zu vergattern, dass die deutschen Medien im Interesse der West- Alliierten ein föderativ regierungsnahes Verständnis ihrer Meinungs- und Pressefreiheit als staatsbildenden und staatserhaltenden Mainstream im Rahmen der transatlantischen Sicherheitsarchitektur der NATO in Theorie und Praxis garantieren. ...


Aus: "SNOWDOWN der Kanzlerakte, dank EDWARD?" Joachim Petrick (8. September 2009, Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/joachim-petrick/snowdown-der-kanzlerakte-dank-edward

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Quote[...] Wie wär's mit einer Verschwörungstheorie? Die Bundesrepublik war nur eine Marionette der USA, Großbritanniens und Frankreichs. Deren drei Botschafter hätten jederzeit einen unbotmäßigen Bundeskanzler absetzen und das Grundgesetz in Teilen außer Kraft setzen können. Alle Kanzler hatten bei Amtsantritt eine Unterwerfungserklärung zu unterzeichnen. Die westdeutsche Demokratie war also, zumindest teilweise, ein Fake.

Das Volk wusste davon nichts. Wir Westdeutschen lebten in einer Art Hongkong. Unser China hieß USA.

Das Verrückte: Es war wirklich ungefähr so. Die Existenz der ,,Kanzlerakte" wurde 2009 von Egon Bahr in einem Text für die ,,Zeit" bestätigt. Dass die Alliierten den Deutschen erst mal nicht trauten, ist ja nachvollziehbar. Der erste Kanzler, der seine Entmachtung nicht mehr unterschrieb, scheint Helmut Schmidt gewesen zu sein.

Es gibt Geheimnisse. Verschwörungstheorien stimmen manchmal. ...



Aus: "Von Kritik und Verschwörungstheorien: Das Volk wusste nichts" (16.05.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/von-kritik-und-verschwoerungstheorien-das-volk-wusste-nichts/25836898.html

Quotejego2015 11:19 Uhr
WIe heisst es doch so schöne, "wer einmal lügt den glaubt man nicht mehr"  und so ist es halt auch mit der Regierung und deren Vergangenheit. Es wurden so viele Unwahrheiten verbreitet immer unter dem Vorwand des Guten, da ist sämtliches Vertrauen verspielt. Wie schon bemerkt mit den Kanzlerakten, wer das behauptete war früher ein Spinner, einer mit dem Aluhut, heute wissen wir diese Menschen hatten doch recht.


QuotePaAllgZ 09:24 Uhr

1. Ohne "Verschwörungen" ist die Welt unregierbar.
2. Verschwörungen dürfen nicht als solche benannt sein, denn sonst funktionieren sie nicht und können nicht mehr abgestritten werden.
3. Es muss eine stille Übereinkunft geben können, die auch Beteiligte in Verschwörungen still akzeptieren können. die auch per Schweigegebot abgesichert ist.
4. Die beste Verschwörungstheorie und -Praxis von "Verschwörern aller Art (gut & böse)) ist die "Chatham House Rule".

https://www.chathamhouse.org/chatham-house-rule


The Chatham House Rule is a system for holding debates and discussion panels on controversial topics, named after the headquarters of the UK Royal Institute of International Affairs, based in Chatham House, London, where the rule originated in June 1927. ...
https://en.wikipedia.org/wiki/Chatham_House_Rule

QuoteBangJI 16.05.2020, 22:10 Uhr

Vergleichen wir doch einfach die Vermögens- und Einkommensverhältnisse, die in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2016 bestanden und die, die im Deutschen Kaiserreich in der Zeit von 1910 bis 1914 bestanden.

Der gesamte Rest des Infotainmentgeschwurbels kann auf dem Konto "Desinformation und Faktenklittterung" verbucht und vergessen werden.

Fazit: Dumm, dümmer, am dümmsten. Warum so kategorisch?
Weil der alte Satz: Mundus vult decipi, ergo decipiatur. - Die Welt will betrogen sein, also betrügen wir sie. Noch immer die bittere Wirklichkeit ist.


...
#2175
Quote[...] Eine Impfpflicht gegen das Coronavirus wird es nach Aussage von Kanzleramtschef Helge Braun in Deutschland nicht geben. Wenn ein Impfstoff vorliege, sei es gut, wenn sich viele impfen lassen. Aber das entscheide jeder selbst, sagte der CDU-Politiker den Zeitungen der Funke Mediengruppe. "Wer das nicht will, muss das Risiko einer Infektion selbst tragen", so Braun. Er hoffe auf einen Impfstoff für die breite Bevölkerung zwischen Anfang und Mitte des kommenden Jahres.

Erst dann könne man auch zum normalen Leben zurückkehren. "Wenn Impfstoff verfügbar ist, dann wird es keine Beschränkungen mehr geben, und wir kehren endlich zum normalen Leben zurück", sagte Braun. Kanzlerin Angela Merkel und Braun vertreten in der Krise einen vorsichtigen Kurs, was Lockerungen der Beschränkungen angeht. Sie wollen eine Überlastung des Gesundheitssystems vermeiden.

Den bisherigen Kampf gegen das Virus in Deutschland bezeichnete Braun als "sehr erfolgreich". Ein großer Teil der Bevölkerung gehe diszipliniert mit den Kontaktbeschränkungen um. Braun, selbst Mediziner, fügte allerdings hinzu: "Aus medizinischer Sicht ist bei mir bei dem Punkt Reisen und Geselligkeit etwas mulmig - da dürfen wir nicht zu forsch sein. Die bisherige Erfahrung lehrt, dass dies für die Ausbreitung des Virus eine große Rolle spielt."

Braun nannte die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise "sehr gravierend". Nach dem Hilfsprogramm als erstem Schritt müsse man darüber reden, wie man den Wirtschaftskreislauf wieder in Gang setzen könne. Braun lehnte in dem Zusammenhang als Helikoptergeld bezeichnete Barschecks für die Bürger ab. Es gehe jetzt weniger um kurzfristigen Konsum, sondern um nachhaltige Investitionen.

"Da kann ich auch alle beruhigen, die sich Sorgen um das Klimathema machen", sagte Braun. "Aus meiner Sicht sollten Konjunkturanreize genau dort eingesetzt werden, wo es der Erreichung weiterer Ziele hilft." Mit Sorge schaut Braun auf die Verbreitung von Verschwörungstheorien zu Corona. Es gebe eine "bedenkliche Diskussion, die versucht, das Virus zu verharmlosen".

Das Virus sei ansteckender und verlaufe schwerer als die Grippe. "Wir haben bislang kein Medikament, keine Impfung und keine Immunität", so der Politiker. "Hätten wir die Infektionsdynamik von Anfang März in Deutschland einfach weitergerechnet und nichts unternommen, dann gäbe es heute vielleicht neun Millionen Kranke - das kann kein Land schultern. Die vielen Toten sind ja keine hypothetische Zahl."

Quelle: ntv.de, jug/dpa/DJ


Aus: ""Das entscheidet jeder selbst" Braun: Impfpflicht wird es nicht geben" (Samstag, 16. Mai 2020)
Quelle: https://www.n-tv.de/politik/Braun-Impfpflicht-wird-es-nicht-geben-article21785551.html

#2176

QuoteZEIT ONLINE: Ihr Sohn ist für die einen ein Spion, der andere zum Geheimnisverrat anstachelte. Für andere ist er ein Vorkämpfer für die Pressefreiheit, der Kriegsverbrechen aufgedeckt hat. Wie geht es Ihnen als Vater damit, dass er zu solch einer internationalen Schachfigur geworden ist?

Shipton: Julian hat von denselben Kriegsverbrechen berichtet wie die New York Times, El País, Der Spiegel, The Guardian. Die Journalisten und die Herausgeber sind nicht im Gefängnis. Wenn ich Alan Rusbridger (den ehemaligen Guardian-Chefredakteur, Anm. d. Red.) besuchen will, dann treffe ich ihn in seinem Büro in der Universität in Oxford, und nicht im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Julian ist unschuldig, und ich kämpfe für ihn – er ist mein Sohn, das ist mein Job.


John Shipton: "Eine Verurteilung von 175 Jahren wäre sein Todesurteil" Interview: Çiğdem Akyol (14. Mai 2020)
Durch die Corona-Krise verzögert sich der Auslieferungsprozess von Julian Assange. Sein Vater John Shipton sagt, er habe Angst, dass sein Sohn im Gefängnis sterbe.
https://www.zeit.de/digital/2020-05/john-shipton-julian-assange-gefaengnis-auslieferung-usa

QuoteMelonenbowle #11

Tja, da hätte Herr Assange mal nachdenken müssen, bevor er Geheimnisse verrät.
"Leaken" ist nur framing für Verrat.


Quotearea #11.1

... wozu braucht man dann Journalismus?


Quotesatya #13

Der Fall Assange nimmt einem die letzten Illusionen.


Quote
hyperion55 #15

Dass Schweinerein und Gesetzesbrüche in den obersten Regionen der Macht (Politik/Militär/Geheimdienste & Wirtschaft gleichermassen) ab einer bestimmten Größe 'systemrelevant' sind, und kein Gericht der Welt sie je bestrafen wird - man sogar eher den 'Boten', der sie aufdeckt lyncht, als dass es den eigentlichen Verursachern an den Kragen geht, konnte man auch schon vor Snowden und Assange wissen. Neu an beiden Fällen war lediglich die offensichtliche Einsicht, WIE umfassend diese bewusst gewollte, systematische Zweiteilung der Weltgesellschaften in die Mächtigen, die quasi Narrenfreiheit haben, und die einfachen Bürger, die jederzeit für kleinste Vergehen aus dem Verkehr gezogen werden können, tatsächlich ist. Und dass dieses System dem Feudalismus früherer Epochen in seinen tatsächlichen Konsequenzen für jeden, der offen dagegen aufbegehrt, in keiner Weise nachsteht!

Letztlich fühle ich mich persönlich in meinem schon seit Jahrzehnten kultivierten 'Bauchgefühl' bestätigt, dass auch der fantasievollste Polit-Thriller mit den niederträchtigsten Protagonisten an den Schalthebeln der Macht in letzter Konsequenz von der Realität noch übertroffen wird. Und nein: um das so zu sehen muss man keinerlei 'Verschwörungstheorie' bemühen kleiner Zusatz: wer sich Illusionen macht, dass es vor ein paar Jahrzehnten 'schlimm' war, aber heute natürlich 'besser' ist, der sollte sich auch klar machen, dass heute keine Woodward & Bernstein-Journalisten mehr einen 'Watergate'-Fall überhaupt aufdecken könnten - und ein Donald Trump über die Enthüllungen, die einen Richard Nixon damals noch zum Rücktritt zwangen, heute nur noch lachen würde.


...
#2177
Quote[...] Nein, ein soziales, gerechtes Land waren die USA auch schon vor der Coronaviruskrise nicht. Dem grotesken Reichtum der oberen zehn Prozent, die knapp 64 Prozent des Privatvermögens besitzen, stehen eine schrumpfende Mittelschicht und knapp 38 Millionen Menschen gegenüber, die unter der nationalen Armutsgrenze leben. Weder existiert eine allgemeine Krankenversicherung noch eine dauerhafte Grundsicherung für Arbeitslose.

Während sich in den urbanen Zentren für Technologie, Finanzmarkt und Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten wohlhabende Akademikerenklaven bildeten, leidet ein erheblicher Teil des Landes unter dem strukturellen Verfall von Wirtschaft und Infrastruktur. Dann brach die Coronaviruspandemie aus.

Ab Mitte März kam das öffentliche Leben in weiten Teilen der Vereinigten Staaten zum Erliegen. Zwei Monate später zeigen Zahlen das soziale Ausmaß der Pandemie: Für die meisten Reichen und Büroangestellten ist die Krise höchstens ein Ärgernis, für Arme und Arbeiter dagegen eine Katastrophe.

Eigentlich hat man sich an die "Breaking News"-Balken auf den Nachrichtenseiten schon gewöhnt. Jeden Donnerstag, wenn das US-Arbeitsministerium die Neuanträge auf Arbeitslosenhilfe veröffentlicht, wird der Öffentlichkeit das Ausmaß der Wirtschaftskrise erneut ins Bewusstsein gerufen. Auch an diesem Donnerstag waren die Zahlen ernüchternd: Fast drei Millionen Menschen meldeten sich in den vergangenen Wochen arbeitslos. Seit Mitte März haben insgesamt knapp 36,5 Millionen Menschen staatliche Unterstützung beantragt. Eine derart hohe Arbeitslosigkeit hat das Land seit der Großen Depression der Dreißigerjahre nicht mehr erlebt.

Dem Aktienmarkt geht es dagegen erstaunlich gut. Seit der US-Kongress Ende März knapp zwei Billionen Dollar Wirtschaftshilfen für die Unternehmen des Landes bereitstellte, schossen die zuvor eingebrochenen Aktienkurse wieder nach oben. Der S&P-500-Aktienindex, der Mitte März noch auf knapp 2200 Punkte gesunken war, kletterte bis zum Donnerstag wieder auf knapp 2900 Punkte. Das gleicht zwar nicht den Wertverlust seit Februar (Stand am 18. Februar: knapp 3400 Punkte) aus, doch die Absicherung der Wirtschaft durch den Kongress und die Zentralbank Federal Reserve ermöglicht Aktionären in der Corona-Krise einen außerordentlich weichen Fall. Die Milliardäre des Landes haben laut einer Studie des liberalen Institute for Policy Studies ihr Vermögen sogar um zehn Prozent vermehrt.

Ähnlich weich wie für Aktionäre und Milliardäre gestaltet sich die Krise auch für Beschäftigte in der Finanzindustrie. Dort hat sich die Arbeitslosenquote im April im Vergleich zum Vorjahr zwar mehr als verdoppelt, liegt aber noch immer weit unter allen anderen Wirtschaftssegmenten. Generell zeigt sich: Wer einen Bürojob hat, ist weit weniger vom Verlust des Arbeitsplatzes bedroht als Beschäftigte in einfachen Dienstleistungstätigkeiten oder etwa im Baugewerbe.

Eine Katastrophe ist die Corona-Krise jedoch vor allem für Beschäftigte im Gastgewerbe. Hier betrug die Arbeitslosenquote im April fast 40 Prozent. Dabei handelt es sich vor allem um Arbeitnehmer mit Jobs, die ohnehin schlecht bezahlt sind. Mitarbeiter im Gastgewerbe verdienten im April durchschnittlich ohnehin nur 18  Dollar pro Stunde, das sind etwa zwölf Dollar weniger als der mittlere Lohn in den USA.

Bei den Farmarbeitern, oft Hispanics und illegale Einwanderer, hat sich die Arbeitslosenquote dagegen kaum erhöht. Die Lebensmittelversorgung muss schließlich aufrechterhalten werden.

Aufgrund der niedrigen Löhne haben vor allem untere Einkommensschichten kaum Rücklagen, um die Folgen des Stillstands abzufedern. Während 75 Prozent der oberen Einkommensschichten laut einer Umfrage des Pew Research Centers angaben, dass sie mit ihrem Ersparten mindestens drei Monate lang ihre Ausgaben finanzieren können, sind es im unteren Einkommensdrittel nur 23 Prozent. Prekär Beschäftigte verlieren leicht ihre Jobs, leben oft von Gehaltscheck zu Gehaltscheck und können in der Krise oft nicht mal mehr ihre Miete bezahlen.

Einen Mietzahlungsstopp hat der Kongress nicht verabschiedet, allerdings haben viele Bundesstaaten beschlossen, während der Krise keine Räumungsverfahren durchzuführen. In den kommenden Wochen öffnen allerdings in großen Teilen der USA wieder die Gerichte. Es droht eine Welle von Räumungen und eine Massenobdachlosigkeit. Denn selbst wer nach der Wiedereröffnung der Wirtschaft einen Job findet: Ein Mietrückstand von mehreren Monaten ist mit einem geringen Gehalt kaum mehr auszugleichen.

In den Vereinigten Staaten existiert keine allgemeine Krankenversicherung. Nur alte und besonders arme US-Amerikaner sind über staatliche Gesundheitsprogramme abgesichert. Die meisten Beschäftigten beziehen ihre Krankenversicherung über ihren Arbeitgeber. Doch gerade im unteren Einkommensbereich zahlen Arbeitgeber oft nicht für den Versicherungsschutz. Als Alternative bleiben nur selbst finanzierte Obamacare-Policen, die teils überteuert sind und teils keinen umfassenden Schutz gewährleisten. Schon vor Ausbruch der Coronaviruskrise waren knapp 28 Millionen Menschen im Land nicht krankenversichert.

In der Pandemie verlieren nun weitere Millionen Menschen mit ihrem Arbeitsplatz auch ihren Versicherungsschutz: eine Katastrophe vor allem für chronisch Kranke. Sie bleiben auf hohen Behandlungskosten sitzen. Die Robert Woods Johnson Foundation hat errechnet, dass bei einer Arbeitslosenquote von 15 Prozent mehr als 33 Millionen Menschen über keinen Versicherungsschutz mehr verfügen werden. Im April lag die Arbeitslosenquote schon bei 14,7 Prozent. Steigt die Arbeitslosigkeit weiter, werden laut den Expertenberechnungen zusätzlich mehrere Millionen Menschen ihre Krankenversicherung verlieren. Auf dieses Problem hat der Kongress bisher keine zufriedenstellende Antwort gefunden.

Die Parteispitze der Demokraten und deren designierter Präsidentschaftskandidat Joe Biden wollen private Krankenversicherungen staatlich subventionieren und auch Arbeitslosen erlauben, besagte Obamacare-Policen zu kaufen. Gerade letzteres dürfte für Menschen ohne Einkommen jedoch aus Geldmangel unmöglich sein. Den Vorschlag des linken Senators Bernie Sanders, die staatlichen Gesundheitsprogramme zumindest für die Dauer der Krise allen US-Amerikanern zugänglich zu machen, stieß bei der Führungsspitze der Demokraten auf wenig Interesse.

Zu den Opfern der Krise in den USA gehören auch die Mittelständler. Zwar stellte der Kongress knapp 670 Milliarden Dollar bereit, um Firmen mit weniger als 500 Mitarbeitern zu unterstützen, doch greifen laut Recherchen der Nachrichtenagentur Bloomberg auch große Unternehmen dieses Geld ab. Restaurant- und Hotelketten konnten für jeden Standort eigene Anträge stellen. Anfang April gelang es nach Recherchen der Associate Press sogar 94 an der Börse gehandelten Unternehmen, Gelder aus dem "Paycheck Protection Program" zu beziehen.

Zwei Monate nach Beginn des Corona-Stillstands sind die Mittelstandsunternehmen pessimistisch. Mehr als jedes fünfte fürchtet laut einer Erhebung der US-Handelskammer, innerhalb der kommenden zwei Monate den Betrieb dauerhaft einstellen zu müssen. Laut Angaben der Washington Post haben mehr als 100.000 Kleinunternehmen schon jetzt aufgegeben. Sollte die Entwicklung andauern, dürfte sich die Wirtschaftsstruktur der USA noch weiter zugunsten von Großunternehmen verschieben. Seit Jahrzehnten nimmt der Anteil von Mittelstandsunternehmen am Bruttoinlandsprodukt ab. Die Coronaviruskrise könnte diese Tendenz noch verstärken.


Aus: "Pandemie der Ungleichheit" Eine Analyse von Jörg Wimalasena, New York (16. Mai 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/coronavirus-krise-usa-pandemie-soziale-ungleichheit-wirtschaft/komplettansicht

Quoteachwashallo. #1.11

Die USA wurden in Europa, besonders in Deutschland zu einem geeigneten Ablenkungsobjekt entwickelt, um hiesige Probleme auszublenden. Für alle ist etwas dabei. Wer keine Lust zum Denken hat, schließt sich einfach dem beliebten, meist unreflexiven Trump-Bashing an. Das hilft über den Tag ...


QuoteJR71 #1.12


Docupy: Die Vermögensverteilung in Deutschland
WDR . 30.01.2018. 01:24 Min.. Verfügbar bis 30.12.2099. WDR.
Wie weit weg sind die Reichsten von den Ärmsten in Deutschland? Das erklärt Markus Grabka vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung anhand eines DIN-A4-Blattes. #ungleichland
https://www1.wdr.de/mediathek/video/sendungen/video-docupy-die-vermoegensverteilung-in-deutschland-100.html

Ich fürchte, auch bei uns sind die oberen 10% fein raus. Pleite gehen Kleinstbetriebe in der Krise.
Wahr ist: bei uns gibt es eine Krankenversicherung für alle. Oder vielmehr zwei Systeme.

Und ja, liebe Redaktion: Thema des Artikels ist die Ungleichheit in den USA. Dazu muss man aber auch Vergleichsgrößen haben. Und wo das Thema Ungleichheit angesprochen wird, darf man auch einmal allgemein darüber nachdenken.


Quote
polarapfel #6

"Dem grotesken Reichtum der oberen zehn Prozent, die knapp 64 Prozent des Privatvermögens besitzen,..."

Das mag den Autor und viele Leser ueberraschen, aber auch in Deutschland sind 60% der Vermoegenswerte im Besitz von 10% der Haushalte.

Deutschland und die USA haben im OECD Vergleich eine sehr identische Ungleichverteilung der Vermoegen. In Deutschland liegt das Medianhaushaltsvermoegen niedriger unter dem Durchschnittshaushaltsvermoegen als in jedem anderen OECD Land - mit Ausnahme der USA.

Man sollte sich also in Deutschland mit Analysen zur sozialen Gerechtigkeit nicht allzuweit aus dem Fenster lehnen - vor allem auch deswegen nicht, weil Deutschland kaum Steuern auf Vermoegen und Vermoegensverkehr erhebt, das in den USA aber der Fall ist. Was meinen Sie, was in Deutschland los waere, wenn Immobilienbesitzer jedes Jahr 1% des Immobilienwerts als Grundsteuer abdruecken muessten! Das ist in den USA nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Beste Gruesse aus Washington State.

[ ... [Es] wird seit Jahren von der Tatsache abgelenkt, dass Deutschland kaum soziale Mobilitaet bietet und Erfolgschancen in Deutschland massgeblich von Herkunft und Wohlstand des Elternhauses bestimmt werden.

Es wird im Zusammenhang mit den typischen USA Bashing Beitraegen auch immer wieder auf die Ungleichverteilung der Einkommen hingewiesen (was tatsaechlich ein Problem in den USA ist) - in erster Linie dient das in Deutschland aber dazu, davon abzulenken, dass in Deutschland das Vermoegen wie in den USA in den Haenden weniger ist.

Die Kehrseite des deutschen Sozialstaats ist, dass man in Deutschland schon mit dem 1,3 fachen des Durchschnittseinkommen anfaengt den Spitzensteuersatz zu zahlen, waehrend der Erbe auf das leistungslose Einkommen seiner Erbschaft oder Schenkung so gut wie gar keine Steuern zahlt. Bund und Laender weigern sich seit Jahren das Urteil aus Karlsruhe zur Reform der Grundsteuer umzusetzen. Ein Blick auf www.bundeshaushalt.de und die Einnahmenseite des Bundes reicht auch, um zu verstehen, warum dieses Ablenkungsspiel laeuft. Der deutsche Sozialstaat ist auf das Schroepfen der sozialversicherungspflichtigen Erwerbstaetigen angewiesen, denn mit Abstand die meisten Einnahmen hat der Bund aus Lohnsteuern und Soli. Vermoegenssteuern tauchen in der Aufstellung gar nicht auf, so klein sind deren Beitraege. Und die Erbsschaftssteuer steht den Laendern zu. Die Zahlen dazu liegen bundesweit bei weniger als 8 Milliarden EUR. ...]


Quotemamounia #18

"Geringverdienern und Mittelständlern droht der Ruin, der Finanzbranche geht es gut"

Warum über den großen Teich gehen, das trifft doch weitestgehend auch bei uns zu.


...
#2178
"Joko und Klaas sorgen mit Sendung über Männergewalt für Aufsehen" (14.05.2020)
Dick Pics, Hasskommentare und Gewalt gegen Frauen: Sophie Paßmann und Palina Rojinski nutzten 15 Minuten Sendezeit zur Primetime für einen Appell gegen Sexismus.
Die von Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf ermöglichte Sendung ,,Männerwelten" auf Pro Sieben hat für viel Aufsehen gesorgt. Die beiden Moderatoren hatten 15 Minuten freie Sendezeit erspielt und sie genutzt, um ein Schlaglicht auf sexuelle Übergriffe gegen Frauen zu werfen.
Die Autorin und Journalistin Sophie Passmann führte in dem ab 20.15 Uhr gezeigten Beitrag - im Auftrag von Joko und Klaas, wie sie sagte - durch eine fingierte Kunstausstellung namens Männerwelten, um verschiedene Facetten des Themas anzusprechen.
,,Es wird hart, es wird bitter und für manche kaum zu glauben, aber wir müssen da jetzt gemeinsam durch", sagte Passmann zu Beginn.
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/medien/viel-lob-fuer-maennerwelten-joko-und-klaas-sorgen-mit-sendung-ueber-maennergewalt-fuer-aufsehen/25830288.html

Quotetizian2011 14.05.2020, 17:25 Uhr
Das waren extrem intensive und verstörende 15 Minuten. Meinen Respekt vor den dort aufgetretenen Frauen und den vielen Frauen, die all dies erleiden. Ich schäme mich für das aufgezeigte menschenverachtende Verhalten meiner Geschlechtsgenossen.


QuoteNancyAyram 14.05.2020, 18:56 Uhr
Als Ü60 Frau habe ich mir heute diese Sendung angeschaut. Auch ich wurde in meinem Leben öfter mal blöd angemacht und auch hin und wieder sexuell belästigt. Selbst jetzt noch ... von notgeilen Ü70-Männern. Das war mal mehr mal weniger angenehm. Meistens konnte ich das wegstecken oder habe andere Lösungen gefunden. Wenn ich das aber sehe, womit sich junge Frauen heutzutage rumschlagen müssen, dann bin ich wirklich schockiert. Irgendwie habe ich das Gefühl, in der Beziehung zwischen Mann und Frau gibt es echt Rückschritte. Und irgendwie bin ich froh, heute nicht mehr jung zu sein.


Männerwelten - Belästigung von Frauen | Joko & Klaas 15 Minuten Live
https://youtu.be/uc0P2k7zIb4

QuotePaulBär

Wir leben im 21. Jahrhundert - in einer eigentlich kultivierten Gesellschaft (denkt man zumindest). ...


25,816 Comments (15.05.2020)

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Quote[...] Die Faustregel ist: Je exponierter die Frauen, desto mehr Angriffe. Und je auffälliger die Frauen, desto heftiger die Attacken. Bei sexualisierten Angriffen geht es nicht um Sex, sondern um Macht. Sie wirken besonders perfide: Nicht der Täter schämt sich, sondern das Opfer. In der Regel die Frau. Sicher, auch Männer sind davor nicht gefeit – aber es trifft sie sehr viel seltener. Frauen hingegen: Fast die Hälfte aller Frauen hat schon einmal sexuelle Belästigung erfahren. Jede dritte erlebt im Laufe ihres Lebens Gewalt, heißt es in einem Papier des Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen. Auch im Netz seien Frauen überproportional von unterschiedlicher Gewalt betroffen.

Ich musste an die finnische Journalistin Jessikka Aro denken. Aro hatte über russische Einflussnahme und Trollfabriken in Sankt Petersburg publiziert. Daraufhin wurde eine massive Kampagne online gegen sie gestartet. Sie erhielt Morddrohungen, Beleidigungen, Schmähungen, Vergewaltigungswünsche, Anrufe, E-Mails, Chatnachrichten. Ihre Krankenakte wurde veröffentlicht. Textnachrichten im Namen ihres Vaters erreichten sie – der aber war vor Jahren gestorben. Als ich sie vor einigen Jahren in Helsinki traf und wir uns über ihren Laptop beugten, poppten immer noch Beleidigungen auf dem Schirm auf, die ihr gerade jemand bei Facebook geschickt hatte.

Aro hat Anzeige erstattet, ihre Geschichte wurde zum Präzedenzfall in Finnland, ihr Arbeitgeber, der Chefredakteur des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Yle, hat sie unterstützt. Damals sagte er mir, dass die unterschiedlichsten Themen plötzlich heftige Hasswellen bei den Zuschauern auslösen konnten: Klima, vegetarisches Essen, Russland, Feminismus. Die einzige Gemeinsamkeit: Es traf immer Frauen. Immerhin: Im Falle Aro nahm die Polizei die Ermittlungen ernst. Drei Personen wurden verurteilt.

Vor einigen Jahren, noch bevor ich über den Krieg in der Ostukraine oder Russland zu schreiben begann und selbst gelegentlich zur Zielscheibe wurde, hatte ich mein Büro neben dem von Özlem Topçu. Manchmal las sie mir die Leserbriefe vor, die sie erreichten, wenn sie wieder einen Leitartikel geschrieben hatte. Von Professoren, die stets ihren Titel nannten, sie siezten – und im Folgenden empfahlen, nach Anatolien zurückzukehren. Briefe, die im Ton höflich waren, aber in der Sache rassistisch und infam. Schreiben, die ihr ankündigten, man werde in der "Nacht der langen Messer" schon noch mit ihr abrechnen, leitete sie die direkt an die Anwälte weiter. Ohne Erfolg.  Eine "alternative" Internetseite zeigte ihr Foto mit der Überschrift: "Deine Vagina gehört allen." Natürlich nicht justiziabel. Es war widerlich. Es war normal. Es schien dennoch irgendwie erträglich – es waren immerhin nur Worte, keine Taten.

Irgendwann lud mich Özlem zu Hate Poetry ein. Deutsche Journalisten und Journalistinnen, die arabische und türkische Namen trugen, lasen vor Publikum die irrsten Leserbriefe vor, die sie erreichten. Es war fantastisch und ungeheuer befreiend, sich die Deutungshoheit und die Macht über die Kränkungen zurückzuholen. Ich habe damals Tränen gelacht, neben mir rutschte jemand aus seinem Sitz, weil ihn sein Lachen so schüttelte. Auf einmal offenbarte sich die ganze Erbärmlichkeit und Lächerlichkeit dieser Schreibtischtäter, die sich in langen Briefen und E-Mails darüber ausließen, wer Kamele ficken solle und wer durchgefickt gehöre. Deshalb ist auch die Sendung Männerwelten so wichtig: Die Frauen schicken den ganzen Dreck zurück, vor einem gigantischen Publikum.

Die Übergriffe, von denen die Frauen erzählt haben, wie sie im Taxi oder im Fahrstuhl bedrängt, angefasst wurden, ist natürlich eine ganz andere, eine fürchterliche Erfahrung, die angezeigt werden muss. Aber es tat gut zu sehen, wie sich Journalistinnen und Journalisten gemeinsam gegen Worte zu Wehr setzten, gegen die Anzeigen nicht verfangen. Wie sie zusammenstehen und sich mit dem Publikum verbünden. Es gehe darum, die Scheiße in die Umlaufbahn zurückzuschießen, sagte mein Kollege Yassin Musharbash damals. Er hatte so recht. Diese Methode stärkt, sie tröstet. Doch es gibt ein Problem: Sie schafft die Beleidigungen und Schmähungen nicht aus der Welt. Die Umlaufbahn ist derzeit reichlich zugeschissen.


Aus: "Fünf vor acht / "Männerwelten": Den ganzen Dreck zurückschicken" Eine Kolumne von Alice Bota (15. Mai 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-05/maennerwelten-sexuelle-belaestigung-frauen-joko-und-klaas

QuoteHannah L. #2

Mir ist bewußt, niemand will es hören - in einer durchpornographisierten Internet- und Werbewelt, dazu, hier im Land, in einer Welt, in der es normal ist, daß Männer nur mit einem kleinen Geldschein zu winken brauchen, um an der Straßenecke sexuell bedient zu werden, und diese Tatsache von der politischen Schickeria für o.k. gehalten wird, wundere ich mich nicht sehr, daß manche Armselige austicken!
Der Komplexität heutiger Schnittmengen zwischen digitaler und analoger Welt sind ohnehin manche Zeitgenossen nicht gewachsen.


Quote
Zangenzug #6

Schlimmer als die eigenen scheußlichen Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen ist die Traurigkeit über die Verbreitung dieser selbstgerechten, feigen Primitivität in einer gebildeten Gesellschaft, die sich eigentlich für zivilisiert hält. Erschütternd der offensichtliche Widerspruch zum eigenen Bild des ,,starken Mannes", das sich durch Macho-Verhalten überdeutlich selbst entlarvt.


Quotecgoise #12

Ich verstehe die Psychologie hinter dieser Form männlichen Verhaltens noch nicht so ganz. Man muss ja davon ausgehen, dass jede weit verbreitete Verhaltensweise das Ergebnis von sozialen, biologischen oder evolutionären Belohnungsprozessen. Eine Verhaltensweise, die nicht zum Erfolg führt, stirbt irgendwann aus. Aber wie sieht wohl die erwartete Belohnung im Erfolgsfall aus, wenn man zB jemandem ein Dickpic schickt? (Bis gestern oder so wusste ich nicht mal, dass das eine Sache ist für die man ein Wort braucht.) Oder wenn man eine Person als 'Hure' bezeichnet, deren Verhalten das genaue Gegenteil dessen ist, das mit dieser Bezeichnung gemeinhin unterstellt wird? Womit genau wird dieses Verhalten belohnt? Welche Art von Glücksgefühl stellt sich da ein?


Quotefiete.hansen #12.2

" Mann weiß, dass sowas unter aller Sau ist...."

Das wage ich zu bezweifeln, denn dazu würde Selbst/-reflexion und Empathie gehören.


QuoteDer Korrektor #12.4

"Womit genau wird dieses Verhalten belohnt?"

Es gibt keine direkte Belohnung. Menschliches Handeln ist zu großen Teilen symbolisches Handeln, bei dem eine Übertragung der realen Handlung auf eine analoge symbolische Form stattfindet. ...


Quote
Zangenzug #12.5

Das ist der Max-und-Moritz-Effekt, der eben auch den sozialen Reifegrad der kleinen Supermänner zeigt. Das dazugehörige Gefühl kennt jeder: Schadenfreude. Zivilisierte Menschen versuchen sie zu zügeln, simple, ängstliche und feige Gemüter zehren davon.


Quote.Anne. #19

Eine Veröffentlichung ist der richtige Weg, denn der Hass trifft vielleicht einzelne Personen, gemeint sind aber alle Frauen. Vor dem Licht der Öffentlichkeit erscheinen diese Drohungen dann als das was sie sind: die letzten Zuckungen armer Würstchen, deren chauvinistische Männlichkeit der Vergangenheit angehört!


...
#2179
Quote[...] Es ist ein Paradebeispiel für die aufgeheizte Stimmung in der Corona-Krise. Man könnte meinen, die Zweifler und Gegner des Regierungskurses von Kanzlerin Angela Merkel hätten nur auf Stephan Kohn gewartet. Bisher wusste selbst das Willy-Brandt-Haus nicht, dass das SPD-Mitglied im Referat ,,Schutz Kritischer Infrastrukturen" des Bundesinnenministeriums (BMI) tätig war.

Seit der Oberregierungsrat mit Briefkopf des Ministeriums die ,,interne Analyse KM 4" verfasst hat und diese verschickt hat, zirkuliert das 83-seitige Papier bundesweit. Es gilt als der ,,Beweis", dass die Regierung es mit den Maßnahmen völlig übertreibe, von den ,,BMI-Leaks" ist die Rede.

Kohn wird als Held und Whistleblower gefeiert, der die Wahrheit aufdecke.

Was dem Ganzen Glaubwürdigkeit verleihen soll: Für sein Papier hat er Forscher und Ärzte nach ihrer Einschätzungen zu den negativen Folgen der Corona-Maßnahmen angefragt. Seine Schlussfolgerung: ,,Gravierende Fehlleistungen des Krisenmanagements",  die Coronakrise erweise sich als ,,Fehlalarm". Der Schaden durch die Folgen werde weit größer sein als durch die Pandemie.

Doch schon Passagen wie ,,Der Staat hat sich in der Coronakrise als einer der größten fake-news-Produzenten erwiesen", zeugen davon, dass es sich kaum um ein offizielles Papier handeln kann.

Kohn hat die Wissenschaftler im Namen des BMI angefragt, aber eine Privatanalyse verfasst. Gleichwohl finden sich Fakten, die stimmen, aber das meiste ist vage und spekulativ, wie die tödlichen Folgen abgesagter Operationen, die Zunahme psychischer Krankheiten die Folgen der Isolation in Pflege- und Altenheimen, der mögliche Verlust an Lebenserwartung durch die gewaltige Rezession.

Am 8. Mai um 15:34 Uhr drückte der Oberregierungsrat des Bundesinnenministeriums in seinem E-Mail-Programm auf senden. Unter den Empfängern: Sein Vorgesetzter im Ministerium, der Corona-Krisenstab und das Kanzleramt. Auch alle Landesregierungen erhielten eine Kopie, wie die ,,Zeit" berichtet. Im Betreff der E-Mail stand: ,,Ergebnisse der internen Evaluation des Corona-Krisenmanagements". Das angehängte Dokument trug den Briefkopf des BMI, es wirkte also wie ein offizielles Schreiben.

Nach diesem bemerkenswerten Alleingang ist Kohn von seiner Tätigkeit entbunden worden; ihm droht ein Disziplinarverfahren.

Auf Anfrage des Tagesspiegel antwortet er nicht, schließlich meldet sich sein jüngerer Bruder telefonisch und betont, als Beamter wolle sich Stephan Kohn wegen des schwebenden Verfahrens vorerst nicht äußern. ,,Er hat gut zu tun", sagt der Bruder zum großen Echo.

Dieses rührt auch daher, dass ihm zehn Wissenschaftler und Ärzte in einem offenen Brief beisprangen, sie verteidigten seine Analyse und Schlussfolgerungen und machten dem Bundesinnenministerium schwere Vorwürfe. Es waren die zehn Personen, die Kohn als ,,hochrangige Experten/Wissenschaftler" in seinem Dokument nennt.

Die Kronzeugen für seine Aussagen also, die dem Konvolut einen wissenschaftlichen Anstrich geben sollen - und das besonders von rechtspopulistischen Kreisen nun ins Feld geführt wird. Doch keiner ist laut der Eigenbezeichnung in dem Brief im Bereich Virologie oder Epidemiologie tätig.

Der Charité-Virologe Christian Drosten kritisierte kürzlich, was er  zum Teil von ,,scheinbaren Fachleuten", höre, entbehre oft jeder Grundlage. Dadurch werde auch ,,wirklich gefährlichen Verschwörungstheoretikern" mit teils politischer Agenda der Rücken gestärkt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Kohn auf eigene Faust versucht hat, Dinge zu verändern. Am 22. April 2018 sitzt er auf einer Treppe vor dem CongressCenter in Wiesbaden und versucht Unterschriften zu sammeln, um für den SPD-Vorsitz kandidieren zu können - und scheitert damit. Scharf kritisiert er damals die Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen, hier liegt ein Kontinuum zu vielen derer, die ihm auch heute bei der Corona-Kritik beipflichten.

,,Mit der herrschenden Migrationspolitik überfordern wir unsere Gesellschaft nicht nur, wir machen sie kaputt. Die Flüchtlingshilfe geht zu Lasten unserer Bürger und gerade auch zu Lasten unserer SPD-Klientel", schreibt Kohn  2018.  Er ist dem Ortsverein  Lichtenrade-Marienfelde   zugeordnet. Dessen Vorsitzender ist übrigens SPD-Vizechef Kevin Kühnert, der betont, Kohn  habe seinerzeit beim Versuch, für den Vorsitz zu kandidieren, von seinem Berliner Ortsverein eine Stimme bekommen: ,,seine eigene".

Der Fall zeigt exemplarisch, wie wichtig es für die politische Debatte sein wird, stärker auf Zweifel bei dem Umgang mit der Pandemie einzugehen, bei scharfer Abgrenzung von all jenen Kräften, die die Krise dazu nutzen wollen, das Fundament der Demokratie auszuhöhlen.

Für das Willy-Brandt-Haus ist der Fall doppelt unangenehm, da schon der frühere Bundestagsabgeordnete Wolfgang Wodarg bei Zweiflern und Verschwörungsanhängern hoch im Kurs steht - die Videos des Mediziners zur ,,Corona-Panik" wurden hunderttausendfach geteilt. Er hatte mit seiner Warnung vor Übertreibungen bei der Schweinegrippe recht, die er als ein Konjunkturprogramm für die Impfstoffindustrie sah.

Das verschafft ihm heute Gehör. Zum Fall Kohn will sich die SPD-Spitze nicht äußern. Eine Sprecherin betont aber,, man  trete Verschwörungstheorien energisch entgegen. ,,Wir distanzieren uns wie auch das Bundesinnenministerium von dieser fälschlicherweise im Namen des Ministeriums verbreiteten Privatmeinung."


Aus: "So reagiert die SPD auf die Irrfahrt des Stephan Kohn"  Georg Ismar, Benjamin Reuter  (14.05.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/autor-des-corona-papiers-im-bmi-so-reagiert-die-spd-auf-die-irrfahrt-des-stephan-kohn/25831928.html

Quotekostenrechner 09:00 Uhr
Allmählich habe ich den Eindruck, dass Kritik an der Regierung automatisch nur noch "Verschwörungstheorie" oder "Rechts" sein muss. Und dann hat der Mann in seiner Historie doch tatsächlich mal was gegen illegale Massenmigration gesagt. Schrecklich!


Quotejeffrowland 08:18 Uhr

Da eifert jemand Maaßen nach.


QuotePat7 14.05.2020, 22:15 Uhr
Antwort auf den Beitrag von Apostata 14.05.2020, 20:35 Uhr
Ich bin nicht überzeugt,  dass die Regierung in allem 100% richtig gehandelt hat und teile einige Befürchtungen dieses übereifrigen Beamten in Bezug auf die Kolateralsschäden.

Trotzdem fühle ich mich nicht in meinen Ansichten durch sein Machwerk bestätigt.

Meine Ansichten entsprechen meinen begrenzten Wissen und meinen Erfahrungen und sind eine private Meinung und ja auch ein Bauchgefühl.

Nichts anderes ist dieses Schreiben dieses Beamten. Nur eine Reihe von Annahmen und Vermutungen von denen erst die Zeit zeigen wird ob sie richtig sind.

Schon die Vorgehensweise,  den genannten Experten nur Auszüge seines Pamphlets zukommen zu lassen zeigt die unwissenschaftliche Vorgehensweise.

Er bringt keinen einzigen Beleg.

Und seine Thesen zur Einwanderung waren auch falsch. Obwohl ich auf Sozialhilfe Niveau lebe,  habe ich keine Nachteile durch die Aufnahme der Migranten.

Keine Sozialleistungen werden deswegen gekürzt,  keine medizinischen Leistungen,  von denen ich in den letzten beiden Jahren mehrmals wöchentlich Gebrauch machen musste.

Migranten übernehmen wichtige Jobs. In der Pflege, in medizinischen Einrichtungen und anderen gerade jetzt wichtigen und systemrelevanten Berufen.

Meiner Meinung nach ist dieser Beamte ein profilierungssüchtiger Typ,  der sich für oberschlau und alle anderen für dumm hält. Und weil er der Meinung ist,  diese Welt mit seinen Thesen beglücken zu müssen,  betrog er seinen Dienstherren und nutze seine Position für seinen privaten Feldzug.

Ich hätte mir gewünscht,  dass der sauber arbeitet mit wissenschaftlichen und nachprüfbaren Begründungen. So hat der auch all jene diskreditiert,  die ebenfalls Bedenken wegen der Massivität der Maßnahmen haben.

Jetzt wird der von Verschwörungstheoretikern und Corona Leugnern gefeiert und eine rechte Dreckschleuder schlachtet den Bericht aus. Alleine die Tatsache,  dass das Papier den Briefkopf des Ministeriums trägt, reicht solchen Leuten als Beleg,  dass das amtlich ist. Gut in den Foren zu sehen. Jeder der jetzt noch Zweifel äußert,  wird nun mit denen in einen Topf geworfen.


...
#2180
Quote[...] Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer beklagt, dass viele Kritiker der einschneidenden Alltagsbeschränkungen in der Corona-Krise beiseite gedrängt und teils auch diffamiert würden. Das erinnere ihn an die Flüchtlingskrise 2015, als Debatten über die Einreise Hunderttausender Migranten mit ,,moralisierender Alternativlosigkeit" abgewürgt worden seien, sagte er am Donnerstagabend in der ZDF-Sendung ,,Maybrit Illner".

Zu den jüngsten Protesten Tausender Bürger gegen die Corona-Beschränkungen in verschiedenen Städten sagte er, dies sei auch eine Folge der zu kurz gekommenen Diskussion über die Zielgenauigkeit und die Verhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahmen. Es habe schon eine ,,Gegenöffentlichkeit" in der harten Shutdown-Phase gegeben, doch sei diese von den großen Medien überwiegend ignoriert worden.

Palmer hatte jüngst viel Kritik auf sich gezogen, als er in einem Fernsehinterview sagte: ,,Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären." Er erklärte seine Aussage mit der Sorge um armutsbedrohte Kinder vor allem in Entwicklungsländern, deren Leben durch die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns bedroht sei.

Um diese Aussage ging es auch nochmal in der Runde bei Illner. Der Helmholtz-Forscher Michael Meyer-Hermann kritisierte Palmer für die Aussage. Berechnungen zeigten, dass ,,die Mehrheit der Leute, die an Corona gestorben sind, im Durchschnitt noch neun Jahre zu leben gehabt hätten." Meyer-Herrmann bezog sich dabei wohl auf eine Rechnung des NDR, die ergeben hatte, dass jeder Covid-19-Tote durchschnittlich neun Lebensjahre verloren habe. Das deckt sich mit den Ergebnissen einer Studie der Universität Glasgow, die auf Basis von Patientendaten aus Wales, Schottland und Italien herausgefunden hatte, dass den Toten im Schnitt elf Lebensjahre verloren gingen.

Palmer wischte das Argument mit einem "ich halte das für falsch" zur Seite. Meyer-Herrmann blieb nur zu Antworten, dass es hier um Fakten und nicht im Meinungen gehe. (dpa)


Aus: "Palmer streitet sich bei Illner mit Helmholtz-Forscher" (15.05.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/waeren-in-einem-halben-jahr-sowieso-tot-palmer-streitet-sich-bei-illner-mit-helmholtz-forscher/25832842.html

QuotePedro_Garcia 10:14 Uhr
Palmer hat sinng. gesagt: Die Hochrisikogruppe in den Pflegeheimen (die ja schon krank und Pflegebedürftig sind), leben im Durchschnitt 11 Monate in solchen Heimen, dann sterben sie.
Man muss diese Menschen gesondert schützen, aber deswegen nicht ein ganzes Land zusperren.
Der Herr Meyer-Hermann sagt, dass nach Obduktionen und Untersuchungen aller Toten, die an Covid gestorbenen noch im Schnitt 9 Jahre Lebenserwartung hatten.
90% der Toten sind Ü80 mit diversen Vorerkrankungen. Wie die noch hätten 9 Jahre Leben sollen, erschließt sich mir nicht.

Natürlich fällt auf, dass die beiden von unterschiedlichen Dingen gesprochen haben. Aufenthaltsdauer in Pflegeheimen bis zum Tod und Gesamtstatistik der an Covid Verstorbenen. Vielleicht haben ja Beide Recht.


Quotenachlese 10:14 Uhr

Herr Palmer liebt "gefühlte" Wahrheit, wenn sie nur seinem "Gefühl" entspricht. ... Sein "Gefühl" könnte aus seiner eigenen Interessenlage stammen, die ihm nur einen ganz bestimmten Blickwinkel bis zu seinem Bauchnabel freigibt.


QuoteMaerkerinderMark 10:06 Uhr

Naja, Palmer hat aber in gewisser Weise recht mit seinem Hinweis auf die "moralisierende Alternativlosigkeit". Es gibt immer eine Alternative zum derzeitigen Handeln und wir müssen beständig darüber diskutieren - es geht in einer Demokratie nicht anders.


QuoteWendelHipler 09:54 Uhr
Hm. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland liegt bei 78,5 Jahren für Männer und 83,3 Jahren für Frauen. Das Durchschnittsalter der mit oder an Corona Gestorbenen ist 81 Jahre. Wie man da auf 9 verlorene Jahre kommt, ist gelinde gesagt rätselhaft.


Quoteford_perfect 10:20 Uhr
Antwort auf den Beitrag von WendelHipler 09:54 Uhr

    Hm. Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland liegt bei 78,5 Jahren für Männer und 83,3 Jahren für Frauen. Das Durchschnittsalter der mit oder an Corona Gestorbenen ist 81 Jahre. Wie man da auf 9 verlorene Jahre kommt, ist gelinde gesagt rätselhaft.

Dass Ihnen das rätselhaft erscheint, das liegt an ihrem unzureichenden Mathematik-Verständnis. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist ein statistischer Wert. Menschen sterben teilweise deutlich früher, oder auch später als mit 78,5 Jahren.


QuoteGEO65 09:38 Uhr

    Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer

Tübingen, 90.546 Einwohner - warum bietet man jetzt einen Kommunalpolitiker eines so kleines Nestes in der Provinz so eine große Bühne? Jeder Bezirk in Berlin ist 3x mal so groß, und  ich wette, kaum ein Berliner kennt alle Bürgermeister!


Quotenachlese 10:21 Uhr
Antwort auf den Beitrag von GEO65 09:38 Uhr

Weil es interessierten (rechten) Kreisen nützt


Quotetizian2011 09:37 Uhr

    Palmer wischte das Argument mit einem "ich halte das für falsch" zur Seite.

Und besser kann man sich selber nicht diskreditieren. Wer die Position von Palmer für irgendwie richtig hält, nach diesen Worten, ist nicht zu überzeugen. Fakten werden einfach für falsch gehalten.


Quotecrossoverhill 09:35 Uhr

Als analytischer Denker hat sich Palmer wahrlich nicht gezeigt. Mehr als allen anderen hat er sich mehrfach selbst widersprochen.
Für den Stammtisch oder für ein Mandat in der AfD würde sein Standing aber genügen.


QuoteHen-Riette 10:00 Uhr
Antwort auf den Beitrag von alterschwede 09:27 Uhr
Ist es denn irgendwie relevant, wie lange ein Mensch noch zu leben hätte? Vor allem auch noch "durchschnittlich"? Und was will man mit diesen Überlegungen rechtfertigen? Doch evtl. ob man diese Menschen dann noch retten soll oder nicht? Zum Wohle der Wirtschaft? ...


QuoteWestpreussen 09:42 Uhr
Antwort auf den Beitrag von daemmi 09:09 Uhr @daemmi

"Wer sich nicht einmal mit Fakten auseinandersetzen möchte, gehört auch in kein TV-Studio mehr."

Stimmt.  :-)


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