Quote[...] Wann fühlt sich ein Orgasmus für Frauen besser an: Wenn sie sich selbst befriedigen oder wenn sie mit einem Mann schlafen? Shere Hite war Anfang 30, als sie mit anderen Feministinnen in New York zusammensaß und diese Frage diskutierte. Das war 1972, Hite engagierte sich da erst seit Kurzem feministisch. Weibliche Sexualität war das große Thema.
Die Frauen konnten sich nicht einigen, ob ein Penis nun wichtig war. Irgendwann schwiegen die meisten von ihnen, dann schlug eine vor, Shere Hite sollte der Frage nachgehen. So erzählte es Hite später in ihrer Autobiografie. Sie hatte für ihre Dissertation ohnehin über weibliche Sexualität forschen wollen, was an der Columbia University in New York nicht ging. Nun tat sie es als Leiterin des Feminist Sexuality Project der National Organization of Women.
Sie verschickte 3.000 Fragebögen an Frauenorganisationen im ganzen Land. "Masturbieren Sie gerne?", fragte sie darin etwa, oder "Täuschen Sie manchmal einen Orgasmus vor?" Hite bekam seitenlange Berichte zurück. Frauen erzählten davon, wie genau sie masturbierten, warum ihnen Sex mit Männern oder mit Frauen wichtig war. Shere Hite veröffentlichte die Antworten 1976 in ihrem Buch The Hite Report: A Nationwide Study of Female Sexuality (auf Deutsch erschien Das sexuelle Erleben der Frau ein Jahr später). Es war eine Studie, wie es sie zuvor nicht gegeben hatte, mehr als 500 Seiten über Sex aus weiblicher Perspektive.
Mit dem Hite-Report hat Shere Hite Frauen eine mächtige Stimme gegeben, die bis heute viele fasziniert. So direkt und offen waren die Berichte. So vielseitig hatten Frauen nie über Sex gesprochen. Manche derer, die auf die Fragebögen antworteten, waren wütend, andere nachdenklich. Ihre Berichte wurden breit diskutiert, ja, über sie wurde gestritten. Das Buch wurde knapp 50 Millionen Mal verkauft. Feministinnen fühlten sich darin bestätigt, dass weibliche Sexualität immer noch weitgehend unterdrückt war. In der feministischen Forschung kommt bis heute niemand daran vorbei. Hites Fragebögen waren ein feministischer Coup.
Der Hite-Report erschien auf dem Höhepunkt des Siebzigerjahre-Feminismus – in den USA auch "Zweite-Welle-Feminismus" genannt. Die "erste Welle" hatte sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem um das Frauenwahlrecht bemüht. In den Siebzigerjahren beschäftigten sich Feministinnen nun ausführlich mit dem weiblichen Körper, mit sexuellen Normen, mit Vergewaltigung, Homosexualität, Pornografie. Die Autorin Erica Jong schrieb Fear of Flying (1973), einen Roman über die sexuellen Fantasien der Protagonistin. Das Buch prägte den Begriff des "zipless fuck", der meint, dass man als Frau auch einfach Bock auf Sex haben kann.
Die Frauen, die Hites Fragebögen ausfüllten, fühlten sich allerdings gar nicht frei. Viele von ihnen hielten die sexuelle Liberalisierung, die die Popkultur und die Mode seit den Sechzigerjahren versprachen, für eine Illusion. Shere Hite zeigte in ihrem Buch genau dies: Wie sehr Vorstellungen von weiblicher Sexualität an alte Mythen gekettet waren. Im Hite-Report geht es vor allem um den des weiblichen Orgasmus.
Sexualforscherinnen und -forscher wie Virginia Johnson und William Masters oder Helen Kaplan hatten bereits in den Sechzigerjahren gezeigt, dass jeder Orgasmus auf die Stimulierung der Klitoris zurückgeht. Die Frauen, die Hite antworteten, unterschieden in ihren Antworten aber selbst immer wieder zwischen einem "klitoralen Orgasmus" ("without a penis inside") und einem "vaginalen Orgasmus" ("with a penis inside"). Nach wie vor herrschte die patriarchale Idee, dass ein Orgasmus während der Penetration mehr bedeuten musste als einer während der Selbstbefriedigung. Auf Hites Fragebögen schrieben die Frauen aber nun: "Mit Penis sind meine Orgasmen leichter, und sie verflüchtigen sich schneller", "schwer zu sagen, aber ich finde einen vaginalen Orgasmus eher verschwommen", "ich spüre weniger". Wenn sie sich selbst befriedigten, schrieben viele Frauen, "ist mein Orgasmus mehr fokussiert", "intensiver", "elektrifizierend".
So sehr die feministische Forschung die Studie beachtete, so sehr verurteilten andererseits vor allem männliche Kritiker Hite dafür. Sie warfen ihr vor, "Ehen zu zerstören", im Playboy nannte man ihr Buch "Hate Report". Vertreter der christlichen Rechten in den USA kritisierten Hite dafür, ihr eigenes "unorthodoxes" Verständnis von Familie zu propagieren.
Shere Hite selbst ist tatsächlich eher unkonventionell aufgewachsen. 1942 wurde sie als Shirley Diana Gregory im US-amerikanischen Bundesstaat Missouri geboren, da war ihre leibliche Mutter 16 Jahre alt. Die trennte sich bald von Shirleys Vater, den Namen Hite bekam die Tochter vom zweiten Mann der Mutter, ihrem Stiefvater, der Shirley adoptierte. Sie selbst nannte sich Shere (ausgesprochen: "share"). Eine Weile lang lebte sie bei ihren Großeltern, später bei einer Tante in Florida. Ihr feministisches Engagement hat Shere Hite selbst einmal darauf zurückgeführt, dass sie "von drei Müttern" großgezogen worden sei.
Immer wieder wurde Shere Hite auch für ihre Forschungsmethode kritisiert. Die Antworten auf den Fragebögen seien "nicht repräsentativ" gewesen, "eine Art Journalismus im Wissenschaftsgewand", hieß es. Es hätten zu wenige Frauen geantwortet und wenn, dann vor allem solche, die in ihrer Ehe unglücklich gewesen seien. Die Fallbeispiele mochten eine bestimmte Perspektive zeigen. Doch was nicht von der Hand zu weisen war: Der Hite-Report zeigte, wie wenig bis dahin über weibliche Sexualität geforscht worden war. Bis heute beruft sich Sexualforschung auf Hite.
Zugleich wurde die Kritik an Hite schon vor gut drei Jahrzehnten zunehmend persönlich. Da hatte sie zwei weitere Bücher veröffentlicht, Hite-Report: Das sexuelle Erleben des Mannes (1982) und Women in Love (1990). Hite erhielt daraufhin Drohbriefe, sah ihre Forschungsfreiheit eingeschränkt. 1989 zog sie mit ihrem deutschen Mann nach Köln, 1995 tauschte sie ihren US-Pass gegen einen deutschen ein. Sie lehrte weiterhin international, zuletzt länger in Paris. Am vergangenen Mittwoch ist Shere Hite im Alter von 77 Jahren gestorben.
Aus: "Die Frau, die Frauen eine mächtige Stimme gab" Sarah Schaschek (13. September 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2020-09/shere-hite-tot-sexualforscherin-feministin-nachruf/seite-2