Quote[...] «Aufklärer», so nennen sie sich gern. Tatsächlich verstehen Verschwörungstheoretiker die Welt bis heute nach einem Modell, das in der Zeit der Aufklärung entwickelt wurde: Was geschieht, geschieht mit Absicht.
Manche Leute haben es gut. Denen ist nichts zu klein, ein Hinweis zu sein. Denen genügt ein Blick in ein Asterix-Heft, um zu merken, dass die Sache mit Corona stinkt. Dass die Seuche in Wahrheit keine Seuche ist, sondern versteckte biologische Kriegsführung. Und dass dahinter Leute stehen, die die Bevölkerung in Europa dezimieren wollen. Oder Leute, die mit dem Impfstoff Kasse machen wollen. Oder Leute, die den Ausnahmezustand nutzen wollen, um die Bürger gefügig zu machen, die Freiheit abzuschaffen, Donald Trump zu stürzen und eine «Neue Weltordnung» durchzusetzen.
Asterix also, Band 37, Asterix in Italien. Start zum «Grossen Transitalischen Wagenrennen» von Monza nach Neapel. In der Arena wird der grösste Wagenlenker der Antike angekündigt, aus zehntausend Kehlen ruft das Publikum den Namen des Champions, der stets eine grinsende goldene Maske trägt: «Coronavirus! Coronavirus! Coronavirus!»
Dabei ist der Band schon 2017 erschienen, lange vor der Pandemie. Und das heisst doch nichts anderes als: Die Krise muss geplant gewesen sein. «Ich konnt's kaum glauben, aber es wurde schon in Asterix angekündigt», erklärte im März auf Youtube Oliver Janich, ein «investigativer Journalist» in Deutschland, der seine über 150 000 Abonnenten indessen nicht mit brisanten Dokumenten bedient, sondern mit Verschwörungstheorien sowie rechtspopulistischen und fremdenfeindlichen Ansichten.
Auch im Milieu der Esoteriker gab es Erleuchtungen wegen Asterix. Leute, die sich sonst an den Maya-Kalender und die Zyklen von Saturn und Pluto halten, um die Gegenwart zu deuten, erkannten im Comic die «Indizien», nach denen es sich bei Covid-19 um eine «Testseuche» beziehungsweise eine «künstliche Biowaffe» handelt, geschaffen von Mächten, die die Unterwerfung der Menschheit planen. Wer diesen Plan sieht, der sieht aber noch mehr. «Finanz- & Wirtschaftskollaps, Einschränkung Bürgerrechte, Bargeldabschaffung, Enteignung, Verstädterung, Verarmung, Verdummung, Überwachung, Chippung, Zwangsimpfungen» (blaupause.tv) – alles hängt mit allem zusammen, und in diesem grossen Ganzen bekommt auch der Name eines Wagenlenkers seine wahre Bedeutung, neben verdächtigen Vorgängen in einem Labor in Wuhan oder Ungereimtheiten in der offiziellen Statistik: «Coronavirus» war eine geheime Botschaft. Oder ein Versehen, mit dem sich die Drahtzieher der gegenwärtigen Ereignisse verraten haben.
Dass der Wagenlenker in der deutschen Ausgabe nicht Coronavirus heisst, sondern Caligarius, dass man Coronaviren schon seit fünfzig Jahren kennt und auch so nennt – es änderte nichts. Sollte es ebenfalls ein Zufall sein, dass Coronavirus im Rennen mit verbotenen Manövern triumphiert? Dass die Show ein korrupter Staatsvertreter finanziert? Und trägt Coronavirus etwa keine Maske? Als Einziger?
2020 scheint diese Art Denken in der Gesellschaft angekommen zu sein. Die Pandemie habe eine «Flut an Verschwörungserzählungen» ausgelöst, diagnostiziert der Spiegel. Die «Lust auf Verschwörungstheorien» habe zugenommen, findet auch der Historiker Norbert Frei. Dass sie «unser Denken bestimmen», stellen die Sozialpsychologin Pia Lamberty und die Bürgerrechtlerin Katharina Nocun schon im Untertitel ihres Sachbuchs fest. Dass der Verschwörungsglaube in dieser Pandemie aufblüht, erklären sie damit, dass er den «Kontrollverlust» kompensieren und den Ungewissheiten eine eigene Version der Wahrheit entgegenhalten könne.
Zwar ist nicht jeder, der sich um seine Existenz oder um die Bürgerrechte sorgt, ein Verschwörungstheoretiker. Aber die «Corona-Rebellen» aller Couleur finden sich in einem tiefen Misstrauen vereint: in der Vorstellung, die Behörden hätten es auf die Freiheit der Bürger abgesehen und Wissenschaft und Medien brächten manches absichtlich nicht zur Sprache. Von hier aus ist es nicht weit zum Glauben an eine Wahrheit hinter den Kulissen. Bill Gates zum Beispiel, der mit Forschungsgeldern Regierungen gekauft und die WHO übernommen haben soll, um internationale Programme für Impfungen und Chip-Implantationen durchzusetzen. Endziel: Weltdiktatur.
Erleben wir also gerade den Durchbruch eines «Wissens», das die hergebrachten Standards von Rationalität ablöst? Endet der gesellschaftliche Minimalkonsens darüber, was als Wahrheit gilt? Oft hat man Verschwörungstheorien als Pathologien gedeutet, als Ausdruck einer Paranoia. Mittlerweile lässt sich die spezifische Art von Rationalität besser verstehen, die diesen Theorien eigen ist. Michael Butter, Tübinger Professor für amerikanische Kultur- und Literaturgeschichte sowie Leiter eines internationalen Forschungsprojekts zum Thema, hat ein Buch über die kulturelle Logik des Verschwörungsdenkens geschrieben, und dafür, dass sich die Erzählungen über ein Corona-Komplott so schnell verbreiteten, hat er eine zusätzliche Erklärung neben dem «Kontrollverlust»: Sie hätten, erklärte er in Interviews, an schon bestehende Ideen angedockt – an Feindbilder wie den Staat, die Industrie, das internationale Kapital, die liberalen Eliten, die Amerikaner, die Chinesen.
Eine Verschwörungstheorie kommt eben selten allein. Zugleich korrigiert der Kulturhistoriker den Eindruck, Corona habe Verschwörungstheorien einen Boom beschert: «Der Konspirationismus ist derzeit nicht einflussreicher als je zuvor.» Man sehe ihn lediglich besser, so Butter. Tatsächlich verbreiten Verschwörungstheoretiker ihre Schöpfungen im Online-Universum einfacher als in Zeiten, da sie noch mit Schreibmaschinen operieren mussten, mit Kopiergeräten, Vorträgen und Büchern aus Klein- und Kleinstverlagen. Zudem müssen sie in den sogenannten sozialen Medien nicht lange nach Kundschaft Ausschau halten: Die «Lügenpresse!»-Rufer sind schon da, und sie sind willens, ihre «alternativen Wahrheiten» laufend um die gerade neueste zu erweitern. Dazu kommt die puzzleförmige «Informationsarchitektur» (Bernhard Pörksen) des Netzes, die für die Produktion von Verschwörungserzählungen wie geschaffen scheint: Hier lässt sich alles mit allem verlinken, jeder Zusammenhang durch einen neuen ersetzen. Schliesslich verschafft ihnen auch der politische Populismus eine Bühne. Doch da, wo sie in einer grösseren Öffentlichkeit auftauchten, dominiere weiterhin «nicht der Glaube an, sondern die Sorge über Verschwörungstheorien», schreibt Butter.
Dass es sie schon in der Antike gab, wie so vieles andere, ist keine grosse Überraschung. Entscheidend ist ein Unterschied zur Gegenwart: In Athen und Rom gehörten sie zur politischen Kultur, sie waren salonfähig. In Versammlungen und in Verhandlungen vor Gericht warfen die Redner ihren Gegnern regelmässig Komplotte und andere finstere Ränke vor. So kamen Athens Rat der Fünfhundert und Philipp II. von Makedonien in den Ruch, im Geheimen die Zerstörung der Demokratie und der Polis zu betreiben. Kein Geringerer als Marcus Tullius Cicero beschuldigte Gaius Verres, den Statthalter der Provinz Sizilien, Sklavenaufstände unterstützt zu haben, die nie stattgefunden hatten. Cicero war im Jahr 70 vor Christus Ankläger in einem Korruptionsprozess gegen Verres, der mit dessen Flucht ins Exil endete. Und damit, dass der Verschwörungstheoretiker Cicero fortan als der bedeutendste römische Redner galt und mit seinen fünfbändigen Reden gegen Verres Literaturgeschichte schrieb.
Das heisst nicht, dass es in der Geschichte keine wirklichen Verschwörungen gegeben hätte. Aber sie waren stets kleiner als die Gespenster der Verschwörungstheoretiker. Dass sich Dutzende Mitwisser an einem Mordkomplott beteiligten wie jenem, dem 44 vor Christus Julius Cäsar zum Opfer fiel, ist schon eine Ausnahme. Die Antike macht schliesslich auch klar, dass Verschwörungstheorien heute mitnichten wieder dort angekommen wären, wo sie damals waren: in der Mitte der Gesellschaft. Die längste Zeit in der Geschichte waren sie offiziell akzeptiert, «es war normal, an sie zu glauben» (Butter). Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden sie stigmatisiert und «aus dem öffentlichen Diskurs in Subkulturen verbannt».
Gewiss, es gibt Donald Trump und seine Neigung, jeden Einwand gegen seine Politik mit einem versteckten Plan feindlicher Mächte zu erklären. Aber gerade der heutige Mann im Weissen Haus macht vor, was sich geändert hat: Die meisten seiner Vorgänger stiessen mit Verschwörungstheorien kaum auf Widerspruch. «Von George Washington bis Dwight D. Eisenhower gibt es vermutlich keinen Präsidenten, der nicht an solche Theorien glaubte», schreibt Michael Butter. Tatsächlich wurden die USA geradezu aus dem Glauben an Verschwörungen geboren: Gründerväter wie Washington, Thomas Jefferson oder John Adams waren überzeugt, dass sich der britische König und seine Minister gegen die nordamerikanischen Kolonien verschworen hätten, um ihre Existenz mit Operationen hinter den Kulissen zu untergraben. Laut Butter war dieser Glaube «ein entscheidender Faktor auf dem Weg zur Amerikanischen Revolution».
Nach der Unabhängigkeitserklärung von 1776 blühte in der jungen Republik dann die Furcht vor einer Intrige der Freimaurer und der Illuminaten; angeblich hatten sie schon die Revolution in Frankreich angezettelt und planten nun weitere Komplotte. Eine Frucht dieser Furcht waren die Alien and Sedition Acts von 1798, ein Paket von Gesetzen, die die Rechte von Ausländern beschnitten und subversive Kritik an der Regierung strafbar machten. Verschwörungstheorien funktionierten als Währung in der Politik, sie liessen sich in Macht ummünzen.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wuchs aus der Vorstellung, Europas katholische Mächte wollten die Werte der USA und ihre Institutionen zersetzen, sogar eine eigene Partei, die sich Native American Party nannte. Bis dahin in antikatholischen Geheimgesellschaften tätig und getrieben vom Glauben, eine päpstliche Armee werde an der Ostküste landen und im Landesinnern einen neuen Vatikan gründen, kämpften die Native Americans gegen die Einwanderung von Katholiken aus Deutschland und Irland. Sie erklärten sie zu Agenten des Papstes, wollten ihre Einbürgerung erschweren und ihre Zulassung zu politischen Ämtern ausschliessen, wobei zur Parteipolitik auch handfeste Gewalt gehörte. Das ist die soziale Leistung von Verschwörungstheorien: Sie erlauben es, Feinde zu identifizieren. Zugleich stiften sie ein Selbstverständnis; sie halten Gruppen zusammen und erheben sie über den Rest der Gesellschaft, wenn nicht der ganzen Welt.
Wie staatstragend Verschwörungstheorien für die USA waren, zeigt die Republikanische Partei. Sie fand ihren Gründungsmythos in einem Komplott namens «Slave Power», einem angeblichen Geheimplan radikaler Befürworter der Sklaverei. 1858 beschuldigte ein republikanischer Politiker in einer seiner Reden die Spitzen des Staats persönlich – den damaligen Präsidenten und dessen Vorgänger sowie den obersten Richter –, eine riesenhafte Verschwörung anzuführen und sämtliche Krisen der letzten Jahre dirigiert zu haben, um ihr geheimes Ziel zu erreichen: überall in den Vereinigten Staaten die Sklaverei einzuführen. Der republikanische Redner hiess Abraham Lincoln, er wurde 1860 zum Präsidenten gewählt.
Verschwörungstheorien sind aber keine amerikanische Erfindung. Im 18. Jahrhundert kommen nicht nur Amerikas vermeintliche Feinde aus Europa: Auch der Konspirationsglaube ist ein Import aus der Alten Welt. Hier hat sich in der Zeit der Aufklärung ein Verständnis der Wirklichkeit entwickelt, das dem Verschwörungsdenken erst seine moderne Schlagkraft gibt. Es geht um die menschliche Handlungsfähigkeit – um die Frage, wer den Lauf der Dinge lenkt, wenn Gott und der Antichrist dafür je länger, je weniger infrage kommen.
Die Naturphilosophen haben bereits eine neue Physik entworfen, in der Ursache und Wirkung mechanisch verbunden sind: Das eine ergibt das andere, so ist die ganze Natur aus sich selbst heraus erklärbar. Nun, im 18. Jahrhundert, übertragen die Moralphilosophen dieses Modell auf die Gesellschaft und den Gang der Geschichte. «So zeigt sich», schreibt David Hume in seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand von 1748, «dass die Verbindung zwischen Motiv und Handeln ebenso regelmässig und gleichförmig ist wie die zwischen Ursache und Wirkung in allen Gebieten der Natur.» Damit erklärt sich auch alles Elend auf der Welt. Es komme nicht aus «fernen Himmeln», so Constantin François Volney 1791: «Es sitzt im Menschen selber, er trägt es in den inneren Winkeln seines Herzens» (Die Ruinen oder Betrachtungen über die Umwälzungen der Reiche).
Das war damals ein bestechendes, «ein neuartiges Denken über Kausalität», nach dem Historiker Gordon Wood. Es schärfte den Verschwörungsglauben, und es liess ihn im 18. Jahrhundert boomen. Stellt man nämlich Intentionen an den Anfang einer jeden «Kette von Ursachen und Wirkungen in menschlichen Angelegenheiten», so Wood, dann kann von jedem Ereignis auf einen Willen oder einen Plan geschlossen werden, und das mit naturwissenschaftlicher Gewissheit und Genauigkeit. Wobei ein Ereignis die Intention auch dann verrät, wenn ein Urheber seine Urheberschaft verbergen will.
So etwas gab es im europäischen Mittelalter nicht. Hier war die Welt noch Gottes Werk und Teufels Beitrag. Das ist auch der Grund, warum man die Vorläufer verschwörungstheoretischen Denkens weniger im Mittelalter findet, sondern eher früher, in der Antike; trotz der mittelalterlichen Verfolgung von Hexen und Juden. Ihnen wurden durchaus geheime Pläne und Pakte vorgeworfen. Aber über allem standen Gott und sein Widersacher: Diese metaphysischen Mächte entschieden über den Gang der Welt, und man brauchte keine verschwörungstheoretische Beweisführung, um das zu wissen.
Erledigte sich mit der neuartigen Mechanik von Ursache und Wirkung nun die Frage der Moral? Im Gegenteil: Ebenso «regelmässig und gleichförmig» (Hume), wie die Wirkung der Ursache entspringt, entspricht das Gute in der Welt einem guten Willen und das Übel einem üblen. Damit war es möglich, Gott aus dem Spiel zu halten und doch darauf zu bestehen, dass die Welt, wenn nicht gut, so doch wenigstens geordnet in der Frage von Gut und Böse sei. Die Zündkraft dieses Denkens zeigte sich umgehend in den grossen politischen Kämpfen jener Zeit: Aufklärer und Gegenaufklärer, Revolutionäre und Konterrevolutionäre beschuldigten sich gegenseitig, die Entwicklung zum Guten mit geheimen Agenden und Agenten zu hintertreiben.
Was geschieht, geschieht absichtlich – so verstehen Verschwörungstheoretiker die Welt bis heute. Die Möglichkeit, dass es in einer Gesellschaft zu Entwicklungen kommt, für die man keine Verantwortlichen findet, liegt diesem Denken fern; genau wie jene, dass menschliches Tun ungeplante Folgen haben kann. Oder dass Leute gegen ihren Willen handeln. Oder ohne Willen. Oder ohne Erfolg. «Menschen machen zwar ihre Geschichte selbst», schreibt der Historiker Dieter Groh, «aber das, was als Geschichte resultiert, ist nicht ihre Geschichte im Sinne dessen, was sie beabsichtigt haben.» Dass Verschwörungstheorien einfache Erklärungen für komplizierte Dinge bieten, hört man oft, aber das ist nur das eine. Das andere hat Groh bemerkt: «Ihre Logik, ihre Kohärenz und ihr Kausalnexus sind der Realität fast immer überlegen.» Der Historiker sieht das Irrationale dieses Denkens gerade darin, dass es von der Wirklichkeit derart viel Rationalität erwartet.
Aus diesem Grund können Verschwörungstheoretiker auch nicht akzeptieren, dass es manchmal nur sehr wenig braucht, um sehr viel anzurichten. Dass zum Beispiel die Kugel eines mässig intelligenten Nobodys den mächtigsten Mann der Welt umbringt, so wie in Dallas am 22. November 1963. Oder dass man nur einige Fluglektionen und ein Teppichmesser braucht, um einen Wolkenkratzer zu fällen, so wie in New York am 11. September 2001. Im Bild der Welt als Uhrwerk, in dem Ursache und Wirkung reibungsfrei ineinandergreifen und perfekt austarierte Proportionen bilden, ist so etwas nicht vorgesehen. Wenn sich die heutigen Verschwörungstheoretiker selber nicht als Verschwörungstheoretiker bezeichnen, sondern als «Querdenker», «Zweifler» oder eben «Aufklärer», dann zu Recht: Sie halten an einem Weltverständnis der Aufklärung fest. Aber die Welt, die die Aufklärer damit verstanden, war jene des 18. Jahrhunderts.
Verschwörungstheorien seien Aberglaube ohne Gott, meinte der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper. Er prägte den Begriff «Verschwörungstheorie», wie er heute gebräuchlich ist, und zwar in seinem Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Geschrieben in Verteidigung liberaler Werte gegen alte und neue Totalitarismen, erscheint es 1945. Aber auch nach dem Krieg regiert in den USA noch immer die Furcht vor einer Übernahme durch getarnte Feinde. Es geht um die kommunistische Unterwanderung des Regierungsapparats, und diese Verschwörungstheorien sind schon im Umlauf, als der republikanische Senator Joseph McCarthy 1950 die Bühne betritt: Sie liefern ihm die Nahrung für die berüchtigte Jagd auf tatsächliche und vermeintliche Kommunisten, für seine Verfemungs- und Verhörkampagnen. Vor der Senatskommission, die er präsidiert, als wäre sie ein Gericht und er zugleich Ankläger und Richter, landen neben Staatsangestellten auch Wissenschafter, Künstler, Journalisten und Immigranten; viele bezahlen den Verdacht der Spionage und der Subversion mit dem Ruin ihres Ansehens, dem Verlust ihrer Stelle oder der Emigration.
Fünf Jahre später, 1955, wird McCarthy als Präsident seiner Kommission entmachtet. Er hat sich mit der Armee angelegt und sogar den Präsidenten, seinen Parteikollegen Dwight D. Eisenhower, als «verkappten Kommunisten» verdächtigt. Er hat seine Macht überschätzt und die Unterstützung der Politik und der Öffentlichkeit verloren. McCarthys Sturz ist aber auch ein Zeichen – dafür, dass sich das Klima für Verschwörungstheorien ändert. Konspirationismus gilt schon bald als minderwertiges Wissen, so dass es für staatliches Handeln nicht mehr taugt. Dahinter steht die Erfahrung mit Deutschland, wo das Phantasma der «jüdischen Weltverschwörung» in den Holocaust geführt hat. In den USA kommen die Anstrengungen der sozialwissenschaftlichen Forschung dazu. Zunächst motiviert von den totalitären Entwicklungen in Europa, dann auch von der Kommunistenjagd im eigenen Land, problematisieren die Sozialforscher das verschwörungstheoretische Denken. Und sie können diese Kritik einer breiten Öffentlichkeit vermitteln.
Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs merkt man davon nicht viel. Es ist Ende Mai 1950, und in der DDR berichten die Zeitungen über einen «ungeheuerlichen verbrecherischen Anschlag». Schon seit Tagen sollen Bauern und Strassenwärtern Flugzeuge abseits der gewohnten Routen aufgefallen sein. Jeweils kurz darauf wimmelte es von Kartoffelkäfern auf den Äckern. Man kennt den Schädling, aber so früh im Jahr, so massenhaft und plötzlich hat man ihn noch nie gesehen. Einen halben Monat später wird die Wahrheit enthüllt. «Ausserordentliche Kommission stellt fest: USA-Flugzeuge warfen grosse Mengen Kartoffelkäfer ab», meldet das Neue Deutschland, das Zentralorgan der Staatspartei. Die amerikanischen «Imperialisten» und «Kriegstreiber» wollten die Ernten der Republik vernichten, verkündet ein anderes Blatt; darum hätten sie zu «Methoden bakteriologischer Kriegsführung» gegriffen.
Haben sie wirklich? Die Bevölkerung der DDR habe es geglaubt, erklären die Journalisten Lars-Broder Keil und Sven Felix Kellerhoff in ihrer Recherche über die Kartoffelkäferplage von 1950. Das verbreitete Misstrauen gegenüber den USA habe sich noch verstärkt, als der Koreakrieg die amerikanische Skrupellosigkeit zu bestätigen schien. Real ist auf jeden Fall die Kampagne, die auf die Enthüllung folgt. Mit Plakaten und Broschüren rufen die Behörden zum «Kampf gegen die Pest aus den USA»: Die Bevölkerung soll den Bauern helfen, die Käfer und ihre Gelege von den Feldern zu holen. Denn die Plage ist real, und das «in einer Phase, in der die Versorgungslage schon denkbar schlecht war», so Keil und Kellerhoff. Dass dahinter hausgemachte Probleme standen, belegen interne Papiere aus dem Landwirtschaftsministerium der DDR. Die Beamten stellten fest, man habe das Kartoffelkäferproblem seit 1945 vernachlässigt. Der «Abwehrdienst» sei unorganisiert, und es fehle an Chemie.
Daher das Märchen mit den US-Flugzeugen. «Die Führung wollte wohl vom Versagen bei der Bekämpfung des Kartoffelkäfers ablenken und die Bevölkerung zugleich für das Sammeln der Schädlinge mobilisieren», schreiben Keil und Kellerhoff. Dazu kam die Chance, die USA in Verruf zu bringen. Nach den beiden Autoren war die Verschwörungstheorie aus dem Parteiapparat ein Erfolg – bei den Bürgern, aber auch bei Bertolt Brecht, der sie umgehend literarisch segnete, und zwar mit seinem Gedicht Für den Frieden: «Die Ami-Käfer fliegen / silbrig im Himmelszelt / Kartoffelkäfer liegen / in deutschem Feld.»
Noch wisse die Forschung wenig Genaues über den gesellschaftlichen Abstieg der Verschwörungstheorien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, merkt Michael Butter an. Sicher sei, dass diese Entwicklung überall in der westlichen Welt stattgefunden habe – aber «nicht im gleichen Mass» in der arabischen Welt und in Osteuropa. Dort ist dieses Denken nie ganz aus der Mode gekommen, und so griff man auch in Russland vor kurzem wieder in den alten Werkzeugkasten, nach dem Anschlag auf den Oppositionspolitiker Alexei Nawalny. Während es mancher im Westen für erwiesen hält, dass die Spur des Nervengifts in den Kreml führt, sprechen regierungsnahe russische Politiker und Medien von einer anderen, viel geheimeren Agenda: Vor seiner Abreise in den Westen sei Nawalny gesund gewesen, der Befund der Ärzte in Berlin sei politisch motiviert. Dahinter stünden womöglich die USA, weil sie die Fertigstellung der Pipeline «Nord Stream 2» durch die Ostsee verhindern wollten.
Verschwörungstheorien gibt es zwar auch im Westen noch, aber seit ihrem Abstieg sind sie nicht mehr die gleichen: Ihre Stossrichtung hat sich umgekehrt. Bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts waren sie in aller Regel von gesellschaftlichen Eliten vertreten worden, und sie hatten sich gegen fremde Mächte gerichtet, ebenso gegen Zuwanderer, Andersgläubige, Schwache, «vermeintliche Aufrührer von unten» (Butter). Fortan sollte es umgekehrt sein: Gruppen, die sich marginalisiert sahen, übernahmen das stigmatisierte Deutungsmuster, richteten es nach oben und unterstellten den Eliten finstere Ränke.
Darum sind es «höchste Stellen» in Staat, Justiz, Kirche oder Konzernen, die hinter dem Mord an John F. Kennedy oder dem 11. September stehen und verhindern wollen, dass wir die Wahrheit über die Kondensstreifen am Himmel erfahren, die Mondlandung, das Impfen oder 5G. Es sind Brüssel und Berlin, die in den Augen rechtsextremer Verschwörungstheoretiker die Europäer ausrotten wollen, um hier fremde Kulturen anzusiedeln. Die christlichen Fundamentalisten um den Sektenprediger Ivo Sasek sehen die «globalistische Elite» sogar am Gotthard-Basistunnel in Aktion, bei der Einweihungsfeier im Sommer 2016, wo sie «unter dem «Deckmantel der Kunst satanische Rituale gezielt gefördert» habe.
In der Hand von Regierungen, zumal demokratischen, ist ein solches Denken nicht mehr glaubwürdig. Das erfuhr der Bundesrat, als er in den 1960er Jahren eine Verschwörungstheorie für den Volksgebrauch entwickeln liess. Es geht um Zivilverteidigung, das berüchtigte rote Büchlein, das im Kalten Krieg den Widerstand gegen den Kommunismus stärken soll (NZZ Geschichte Nr. 23, Juli 2019). Doch als es im Oktober 1969 schliesslich in einer Auflage von 2,6 Millionen Exemplaren verteilt wird, eines für jeden Haushalt, ruft es vor allem Widerstand gegen den Bundesrat hervor.
Zivilverteidigung wird zum Skandal, weil diese Lehrschrift alles politische Denken links der Mitte einem Verdacht aussetzt: dem Feind im Osten zu dienen, der die Schweiz per Verschwörung vom Kurs abbringen und schliesslich unterwerfen will. Namentlich Intellektuelle und Künstler finden sich als mögliche Wühler und Konspirateure diffamiert, ebenso Gewerkschafter, Gastarbeiter, Feministinnen, Separatisten und Homosexuelle. Diese Verschwörungstheorie kommt von oben; dass damit 1969 kein Staat mehr zu machen ist, zeigen in jenem Herbst die Proteste in Politik und Medien. Und die Altpapiersammlungen, in denen das Büchlein reihenweise landet.
Im Osten geht die staatliche Fabrikation von Verschwörungstheorien dagegen weiter. Mitte der 1980er Jahre bringt womöglich der KGB eine Lüge in Umlauf, die sich als ebenso langlebig wie folgenschwer erweisen wird. Sie handelt von Aids, und sie besagt, dass das Pentagon die Seuche losgelassen habe. Auf der Suche nach biologischen Kampfstoffen hätten amerikanische Militärs das Virus in Afrika entdeckt, in die USA gebracht und freigesetzt. HIV als Geheimwaffe des Westens – diese Verschwörungserzählung führte dazu, dass Aids auch noch im postsowjetischen Russland als «kapitalistische Krankheit» verstanden und, wo sie die eigenen Leute betraf, verschwiegen wurde. Die Zahl neuer Ansteckungen in Russland und in der Ukraine ist bis heute aussergewöhnlich hoch.
Wie diese Desinformation verbreitet wurde, illustrieren die Geschehnisse auf der Redaktion der Westberliner TAZ im Februar 1987. Damals bekam die Zeitung ein Interview mit einem Ostberliner Biologen angeboten und gab ihm eine ganze Doppelseite Platz für eine weitere Version des Biowaffenmärchens: Das HI-Virus sei nicht in Afrika gefunden, sondern im US-Militärlabor Fort Detrick gentechnisch produziert worden – durch die Kombination zweier bekannter Viren. Zur Therapie empfahl der Experte lediglich hohe Dosen Aspirin. Mehrere Blätter in der BRD hatten das Interview schon abgelehnt. Die TAZ, die die Verschwörungstheorie schliesslich in die bundesdeutsche Öffentlichkeit brachte und heute zu ihrer «Schuld an der Verbreitung von Fake-News» steht, erklärt sich deren «Plausibilität» mit dem damaligen Feindbild: Das «Unbehagen an den USA schlechthin» sei zur Zeit des Kalten Kriegs in alternativen und linken Kreisen verbreitet gewesen. Man mag derzeit einen anderen Eindruck bekommen, aber Verschwörungstheorien verfangen nicht nur rechts.
Gefährden sie die Demokratie? Die Gesundheit auf jeden Fall, wie Aids im Osten und jetzt auch Covid-19 zeigen: Wer an eine «Corona-Lüge» glaubt, steckt sich und andere eher an. «Eine gemeinschaftliche Reaktion auf eine Herausforderung setzt voraus, dass man sich als Gemeinschaft begreift und bereit ist, Dinge zu tun oder zu lassen, die ganz überwiegend anderen helfen», erklärt der Medizinhistoriker Christoph Gradmann (NZZ Geschichte Nr. 29, Juli 2020).
Genau daher rührt auch Michael Butters Sorge. Selbst wenn wir gerade keine Renaissance der Verschwörungstheorien erleben: Sie seien ein besonders auffälliges Symptom der «Fragmentierung der Gesellschaft». Die verläuft nach Butter weniger entlang ideologischer Linien, sondern entlang unterschiedlicher Annahmen darüber, wie Geschichte und Gesellschaft funktionieren. Kaum jemand wird darüber klagen, dass man sich im Westen die Welt gemeinhin nicht mehr mit Komplotten erklärt. Dass dieses Denken in Subkulturen verdrängt wurde, hat aber zugleich schon früh zur Bildung jener problematischen «Teilöffentlichkeiten» beigetragen, die sich im digitalen Zeitalter erst recht vermehren. «Wenn Gesellschaften sich nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist», schreibt Butter, «können sie auch die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts nicht meistern.»
Wahr ist wenigstens, und zwar für alle, die den Asterix-Band zu Ende lesen: Coronavirus verliert, Obelix gewinnt.
Aus: "Die Abschaffung des Zufalls" Daniel Di Falco (01.10.2020)
Quelle: https://www.nzz.ch/geschichte/die-abschaffung-des-zufalls-ld.1576709