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REALITY.SERVICES [REALITAETS.DIENSTE] => Erweiterter Machtdiskurs (Politik) => Topic started by: Link on July 10, 2012, 09:20:58 AM

Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on July 10, 2012, 09:20:58 AM
QuoteFlatearthler10000 #44 -    Ah, die typisch deutsche Neidkeule wird wieder ausgepackt.
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    Klacksklacks #44.1  -  Nicht jede Kritik die Sie nicht verstehen gründet auf Neid.

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Quote... Das größte Problem am Kapitalismus ist, dass er für einige Leute fantastisch ist und für alle anderen fürchterlich. ... ( Michael Hardt ('"Der Kapitalismus ist so untot wie ein Zombie", zeit.de'),  27. Juli 2013)


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Thomas Piketty im Gespräch über Ungleichheit und Kapitalismus | Sternstunde Philosophie | SRF Kultur
Was ist so schlimm an Ungleichheit? Ist sie der wahre Grund für die Krise der Demokratien? Ökonom Thomas Piketty im Gespräch mit Yves Bossart über Kapitalismus und Demokratie.
https://youtu.be/8WderB3_kuA (https://youtu.be/8WderB3_kuA)

Quote@lehabine4778

Interessanter und lehrreicher Beitrag!


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QuoteFriederike Habermann:  ...Die scheinbare Natürlichkeit der kapitalistischen Logik allein durch die Erfahrung aufzubrechen, dass es auch anders geht. Wenn wir es als Selbstverständlichkeit leben, beizutragen statt zu tauschen, zu teilen statt zu kaufen, wird uns niemand mehr erzählen können, dass die Tatsache, dass 100.000 Menschen am Tag verhungern, leider nicht zu ändern wäre. Oder dass wir nur etwas Wert sind, wenn wir imstande sind, uns zu verwerten. ...
Aus: "Utopischer Überschuss" Juliane Schumacher / Jürgen Weber (20.06.2009)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/utopischer-uberschuss (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/utopischer-uberschuss)

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QuoteThe Rules of Acquisition, in the fictional Star Trek universe, are a set of guidelines intended to ensure the profitability of businesses owned by members of the ultra-capitalist alien race known as Ferengi. ... The first rule was made by Gint, the first Grand Nagus of the Ferengi Alliance, a role with political, economic, and even quasi-religious duties. The title of "Rules of Acquisition" was chosen as a clever marketing ploy (since the rules are merely guidelines) and Gint numbered his first rule as #162, in order to create a demand for the other 161 Rules that had yet to be written. The Rules were said to be divinely inspired and sacred (thus furthering the original marketing ploy). ...
http://en.wikipedia.org/wiki/Rules_of_Acquisition


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QuoteKapitalismus bezeichnet zum einen eine spezifische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, zum anderen eine Epoche der Wirtschaftsgeschichte. Die zentralen Merkmale sind in Anbetracht des historischen Wandels und der zahlreichen Kapitalismusdefinitionen sowie weltanschaulicher Unterschiede umstritten. Allgemein begreift man Kapitalismus als eine Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die auf Privateigentum an den Produktionsmitteln und einer Steuerung von Produktion und Konsum über den Markt beruht. Als weitere Merkmale werden genannt: die Akkumulation und das ,,Streben nach Gewinn im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb". Als Epoche der Wirtschaftsgeschichte versteht man unter Kapitalismus eine wirtschaftsgeschichtliche Periode, die auf die Epochen des Feudalismus und des Merkantilismus folgte und heute noch andauert. ...
http://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalismus | http://de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Kapitalismus


QuoteAls Kapitalismuskritik werden Ansichten und Theorien bezeichnet, die mit der Industrialisierung aufgekommene Wirtschaftsordnung, die auf Privateigentum, Marktwirtschaft, Kapitalakkumulation, abhängiger Lohnarbeit und dem individuellen Gewinnstreben beruhen, grundsätzlich oder in einzelnen Aspekten kritisieren. Kaum anders als der Kapitalismus selbst hat die Kapitalismuskritik eine mittlerweile mehr als 200jährige Geschichte. Die Kritik äußert sich an einzelnen Elementen des Kapitalismus wie Geld- und Zinswirtschaft, Privateigentum an Produktionsmitteln und Profitmaximierung sowie den ihnen zugeschriebenen Konsequenzen wie Ausbeutung und Verelendung der arbeitenden Klasse. Häufig hält sie den Kapitalismus und die ihm zugerechneten Herrschaftsverhältnisse für prinzipiell unreformierbar...
http://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalismuskritik


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"Wealth Inequality in America" (politizane, 20.11.2012)
Infographics on the distribution of wealth in America, highlighting both the inequality and the difference between our perception of inequality and the actual numbers. The reality is often not what we think it is. ...
https://www.youtube.com/watch?v=QPKKQnijnsM&feature=youtu.be

QuoteWafflewaltzvor 5 Monaten
If you're not a member of the uppermost percentile range and you dislike this video, you've simply been brainwashed against your own interests and are making things worse for the rest of us. It's amazing how hostile some people who don't have a pot to piss in themselves get when you even bring up the topic of taxing the rich. I'd like to think that the internet is changing the paradigm involving misinformation for the better, but god damn... some comments you just can't unread.�


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Kapitalismus made in USA - Reichtum als Kult (1/3) | Doku HD | ARTE
Die USA waren schon vor 120 Jahren ein Paradies für Millionäre: Unternehmer wie John D. Rockefeller häuften ohne nennenswerte Steuerpflicht enorme Vermögen an. Gegen die Ausbeutung der Arbeiter bildete sich eine progressive Bewegung. Der Einfluss der Superreichen auf die Politik erschwerte jedoch soziale Fortschritte. Der Konflikt spitzte sich immer weiter zu.
Kapitalismus basierte auch in den USA von Anfang an auf individuellem Profit und unternehmerischer Freiheit. Ein Großteil des Reichtums ist in einem solchen System häufig nur unter wenigen Nutznießern aufgeteilt. Um zumindest etwas zu regulieren, wurden auch dort schließlich Aufsichtsgremien geschaffen, Monopole verboten und Reiche besteuert. Seit etwa 40 Jahren läuft der US-amerikanische Kapitalismus jedoch mehr und mehr aus dem Ruder. In sämtlichen Branchen haben sich sehr wohl Monopole herausgebildet, 722 Milliardäre und 22 Millionen Millionäre zahlen ganz legal weniger Steuern als ihre Angestellten. Die USA waren bereits vor 120 Jahren ein Paradies für Millionäre. Es gab keine gesetzlichen Regelungen, und so konnte John D. Rockefeller, der erste Milliardär der Weltgeschichte, völlig ungehindert ein Ölimperium aufbauen. Der Stahlmagnat Andrew Carnegie rechtfertigte seine massive Anhäufung von Reichtum mit Philanthropie und seinen Spenden für ausgewählte Projekte. Der Banker J. P. Morgan wiederum fungierte in Eigenregie als Zentralbank der Vereinigten Staaten. Die Demokratie wurde von den Millionären beherrscht und ermöglichte so den Fortbestand einer der rücksichtslosesten Formen des Kapitalismus. Zur gleichen Zeit bemühte sich eine progressive Strömung darum, das Land aus den Fängen der Superreichen zu befreien und Rockefellers Monopol wurde trotz seines erbitterten Widerstands zerschlagen. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs wurde die Kinderarbeit verboten und eine Reichensteuer eingeführt. Doch Spendengelder waren davon ausgeschlossen und wurden zum Steuerschlupfloch der Millionäre. Der amerikanische Kapitalismus entwickelte sich weiter: Das Ludlow-Massaker bedeutete das Ende blutiger Streikniederschlagungen. Henry Ford folgte dem Beispiel eines New Yorker Schuhherstellers und zahlte seinen Arbeitern das Doppelte des damaligen Durchschnittsgehalts. Die Folge war eine gesteigerte Produktivität seines Unternehmens. In Tennessee eröffnete ein Lebensmittelhändler den ersten Selbstbedienungsladen und legte den Grundstein für die heutigen Supermärkte. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs übernahmen die Millionäre jedoch zunächst wieder die Kontrolle über ihr Paradies.
Dokureihe von Cédric Tourbe und Romain Huret (F 2020, 58 Min)
https://youtu.be/r0kMX_yfH3M (https://youtu.be/r0kMX_yfH3M)

Kapitalismus made in USA - Reichtum als Kult | ARTE (Playlist)
https://www.youtube.com/playlist?list=PLlQWnS27jXh-gl1Lhg9qQ6oKFpaeG9TSX (https://www.youtube.com/playlist?list=PLlQWnS27jXh-gl1Lhg9qQ6oKFpaeG9TSX)

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Kontext: "[Menschen in Schichten und Klassen... ]" (Bruchtückhafte Textsammlung im Laser #17)
https://www.subf.net/forum/index.php/topic,268.0.html (https://www.subf.net/forum/index.php/topic,268.0.html)

Title: Kapitalismus
Post by: Link on July 10, 2012, 09:30:23 AM
QuoteDer Manchesterliberalismus bzw. der Manchesterkapitalismus, das Manchestertum oder die Manchesterschule bezeichnet eine politische Strömung und Freihandelsbewegung in Großbritannien im 19. Jahrhundert, die in der Stadt Manchester ihren Ausgang nahm. Die bedeutendsten Vertreter des Manchesterliberalismus waren die Engländer Richard Cobden und John Bright sowie der Franzose Frédéric Bastiat. In Deutschland wurden manchesterliberale Positionen von der Deutschen Fortschrittspartei (Hermann Schulze-Delitzsch, Eugen Richter) und vom linken Flügel der Nationalliberalen (Ludwig Bamberger, John Prince-Smith) sowie deren Nachfolgeorganisationen (Liberale Vereinigung, Deutsche Freisinnige Partei, Freisinnige Volkspartei, Freisinnige Vereinigung) vertreten. ... Der Ausdruck Manchesterliberalismus bezeichnet heute vielfach eine Politik, die so weit wie möglich auf den Markt vertraut, und damit eine Extremform des wirtschaftlichen Liberalismus. Seit dem 19. Jahrhundert wird er von Konservativen und Sozialdemokraten auch als Kampfbegriff gegen ihre liberalen Gegner benutzt. ...
http://de.wikipedia.org/wiki/Manchesterliberalismus

Quote
Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus ist ein Werk von Max Weber, das zuerst in Form eines zweiteiligen Aufsatzes im November 1904 und Frühjahr 1905 im Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, Bd. XX und XXI erschien, und das 1920 in überarbeiteter Fassung veröffentlicht wurde. Es zählt neben Webers Schrift Wirtschaft und Gesellschaft zu seinen international wichtigsten Beiträgen zur Soziologie und ist ein grundlegendes Werk der Religionssoziologie. Zwischen der protestantischen Ethik und dem Beginn der Industrialisierung bzw. des Kapitalismus in Westeuropa besteht nach diesem Werk ein enger Zusammenhang. Die Kompatibilität (,,Wahlverwandtschaften") der Ethik oder religiösen Weltanschauung der Protestanten, insbesondere der Calvinisten, und dem kapitalistischen Prinzip der Akkumulation von Kapital und Reinvestition von Gewinnen waren ein idealer Hintergrund für die Industrialisierung. ...
http://de.wikipedia.org/wiki/Die_protestantische_Ethik_und_der_Geist_des_Kapitalismus

QuoteKapitalismus, Sozialismus und Demokratie ist ein 1942 veröffentlichtes Werk von Joseph Schumpeter. Es gehört zu den Klassikern der politischen Ökonomie ...
http://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalismus,_Sozialismus_und_Demokratie


http://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalismusmodelle

http://de.wikipedia.org/wiki/Rheinischer_Kapitalismus


http://de.wikipedia.org/wiki/Kasino-Kapitalismus


QuoteDas Schwarzbuch Kapitalismus (Untertitel: Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft) ist eine 1999 erschienene Monographie von Robert Kurz, die sich kritisch mit der Geschichte und der Zukunft des Kapitalismus auseinandersetzt. Es gilt als das Hauptwerk des der Wertkritik zuzurechnenden Autors und löste eine Debatte über die vorgenommene Beschreibung der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus, seine Gegenwartsdiagnose sowie über die Folgen der Kritik an den herrschenden Verhältnissen aus. ...
http://de.wikipedia.org/wiki/Schwarzbuch_Kapitalismus

Quote
Mit der Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie hat Karl Marx im Jahr 1859 erstmals eine ausgearbeitete Form seiner Theorie der kapitalistischen Produktionsweise veröffentlicht, die er und Engels in den 3 Bänden Das Kapital, erschienen 1867, 1885 und 1894, später ausführlich darstellten. ...
http://de.wikipedia.org/wiki/Zur_Kritik_der_politischen_%C3%96konomie

QuoteDas Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, eines der Hauptwerke von Karl Marx, ist eine Analyse und Kritik der kapitalistischen Gesellschaft mit weitreichenden Wirkungen in der Arbeiterbewegung und der Geschichte des 20. Jahrhunderts....
http://de.wikipedia.org/wiki/Das_Kapital


QuoteKapitalismus, Sozialismus und Demokratie ist ein 1942 veröffentlichtes Werk von Joseph Schumpeter. Es gehört zu den Klassikern der politischen Ökonomie und wurde in 20 Sprachen übersetzt. Sein Kern ist die Analyse des Kapitalismus, seiner Errungenschaften und Zukunftsaussichten. Schumpeter zieht hierzu historische, sozialpsychologische und politische Aspekte heran. Besonders bekannt geworden ist der Begriff der schöpferischen Zerstörung, der im siebten Kapitel des Werkes als Kernelement der kapitalistischen Wirtschaft entwickelt wird.
Schumpeter würdigt geradezu enthusiastisch die historischen Erfolge des Kapitalismus. Dennoch werde der Kapitalismus eines Tages zu Grunde gehen, und zwar nicht auf Grund wirtschaftlicher Fehlschläge und auch nicht infolge einer gewaltsamen Revolution, wie Karl Marx es angenommen hat, sondern paradoxerweise auf Grund seiner Erfolge, die Bedingungen schaffen, unter denen das System nicht überleben kann und die zwangsläufig einen Übergang zum Sozialismus zur Folge haben werden. Schumpeter beginnt sein Werk mit einer Analyse der marxistischen Wirtschaftstheorie. Man kann Schumpeter als ,,kritischen Bewunderer" Karl Marx' ansehen, der dessen Leistungen stärker würdigt, als es unter Ökonomen des 20. Jahrhunderts üblich ist, aber dessen Schwachpunkte trotzdem kritisiert. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalismus,_Sozialismus_und_Demokratie (https://de.wikipedia.org/wiki/Kapitalismus,_Sozialismus_und_Demokratie)
Title: Kapitalismus
Post by: Link on May 03, 2016, 07:57:16 AM
"What the 1% Don't Want You to Know" (2014)
Economist Paul Krugman explains how the United States is becoming an oligarchy - the very system our founders revolted against.
https://youtu.be/QzQYA9Qjsi0

How Class Works -- by Richard Wolff (2014)
https://www.youtube.com/watch?v=euH3pAuLuko

ARD: Die Story im Ersten - Milliarden für Millionäre 15.02.2016
https://www.youtube.com/watch?v=YEUok276phM

Infografiken
So funktionierten die "Cum-Ex"-Geschäfte
https://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/cum-ex-deals102.html

Unter Dividendenstripping wird börsentechnisch die Kombination aus dem Verkauf einer Aktie kurz vor dem Dividendentermin und Rückkauf derselben Aktie kurz nach dem Dividendentermin verstanden. Ist der Verkäufer bei einem Verkauf kurz vor dem Dividendenstichtag (noch) nicht Eigentümer der Aktie (Leerverkäufer) und wird die Aktie kurz nach dem Dividendenstichtag geliefert, spricht man auch von Cum/Ex-Geschäften oder Cum-ex-Trade. Bei Cum/Ex-Geschäften kam es in der Vergangenheit in großem Umfang zu bewusst herbeigeführter mehrfacher Erstattung von nur ein Mal abgeführter Kapitalertragssteuer. Ob hierbei der Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt wurde oder eine legale Steuergestaltung genutzt wurde, ist umstritten. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Dividendenstripping

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"Cum/Cum-Geschäft Deutsche Banken bringen Fiskus um Milliarden" (03. Mai 2016)
Medienberichten zufolge kosten die Steuertricks deutscher Banken den Fiskus Milliarden. Besonders aktiv soll die Commerzbank sein, die noch zu 15 Prozent in staatlichem Besitz ist. ... Deutsche Banken haben den Fiskus Medienberichten zufolge im Auftrag ausländischer Investoren um mehr als eine Milliarde Euro pro Jahr gebracht. Besonders aktiv sei dabei die Commerzbank gewesen, die zu 15 Prozent in staatlichem Besitz ist, berichteten der Bayerische Rundfunk und das "Handelsblatt" am Montag. Sie beriefen sich auf vertrauliche Unterlagen, die sie mit dem New Yorker Recherchebüro ProPublica und der "Washington Post" auswerten.
Den Berichten zufolge bedienten sich die Banken und ihre ausländischen Partner eines Steuertricks, der im Branchenjargon Cum/Cum-Geschäft genannt wird: Kurz vor der Auszahlung der Dividende verleihen ausländische Aktionäre ihre deutschen Aktien an inländische Banken. Versteuert werden muss die Dividende von allen Aktionären, doch inländische erhalten für die volle Summe eine Gutschrift, ausländische nur für einen Teil davon. Dank des Leihgeschäfts muss der Fiskus mehr Steuern zurückerstatten als beabsichtigt.
Die Tricks seien so beliebt, dass das Volumen verliehener Aktien deutscher Unternehmen in den letzten drei Wochen vor einem Dividendenstichtag um bis zu 800 Prozent anschwelle, berichtet das "Handelsblatt". ...

http://www.fr-online.de/wirtschaft/cum-cum-geschaeft-deutsche-banken-bringen-fiskus-um-milliarden,1472780,34180372.html


Ein Cum/Cum-Geschäft bzw. Cum-Cum-Geschäft (von lateinisch cum = dt. mit; bezeichnet hier Wertpapiere mit Dividenenausschüttungsanspruch) oder Dividenden-Arbitrage ist eine steuerrechtlich problematische Kombination aus dem Verkauf einer Aktie kurz vor dem Dividendentermin und Rückkauf derselben Aktie kurz nach dem Dividendentermin. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Cum/Cum-Gesch%C3%A4ft
Title: Kapitalismus
Post by: Link on June 02, 2016, 12:33:43 PM
"Kapitalismus? Nein, danke"  Thorsten Schröder, New York  (2. Juni 2016)
Während für die Generation des Kalten Krieges der amerikanische Kapitalismus vor allem das Gegenmodell zur Sowjetunion und totalitären Regimen darstellte, sei er für die heutige Generation synonym mit der Gier der Finanzwelt, von deren Folgen sich die Welt bis heute erhole. "Für die Millennials steht Kapitalismus nicht mehr für Wettbewerbsfähigkeit, sondern für einen VW-Konzern, der seine Abgaswerte manipuliert oder Pharma-Spekulanten, die die Preise für lebenswichtige Medikamente in die Höhe treiben", sagt auch Steffen Schmidt, Politikwissenschaftler an der Iowa State University.
Was dieser Kapitalismus anrichten kann, haben sie im eigenen Lebenslauf gesehen. Zwar waren etwa auch in der Vergangenheit die Kosten für eine College-Ausbildung hoch, doch die Aussicht auf eine schnelle Karriere nach dem Abschluss relativierte die Schulden, die viele dafür machen mussten. Heute ist das anders. Wer 2014 seinen Abschluss machte, der hatte im Schnitt 28.950 Dollar an Schulden – der höchste Wert, der je erfasst wurde. Insgesamt sitzen die Amerikaner auf 1,2 Billionen Dollar Kreditschulden. Viele von ihnen zahlen sie noch Jahrzehnte nach der Ausbildung ab, weil der gut dotierte Traumjob auf sich warten lässt und das alte Versprechen nicht mehr gilt. ... Betroffen sind nicht nur die hochverschuldeten College-Absolventen. Gemessen an der Inflation sind die Löhne für junge Menschen mit und ohne College-Abschluss in den vergangenen 16 Jahren um 34 Prozent eingebrochen. Hatten 1960 noch 84 Prozent von ihnen einen Job, sind es heute nur noch 71 Prozent. "Amerika muss aufpassen, dass es die Gültigkeit und Berechtigung des kapitalistischen Systems nicht vollkommen verspielt", sagt deshalb Steffen Schmidt. Bernie Sanders hämmere nur den letzten Nagel in ein durch Gier getriebenes System, das für die jungen Amerikaner längst tot sei. ... Die Systemmüdigkeit bekommen die großen Parteien zu spüren. Schon in der letzten Wahl stimmte gerade ein Fünftel der Jungwähler ab, der Rest blieb zu Hause, weil er sich in den Programmen nicht wiederfand. Und auch jetzt begeistern sie sich für den bis dato kaum bekannten demokratischen Sozialisten, nicht für die erfahrene Außenministerin und Favoritin der Partei. Viele Sanders-Unterstützer haben sich gar verpflichtet, lieber die Kandidatin der Green Party zu wählen als zu Clinton umzuschwenken, sollte diese die Nominierung erhalten. Auf der anderen Seite ziehe es die jungen Wähler vor allem aus der Arbeiterschicht ausgerechnet zu Trump, "obwohl keiner die Gier der Oligarchie mehr verkörpert als er", sagt Schmidt. ...

http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-06/kapitalismuskritik-usa-parteien-berechtigung-millenials-bernie-sanders

QuoteFrl.Clarissa #3

Den Kapitalismus in seinem Lauf, halten weder Umfragen noch Bernie Sandes auf.
Kapitalismus ist die Umsetzung unseres genetischen Programms, das uns die Erde Untertan gemacht hat und uns als Spezies selbst eliminieren wird.
Sandes hätte gegen Trump keine Chance.


QuoteJ-M #3.3

Biologisten sind mir die liebsten unter den Sophisten. Niemand sonst versucht seinen eigenen Zynismus mit so viel Selbstgerechtigkeit zu vertreten und macht sich intellektuell dabei so lächerlich.

Lesen Sie doch mal das hier:
Biologismus - Folge einer Illusion
von Manfred Velden

https://books.google.de/books?id=97R9CqLqDEEC&printsec=frontcover&dq=biologismus&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwiY-9XR2YjNAhUDXBoKHWjsCLgQ6AEILTAB#v=onepage&q=biologismus&f=false


QuoteSchnorg-der-Grosse #3.5

Das ist sehr wahr. Kapitalismus ist unsere Natur.


QuoteWilliams Anti-Christ #3.9

"Das ist sehr wahr. Kapitalismus ist unsere Natur."

Nur die der primitiveren unter uns.
Also derjenigen, die auch weder Ironie noch Sarkasmus verstehen.


QuoteFrl.Clarissa #3.12

Ist der Feudalismus nicht ein Vorläufer des Kapitalismus und ist der unkontrollierte Kapitalismus für die abhängigen Menschen nicht eine Variation des Feudalismus. In beiden Fällen besteht ein extremes Gefälle an persönlicher Freiheit und Möglichkeiten, Wohlstand und Macht. In beiden Fällen gibt es wenige Mächtige/Reiche die quasi sakrosankt sind und viel Abhängige bis Arme die wenig bis keine Rechte haben. Wir glauben den Feudalismus überwunden zu haben und entwickeln uns doch zurück oder weiter zu einem globalen Feudalsystem. Die Abhängigkeiten bleiben und werden auch bei uns wieder rigide, nur der Name hat gewechselt. Und die alte Familien die im Spiel um die Macht noch mitspielen, treten heute unter neuen Farben auf.


QuoteLaputner #4

"Während für die Generation des Kalten Krieges der amerikanische Kapitalismus vor allem das Gegenmodell zur Sowjetunion und totalitären Regimen darstellte, sei er für die heutige Generation synonym mit der Gier der Finanzwelt, von deren Folgen sich die Welt bis heute erhole."

Und ironischerweise wendet man sich gedanklich genau so einem totalitären System zu.
"Opinion: The younger you are, the less you support free speech" (2015)
Some interesting news from the Pew Research Center about the attitude of American millennials (ages 18-34) toward free speech....
http://www.latimes.com/opinion/opinion-la/la-ol-millennials-freespeech-poll-20151123-story.html

Ein Bericht der LA Times: Je jünger der Amerikaner ist, desto weniger hält er von Meinungsfreiheit. 21% finden den Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung nicht mehr zeitgemäß, 40% würden gerne beleidigende Äußerungen verhindern - nicht nachher bestrafen, vorher physisch verhindern. In Deutschland sind die Zahlen natürlich viel höher, aber Deutschland hat eine andere Vergangenheit.

Die Millenials infantilisieren sich sowohl privat als auch politisch immer weiter. Das zeigt sich an Umsatzexplosionen an Malbüchern für Erwachsene und dem Hass auf Unreglementiertes. Ich glaub die Popper sind wieder da.



Quotelaotsekonfuzius #7

"Für die Millennials steht Kapitalismus nicht mehr für Wettbewerbsfähigkeit, sondern für einen VW-Konzern, der seine Abgaswerte manipuliert oder Pharma-Spekulanten, die..."

Damit haben die Millenials völlig Recht. Der Kapitalismus stand NIE für Wettbewerbsfähigkeit (dafür steht die Marktwirtschaft). Kapitalismus versucht ja nicht selten genau diesem Wettbewerb aus dem Weg zu gehen. Die Begrifflichkeiten müssen endlich geklärt werden, dann hätten die Linken auch kein Identifikationsproblem mehr.

Kapitalismus hat nichts mit freier Marktwirtschaft zu tun. Der Markt ist oft sogar ein Hindernis für den Kapitalisten.


QuoteCaesarAugustusGermanicus #9

Wenn Amerikaner vom Sozialismus sprechen, meinen sie fast immer das skandinavische Modell oder die deutsche soziale Marktwirtschaft. Es handelt sich dabei also sehr wohl um kapitalistische Systeme. So gut wie keiner lehnt schließlich Produktionsmittel in privater Hand, Angebot und Nachfrage, Gewinnstreben ab. Gleichheit ist nicht das Ziel, sondern mehr soziale Gerechtigkeit und soziale Grundlagen, die in den meisten EU-Ländern schon lange bestehen. Sanders Fehler war es sich als Sozialisten zu bezeichnen, denn er stellt nicht die Systemfrage, sondern will das bestehende System verbessern.


QuotevonDü #15

"Fast die Hälfte sagt hingegen, dass sie ein sozialistisches System zumindest in Teilen befürwortet. Sie sehen eine gesundheitliche Grundversorgung, ausreichend Essen und ein Heim als ein Grundrecht, für das im Notfall die Regierung aufkommen solle."

Das ist eine irreführende Beschreibung, bzw. Übersetzung der Vokabel "socialist".
Was die Jugend befürwortet, ist kein sozialistisches System, sondern ein sozialdemokratisches System, bzw. die soziale Marktwirtschaft.

Der Kapitalismus in der momentanen Form nähert sich dem Ende, weil die exponentiell wachsende Verteilungsungleichheit, bei gleichzeitig ansteigender Bevölkerung seine eigenen Grundlagen zerstört. "Autos kaufen keine Autos", wusste schon Henry Ford und hat deshalb seine Angestellten gut bezahlt. ...



Quotenicht deutsch - links #15.1

Eas soll denn ein sozialistisches "System" sein?

Der Begriff "soziale Marktwirtschaft" ist ebenso nebulös wie der "Amerikanische Traum". Mit Marktwirtschaft ist euphemistischerweise Kapitalismus gemeint. Dass das Adjektiv "sozial" dem Wesen des Kapitalismus diametral entgegensteht und deswegen zur Verschleierung dem Kapitalismus vorangestellt wird zeigt schon, dass das nicht funktionieren kann. Der Kapitalismus wird immer Wege finden, um sich aus der Verantwortung zu stehlen.  ...


QuoteinsLot #16

Der Neoliberlismus wird unter seinen Kollateralschäden berstet. Und das ist gut so! TTIP sind die letzten Zuckungen, hektisch versucht die Machtelite den Sack noch zu zumachen in dem absurden Glauben, was einmal beschlossen ist, könnte nicht mehr aufgehoben werden. Dabei wird TTIP die Unzufriedenheit Massen nur noch weiter befeuern.



Quotereadonly #16.3

Ich habe eher den Eindruck, dass es super für die wenigen läuft und wenn unsere Regierungsform irgendwann zum Problem wird, wird sich auch da einen Lösung finden. Man braucht sich nur mal anzugucken, wieviele Staaten ihren Namen mit dem Wort *demokratisch* schmücken und nichts anderes als finsterste Diktaturen sind. ...


QuoteRaLiWiWi #18

Ich würde mir wünschen Deutschland hätte solche "Kauze" wie den Senator aus Vermont-einen aufrechten Demokraten wie Bernie Sanders , der seit Jahrzehnten seinen sozial-demokratischen politischen Überzeugungen treu bleibt und sie kämpferisch vertritt und dafür auch noch regelmäßig von den Bürgern Vermonts in den Senat gewählt wurde ( Schaut man sich im Vergleich die Entwicklung so ziemlich jeder/n deutschen Sozial-DemokratIn / GrünIn an so sieht man dass es bei (fast)allen eine zielstrebige geradlinige Entwicklung von links unten nach rechts oben gibt)

Warum in alles in der Welt, sollen zig-Millionen von Menschen weiterhin Parteien wählen, deren Vertreter in Wirklichkeit nur eines tun , schöne Versprechungen vor den Wahlen nur um anschließend eine ( zwischenzeitlich alternativlos genannte) Politik gegen ihre eigenen Interessen macht.
Westliche-Werte-Gemeinschaft Gesellschaften steigern kontinuierlich ihren wirtschaftlichen Wohlstand aber nur kommen diese Wohlstandssteigerungen bei immer weniger Menschen an - ein Zustand der ja nicht nur die USA betrifft, sondern sich heute mit leichter zeitlicher Verzögerung auch in EU Europa durchsetzt

Wenn wie in den USA nahezu 50% der Bevölkerung in immer prekärere soziale Umstände abrutscht, fragen sich halt doch immer mehr Menschen ob ein solches Wirtschaftssystem erhaltbar ist.
Ob der Aufbau eines neuen/alten äußeren Feindes "Der Russen" ausreichen wird das System neu zu legitimieren kann zumindest bezweifelt werden.


QuoteJ-J-Rousseau #25

Das WIRKLICHE Problem für die Menschen nicht nur in den USA ist NICHT, dass sie immer weniger "Chancen" haben, einen besser bezahlten oder überhaupt einen Job zu finden. Das Problem ist, dass die Menschen sich an irgendwelche Privatinteressen verkaufen MÜSSEN (denn DAS beinhaltet ja das System Lohnarbeit), um zu überleben. Das haben wohl die wenigsten verstanden. Vielleicht selbst nicht einmal Sanders. Alle wollen nur "Jobs". Sie sollten aber schreien und dann in die Tat umsetzen: WIR WOLLEN KEINE SKLAVEN MEHR SEIN! Wir wollen unser Schicksal ALS MENSCHEN selbst in die Hand nehmen, selbst bestimmen, was wir benötigen, selbst unsere Bedürfnisse ZUSAMMEN MIT DEN ANDEREN MENSCHEN, die mit uns zusammen leben, befriedigen. DAS ist im Kapitalismus, in der "PRIVAT"-Wirtschaft der systematisierten egozentrischen Gier (nicht nur der Finanzbranche), unmöglich!


Quote5.Gebot #36

An einen "amerikanischen Traum" glaube ich schon seit dem Krieg gegen Vietnam nicht mehr. Und der ist schon eine ganze Weile her. Die Politik der USA ist seitdem nicht besser, demokratischer, christlicher oder humaner geworden, ganz im Gegenteil. Das bezieht sich in erster Linie auf die Außenpolitik. Die antikapitalistischen Motive der o.g. Generation resultieren aber aus der Innenpolitik, von der sie selbst betroffen sind. Natürlich hängt beides eng zusammen. Die irrsinnigen Rüstungsausgaben fehlen der Bevölkerung zum Leben. Man kann nur hoffen, dass sich mit der jungen Generation etwas mehr Vernunft und Menschlichkeit durchsetzt. Die Amerikaner und die Welt hätten es verdient.


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Title: Kapitalismus
Post by: Link on August 03, 2016, 01:08:32 PM
"Keine große Zukunft mehr"  Florian Schmid, Ausgabe 3016 | 29.07.2016
Die Buchmacher Patrick Spät stellt die Mythen des Kapitalismus bloß. Da ist er nicht der Erste, selten aber kommt die Kritik so unerbittlich und leichtfüßig zugleich daher ... ,,Die Fratze des Kapitalismus ist überall und jederzeit sichtbar, man muss nur hinschauen. Deshalb braucht es keine übertrieben verschwurbelte Theorie, die Realität spricht für sich: Der Kapitalismus funktioniert nicht!", schreibt Spät in der Einleitung seines Buches, das in elf Kapiteln einige Stehsätze der neoliberalen Ideologie unter die Lupe nimmt. Ob es die vermeintlich friedliche Entstehung unserer Wirtschaftsordnung, der marktwirtschaftlich angestrebte Wohlstand für alle, der grüne oder nachhaltige Kapitalismus oder das Märchen von der Vollbeschäftigung ist – Spät rückt allem mit Zahlen und Fakten zu Leibe und weiß das sehr süffig und spannend zu erzählen. Jener ist mitunter ein wilder Ritt durch die globale Menschheitsgeschichte. Das reicht von der Entstehung der protestantischen Arbeitsethik in der frühen Neuzeit über Adam Smiths Dogma der unsichtbaren Hand des Marktes und dessen Adaption in der neoklassischen Wirtschaftstheorie, das bundesrepublikanische Verbot des Generalstreiks 1955, die neoliberalen Reformen im faschistischen Chile der 1970er, viele sehr aufschlussreiche Zahlen zum Thema Agrarindustrie bis hin zu Karl Marx' Vorstellung des Kapitals als automatisches Subjekt. Patrick Spät schafft es, sein faktenreiches, mit zahlreichen weiterführenden Literaturverweisen versehenes Kompendium linker kapitalismuskritischer Debatten als kurzweilige Kulturgeschichte zu erzählen. ... Er fühlt sich aktuell an die letzten Jahre der Sowjetunion erinnert, als ,,Parolen und Verheißungen der Parteikader" ins Leere liefen. Das oft geforderte bedingungslose Grundeinkommen, über das kürzlich noch in der Schweiz abgestimmt wurde, gilt dem Autor nicht als Lösung. Vielmehr ließe sich damit ,,ein gigantischer, staatlich subventionierter Niedriglohnsektor rechtfertigen". Er setzt auf andere Strategien: Vermögensteuer, Schuldenschnitt, Mindestlohn, Rücknahme von Privatisierungen und ein Ende des um sich greifenden Landgrabbing können aber nur Zwischenschritte sein. Denn eigentlich gelte es, den Kapitalismus nicht erträglicher zu machen, sondern ihn endlich zu überwinden. Denn eines ist laut Patrik Spät gewiss: ,,Entweder stirbt der Kapitalismus oder wir."...
https://www.freitag.de/autoren/florian-schmid/keine-grosse-zukunft-mehr

Buch: Die Freiheit nehm ich dir. 11 Kehrseiten des Kapitalismus
Patrick Spät Rotpunktverlag 2016, 184 Seiten

Quote
tomhh 30.07.2016 | 23:27

Ach Gott, im Unterschied zum Kapitalismus sind alle sozialistischen Versuche bisher kläglich gescheitert. Wir werden auch in 10 oder 20 Jahren noch im Kapitalismus Leben und die Linken werden uns auch dann noch erklären, dass es mit dem Kapitalismus bald zu Ende geht... ;-)


Quoterioja 31.07.2016 | 08:36

Die "happy few" glauben fest an ihren Endsieg. Auf die Frage der N.Y. Times:"Was ist das Grundübel unserer Zeit"? Antwortete der Befragte Warren Buffett wie folgt:" Das Grundübel unserer Zeit ist der Krieg. Der Krieg zwischen Arm und Reich. Und Reich wird ihn gewinnen". Reichtum teilt man nicht. So, wie es -laut seinem Führer- am Ende das "Deutsche Volk" nicht verdiente zu siegen, weil es zu schwach war, so werden die 62 Protagonisten des Kapitalismus am Ende wohl argumentieren. ...


Quote
Lethe 01.08.2016 | 12:13

Der Kapitalismus wird nicht scheitern, weil er keine Gesellschaftsordnung ist sondern eine Organisationsform von Gier. In jedem Handel gibt es einen, der eine Ware für mehr Geld an den Kunden bringen will als die Ware wert ist. Das ist der Beginn jeglicher von der Warenwirtschaft abgekoppelter Geldwirtschaft. Und solange Geld das Konvertierungsmittel bleibt, wird es Kapitalismus geben, nur seine Tarnungen werden sich ändern. Wenn der Kapitalismus scheitert, dann nur um den Preis der Selbstausrottung der Menschheit.

Dabei wäre es so einfach, man könnte ihn mit zwei Gesetzen von weltweiter Gültigkeit sofort und ein für alle Mal erledigen: 1) Verbot von Geld als Ware; 2) Verbot von Zins und Zinseszins.

Probiert das mal^^


Quotetomhh 01.08.2016 | 18:49
@Unwissender

Ich denke, Sie irren sich. Der Kapitalismus muss sicherlich reformiert werden, aber er ist bestimmt nicht gescheitert. Gescheitert sind dagegen bisher alle Alternativen...


QuoteUnwissender 01.08.2016 | 20:28
@tomhh

Ab wann würden Sie denn einräumen, dass er gescheitert ist?

Man sollte vielleicht besser sagen, dass er in mancherlei Hinsicht gescheitert ist (Bewahrung der Natur, Verhindern von Armut, Ausrottung heilbarer Krankheiten, Verbesserung von Arbeitsverhältnissen und Bildung usw.).

Ein "gezähmter" Kapitalismus wäre auch schon was, aber leider deutet alles darauf hin, dass eher das Gegenteil eintritt. Gegen die Superreichen der Jetztzeit sind die Fürsten der Vergangenheit arme Würstchen, sowohl was ihren Einflussbereich als auch die zur Verfügung stehenden Mittel anbelangt.



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Title: Kapitalismus (Franco Berardi) ...
Post by: Link on September 28, 2016, 10:15:13 AM
"Das Morden verstehen" Helmut Mayer (30.07.2016)
Badiou macht die Rechnung im globalen Maßstab auf: oben die wenigen Prozente der Weltbevölkerung, die über einen Riesenanteil der Ressourcen verfügen, darunter eine Weltmittelschicht, die vom bescheidenen Rest lebt, ganz unten fünfzig Prozent, für die nichts abfällt. Über die Zahlen muss man nicht streiten. Badiou ordnet ihnen jedenfalls drei ,,Subjektivitätstypen" zu. Zunächst die einer sich einbunkernden westlichen ,,Mittelschicht", die zwischen selbstzufriedener Arroganz und Verängstigung über den Weltlauf schwankt; dann die Subjektivität jener, die sich nach den Konsumwohltaten des Westens verzehren; und schließlich eine ,,nihilistische" Subjektivität, jene der Attentäter, die auf Rache und Zerstörung setzt. Wobei diese Attentäter nur ihrer eigenen uneingestandenen Sehnsucht nach dem kapitalistischen Westen zuvorkommen: Sie sind letztlich ein ,,nihilistisches Symptom der unfassbaren Leere des globalisierten Kapitalismus und seines Unvermögens, in der von ihm gestalteten Welt alle Menschen zu berücksichtigen", Effekt einer ,,inneren Verstauchung" des Kapitalismus, auf dessen zerstörerische, leere Entfaltung seine mörderische, ,,faschistische" Gewalt reagiert. ...
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/alain-badiou-und-franco-berardi-ueber-kapitalismus-14361671.html


"Franco Berardi über Amokläufe und Finanzkapitalismus ,,Sie sehen sich als Helden eines nihilistischen Zeitalters"" Stefan Berkholz (27.07.2016)
Berardi unterzieht unsere Gesellschaft einer Radikalkritik. Der ,,Drang zum Selbstmord" entspreche dem ,,Triumph des neoliberalen Wettbewerbszwangs", behauptet er. Der ,,Finanzkapitalismus" begründe ein nihilistisches Zeitalter, der Profit um jeden Preis vernichte jeden Wert. Die Werbung dröhnt aus allen Kanälen und suggeriert quietschende Fröhlichkeit. ,,Täuschung, Betrug und Gewalt zählen zu den Erfolgsgarantien im ,,kapitalistischen Absolutismus". Es wird auf den Niedergang ganzer Staaten gewettet, über Rohstoffpreise auf Hunger und Elend in Afrika.
Die Gier nach Geld ist zur Ersatzwährung für verloren gegangene Werte geworden. ,,Wenn das Finanzspiel auf der Prämisse gründet, dass der investierte Geldwert steigt, je mehr zerstört wird", schreibt Berardi, ,,so gründet diese Form des finanziellen Profitstrebens im Grunde auf einer Wette auf die Verschlechterung der Welt." Verlierer haben in dieser Welt nichts zu suchen. Es gewinnt immer derjenige, der andere Leben zerstört. Und die digitale Einsamkeit steigt vor ,,den Käfigen unserer Bildschirme". Die Folge sind Depressionen und Krankheiten.
In seiner düsteren Bestandsaufnahme sieht er mittlerweile alle sozialen Errungenschaften ,,den religiösen Dogmen des Markt-Gottes geopfert" Die Fähigkeit zu Solidarität, Empathie und Autonomie, klagt er, sei im schwarzen Loch eines ,,Nichts in Geldform" verschwunden. Politisches Bewusstsein und politische Strategie sind in seinen Augen verdrängt. Die Verbrechen der ,,neoliberalen Theologie" liegen für ihn auf der Hand: ,,Ich weiß wirklich nicht, ob es jenseits dieses schwarzen Lochs noch Hoffnung gibt; ob es jenseits der uns unmittelbar bevorstehenden Zukunft noch eine Zukunft gibt." Freundschaften im Privaten und Verweigerung im großen Zusammenhang sind für ihn die letzten Posten der Freiheit.
Aus dieser Sicht entwickelt Berardi Analysen der Massenmorde von Amokläufern und der Selbstmordwellen in Korea oder Japan. Er analysiert Ereignisse wie das Schulmassaker in Columbine, das Kino-Massaker in Aurora, Nine-Eleven, Breivik in Norwegen. Massenselbstmorde bei France Télécom; Massenselbstmorde indischer Bauern; Massenselbstmorde in Taiwan. Die Ursachen für Letztere erkennt er in den mörderischen Hierarchien und Renditeerwartungen von Finanzinstituten und Konzernen.
Amokläufer und Selbstmörder, behauptetet er, nehmen Rache an einer Gesellschaft, in der nur noch das Gesetz des Stärkeren gelten soll. Berardi zeigt, wie mit der Regierung Thatcher ein sozialer Darwinismus aufgekommen sei: Es überleben jene, die andere aus dem Weg räumen. Die ethische Grundlage der modernen Gesellschaft – ,,das Verantwortungsbewusstsein der bürgerlichen Klasse und die Solidarität unter den Arbeitern" – hat sich aufgelöst. Demokratie, Arbeitssicherheit und Gesetzestreue sind immer weniger wert. Die Verlierer aber, die Gemobbten, die Unterdrückten, die Gedemütigten, die Seelen ohne Empathie, werden zu mörderischen Helden eines nihilistischen Zeitalters.
http://www.tagesspiegel.de/kultur/franco-berardi-ueber-amoklaeufe-und-finanzkapitalismus-sie-sehen-sich-als-helden-eines-nihilistischen-zeitalters/13930020.html

Quotesatyr 27.07.2016, 12:25 Uhr
Ich habe da meine Zeifel,
ob sich diese kranken Köpfe wirklich so viele Gedanken über
ihre Rolle als ,,Helden eines nihilistischen Zeitalters" machen?

Quoteralf.schrader 27.07.2016, 09:31 Uhr
Das klingt plausibel. Im Neoliberalismus stellt der das Gewaltmonopol haltende Staat keine moralische Instanz mehr da. Meine eigene Moral hält mich ab, Regeln zu verletzen. Die Politik und deren Vertreter aber animieren mich, Gewalt auszuüben. Für das Gros der Personen und Instanzen, welche das öffentliche Leben bestimmen, kann ich nur tiefe Verachtung empfinden.

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"Opfer des neu verwilderten Kapitalismus" Hans-Peter Kunisch (8. Juni 2016)
Berardi zitiert aus Michael Serazios schönem Essay Shooting for Fame: "die Zahl der gefeierten Individuen wächst." Es muss schon das ganz große Ziel sein. Mit ihren Schüssen meinen die Amokläufer, die europäische Kultur zu retten, und damit ihre Tat nicht untergeht, gehört sie an die Öffentlichkeit. In einem vorbereitenden Video diskutierten Klebold und Harris, die Attentäter von Columbine, schon vor der Tat, welchem Regisseur sie das Drehbuch anvertrauen sollten.  ...
http://www.zeit.de/kultur/literatur/2016-06/franco-berardi-helden-suizid-massenmord/komplettansicht

Quotephilomachos #4

Weder die psychologische Deutung noch die ideologische Analyse kann wirklich überzeugen. Letzten Endes haben wir es bei diesen Leuten vermutlich einfach mit Abartigkeit zu tun, der wir weder mit Verstand noch Gefühl folgen können, geschweige denn erklären. Rationalisierungen oder die die Hoffnung, Kausalitäten aufzeigen zu können, werden nicht weit tragen.


Quotefrauhimmelblau #10

Ein interessantes Buch, das auch zu einer durchaus unangenehmen Konfrontation führt, weil es aufzeigt, welche gefährliche Eigendynamik inzwischen schon selbstverständlich gewordene Phrasen und daran gekoppelte Feindbilder entwickeln können. Zusammen mit dem gestern hier veröffentlichten Reemtsma-Interview zeigt es sehr anschaulich das Spannungsfeld in dem sich die Menschen aktuell bewegen, wenn es um Gewalt, Ideologie und/oder die Unmöglichkeit den Affekt durch Analyse in konstruktive Bahnen zu lenken, die einen davor bewahren, extern Verantwortliche aus Bequemlichkeit zu bevorzugen, anstatt sich der Eigenverantwortung zu stellen.

Jene Kommentierenden, die einen Mangel an Antworten durch das Buch beklagen, möchte ich daran erinnern, dass sich Philosophen den Deutungsversuchen verpflichtet fühlen, entsprechend ist das Feld, das in ihren Büchern eröffnet wird, eines wo es nicht um "die eine allgemeingültige Antwort" geht. Philosophie eröffnet Gedankenräume, durch die man sich gedanklich bewegen kann und soll.


QuoteHüpfdohle #12

Neoliberal ist die systematische Zerstörung des solidarischen Gemeinwesens namens einer nicht tragfähig belastbaren Beliebigkeit, die, obwohl unter der Fahne der Freiheit firmierend, mit Freiheit überhaupt nichts gemein hat. Von Schuld kann aus meiner Sicht insbesondere dann gesprochen werden, wenn solche Vorkommnisse institutionell vereinnahmt und einer manipulativen Verwertung unterzogen werden. Noch heute ziehe ich meinen Hut vor der Art der Aufarbeitung, wie das die norwegische Justiz im Falle Breivik unternommen hat. Dies im drastischen Gegensatz zu der US-amerikanischen Justiz im Fall von NineEleven.
Von der oben besprochenen Schrift erwarte ich mir einen Einblick dahingehend, was ein menschliches Gehirn unter bestimmten Bedingungen hervorzubringen vermag. Nicht zwingend, aber möglich, wie die Umstände belegen.


QuoteDerKrieger #14

>> Er zeigt, was die Attentäter, mal mehr, mal weniger deutlich verbindet: Sie sind keine Nazis. Ihre Ideologie kann man eher als gewaltbereiten Neoliberalismus beschreiben. Gerne berufen sie sich (...) auf Darwins "survival of the fittest" und melden: "Humanity is overrated."<<

Das ist alles so dämlich, dass ich mich davon nachgerade beleidigt fühle. Hat der Autor sich überhaupt jemals mit dem Nationalsozialismus beschäftigt? Vielleicht mal den Begriff "Sozialdarwinismus" gehört? A. Breivik war also kein Nazi, weil, hat er doch selbst gesagt. Kein Wunder, dass auch in Deutschland 1945 mit einem Schlag kaum noch ein Nazi zu finden war. Das einzige, was allerdings zutreffend ist: NS und Neoliberalismus passen gut zusammen, ja. Aber wenn Hitler seine Karriere heute beginnen würde, würde er sich natürlich auch auf die Muslime als "objektiven Feind" einschießen, weil er völlig zu Recht erkennen würde, dass diese heute in Dtl. u Europa die gesellschaftliche Gruppe mit der geringsten Aussicht auf allgemeine Solidarität sind, so wie es eben 1933 die Juden waren. Das alleine zählt. Wie H. Arendt luzide aufgezeigt hat, hatte der NS-Antisemitismus keinerlei Bezug zu irgendeinem realen Aspekt des "Jüdisch-Seins" dieser Menschen. Statt dessen wurde ihnen ein heimtückischer Plan zur Unterwerfung der Mehrheitsbevölkerung unterstellt, der nicht existierte. So wenig wie heute eine "Islamisierung". Ein Demagoge von Hitlers Format wäre damit heute wieder genau so erfolgreich wie 1933.


Quotekaktusbauer #16 

Wenn der Kapitalismus an mörderischen Einzeltätern schuld ist, ist er sicherlich auch für Wolfgang Priklopil, die Morde an der Charlie-Hebdo-Redaktion und den an Boris Nemzow verantwortlich, abgesehen vom Wetter natürlich und dem Abschuss von MH70....?
Es entspricht alter linker Befangenheit aus der Elfenbeinturmdenke heraus, die Umstände für alles verantwortlich zu machen. Tatsache ist aber, dass es Menschen gibt, die aus günstigen Umständen heraus zu mörderischen Psychopathen werden, weil dies nun einmal im Spektrum der menschlichen Möglichkeiten liegt.
Diese Obsession, dem Kapitalismus Abartigkeit nachzuweisen, führt manchmal wirklich zu echten Stilblüten wie dieser hier.


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Quote... STANDARD: Omar Mateen hat zumindest mit dem IS sympathisiert – in Ihrem Buch argumentieren Sie, dass es nicht unbedingt um politische Überzeugungen geht.

Berardi: Ich verneine nicht, dass es diesen ideologischen Hintergrund gibt. Ich glaube aber, dass die Psychologie die besseren Mittel hat, um das Phänomen zu erfassen. Es geht um eine Verzweiflung, um ein Elend, das das Produkt der 40 Jahre lang praktizierten Neoliberalisierung der Gesellschaft ist. Wenn Sie an die Mitglieder des IS denken: Das sind arbeitslose Männer aus Kairo, Tunis, London, Paris und vielen anderen Städten. Sie wissen, dass sie niemals eine Zukunft, einen Job haben werden – den finden Sie nun in der Armee. Das andere Element ist Hass. Diese Männer waren zehn Jahre alt, als sie die Bilder der Erniedrigung von Abu Ghraib gesehen haben. Die Erniedrigung der Muslime produziert einen aggressiven Überschuss. Das ist wichtiger als Religion und politische Strategien.

STANDARD: Trump schürt nun weiter die Islamophobie, was wiederum den Islamismus nährt. Dreht sich das Rad immer schneller?

Berardi: Trump ist die reinste Entsprechung einer rassistischen Welle, die sich innerhalb der weißen Rasse aufbaut. Es ist schrecklich, diesen Begriff zu verwenden, ich hasse ihn selbst, aber es geht um diese Form der Selbstwahrnehmung. Wir leben im Zeitalter der Erniedrigung der weißen Arbeiterklasse. Hitler hat seine Macht auf dem Elend der deutschen Arbeiter errichtet. Trump, auch Hofer, Le Pen und Boris Johnson machen es genauso. Es ist wie in den 1920er-Jahren, als Hitler zu den Arbeitern sagte, sie sind keine Arbeiter, sondern das Volk, die weiße Rasse. Das Problem dabei ist, dass wir keine Idee haben, wie wir aus dieser Falle wieder herauskommen.

STANDARD: Sie schreiben, die Prekarisierung hat die Arbeiterklasse zerstört. An ihre Stelle tritt nun der Wunsch nach Zugehörigkeit. Warum greift dagegen kein Mittel?

Berardi: Das ist die schwierigste Frage überhaupt. Wir haben es mit einem Prozess zu tun, der schon fortgeschritten ist. Der Bürgerkrieg ist im Gange. Wie kann man ihn stoppen? Man kann sagen, indem man die Solidarität unter Arbeitern zurückgewinnt. Das ist genau das, was wir versäumt haben. Doch diese Leute, die für Bernie Sanders stimmten, sind die interessanten Menschen. Junge Menschen, die die Möglichkeit einfordern, die Fundamente der Gesellschaft neu zu erfinden. Sie mögen nicht gleich gewinnen, aber sie sind die Zukunft. Gegenwärtig ist ein Akteur die Finanzdiktatur, der andere sind die Rechtsradikalen, die sich gegen die globale Finanz aufstellen – ich sehe keinen dritten.

STANDARD: Oft spricht man von einer Repräsentationskrise der Politik. Trifft es das denn noch?

Berardi: Das Problem ist viel radikaler als eine Repräsentationskrise. Politik hat ihre Macht, ihre Fähigkeit zu lenken verloren. Wir sprechen nicht mehr von der Regierung (Government), sondern von Governance – die automatische Vollstreckung einer mathematischen Steuerung des sozialen Lebens. Die EU wird durch eine finanzielle Governance zerstört. Es ist also nicht so sehr ein Problem des Neuerfindens der Politik; es geht mehr um das Gehirn, die Selbstorganisierung des sozialen Gehirns. Es braucht eine Arbeitergemeinschaft der Bürger, welche die Richtung, die soziale Maschine ändern kann.

STANDARD: Welche Rolle spielen Medien – insbesondere das Internet, über das Sie sich ja in Ihrem Buch skeptisch äußern.

Berardi: Technologie ist immer mehrdeutig, nicht gut, nicht böse. Das Internet ist zu einem anthropologischen Verwandler geworden, es hat Lebensabläufe, nicht nur die Kommunikation, auch die Sexualität verändert. Auf längere Sicht hat es den Effekt einer Abschottung – die Digitalisierung des sozialen Alltags schafft eine weitläufige Einsamkeit, die zugleich mit einer enormen Stimulierung einhergeht. ...

QuoteDas Leben ist schön!,
15. Juni 2016, 13:06:53

... Die Arbeiter sind NICHT verschwunden, 2. Die "Revolution" des Neoliberalismus war "erfolgreich". Die immer wiederholte Geschichte vom Verschwinden der Arbeiterklasse ist nur halb wahr. Zwar sind im industrialisierten "Westen" Arbeiterjobs verschwunden, dafür wurde die Produktion in den sich industrialisierenden Osten verschoben, in China, Vietnam, Indien gibt es sehr wohl ArbeiterInnen. Wie DIESE ArbeiterInnen ohne gewerkschaftlichen Schutz (s. Bangladesh und Textilproduktion) ihr politisches und globales Bewusstsein schärfen können, ist eine Zukunftsfrage.

Wir müssen zugeben, dass dem Neoliberalismus eine siegreiche Revolution gelungen ist, die horizontale Teilung der Gesellschaft in Klassen (mit fuzzy borders) wurde durch die vertikale Teilung der Gesellschaft in ethnische und religiöse Segmente (mit harten Grenzen) ersetzt.



Aus: "Franco Berardi: "Die Kultur ist das Ziel dieses Krieges"" Interview: Dominik Kamalzadeh (15. Juni 2016)
Quelle: http://derstandard.at/2000038946340/Franco-Berardi-Die-Kultur-ist-das-Ziel-dieses-Krieges (http://derstandard.at/2000038946340/Franco-Berardi-Die-Kultur-ist-das-Ziel-dieses-Krieges)

Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on October 25, 2016, 10:30:17 AM
Quote[...] Der Sozialpsychologe Erich Fromm (1900-1980) konnte von den Turbulenzen und Gewaltausbrüchen, die wir heute erleben, kaum etwas ahnen. Aber seine Überlegungen über die Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und dem ,,Seelenhaushalt" der einzelnen Menschen haben an Aktualität nichts eingebüßt – ging es ihm doch ganz allgemein um die Frage, ,,in welcher Weise bestimmte ökonomische Bedingungen auf den seelischen Apparat des Menschen einwirken und bestimmte ideologische Resultate erzeugen". Die Antwort: ,,Die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft formt den Gesellschafts-Charakter ihrer Mitglieder dergestalt, dass sie tun wollen, was sie tun sollen."

Natürlich hätte Erich Fromm nicht bestritten, dass es sowohl bestimmte Anlagen von Geburt als auch zahlreiche Spielräume für autonome Entscheidungen des einzelnen Menschen gibt. Im Gegenteil: ,,Es stimmt zwar, dass der Mensch sich an beinahe alle Lebensbedingungen gewöhnen kann, trotzdem ist er kein leeres Blatt Papier, auf welches die Kultur ihren Text schreibt." Aber ebenso fahrlässig wäre es, die Prägungen, die dieses ,,Blatt Papier" eben auch enthält, zu ignorieren. Wir sind sowohl Produkt unserer eigenen Lebensentscheidungen als auch der Gesellschaft, in der wir leben.

Was aber hat das nun mit dem inneren Unfrieden unserer Zeit zu tun, dem individuellen wie dem sozialen?

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich in Westeuropa ein Modell herausgebildet, das man frei nach Rousseau als ,,Gesellschaftsvertrag" bezeichnen könnte. In einem überschaubaren ökonomischen Umfeld wurden ökonomische Verteilungskämpfe, aber auch religiöse, kulturelle oder lebensanschauliche Konflikte durch einigermaßen funktionierende Aushandlungsmechanismen sozusagen zivilisiert. Man lebte zwar keineswegs im Paradies, aber eben doch in einem einigermaßen verlässlichen, berechenbaren Umfeld. Und die Eruption des Protests von 1968 fügte nicht nur eine ordentliche Portion Liberalität und Toleranz hinzu. Sie besiegelte – jedenfalls in der Bundesrepublik – auch das historisch begründete Tabu, das Hass und Gewalt gegen Minderheiten zumindest im offiziellen und öffentlichen Diskurs verbot.

Doch spätestens 1989, als der Fall der Mauer dem Systemkonflikt ein Ende machte, war es auch mit diesem Modell vorbei. Die ,,Sieger der Geschichte" im westlichen Teil der Welt dachten gar nicht daran, einen neuen ,,Gesellschaftsvertrag" zu formen, der dem sich beschleunigenden weltweiten Austausch von Waren wie Menschen Rechnung getragen hätte. Die EU, die sich immer mehr zur Freihandelszone entwickelte, ohne sich auch nur annähernd ausreichende Regeln für ein solidarisches Zusammenleben zu geben, ist dafür nur das vertrauteste Beispiel. Die westlichen Eliten hielten sich mehr oder weniger radikal an den Satz, den die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1987 geprägt hatte: ,,There's no such thing as society", also: So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht, oder einfacher: Jeder ist sich selbst der Nächste.

Was wir heute erleben, lässt sich durchaus lesen als die Prägung, die diese Ideologie im ,,Gesellschaftscharakter" vieler Menschen hinterlassen hat. ...


Aus: "Kapitalismus: Der geformte Mensch" Stephan Hebel ( 21. Oktober 2016)
Quelle: http://www.fr-online.de/fr-serie--auf-die-fresse-/kapitalismus-der-geformte-mensch,34810614,34874314.html (http://www.fr-online.de/fr-serie--auf-die-fresse-/kapitalismus-der-geformte-mensch,34810614,34874314.html)
Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on January 17, 2017, 02:58:27 PM
Georg Seeßlen: Der Geruch des Geldes
27. August 2011 - Georg Seeßlen - Aufnahme, Gesellschaft, Leben   
Das Geld, zur Zeit, hat schlechte Laune. Wo es gestern noch angeregt mit sich selbst plauderte, murrt es sich nun an. Die Datenströme, die durch den Kopf des Geldes fließen, machen es ganz wirr. Seinen alten Bruder Gold, den mag man gerade wieder. Gerne würde das Geld mal wieder mit Menschen sprechen. Es könnte ihnen sagen, es sei doch unvernünftig, was da gerade geschehe, man stoße da etwas ab, was mit Geld zu tun hat, nur weil die Computer entsprechende Daten sammeln. Sie fragen die Menschen schon lange genau so wenig mehr wie das Geld. Soll das Geld etwa mit den Computern sprechen? Arrogante, kleinliche Schnösel! Das Geld weiß, dass es nichts und niemanden mehr auf der Welt gibt, mit dem sich zu unterhalten lohnte. Es war, zugegeben, einst schön, mit den Menschen zu sprechen. Aber sie wurden immer kleiner, sie waren immer ferner. Menschen sind zu billig und zu krank für den Geschmack des Geldes. So hat es beschlossen, nur noch mit sich selbst zu sprechen. Aber manchmal, wenn es schlechte Laune hat, dann hört das Geld sich selber nicht mehr zu. ...
http://www.getidan.de/video/runhard_sage/36100/georg-seeslen-der-geruch-des-geldes

https://www.youtube.com/watch?v=R1Vdpb-Bgho

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"Das Finanzministerium, der "Deep State" und das Geldsystem" Paul Schreyer (09. April 2017)
Welche Rolle spielt das Finanzministerium im Machtpoker der Banken? Ist es Gegenspieler oder eher Teil eines "Deep State"? Und wer verdient eigentlich an den Staatsschulden? Telepolis fragte nach und erhielt lückenhafte Antworten. ... Wenn Finanzsektor und Ministerium sich geräuschlos arrangieren, Personal fließend miteinander austauschen und zu einem intransparenten Netz verwachsen, wenn ewige Schulden und eine stetige Abhängigkeit des Staates von privaten Gläubigern die Geschäftsgrundlage für alles weitere sind, dann wird es nicht demokratisch sondern ganz im Gegenteil feudal. ...
https://www.heise.de/tp/features/Das-Finanzministerium-der-Deep-State-und-das-Geldsystem-3678541.html

Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on November 12, 2017, 06:17:04 PM
"Enthüllung: "Paradise Papers" nehmen Peter Harry Carstensen ins Visier" (08.11.2017)
Hamburg/Kiel. "Am Ende der Macht" war Peter Harry Carstensen (70). So der Titel der jüngsten rührseligen Dokumentation von Reinhold Beckmann über den früheren Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein im NDR. Peter Harry Carstensen, der frühere Landesvater, der Jäger auf dem Hochsitz, der Mann, der in diesem Jahr nicht den Bundespräsidenten mitwählen konnte, weil sein Dackel krank war.
Über diese Klischees wirft die Verbindung von Carstensen zu den sogenannten "Paradise Papers" von NDR, WDR und "Süddeutscher Zeitung" ein neues Licht. Denn der Ex-Politiker soll fragwürdige Verbindungen zu einem "speziellen" Unternehmer haben. ...
https://www.abendblatt.de/region/schleswig-holstein/article212484531/Paradise-Papers-nehmen-Peter-Harry-Carstensen-ins-Visier.html


Die Paradise Papers sind ein Konvolut von ursprünglich vertraulichen Unterlagen der Anwaltskanzlei Appleby und des kleineren Treuhandunternehmens Asiaciti Trust, die 2016 der Süddeutschen Zeitung zugespielt worden sind. Die Unterlagen stellen in tausenden Fällen dar, wie Steuervermeidung und Steuerhinterziehung von einigen der weltweit größten multinationalen Konzernen und Milliardären mittels Verschleierung, Splittung und Geldwäsche betrieben wurden. Dazu wurden Briefkastengesellschaften gegründet und Steueroasen genutzt. In den geleakten Unterlagen finden sich Datensätze zu mehr als 120 Staats- und Regierungschefs und Politikern aus 47 Ländern, darunter auch die britische Königin Elisabeth II. sowie US-Handelsminister und Multimillionär Wilbur Ross. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Paradise_Papers (12. November 2017)

Das sind die Paradise Papers (Paradise Papers: Das ist das Leak, 2020)
https://projekte.sueddeutsche.de/paradisepapers/politik/das-ist-das-leak-e229478/ (https://projekte.sueddeutsche.de/paradisepapers/politik/das-ist-das-leak-e229478/)


Quote[...] Kongo-Kinshasa und Angola sind typische Opfer des Ressourcenfluchs. Der Weg zu Geld führt nicht über Arbeit, sondern über die Politik und den korrupten Ausverkauf der nationalen Rohstoffe.  Die «Paradise Papers» werfen unter anderem ein grelles Licht auf dubiose Geschäftspraktiken zwischen Schweizer Firmen und afrikanischen Staaten. Im Falle von Glencore nähren diese den Verdacht, dass der Rohstoffkonzern mithilfe des Vermittlers Dan Gertler unter zweifelhaften Umständen zu massiv verbilligten Minenlizenzen in Kongo-Kinshasa gekommen ist. In dem vom «Tages-Anzeiger» breiter beschriebenen Fall des Schweiz-Angolaners Jean-Claude Bastos geht es um dessen Verwaltung des angolanischen Staatsfonds. Die mit dem «Paradise Leak» verbreiteten Informationen erwecken dabei den Eindruck, dass Gelder, die mit diesem Fonds erwirtschaftet wurden, zu einem Teil zur lokal herrschenden Machtelite zurückgeflossen sind.

Korrupte Geschäftspraktiken sind in Afrika verbreitet, vor allem in Ländern, die von Rohstoffen leben. Deren staatliche Haupteinnahmequelle besteht im Verkauf von Abbau- und Förderlizenzen. Für den Aufbau einer moderneren Wirtschaft, etwa durch eine verarbeitende Industrie, besteht in solchen Ländern kaum ein Anreiz, da das Geld sowieso fliesst und alles sich darauf konzentriert, einen Teil davon zu ergattern. Steuereinnahmen sind meist irrelevant, weshalb die Regierung ihren Bürgern auch kaum Rechenschaft schuldig ist. Für Geschäftsleute führt kein Weg an der Regierung vorbei, und die beste Möglichkeit, reich zu werden, bietet sich in der Politik und der Verwaltung. Bei Parteien und Wahlen geht es weniger um politische Programme als darum, welche Familie oder Ethnie sich Zugang zu den Fleischtöpfen verschaffen kann.

Das schafft nur, wer bereits über genügend Geld oder Geldgeber verfügt, um ein Netzwerk zu bilden, das durch Geschenke und Versprechen Wähler mobilisieren kann. Sitzt man einmal an den Schalthebeln der Macht, erwartet die Klientel Belohnung, sei es durch Zuteilung von Posten oder durch direkte «Hilfe» für gewisse Familien, Dörfer, Ethnien und Regionen bzw. deren Repräsentanten. Weil es in solchen Staaten kaum eine Trennung zwischen Politik und Wirtschaft sowie zwischen Staatskasse und Privatvermögen der Regenten gibt, muss man, um an Aufträge zu kommen, vor allem die massgeblichen Politiker günstig stimmen.

Natürlich ist Korruption nicht auf das subsaharische Afrika beschränkt, aber in den beschriebenen Konstellationen ist sie dort geradezu systemimmanent. Denn ein Politiker kann ohne permanenten Geldfluss, mit dem er seine loyalen Unterstützer bei Laune halten muss, gar nicht überleben. Erstens wird er ohne seine Klientel nicht wiedergewählt, zweitens ist er jedoch tatsächlich oft einem enormen erpresserischen Druck ausgesetzt, seine «Schulden» zurückzuzahlen. Gelingt ihm das nicht, muss er im Extremfall um sein Leben fürchten.

Diese Korruption im Grossen ist wohl nur möglich, weil sie auch im Kleinen, im Alltag und in der Sozialkultur fest verankert ist. Im subsaharischen Afrika fusst fast alles auf persönlichen Beziehungen. Man muss sich durch Freundlichkeit und Gefälligkeiten Goodwill verschaffen und für alles, was man bekommt, erkenntlich zeigen, auch wenn es aus westlicher Sicht nur um selbstverständliche professionelle Transaktionen oder administrative Serviceleistungen geht, die nichts mit der Person zu tun haben. Aber aus afrikanischer Perspektive stehen nicht die Funktion und nicht der automatisierte, anonyme Ablauf im Zentrum, sondern die Einzelperson, die für ihr «Entgegenkommen» das Recht auf Entgelt oder eine doch reziproke Dienstleistung beansprucht.

In der Schweiz gilt Korruption als unmoralisch. In Afrika ist es oft umgekehrt. Wer sich weigert, sich gegenüber einem Beamten, der einem unbürokratisch entgegengekommen ist, dankbar zu zeigen und etwas zu bezahlen, gilt als egoistisch, geizig, asozial – als unmoralisch. «Bestechung» wird eher als Ausdruck menschlicher Wärme verstanden. «Régler à l'amiable» nennt man das in Senegal – etwas auf freundschaftliche Weise regeln, nach dem Motto «Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft».

So wie im Grossen, beispielsweise bei staatlichen Aufträgen, öffentliche Ausschreibungen und transparente Auswahlkriterien selten sind, so werden auch in kleinen Betrieben Stellen oft an Verwandte vergeben, auch wenn diese schlecht qualifiziert sind. Auch hier hat das nicht nur mit fehlender Professionalität zu tun, sondern auch mit einem enormen sozialen Druck. Einen Job «auswärts» zu vergeben, wenn man doch die Möglichkeit gehabt hätte, endlich einem arbeitslosen Cousin eine Stelle zu verschaffen, gilt als herzlos. Der «Missetäter» riskiert seinerseits, der verwandtschaftlichen Solidarität verlustig zu gehen. Die ist aber in Ländern, die kaum über Versicherungen und Altersvorsorge verfügen, überlebenswichtig.

Vom Zwang, permanent verteilen zu müssen, können insbesondere Ladenbesitzer ein Lied singen. Sie sind ganz direkt mit Kunden konfrontiert, die auf verwandtschaftliche Solidarität pochen. Das Problem besteht darin, dass die afrikanische Verwandtschaft tendenziell unendlich und der Übergang von Bekannten zu Verwandten fliessend ist. Schon die Anrede mit «brother» oder «tonton» signalisiert, dass nun ein Appell an Hilfe folgt. Meist verlangen diese Kunden, dass sie etwas auf Kredit kaufen können, was auf ein Geschenk hinausläuft, dem Besitzer ein Abschlagen jedoch schwierig macht. Gerne verweisen die Bittsteller darauf, dass es im Laden hundert Flaschen Coca-Cola hat und eine mehr oder weniger doch wohl kaum ins Gewicht fällt.

Der Druck, alles verteilen zu müssen, macht es schwierig, zu sparen, Kapital zu bilden und zu investieren. Dass ein Ladenbesitzer Geld auf die Seite legt und Vorräte anlegt, erscheint den Ärmeren oft einfach als Hamstern. Dass in Ostafrika Kleinhandel und Läden mehrheitlich in den Händen der Inder sind und in Westafrika in denjenigen der Libanesen, ist wohl kaum ein Zufall. Sie sind eben nicht in dieses tief verankerte Sozialsystem von Hilfserwartungen eingebunden, das wie ein herausgezogener Stöpsel wirkt, der aus einem Waschbecken ein Fass ohne Boden macht.

Um auf die Weltwirtschaft und die internationalen Handelsbedingungen zurückzukommen: Für westliche Firmen mit ihren verbindlichen, der westlichen Kultur entsprechenden Corporate-Governance-Vorschriften ist die weitverbreitete Korruption und Kleptokratie in Ländern wie Kongo-Kinshasa ein grosses Problem. Einzelne profitieren davon und schaffen Anreize und Versuchungen, sie sind aber nicht die Ursache dieser Verhältnisse.

Ein trauriges Fazit der Wirtschaftsstruktur dieser Länder lautet: Wegen der Bestechung und der Verschleuderung der nationalen Ressourcen entgehen Ländern wie Kongo-Kinshasa gewaltige Einnahmen. Es ist aber dennoch zu befürchten, dass selbst bei transparenten Verfahren und marktgerechter Bezahlung der Rohstoffreichtum nicht dem Volk zugutekäme.



Aus: "Wenn sich mit Geld jedes Problem lösen lässt" David Signer, Dakar (12.11.2017)
Quelle: https://www.nzz.ch/wirtschaft/wenn-sich-mit-geld-jedes-problem-loesen-laesst-ld.1327837 (https://www.nzz.ch/wirtschaft/wenn-sich-mit-geld-jedes-problem-loesen-laesst-ld.1327837)
Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on November 12, 2017, 06:29:28 PM
Quote[...] Was die Panama Papers und die Paradise Papers enthüllt haben, hat die Fairness-Bedingung zutiefst verletzt. Es widerspricht dem gesunden Menschenverstand, Treu und Glauben, wenn der Fiskus bei den Lohneinkommen alles und jedes mit Akribie erfasst, besteuert und kleinste Vergehen hart ahndet, beim Kapitaleinkommen jedoch teils rechtlich gewollt stillschweigend, teils hilflos resigniert Steuerschlupflöcher duldet und offenlässt. Selbst wenn sowohl Panama Papers wie auch Paradise Papers nur wenige Deutsche auflisten, sind sie von der Signalwirkung her tödlich für den Gemeinsinn. Sie nähren den Verdacht, dass nun nur die Spitze des Eisbergs sichtbar wurde und bei Kapitaleinkommen Steuerflucht die Regel und nicht die Ausnahme ist. ...

Wenn die Elite trickst und manipuliert, Steueroptimierungsstrategien zum Volkssport und Cum-Ex-Geschäfte (bei denen mit Leerverkäufen einmal Kapitalertragssteuer bezahlt, aber zweimal eine Rückerstattung vom Staat gefordert wird) zum allgemein akzeptierten Geschäftsmodell werden, bewertet die Gesellschaft derartiges Verhalten erst misstrauisch, dann mit Verachtung. Schließlich geht zuerst die allgemeine Steuermoral und am Ende die Akzeptanz von Rechtsstaat, Demokratie, Kapitalismus und Marktwirtschaft verloren.

Kapitalismus und Marktwirtschaft leben vom allgemein getragenen Vertrauen, dass es ,,fair" zugeht, allgemeine Regeln für alle gelten und alle von den Schiedsrichtern gleich behandelt werden. Werden Gesetze von Führungskräften und wohlhabenden Eliten kaltblütig gebrochen oder von einer Minderheit durch zwar legale, aber Treu und Glauben widersprechende Umgehungstatbestände ausgehebelt, geraten Kapitalismus und die Effizienz offener Märkte zwangsläufig und schlagartig in Verruf.

Die Paradise Papers sind ein weiterer Mosaikstein, der in einem stetig größer werdenden Teil der Bevölkerung das Bild eines unfairen Wirtschaftssystems entstehen lässt, in dem die ,,oben" Moral und Anstand predigen, selber aber Maß und Mitte komplett verloren haben. Nicht Attac oder Occupy, sondern nimmersatte, gierige, rücksichtslose Egoisten, denen Gemeinsinn, Solidarität und auch das Grundgesetz egal sind (,,Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen", so Art. 14 (2)) werden somit zu den Totengräbern von Kapitalismus und Marktwirtschaft.

Anstand und Fairness, Treu und Glauben sind für ein freiheitlich-liberales Wirtschaftssystem die Schattenwährung jenseits der ,,Legalität". Sie sind unverzichtbare Verhaltensweisen jenseits von Recht und Gesetz. Ohne sie verlieren Kapitalismus und Marktwirtschaft nicht nur Vertrauen und Unterstützung der Bevölkerung. Sie verlieren die ,,Legitimität". Dass also bei aller Ungleichheit, die zu Kapitalismus und Marktwirtschaft gehören, die Ergebnisse von Angebot und Nachfrage, freien Märkten und Wettbewerb von der Bevölkerung moralisch getragen und damit gesellschaftlich akzeptiert werden.

...


Aus: "Die Paradise Papers zeigen die wahren Feinde des Kapitalismus'" Thomas Straubhaar (07.11.2017)
Quelle: https://www.welt.de/wirtschaft/article170391583/Die-Paradise-Papers-zeigen-die-wahren-Feinde-des-Kapitalismus.html (https://www.welt.de/wirtschaft/article170391583/Die-Paradise-Papers-zeigen-die-wahren-Feinde-des-Kapitalismus.html)

QuoteS. E.

"Unser Wirtschaftssystem lebt vom Vertrauen, dass es darin ,,fair" zugeht und Regeln für alle gelten."
Hm, seit wann war unser Wirtschaftssystem und unsere Gesellschaft jemals fair - noch NIE!
Unternehmer arbeiten "schwarz", Unternehmen agieren mit Dumpig-Löhnen, Arbeitnehmer arbeiten somit also auch "schwarz" damit sie ihre schlechte, offizielle Bezahlung kompensieren können, Kunden geben "Schwarz.-Aufträge", Pendlerpauschalen sowie Fahrten- und Kassenbücher werden manipuliert, Finanzämter besteuern fiktive Erträge und Schätzen großzügig nach oben, Politiker haben schwarze Kassen, Sparkassenpräsidenten bezahlen ihre Steuer nur zögerlich und Bürgermeister, sowie Landräte landen nach ihrer Abwahl, plötzlich bei ehemals mit Aufträgen versorgten Unternehmen. Seltsam, wir sind trotzdem eine der führenden und wohlhabendsten Wirtschaftsnationen dieser Erde - zeigen sich diese moralisch höchst verwerflichen Zustände nicht überall?


QuoteKLAX

Diese Enthüllungen über die Paradise Papers sind nur ein weiterer Fortschritt in der Errosion des Vertrauens in die Führungskräfte in Politik und Wirtschaft.
Die Spirale des Misstrauens wird sich weiter drehen bis hin zu hässlichen Konsequenzen im (Wahl)Verhalten der Bürger.


QuoteKarsten D.

Nach dem "Fall Zumwinckel", die Leser erinnern sich evtl., habe ich bereits vor Jahren jeglichen Gerechtigkeitssinn in unser Steuersystem und Justiz komplett verloren. Ich nehme die Dinge nur noch schulterzuckend hin und suche das Weite in die private, egoistische Mentalität des Selbstbezogenen. Macht man, ihr kriegt das schon irgendwie hin! Schade ists um die Aufrichtigen die nicht fliehen können und zum kämpfen zu schwach sind.


QuoteKurt Pjetrew

"Wer Menschen, die sich gesetzestreu verhalten, aus moralischen Gründen medial an den Pranger stellt, bewegt sich auf ganz dünnem Eis."
Interessant, wie sich Meinungen über die Steuervermeidungsmodelle im Fall der Paradise Paper abmildern. Es scheinen wohl dieses Mal eine ganze Menge von den Falschen betroffen zu sein, die eigentlich die besseren sind und über die man nichts sagen sollte.


QuoteArmin M.

,,Unser Wirtschaftssystem lebt vom Vertrauen, dass es darin ,,fair" zugeht und Regeln für alle gelten."
.... Ich denke unser Wirtschaftssystem war noch nie fair. Aber vor der Neoliberalisierung war das System so, dass die große Mehrheit in diesem System leben konnte. Man konnte mit normalen Berufen und Einkommen, eine Familie ernähren und wohnen.
Und wenn immer stärker auch der Mittelstand um die Existenz kämpft, dann verliert der Staat und das System irgendwann seinen Rückhalt.


QuoteHorst W.

Das fatale sind nicht die Fälle, in denen gegen die Regeln verstoßen wird. Wer gegen die Regeln verstößt, wird – in der Regel – zur Rechenschaft gezogen, wenn man ihn erwischt. Fragen Sie Herrn Hoeneß.

In meinen Augen ist das fatale an den Panama-, Wikilux- und Paradise-Papers, dass eben nicht gegen Regeln verstoßen wird. Dass die einen Staaten die ,,Steueroptimierung" erlauben und die anderen Staaten – wie auch jetzt wieder – nur eine Menge Theaterdonner veranstalten.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass viele Politiker noch nicht einmal böswillig handeln, wenn sie Gesetze erlassen, die der Steueroptimierung Tür und Tor öffnet. Die Politiker sind schlicht damit überfordert, die Zusammenhänge zu erkennen. Hier geht mein Vertrauen in den Staat verloren.


...
Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on March 21, 2018, 05:08:06 PM
""Ich verstehe nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht"" Marcus Klöckner (21. März 2018)
Ein Interview mit dem Soziologen Rainer Zitelmann, der mehr Markt und weniger Staat fordert
https://www.heise.de/tp/features/Ich-verstehe-nicht-warum-in-der-politischen-Linken-eine-so-unglaubliche-Staatsglaeubigkeit-herrscht-3989299.html?seite=all

Quote
leachim200, 21.03.2018 16:13

Ich verstehe nicht, warum in der politischen Linken eine so unglaubliche Staatsgläubigkeit herrscht

Und ich verstehe nicht, warum in der politischen Rechte eine so unglaubliche Markthöhrigkeit herrscht.
Mann beachte den Unterschied zwischen Gläubigkeit und Höhrigkeit.
... Welche Fähigkeiten der "freie" Markt hat, hat die Finanzkrise gezeigt.
Hampelmänner in Nadelstreifen hinter den Bildschirmen haben das Chaos verursacht.


https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Ich-verstehe-nicht-warum-in-der-politischen-Linken-eine-so-unglaubliche-Staatsglaeubigkeit-herrscht/Ich-verstehe-nicht-warum-in-der-politischen-Linken-eine-so-unglaubliche/posting-32073774/show/
Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on March 22, 2018, 09:03:02 PM
Finanzkrisen sind größere Verwerfungen im Finanzsystem, die durch plötzlich sinkende Vermögenswerte (z. B. bei Unternehmensbeteiligungen – siehe Börsenkrach) und die Zahlungsunfähigkeit zahlreicher Unternehmen der Finanzwirtschaft und anderer Branchen gekennzeichnet sind und die die ökonomische Aktivität in einem oder mehreren Ländern beeinträchtigen. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Finanzkrise


"Goldman Sachs Eine Bank lenkt die Welt" (Arte, 2012)
Seit fünf Jahren steht die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs für sämtliche Exzesse und Entgleisungen der Finanzspekulation. Durch hochspekulative Geschäfte mit der Zahlungsunfähigkeit der amerikanischen Privathaushalte konnte sich die Bank an der aktuellen Finanzkrise bereichern und wurde dank ihrer politischen Verbindungen selbst vor dem Bankrott bewahrt. Als die amerikanische Krise über den Atlantik nach Europa schwappte, wurde Goldman Sachs zu einem der Protagonisten der Euro-Krise: Die Bank soll gegen die europäische Einheitswährung spekuliert und die griechische Staatsschuldenbilanz mit Hilfe komplexer und undurchsichtiger Währungsgeschäfte geschönt haben. Als die europäischen Regierungen nacheinander dem Zorn der Wähler zum Opfer fielen, nutzte Goldman Sachs die Gunst der Stunde, um ihr komplexes Einflussgeflecht auf den alten Kontinent auszuweiten. Goldman Sachs ist mehr als eine Bank. Sie ist ein unsichtbares Imperium, dessen Vermögen mit 700 Milliarden Euro das Budget des französischen Staates um das Zweifache übersteigt. Sie ist ein Finanzimperium auf der Sonnenseite, das die Welt mit seinen wilden Spekulationen und seiner Profitgier in ein riesiges Kasino verwandelt hat. Mit weltweit einzigartigen Verflechtungen und einem Heer aus 30.000 Bankern konnte Goldman Sachs auch in den letzten fünf Krisenjahren kräftige Gewinne einstreichen, seine Finanzkraft weiter ausbauen, seinen Einfluss auf die Regierungen stärken und sich vonseiten der amerikanischen und europäischen Justiz völlige Straffreiheit zusichern. Das Geschäftsgebaren der Bank ist überaus diskret. Ihr Einfluss reicht weit in den Alltag der Bürger hinein - vom Facebook-Börsengang über die Ernennung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank bis hin zum Lobbying gegen die Regulierung des Finanzsektors. Der Arm der Bank ist lang, und sie befindet sich stets auf der Gewinnerseite.
https://www.youtube.com/watch?v=pbCWfvn0mLU

"ZDFzoom vom 31.01.2018 - Piraten in Nadelstreifen"
Während fast in der gesamten Republik Staatsschulden getilgt werden, steigen sie in Hamburg und Schleswig-Holstein drastisch an. Hauptgrund ist der Niedergang der HSH Nordbank.
https://www.youtube.com/watch?v=lZul72YbOGs
Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on April 02, 2018, 03:30:43 PM
Quote[...] Karl Marx hat es geschrieben, John Maynard Keynes hat davor gewarnt und die einfachen Leute haben es ohnehin schon immer gewusst: Im unregulierten Kapitalismus wachsen die Vermögen jener, die das Kapital besitzen, weit schneller als bei jenen, deren Arbeit die Kapitalerträge erzeugt. Der Teufel macht eben immer nur auf den großen Haufen. Insofern ist die Erkenntnis, die der französische Ökonom Thomas Piketty in seinem Weltbestseller über ,,Das Kapital im 21. Jahrhundert" ausbreitet, nicht originell.

Neu an seinem Werk ist lediglich die ausgefeilte Methodik. Anhand der Steuerdaten aus drei Jahrhunderten weist der neue Star am Ökonomenhimmel nach, dass der Trend zur Konzentration der Vermögen in den Händen einer kleinen Elite systembedingt ist und nur zeitweise durch Krieg oder harte staatliche Eingriffe umgekehrt wurde. Und hätte Piketty sein Buch schon vor zehn Jahren veröffentlicht, dann wäre das vermutlich außerhalb seiner Zunft nicht weiter aufgefallen.

Doch im Jahr sechs nach Lehman, da noch immer viele Millionen Arbeitslose und die überschuldeten Staaten mit den Folgen des großen Crashs kämpfen, trifft das Werk offensichtlich einen Nerv. Das anspruchsvolle Buch verkauft sich massenhaft und plötzlich entzündet die Wiederkehr der längst überwunden geglaubten Klassengesellschaft eine weltweite Debatte. Daran wird auch der Vorwurf von Kritikern, Piketty habe Daten verfälscht, nichts mehr ändern. Selbst die Gralshüter des Marktglaubens, die Ökonomen der OECD und des Internationalen Währungsfonds, die bisher stets gegen staatliche Eingriffe in das freie Spiel der (Kapital-)Kräfte fochten, veröffentlichten nun Studien, die der Umverteilung durch Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen das Wort reden.

Bahnt sich nun also nach Jahrzehnten der Unterwerfung der Politik unter die Ansprüche des flüchtigen Kapitals die große Wende an? Schön wär's. Doch die politische Praxis in Europa folgt einem ganz anderen Muster. Denn hier erzwingen die deutsche Kanzlerin und ihre Verbündeten in der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank (EZB) und dem Rat der Finanzminister per Gesetz und mit den Knebelverträgen für die Notkredite an die überschuldeten Staaten eine Politik, die im großen Stil die Ungleichverteilung verschärft. So setzte die EU-Kommission im Auftrag der Euro-Gruppe in allen Krisenländern massive Lohnsenkungen durch. Gleichzeitig weigern sich die EU-Finanzminister aber hartnäckig, für eine halbwegs gerechte Besteuerung von Kapitalerträgen zu sorgen.

Selbst die Krisenstaaten Zypern und Irland dürfen weiterhin Konzerne und Geldwäscher mit großzügigen Steuernachlässen bedienen. In Griechenland ging die soziale Spaltung im Namen der Euro-Rettung so weit, dass die Kürzung des Mindestlohns um 25 Prozent per Notstandsdekret erzwungen wurde, als im Parlament die Mehrheit fehlte, weil sogar die Unternehmer sich dagegen ausgesprochen hatten. Die auf mehr als 200 Milliarden Euro geschätzten Vermögen der griechischen Elite bei Banken und Fonds im Ausland blieben dagegen unangetastet. Nun drängen die Merkel-Regierung und die Kommission auch in Frankreich und Italien auf ,,Strukturreformen", deren wesentliches Ziel es ist, die Löhne zu drücken.

All das beruht auf der Annahme, die Senkung der Lohnkosten würde die Unternehmen der betroffenen Länder befähigen, mehr zu exportieren und sie zu neuer Blüte führen. Tatsächlich geschieht das Gegenteil. Die Wirtschaft schrumpft oder stagniert, weil die interne Nachfrage fehlt. Und diese wird keineswegs durch größere externe Nachfrage ersetzt, weil alle EU-Staaten ja die gleiche Strategie verfolgen (müssen) und so ein regelrechter Lohnsenkungswettbewerb erzeugt wird.

In der Folge beginnen in einem Land nach dem anderen die Preise zu fallen, was endgültig jede Investition erstickt. Bizarrerweise wollen EZB-Chef Mario Draghi und seine Direktoren nun mit Notstandsmaßnahmen wie einem Strafzins auf Zentralbankeinlagen genau die Deflation bekämpfen, die sie selbst durch ihre Politik herbeigeführt haben. Aber das wird nicht reichen. Nötig wären vielmehr das Ende der Lohnsenkungspolitik und eine Entschuldung der Krisenländer, damit deren Regierungen wieder handlungsfähig werden. Ginge es nach Piketty, dann wäre eine EU-weit erhobene Abgabe auf große Vermögen dafür das Mittel der Wahl. Im deutschen Kanzleramt sind seine Ideen allerdings noch nicht angekommen.

Quotenyma 29.05.2014, 20:32 Uhr

Der Krieg Arm gegen Reich

Der Multimilliardär Warren Buffett sagte zwei Jahre vor(!) der Weltwirtschaftskrise in einem Interwiev in der New York Times:

,,Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen."

Er bezog das natürlich auf die USA, aber angesichts dessen, was derzeit in Europa vorgeht, passt das Zitat auch perfekt hierher.



Aus: "Merkels Politik nutzt nur dem Kapital" Harald Schumann (29.05.2014)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/meinung/europas-krisenpolitik-merkels-politik-nutzt-nur-dem-kapital/9967406.html (https://www.tagesspiegel.de/meinung/europas-krisenpolitik-merkels-politik-nutzt-nur-dem-kapital/9967406.html)

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Quote[...] Eigentlich dürfte Ungleichheit in einer funktionierenden Demokratie nicht wachsen. Da die weniger Wohlhabenden und die Armen die Mehrheit haben, müssten sie mit ihren Stimmen verhindern können, dass die Armen ärmer und die Reichen reicher werden. Es müsste umverteilt werden. Aber warum geschieht das nicht?

Darauf hat kürzlich der französische Ökonom Thomas Piketty eine Antwort versucht. Bekannt geworden ist er durch sein 2016 erschienenes Buch ,,Das Kapital im 21. Jahrhundert", in dem er aus jahrhundertealten Steuerlisten und weltweiten Wirtschaftsdaten ein altes und weit verbreitetes Muster herausdestillierte: Überall wächst das Kapitalvermögen schneller als die Realwirtschaft. Die Rendite, die Aktien und Grundbesitz erbringen, ist im Schnitt immer höher als das Einkommen. Seine erste Antwort auf die Unfähigkeit demokratischer Systeme, hier gegenzusteuern, ist ein dickes Nein: Es stimme nicht, dass das in einer globalisierten Weltwirtschaft nicht gehe. Nichts mache Umverteilung technisch unmöglich, schreibt Piketty in einer Powerpoint-Präsentation vom Januar dieses Jahres, für die er Daten aus den USA, Frankreich und Großbritannien der vergangenen 70 Jahre ausgewertet hat. Die Globalisierung der Ungleichheit sei hausgemacht: ,,Staaten und Regierungen entscheiden selbst, Verträge zu unterschreiben, die Freihandel und freie Kapitalflüsse vorsehen, aber keine umverteilenden Steuern und Regulierungen."

Warum sie das tun, erklärt der Ökonom mit einem Blick über den Gartenzaun, in die Sozialgeschichte: Wer in den 50er und 60er Jahren in den USA, Frankreich, und Großbritannien links wählte – in Deutschland, das Piketty demnächst untersuchen will, wäre das wohl ähnlich – war weniger gebildet und hatte weniger Geld. In den zwei Jahrzehnten danach kamen die Gebildeteren hinzu, es entstand, was Piketty ein ,,Mehr-Eliten-Parteiensystem" nennt. Die Stimmen der Vermögenden und Gutverdiener gingen nach rechts, die der Gebildeten - der Autor benennt sie nach der indischen Priesterkaste - nach links, ,,Brahmanen-Linke gegen Geschäfts-Rechte", so der Titel der Präsentation.

Der Charme von Pikettys Blick auf den Wählerwandel liegt darin, dass er so weit reicht. Bisherige Studien hielten sich an Kategorien fest, dem ,,Arbeiter" zum Beispiel, die immer nur für eine bestimmte Epoche gelten. Auf lange Sicht, argumentiert er, sei es besser, auf Bildung und Einkommen zu schauen. Das Vorgehen erlaubt, einen teils faszinierenden Wandel der Parteien festzustellen: Die US-Demokraten entwickelten sich erst von der Partei der Sklavenhalter zu einer für arme Weiße, dann zu der des New Deal und schließlich, schreibt Piketty, ,,zur Partei reicher Weißer und armer Minderheiten". Und obwohl britische und französische linke Parteien ganz anders organisiert seien, hätten sie über die Jahrzehnte die gleiche Entwicklung ihrer Wählerschaft in puncto Bildung und Einkommen erlebt. Dabei könnte eines Tages auch die Sortierung des Parteiensystems nach Bildungs-Linker gegen Reichen-Rechte enden: ,,Da hohe Bildung auf lange Sicht zu hohen Einkommen/Wohlstand führt, sind Mehr-Eliten-Parteiensysteme zwangsläufig instabil: Eliten neigen dazu, sich zusammenzuschließen." Am Ende könnte ,,die völlige Neuausrichtung des Parteiensystems" stehen.

Was Pikettys Entwurf vorerst nur in einer Frage streift, ist ziemlich entscheidend: Die Allianz der Eliten lässt die zurück, die nicht dazu gehören. Das war so lange nicht wahlentscheidend, wie die am stärksten Abgehängten sich zurückzogen und nicht wählten. Die großen linken, die sozialdemokratischen Parteien, machten sich derweil vor, deren Interessen zu vertreten, obwohl sie es längst nicht mehr taten. Das Freihandelsabkommen TTIP haben, unter anderen, ein demokratischer US-Präsident und ein sozialdemokratischer deutscher Wirtschaftsminister verteidigt und gewollt.

Mit dem Aufkommen einer Alternative von rechts, so falsch sie auch ist, ist diese Sicherheit zerbrochen. Frankreichs Sozialisten sind schon Geschichte, der Front National lebt, und in Deutschland und Italien nähern sich dessen Schwestern einem Stimmanteil von 20 Prozent.

Wenn Demokratien die Ungleichheit wuchern lassen, dann ist das nicht einfach ein Kuriosum oder ein Naturgesetz. Dann funktionieren sie nicht. Der Aufstieg der Rechten ist eine verzweifelte, wütende Reaktion auf diese Krise der Demokratie. Ausgelöst durch Eliten, die fast geschlossen zur Religion des Marktes konvertierten. Vor vielen Jahren. Die Phantasie für eine rationale Reaktion ist wohl verdampft.



Aus: "Wenn Ungleichheit wuchert, funktioniert die Demokratie nicht" Andrea Dernbach (12.03.2018)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/meinung/reich-und-arm-wenn-ungleichheit-wuchert-funktioniert-die-demokratie-nicht/21058100.html (https://www.tagesspiegel.de/meinung/reich-und-arm-wenn-ungleichheit-wuchert-funktioniert-die-demokratie-nicht/21058100.html)

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2014 sorgte seine Veröffentlichung Das Kapital im 21. Jahrhundert (französisch 2013: Le Capital au XXIe siècle) weltweit, besonders in den USA, für sehr große Aufmerksamkeit. ... Piketty forscht insbesondere zu den Themen Einkommensverteilung, Vermögensverteilung und soziale Ungleichheit. ...
https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Piketty

"What the 1% Don't Want You to Know" (18.04.2014)
Economist Paul Krugman explains how the United States is becoming an oligarchy - the very system our founders revolted against.
https://www.youtube.com/watch?v=QzQYA9Qjsi0

Thomas Piketty: New thoughts on capital in the twenty-first century (06.10.2014)
French economist Thomas Piketty caused a sensation in early 2014 with his book on a simple, brutal formula explaining economic inequality: r is greater than g (meaning that return on capital is generally higher than economic growth). Here, he talks through the massive data set that led him to conclude: Economic inequality is not new, but it is getting worse, with radical possible impacts. TEDTalks is a daily video podcast of the best talks and performances from the TED Conference, where the world's leading thinkers and doers give the talk of their lives in 18 minutes (or less). Look for talks on Technology, Entertainment and Design -- plus science, business, global issues, the arts and much more. ...
https://www.youtube.com/watch?v=JKsHhXwqDqM

"Thomas Piketty - Das Kapital im 21. Jahrhundert - Finanzmarkt Ökonomie" (3sat, 15. Januar 2015)
Kann es einen fairen Kapitalismus geben?: Können die wirtschaftlichen und monetären Mechanismen, die die Kluft zwischen Arm und Reich verstärken, staatlich kontrolliert und gesteuert werden? Gert Scobel versucht mit seinen Gästen inspirierende Antworten auf die zunehmende soziale Ungleichheit zu finden.
https://www.youtube.com/watch?v=_sfbieVmfPY


Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on May 30, 2018, 10:49:05 AM
Quote[...]  ... Helnwein: Die Welt befindet sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer noch in einem permanenten Kriegszustand. In diesen Kriegen starben 50 Millionen Menschen, ganze Nationen wurden in die Steinzeit zurückgebombt und versanken im Chaos. Keine dieser militärischen Interventionen hat jemals irgendein Problem gelöst oder irgendjemandem geholfen, außer dem Militär, der Rüstungsindustrie und deren Banken. Und da das Geschäft mit dem Tod gar so gut läuft, werden die Kampfhandlungen auf immer neue Länder ausgeweitet.

STANDARD: Sie meinen, es ginge hier nur ums Geschäft?

Helnwein: Dieser Verdacht kann sich einem schon aufdrängen, wenn man sieht, wie trotz gigantischer Staatsschulden, weltweiter Wirtschaftskrise und Sparmaßnahmen im Sozialbereich, Unterricht und Kultur die Militärbudgets ständig weiter erhöht werden. Noch nie sind so viele Waffen produziert und exportiert worden. Obwohl die Nato jährlich bereits 900 Milliarden Dollar für Rüstung ausgibt, fordern die USA Europa ständig auf, noch mehr aufzurüsten.

STANDARD: Sie fühlen sich der 68er-Generation verbunden. Wie sehen Sie diese Revolte 50 Jahre danach?

Helnwein: Die Jugendrevolte der 1960er-Jahre war der letzte Versuch, sich gegen ein System aufzulehnen, das für zwei Weltkriege und den Holocaust verantwortlich war. Die linke Studentenschaft wollte damals den Marsch durch die Institutionen antreten. Bei diesem Marsch haben aber die Institutionen gewonnen. Fischer, Schily und Mahler sind links unten hineinmarschiert, und ganz rechts oben sind sie wieder herausgekommen. Man kann es ruhig sagen: Das amerikanische, raubkapitalistische System hat den endgültigen und totalen Sieg errungen.

STANDARD: Der globale Siegeszug des Kapitalismus hat doch auch Armut verringert.

Helnwein: Noch nie war die Kluft zwischen Arm und Reich so groß wie heute. Das reichste Prozent der Menschheit besitzt heute mehr als der gesamte Rest. Und die Schere geht immer weiter auf.

STANDARD: Die 68er politisierten sich einst an den Gräuelbildern des Vietnamkriegs, die damals erstmals via Fernseher in die Wohnzimmer geliefert wurden. Heute scheint durch die mediale Überfrachtung mit Gewaltbildern eher ein Fluchtreflex einzusetzen. Man will eben nicht mehr hinsehen. Ist das gefährlich?

Helnwein: Der ganze Planet ist fest im Griff eines Systems, das Pasolini schon in den 60er-Jahren als Konsumterror, als den neuen Faschismus bezeichnet hat. Die Überflutung der Menschen mit überflüssigen Konsumprodukten, schwachsinnigem Entertainment, Kitsch und Gewalt in Massenmedien, Filmen und Computerspielen haben die Menschen desensibilisiert und in einen Zustand von Apathie getrieben. ..."


Aus: "Gottfried Helnwein im Interview: "Das Geschäft mit dem Tod läuft gut" Interview: Stefan Weiss (30. Mai 2018)
Quelle: https://derstandard.at/2000080648311/Gottfried-Helnwein-im-Interview-Das-Geschaeft-mit-dem-Tod-laeuft (https://derstandard.at/2000080648311/Gottfried-Helnwein-im-Interview-Das-Geschaeft-mit-dem-Tod-laeuft)

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Quote[...] Gerade was die letztendlich nicht aufzulösende Ambiguität des Schriftstellers und Regisseurs ausmacht, der in politischer Hinsicht enorme Hellsichtigkeit besaß und schon Anfang der 1960er Jahre die fatale Seite des immer rasanteren Kapitalismus anprangerte und im Konsum eine den Menschen degenerierende Kraft erkannte, lohnt sich die Lektüre des von Gaetano Biccari herausgegebenen Bandes "Pier Paolo Pasolini in persona. Gespräche und Selbstzeugnisse". Zum ersten Mal sind hier zahlreiche Interviews und autobiographische Skizzen im Zusammenhang greifbar.  ...

Pasolini [sieht] schon damals, wie sehr das Triebhafte und damit Destruktive in unseren modernen Gesellschaften abgespalten wird. Und es ist kein Zufall, dass uns gerade dies seit der Jahrtausendwende wieder massiv einholt. Dem Schriftsteller und Regisseur, der sein Begehren offen auslebt und Geschlechtsverkehr als ein "extrem expressives und vollständiges Zeichensystem" versteht, geht es um die Kraft des Irrationalen. Die Kunst, so formuliert er 1970 in einer Fernsehsendung, sei ein Angriff auf die bürgerliche Rationalität. Und hier kann man eine Qualität Pier Paolo Pasolinis erkennen: Gerade durch seine Sehnsucht nach dem vorgeschichtlichen Mythos, gerade dadurch, dass er sich einem allgemeinen Fortschrittsglauben verwehrt und sich bereits durch seine sexuelle Orientierung als Außenseiter erlebt, verliert er nie das Gespür für Ausgrenzung. Macht ist für ihn etwas Monströses. ...


Aus: "Pier Paolo Pasolini:Der lange Pass in die Gegenwart" Maike Albath (4. März 2022)
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/kultur/pier-paolo-pasolini-100-geburtstag-neuerscheinung-literatur-wagenbach-edition-converso-1.5541185 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/pier-paolo-pasolini-100-geburtstag-neuerscheinung-literatur-wagenbach-edition-converso-1.5541185)
Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on June 10, 2018, 11:42:36 AM
Quote[...] Eine Volksinitiative möchte das Vollgeld-System einführen. Vollgeld bedeutet im Grunde, dass nur noch die Zentralbank neues Geld schöpfen kann. Derzeit haben in der Schweiz – wie in anderen Ländern – auch Privatbanken diese Macht. Sie dürfen zwar kein Bargeld drucken, aber Kredite vergeben. Scheine und Münzen machen heutzutage nur einen kleinen Teil der zirkulierenden Geldmenge aus, in Europa etwa zehn Prozent. Der Großteil des Geldes liegt auf Konten, existiert also nur auf dem Papier. Gibt eine Bank einem Kunden einen Kredit, schöpft sie neues Geld, das auf dem Konto landet. Sie muss zwar eine sogenannte Mindestreserve für den Kredit bei der Zentralbank deponieren. Die ist allerdings verschwindend gering, in der Schweiz beträgt sie nur 2,5 Prozent der dem Kunden gutgeschriebenen Einlage. Bei der Europäischen Zentralbank liegt sie bei einem Prozent.

Im Vollgeld-System wäre das nicht mehr möglich. Banken müssten sich das Geld für Kredite komplett von der Zentralbank leihen, also selbst einen Kredit aufnehmen. Die multiple Geldschöpfung wäre damit Geschichte. Und die Kreditvergabe der Banken wäre durch die von der Zentralbank bestimmte Geldmenge begrenzt. Mit dem Vollgeld soll das Girogeld so sicher sein wie das Bargeld im Tresor. Die Vollgeld-Befürworter sind auch davon überzeugt, dass dies ein Ende überhitzter Kreditzyklen und Spekulationsblasen bedeuten würde.

... Das Nachdenken über alternative Währungssysteme ist nicht neu: Während der Griechenland-Krise war die Einführung von Regionalwährungen ein Thema. Befürworter glaubten, dass durch das Regionalgeld die Wirtschaft gefördert und Arbeitsplätze erhalten werden könnten. In ganz Europa gibt es solche Projekte, auch in Deutschland. Besonders bekannt ist der Chiemgauer in Bayern. Ein Chiemgauer kann gegen einen Euro eingetauscht werden. Der Unterschied zum Vollgeld: Das Regionalgeld existiert ergänzend zur Hauptwährung.

Viel diskutiert wurden in den vergangenen Jahren auch Kryptowährungen, ein digitales Zahlungsmittel, das auf Basis der Blockchain-Technologie funktioniert. Umstritten ist, ob es sich dabei überhaupt um eine Währung im eigentlichen Sinne handelt. "Der Begriff Kryptowährung ist irreführend", sagt Philipp Sandner, ein Kollege von Adalbert Winkler an der Frankfurt School. Er leitet dort das Blockchain Center. "Zutreffender wäre der Begriff Kryptoassets, da Sie eigentlich alles in diesem System hinterlegen können." 

Auch mit der Blockchain würde die Währung nicht abgeschafft, aber dezentralisiert. Die Vorteile für den Verbraucher erklärt der Blockchain-Experte Philipp Sandneram Beispiel der Mietkaution: Selbst wenn der Mieter seine Wohnung ohne Konflikt mit dem Vermieter verlässt, kann es oft Wochen dauern, bis er seine Kaution zurückerhält. "Das liegt nämlich meist an der Bank." Bürokratische Hürden behindern die Überweisung. Beim "Krypto-Euro" wäre die Bank überflüssig. Ist vorher digital hinterlegt worden, dass zur Rückgabe des Geldes nur ein simples "Go" vom Vermieter nötig ist, geschieht die Überweisung blitzschnell. "Das kann man in zwei Zeilen Code festlegen", so Sandner.

Experimente mit diesem Modell gibt es bereits, allerdings vor allem für den Zahlungsverkehr zwischen Banken. Neue Kryptowährungen könnten in Ländern eine Alternative sein, in denen die staatlichen Institutionen kein Vertrauen genießen. "Blockchain-Systeme brauchen nämlich keine staatlich legitimierte Aufsicht", erklärt Sandner. Doch ein Problem bleibe: Bürger und Geschäfte müssten die Coins als Zahlungsmittel akzeptieren. "Vertrauen ist das Stichwort", sagt Sandner.

Dass die Schweizer die Geldschöpfung künftig allein der Zentralbank anvertrauen werden, ist unwahrscheinlich. In einer Umfrage gab nur ein Drittel der Befragten an, für die Einführung des Vollgeldes stimmen zu wollen.

...


Aus: "Volles Vertrauen ins Vollgeld? Nun ja" Lars-Thorben Niggehoff (10. Juni 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/geldanlage/2018-06/schweiz-abstimmung-vollgeld-waehrung-banken/komplettansicht (https://www.zeit.de/wirtschaft/geldanlage/2018-06/schweiz-abstimmung-vollgeld-waehrung-banken/komplettansicht)

QuoteOakman #1

Der Ökonom stellte auf dem Bargeldsymposium der Deutschen Bundesbank die Frage, ob Zentralbank und Staat dieses Vertrauen verdient hätten.

Die privatwirtschaftlich organisierten Banken haben in den letzten Jahren hinlänglich bewiesen, dass sie diesen Vertrauen zumindest nicht verdienen.

Tatsache ist, dass im Moment Gewinn und Risiko bei einer großen, systemrelevanten Bank asymmetrisch verteilt sind. Laufen die riskanten Geschäfte gut, verbleibt der Gewinn in der Privatwirtschaft, geht es schief, kehrt man mit dem Steuergeld der Krankenschwester die Scherben zusammen.

Ob das Vollgeld hierfür die Lösung ist, weiß ich nicht - aber grundsätzlich ist jede Diskussion, die versucht den Kern des Problems anzugehen und sich nicht in Klein-Klein (wie z. b. Vorstandsboni) verzettelt, zu begrüßen.


QuotePostdemokratische Geronto-Plutokratur #1.1

"Der Ökonom stellte auf dem Bargeldsymposium der Deutschen Bundesbank die Frage, ob Zentralbank und Staat dieses Vertrauen verdient hätten. "

Diese Zeile hat mich auch irritiert.
Warum sollte sich der Staat Vertrauen erst verdienen müssen, während private Bankhäuser ohne Rechtfertigungsdruck und Verantwortungsbewusstsein hochspekulative Finanzgeschäfte machen und an der Grenze des Seriösen agieren?


QuoteSelbstzensiert #1.2

Die wichtigste Änderung des Vollgeldsystems würde nicht erwähnt.

Zur Zeit werden Sie, wenn Sie Guthaben auf der Bank haben, zum Gläubiger der Bank.
Die Bank ist Ihnen gegenüber der Schuldner.

Giralgeld ist ebenso wie Vollgeld im Prinzip jederzeit verfügbar. Aber Vollgeld ist tatsächlich vorhanden, bestandsicher und befindet sich im Besitz der Kunden. Giralgeld dagegen befindet sich nicht im Besitz der Kunden, sondern stellt nur ein Versprechen der Banken dar, auf Verlangen Bargeld (Zentralbankgeld) dafür auszuzahlen oder das Guthaben anderswohin zu überweisen. Giralgeld ist eine weitgehend ungedeckte Forderung, die wir an unsere Bank haben. In diesem Sinn ist Giralgeld ein Bargeldkredit, den die Kunden der Bank überlassen.

Das ist der entscheidende Unterschied.
.... Vollgeld ist tatsächlich vorhanden,
bestandsicher und befindet sich im BESITZ DER KUNDEN.

Im übrigen ist alles was den Finanzsektor etwas entmachtet begrüssenswert.


QuoteMark T. Wayne #1.5

Die Kryptowährungen haben den Vorteil, dass man bei diesen niemandem Vertrauen muss, weil niemand die Kontrolle hat, außer dem mathematischen Algorithmus.

Damit machen Kryptowährungen sowohl private Banken wie auch Zentralbanken überflüssig, weil man für Konten, Überweisungen und "Gelderstellung" diese nicht Mittelmänner, die oftmals ihre Macht mißbrauchen, nicht mehr braucht.

Leider muss man sich etwas ausführlicher informieren, um diese ganzen Zusammenhänge zu verstehen - und zwar sowohl über das derzeitige Währungssystem, wie auch über die Alternativen, die Kryptowährungen aufzeigen.


Quote
Oakman #1.6

Die Kryptowährungen haben den Vorteil, dass man bei diesen niemandem Vertrauen muss, weil niemand die Kontrolle hat, außer dem mathematischen Algorithmus

Zu den ganz wenigen Dingen, die man in den Wirtschaftswissenschaften als "hinreichend empirisch belegt" ansehen kann, gehört die Erkenntnis, dass Deflation Gift ist - und alle mir bekannten Kryptokonzepte führen bei wachsender wirtschaftlicher Aktivität automatisch zu Deflation.


Quote
Die Freiheit liebender #2.2

Da der Staat keinen freien Markt zulässt, kann der Markt nicht funktionieren und auch nicht für die Verwerfungen verantwortlich gemacht werden.


Quote
Tordenskjold #2.3

Sind Sie es, Herr Lindner?


Quotestefan951 #2.5

Der freie Markt hat in der Pflege versagt.


QuoteLouiDerLustigeLeguan #2.6

Kommt darauf an, welche Anforderungen man stellt.

1. Dass die Menschen eine bezahlbare, bestmögliche Pflege erhalten?
Ganz klar gescheitert.

2. Dass die Aktionäre reich werden?
Ganz klar erreicht.

Vielleicht sollten wir eher darüber diskutieren, was wir von einer Ökonomie und unserem Arbeitseinsatz erwarten.


QuoteSelbstzensiert #6

In den 15 Jahren vor der Krise wuchs die Geldmenge M1 in Deutschland um 189%,
das nominale BIP (mit Verbraucherpreisinflation) um 51%,
das reale BIP (Inflation herausgerechnet) um 23%.
Von daher kann man sagen, nur rund 1/8 des Geldmengenzuwachses diente realer Wirtschaftsproduktivität und realen Einkommenszuwächsen.
Ein weiteres 1/8 ging in Verbraucherpreisinflation.
Wo blieben die restlichen 3/4?
Sie flossen in Finanzmarktanlagen, zu einem erheblichen Teil rein spekulativer Natur ('Globales Kasino') ohne zur Finanzierung des Wirtschaftsprodukts etwas beizutragen.

Man stelle sich vor die veruntreuten 75% des Kapitals würden den Bürgern gehören,
wie im Vollgeldsystem vorgesehen.

Der Selbstbedienungsladen der Finanzwirtschaft würde geschlossen.

...

https://www.vollgeld.de/was-ist-vollgeld/


QuoteThomasSchweden #6.5

Es gibt Schätzungen von 1 Billionen Euro Steuerausfälle EU weit über Schwarzgeld und offizielle Steuerverschiebungen durch Niedrigsteuerländer (Niederlande, Luxemburg etc.)
Sie sehen, Flüchtlingskosten, Griechenland, Ostförderung, EU Ausgleichstöpfe sind Wertethemen fürs Meinungsproletariat.
Dort draussen zirkulieren Billionen durch Steuerentzug und Spekulation, Banken. Reichtum auf Kosten der Allgemeinheit ermöglicht durch Politik.

Während die Krankenschwester vom scheinbar seriösen Finanzamt gegängelt wird im Namen einer Gemeinschaftssolidarität.


Quoteheined #7

Die Diskussion über Vollgeld ist merkwürdig. Was die Initianten verlangen, dass nur die Nationalbanken Geld schöpfen können, ist doch total normal. Absurd ist, dass man dieses staatliche Privileg schleichend den Banken überlassen hat. Und weil die Finanzmärkte seit zehn Jahren völlig ausser Kontrolle geraten sind, mussten die Zentralbanken den Zinsmarkt ausser Kraft setzen, was nun tatsächlich ein Experiment mit offenem Ausgang ist.
Ein System bei dem die Zentralbank die Geldmenge steuert und sich Zinsen auf den Märkten bilden ist in jedem Fall stabiler und funktionaler. Vor allem würde es den aufgeblähten Finanzsektor wieder auf Normalmass reduzieren. Es kann ja wohl nicht so bleiben, dass der Finanzsektor 100 fach die Realwirtschaft übersteigt. Ohne Vollgeld bleibt nur noch die Finanztransaktionssteuer, um dagegen vorzugehen.


Quoteartefaktum #9

>> Experten sehen die Idee kritisch. <<

Natürlich sehen die das so. Wer Banken und Spekulanten das Spielgeld wegnehmen will, muss mit heftigem Gegenwind rechnen. Hier wird eine Ideologie in Frage gestellt, die einigen wenigen sehr viel Geld bringt. Hinterher müssen noch einige für ihr Geld ehrlicher Arbeit nachgehen - das geht gar nicht.


Quote19koepi71 #10

Die Geldschöpfung, so wie sie aktuell praktiziert wird, ist eines der Grundübel unseres Finanzsystems.
Ich habe immer bewundert, wie aus den Nichts Kapital erschaffen werden kann, legal. Durch nichts gedeckt, einfach so.


QuoteFeaharn #11

"Der Ökonom stellte auf dem Bargeldsymposium der Deutschen Bundesbank die Frage, ob Zentralbank und Staat dieses Vertrauen verdient hätten. "

Also sind wir schon so weit, dass wir lieber Investmentbanken vertrauen als dem Staat?


QuoteAffredDNeumann #13

Die "Experten" sehen die Idee kritisch weil diese kein Interesse daran haben etwas am Status Quo zu ändern. Der Begriff "Vollgeld" ist selten dämlich wie irreführend. Auch der Initiator strebt den Volksentscheid aus Gründen an, welche deutlich machen, dass er das Problem das Banken per Knopfdruck Geld in die Welt bringen nicht verstanden hat. Man muss die Geschichte dahinter kennen, denn es war nicht immer so, dass man den Banken diese wahnwitzige Macht gegeben hat. Diese erhielten sie erst mit der Abkoppelung vom Goldstandart unter Nixon 1971. Seither geht die Schere zwischen der Menge des Geldes und dem tatsächlich erbrachten Wert an Waren und Dienstleistungen in immer rasanteren Tempo auseinander. Die Finanzkrise 2008 ist eine direkte Folge daraus. Alles was wir heute sehen, Staaten mit 200 Prozent Schuldenquote, Griechenland Rettung, die Zockereien an den Börsen, das massenhafte Aufkaufen der EZB von Staatsanleihen, die Finanzkrisen und noch viel mehr sind eine Folge aus der Entscheidung von 1971. In der Folge erhielten die Banken die Macht per Knopfdruck Geld aus dem Nichts entstehen zu lassen. Denn Mitnichten ist es so, dass der Eine sein Geld anlegt und das die Bank dem Anderen dieses Geld leiht. Ein Irrwitz. Deshalb ist das Ansinnen im Kern richtig den Banken diese Macht zu entziehen. Das Problem ist dabei, dass das wenig nutzt wenn die Zentralbank trotzdem weiter ungehindert Geld drucken kann.


QuoteFlavoos #14

Vollgeld ist ein erster richtiger Schritt. Geldschöpfung aus dem Nichts in privater Hand ist eine Katastrophe, die sich überall verheerend auswirkt. Das Finanzsystem ist der Kern vieler probleme und gehört umgemodelt. Das Pseudoexperten, Banken und Turbokapitalismus davor warnen ist wenig überraschend.


Quoterunner_64 #16

Das Durchschnittsvermögen je Bürger liegt in der Schweiz bei ca. 538.000 $, mit dem gegenwärtigen System wohlgemerkt, es ist das zweithöchste in der Welt. Warum man das für einen Versuch mit höchst ungewissem Ausgang aufs Spiel setzen soll, und ausgerechnet den Ideen eines Menschen folgen soll, der im Leben - zumindest wirtschaftlich - wenig bis nichts auf die Reihe bekommen hat, ist kaum ersichtlich. Da wäre selbst russisches Roulette dagegen risikoarm, man überlebt ja zu 83,4 %.


Quote
tostello jaeger #16.1

Eine Frage dazu könnte lauten, wie die halbe Million durchnittsvermoegen verteilt ist. ...


...
Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on June 10, 2018, 09:44:11 PM
Quote[....] Die Schweizer haben einen radikalen Vorschlag für ein neues Geldsystem bei einer Volksabstimmung abgelehnt. Laut einer ersten Hochrechnung im Auftrag des Schweizer Fernsehens sprachen sich 74 Prozent gegen die sogenannte Vollgeld-Initiative aus. Der Vorschlag hätte die Kreditvergabe der Banken beschränkt und die Notenbank zur einzigen Quelle für neues Geld gemacht. Die Befürworter hatten sich von einem Wechsel ein sichereres Bankensystem versprochen, während die Gegner vor den unabsehbaren Folgen eines weltweit einzigartigen Experiments für den Finanzplatz und die Währung gewarnt hatten.

... Der Vorschlag der Regierung, Schweizer Casinos Onlinelizenzen auszustellen, über den ebenfalls abgestimmt wurde, wurde den Hochrechnungen zufolge mit 75 Prozent angenommen. Demnach soll ein größerer Anteil des Geldes, das Online verspielt wird, Schweizer Zwecken zugutekommen.

Mit dem Casino-Gesetz will die Regierung verhindern, dass Schweizer weiterhin viel Geld auf ausländischen Onlineportalen ohne Rückfluss in die Schweiz verzocken. Sie sollen ihr Geld nun auf Onlineportalen bestehender Schweizer Casinos einsetzen. Die müssen je nach Größe bis zu 80 Prozent ihrer Gewinne abgeben. Damit sollen soziale und humanitäre Projekte gefördert und die Rentenkasse aufgefüllt werden. Bislang verspielten Schweizer in ausländischen Onlinecasinos im Jahr 250 Millionen Franken (229 Millionen Euro), schätzt die Universität Bern.

Gegner der Casino-Vorlage kritisierten, dass nur Schweizer Casinos eine Lizenz bekommen. Internetseiten von ausländischen Anbietern etwa mit Sitz in Malta oder Gibraltar werden künftig gesperrt. Gegner des Vorschlags befürchten, dass solche Netzsperren ein erster Schritt zu staatlicher Internetzensur in anderen Bereichen sind.

...


Aus: "Schweizer lehnen Vollgeld ab" (10. Juni 2018)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-06/vollgeld-initiative-schweiz-abstimmung-nein-geldsystem (https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-06/vollgeld-initiative-schweiz-abstimmung-nein-geldsystem)
Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on June 18, 2018, 07:11:53 PM
Quote[...] Die Europäische Union leidet stärker als alle anderen Weltregionen unter den Steuervermeidungsstrategien internationaler Konzerne. Das geht aus einer neuen Studie mehrerer international anerkannter Steuerforscher hervor. Demnach entgehen den EU-Staaten 20 Prozent ihrer möglichen Unternehmensteuereinnahmen, weil Konzerne wie Google, Apple oder Nike erhebliche Anteile ihrer Gewinne in Länder verlagern, die keine oder nur geringe Körperschaftsteuern erheben.

Die Europäische Union leidet stärker als alle anderen Weltregionen unter den Steuervermeidungsstrategien internationaler Konzerne. Das geht aus einer neuen Studie mehrerer international anerkannter Steuerforscher hervor. Demnach entgehen den EU-Staaten 20 Prozent ihrer möglichen Unternehmensteuereinnahmen, weil Konzerne wie Google, Apple oder Nike erhebliche Anteile ihrer Gewinne in Länder verlagern, die keine oder nur geringe Körperschaftsteuern erheben.

Normalerweise sei die Lohnsumme insgesamt rund dreimal höher als die Gewinne. In Luxemburg und Irland sei es umgekehrt: Gemeldete Gewinne seien etwa zweieinhalbmal so hoch wie die Lohnsumme. Für die Forscher ist das ein Hinweis, in welchem Maß Großkonzerne ihre Gewinne dorthin verschieben, ohne nennenswert in den Ländern aktiv zu sein.

Der Finanzwissenschaftler Johannes Becker (Universität Münster) hält die Methode zwar für innovativ, bezweifelt aber, dass die höheren Vorsteuergewinne in Ländern wie Luxemburg allein auf Steuervermeidung zurückzuführen sind. ,,Es ist auch möglich, dass Unternehmen dort Bereiche ansiedeln, in denen weniger Personal benötigt wird, aber hohe Gewinne erwirtschaftet werden", sagte er.

...


Aus: "EU ist größter Verlierer : Das Milliardengeschäft mit den Steueroasen" Johannes Pennekamp (13.06.2018)
Quelle: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/das-milliardengeschaeft-mit-den-steueroasen-15636607.html (http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/das-milliardengeschaeft-mit-den-steueroasen-15636607.html)

QuoteAm 30.08.2016 bezifferte die ZEIT das Offshorevermögen von Apple auf 207 Mrd. USD

    Klaus N. Wege (Wege), 13.06.2018 - 16:01

Hintergrund: 70% der Direktinvestitionen in Irland stammen von US-Unternehmen wie Pfizer, Microsoft oder Apple. Irlands Lockanreiz besteht darin, Gewinne von realen Konzern- und Leistungsorten wegzuverlagern: Hin zu Steueroasen wie den Caymans (Facebook) oder den Bermudas (Google).
Irland dient dabei als Zwischenlager für Gewinne, deren direkte Verlagerung regulatorisch unterbunden ist. Die Konstruktion wurde als "Double Irish" bekannt. Fährt das Geld weitere Umwege über die Niederlande, spricht man von einem "Dutch Sandwich". Der jährliche Fiskal-Schaden übersteigt 60 Mrd USD. Das Modell ist so legal, wie es eine gekaufte Gesetzgebung nur sein kann.
Irlands Praktiken lösten einen Ansiedlungsboom samt Immobienblase aus. Diese detonierte in den Bilanzen der Banken dort. Seither wird in Irland mit einem 85-Mrd.-Eurorettungspaket ein parasitärer Gewinnverschiebungsbahnhof gestützt.
Aktuell ermöglicht die Trump-Administration den Akteuren, ihre Beute steuerschonend in die USA zu verlagern.


Quote"Gewinne verschieben" hört sich so an, als ob der Pförtner

    Juncker Guido (JunckerG), 13.06.2018 - 13:19

Montags mit einer Million in bar nach Luxemburg fährt.
Sind das nicht idR legaleTransaktionen im Rahmen des bestehenden Steuerrechts?


QuoteLiest sich so, als könnte man nichts dagegen tun?!

    Christian Wrobel (luke123), 13.06.2018 - 12:03

Aber so ist es natürlich nicht! Selbstverständlich könnte man Gewinnverlagerungen steuerrechtlich einen Riegel vorschieben. Es gibt sogar entsprechende Vorschläge dafür. Man müsste es als Regierung nur wollen?! Nur, alle Bundesregierungen der letzten Zeit und deren verantwortlichen Bundesfinanzminister wollten nicht! Und DAS ist das Problem!


QuoteStatt Kriminelle dazu anzustiften in der Schweiz Daten aus Bankcomputern abzuziehen,

    Rüdiger Silberer (RuedigerSilberer),13.06.2018 - 11:00

sollten sich die Finanzminister endlich einmal dieses Problems annehmen. Aber das wird ähnlich lasch und schlafmützig gehandhabt wie die Cum-Ex-Betrügereien bei den deutsche Finanzbeamte jahrelang zugesehen und ausgezahlt haben. Wenn ein normaler deutscher Steuerzahler etwas im Verzug ist, dann läuft das Finanzamt mit seinen Beamten zur Hochform auf. Aber hier kann man locker auf zig Milliarden verzichten.


QuoteLösungsvorschläge für die Marxisten hier:

    Max Schmid (CH-Gast), 13.06.2018 - 10:25

1. Steuern senken, dann kommen die "Konzerne" nach Deutschland und /oder
2. Selber Google/Apple ... erfinden


QuoteEs ist kein Zufall

    Bernhard Kopp von Brackel (BKBrackel), 13.06.2018 - 08:58

Auch wenn Lobbyisten an vielen Stellen mitgewirkt haben, die Gesetze, die Gesetzeslücken, die Gestaltungsmöglichkeiten, wurden von unseren Europa- und Steuerpolitikern seit Jahrzehnten so gemacht. Als die Iren, in den 1980ern, die 12.5% Körperschaftssteuer eingeführt haben um Industrieansiedlung, lokale Wertschöpfung und Arbeitsplätze zu fördern, was auch gut gelungen ist, war aber sehr schnell auch klar, dass die Steuer auch für nach Irland manipulierte/verschobene Finanzgewinne gilt, weil sie eben für eine irische Firma gilt. Schon damals, in sehr wenigen Jahren, sind gigantische Milliardenbeträge über solche Finanzgesellschaften geflossen. Ausser ein paar Buchhalter, Steuerberater und Anwälte, wurden, im Verhältnis zu den bewegten Kapitalien, und den erzielten Steuervergünstigungen, keine lokalen Wertschöpfungen erzielt. Heute, 30 Jahre später, ist alles immer noch so. So bin ich EU-Skeptiker geworden. Freude schöner Götterfunken.


QuoteTotalservice auf Malta: Von Patent-Boxen bis zur Ermordung lästiger Journalisten

    Klaus N. Wege (Wege), 13.06.2018 - 08:15

Zur Erinnerung:
Die dubiose Methode, Gewinne formal in die Karibik umzuleiten, ist zunehmend in Verruf geraten ... Prompt entwirft die Lobbypolitik neue Ausweichwege ( ganz ohne verräterisch-exotische Briefkastenadressen) Dabei sichern sogenannte "Patent-Boxen" den begünstigten Unternehmen steuerliche Unberührbarkeit schon in Europa:
In Belgien sind bei dieser Konstruktion nur noch 6,8% fällig (regulär sind es 34%), in den Niederlanden beträgt der reduzierte Satz 5% (statt 25%). Das mafiöse Malta lockt mit völliger Abgabenfreiheit.
Wenn die öffentlichen Kassen solcher Steuerdumper kollabieren, wissen Sie ja, wer das Rettungsfüllhorn bereitstellt (wie sogar beim Betrugsdrehkreuz Zypern).


QuoteLuxemburg: Wettbewerbsverzerrende Steuerschiebung am Beispiel von Amazon UK

    Klaus N. Wege (Wege), 13.06.2018 - 07:52

Amazon UK ist auf dem britischen Büchermarkt ein einzelhandelsverdrängender Player.
In das Visier der Aufsicht geriet das Unternehmen angesichts einer fragwürdigen Rollenzuweisung seiner Konzerntöchter (die maßgeblich für Besteuerungsfragen ist).
So wurden an der Verrechnung einer Bestellung gleich drei Unternehmensteile beteiligt: Amazon Schweiz, Amazon SARL in Luxemburg und Amazon UK.
Amazon gestaltete die Abrechnung nun so, dass auf dem Papier die wenigen luxemburger Mitarbeiter (145) einen Umsatzanteil von 7,5 Mrd. erwirtschafteten.
Dagegen wurde den 2265 Mitarbeitern der Amazon UK nur ein Umsatzbruchteil von 0,147 Mrd. GBP zugeordnet. Auf jeden luxemburger Mitarbeiter türmte Amazon damit formal das 797-Fache dessen, was sein britischer Kollege an Umsatz stemmt.
Die Wirkung einer solchen Verschleierung des realen Leistungsortes ist ein wettbewerbsverzerrender Steuervorteil gegenüber dem lokalen Wettbewerb.


...
Title: Kapitalismus (...?)
Post by: Link on August 06, 2018, 10:19:56 AM
Quote... Schulmeister entwickelte ein Modell langer politökonomischer Entwicklungszyklen moderner kapitalistischer Marktwirtschaften, in denen sich zwei gesellschaftliche Machtkonstellationen und darauf basierende Spielanordnungen ablösen: Realkapitalismus und Finanzkapitalismus. Der lange Aufschwung wird durch ein Interessenbündnis zwischen Realkapital und Arbeit gegen das Finanzkapital und ein darauf basierende ,,realkapitalistische" Spielanordnung, der lange Abschwung durch ein Bündnis zwischen Real- und Finanzkapital gegen die Arbeit und eine darauf basierende ,,finanzkapitalistische" Spielanordnung bestimmt. ...

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Stephan_Schulmeister (https://de.wikipedia.org/wiki/Stephan_Schulmeister) (14. Juni 2018)

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Quote[...] Im deutschen Fernsehen wird jeden Abend das Publikum damit vertraut gemacht, was am Tage die Märkte so bewegt hat. Ist das sinnvoll?

Ökonom Stephan Schulmeister: Es ist ein Akt der Gegenaufklärung, der Entmündigung. Der Markt oder die Märkte werden zu einem Subjekt, das handelt, das etwas erwartet oder fürchtet. Vor 40 Jahren, als ich studiert habe, gab es eine solche Sprache nicht. Damals war der Mensch das Subjekt und der Markt sein Instrument, etwas zu erreichen. Heute gilt eher der Satz des Ökonomen Hayek: Die Menschen müssen sich den anonymen Kräften des Marktes unterwerfen.

Hayek argumentierte als Liberaler stets für die Freiheit der Menschen. Wie passt dazu die Aufforderung der Unterwerfung?

Das ist die Paradoxie des Neoliberalismus: Er predigt Freiheit durch Unterwerfung. Die Börsenberichte sind nur ein Teil dieses Systems – ein Teil einer Weltanschauung, in der der Einzelne den Kräften der Märkte ausgeliefert ist und er daher vor der ,,Tagesschau" informiert wird, was diese anonymen Mächte heute so getrieben haben und was sie von uns erwarten.

Diese Erwartungen werden in Aktienindexpunkten formuliert und sind daher nicht besonders eindeutig.

Daher werden die Deuter dieser rätselhaften Mächte wichtiger – wie früher die Schamanen. Erster Schritt: Die Märkte werden zu einem höheren Wesen. Zweiter Schritt: Die Sprache der Märkte ist deutungsbedürftig. Was sagen sie uns? Dritter Schritt: Auftritt der Priester, die den Marktbewegungen einen Sinn ablauschen. Das hat man in der Euro-Krise gut sehen können: Den Märkten wurde eine Art Richterfunktion über Staaten wie Griechenland oder Irland zugewiesen – das waren allerdings die gleichen Märkte, die in den Jahren zuvor Südeuropa bedenkenlos Kredit zu geringen Zinsen gegeben haben. Noch heute werden die Zinsbewegungen an den Börsen gedeutet als das unbestechliche Urteil der Märkte über die Solidität von Regierungen.

Was sie aber nicht sind?

Nein. Es lässt sich zeigen, dass Aktienkurse, Wechselkurse, Rohstoffpreise und zum Teil auch Zinssätze dem Muster von Bullen- und Bärenmärkten folgen. Diesen von den Märkten selbst produzierten Trends rennen Anleger hinterher, wodurch diese Trends wiederum verstärkt werden. Es sind von der realen Ökonomie losgelöste Bewegungen. Da sie gefährlich sind, hat man dem Finanzsektor früher Beruhigungspillen in Form von strenger Regulation verabreicht, so wie einem psychisch Kranken. Schon der Ökonom und Finanzanleger John Maynard Keynes hat gesagt: Die Liebe zum Geld ist eine Krankheit.

Sie kritisieren nicht nur die Macht des Finanzsektors. Sie sprechen von einer ganzen ,,Spielanordnung Finanzkapitalismus". Was meinen Sie damit?

Es ist ein System mit eigenen Regeln. Man muss sich klar machen: Es gibt drei Arten der Beteiligung am erwirtschafteten Ertrag: Für unternehmerisches Handeln gibt es Profit, für Arbeit den Lohn. Die dritte Kategorie sind Finanzanleger, aber auch Immobilienbesitzer. Quelle ihres Einkommens ist keine Leistung, sondern allein der Besitz. Diese Quelle des Einkommens gewinnt im Finanzkapitalismus an Bedeutung.

Was ist daran schlecht?

... Wenn Besitz, wie zum Beispiel Aktien, höhere Erträge abwirft als unternehmerisches Handeln, dann wird die Anreizstruktur verzerrt: Finanzspekulation lohnt sich mehr als das Schaffen echter Werte. Finanzkapitalismus heißt, dass das Gewinnstreben sich verschiebt von der Herstellung von Gütern zur Spekulation auf Bewertungsveränderungen. ... Normalerweise zerstört sich der Finanzkapitalismus selbst, da gibt es einige Beispiele in der Geschichte. Zum Beispiel nach den Hochkonjunkturen 1865 bis 1873 oder 1925 bis 1929. Stets folgte eine Depression. Denn eine finanzkapitalistische Spielanordnung produziert permanent riesige Finanzvermögen, die keine realwirtschaftliche Deckung haben. Das geschieht seit den siebziger Jahren wieder.

Von einer großen Depression ist allerdings bislang nichts zu sehen.

Die früheren großen Kapitalismuskrisen waren Keulenschläge. Derzeit erleben wir eher eine Strangulation – die Krise streckt sich über inzwischen 40 Jahre. Sie ist mittlerweile so eine Art Normalzustand und wirkt dadurch wie ein Sachzwang. Dadurch haben es die jungen Leute heutzutage gar nicht so leicht aufzubegehren. Sie haben gar keine Vorstellung mehr davon, dass es eine Welt geben kann, in der es zum Beispiel Vollbeschäftigung und sichere Jobs gibt – Dinge, die früher mal normal waren.

...

QuoteOntologix Pontifex minimus

... Ich hatte mir schon oft die Old Economy zurückgewünscht, in der es das Ziel eines Unternehmers war, gute Produkte herzustellen. Die New Economy der Wall Street predigt das Geldmachen, egal wie. Und die Politiker Thatcher, Reagan, Pinochet, Blair, Clinton und Bush schufen die politischen Rahmenbedingungen für diese Ausbeutung. [ROT/GRÜN (also Schröder/Fischer) nicht [zu] vergessen!] Traurige Zeiten.


Quoterita momo

Schröder/Fischer sind doch nur in einem vorhandenen Strom mitgeschwommen. "Sie [die Krise] ist mittlerweile so eine Art Normalzustand und wirkt dadurch wie ein Sachzwang." Leider hatte damals kaum jemand den Weitblick, das zu erkennen, vor allem die Wähler nicht.


Quotekastner63

... Obendrein kann sich der Normalbürger dem gar nicht unterwerfen, sondern er wird mitgeschleift, denn der Normalbürger, der Bürger ohne Anlagen usw., ist kein Akteur der Märkte.



QuoteMalteSehr

Gute Analyse, die zu denken gibt, sofern man nicht schon selbst darauf gekommen ist:

* In den Finanzmärkten wird das Geld durch Spekulation "verdient". Reale Werte stehen kaum dahinter, ebenso wenig wie z.B. bei der Blauen Mauritius, mit der man noch nicht einmal einen Brief versenden könnte. Daher sind diese Märkte so fragil wie Seifenblasen. ("Normalerweise zerstört sich der Finanzkapitalismus selbst.")

* Das Geld, was Finanzjongleure einkassieren, haben andere durch harte Arbeit in der Realwirtschaft verdient. Die Gewinne (wie auch die Tatsache, dass die deutsche Wirtschaft einen hohen Exportüberschuss aufweist) beruhen auf dem zu niedrigen Lohnniveau, um nicht zu sagen auf Dumping-Löhnen. Die Schere zwischen arm und reich geht immer weiter auseinander, die Politik wirkt dem nicht entgegen. Einer, aber ein wichtiger Grund, warum immer mehr alternativ gewählt wird.

* Ursache für die heutige Situation ist die Liberalierung in den 1970er Jahren. ("Um die Vermehrung dieser Vermögen zu erleichtern, wurde der Finanzsektor liberalisiert.")


...


Aus: "Finanzsystem ,,Wir erleben derzeit eine Strangulation"" (04.08.2018)
Quelle: http://www.fr.de/wirtschaft/finanzsystem-wir-erleben-derzeit-eine-strangulation-a-1556577,0#artpager-1556577-1 (http://www.fr.de/wirtschaft/finanzsystem-wir-erleben-derzeit-eine-strangulation-a-1556577,0#artpager-1556577-1)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on August 27, 2018, 12:19:14 PM
Quote[...] Während ich vor Ihnen auf der Bühne stehe, brennt mein Wald nieder. Also entschuldigen Sie bitte, wenn ich emotionaler als sonst bin, und vielleicht nicht ganz so konzentriert." So leitet der Wirtschaftsanthropologe Alf Hornborg in einem Malmöer Theater seinen Vortrag zum Zusammenhang zwischen Geldsystem und Nachhaltigkeit ein. ,,Ohne die Trockenheit und die Blitzeinschläge diesen Sommer wäre das nicht passiert. Das Klimadesaster ist schon angekommen."

Die Männer und Frauen, zu denen er an diesem Abend sprechen wird, haben diese Einleitung eigentlich nicht nötig. Denn die Überzeugung, dass das menschliche Leben auf der Erde bedroht ist, wenn die Menschheit so weitermacht, hat sie alle nach Malmö geführt. Von 21. bis 25. August diskutierten sie auf der 6. Internationalen Degrowth-Konferenz darüber, wie ein Wirtschaftssystem ohne Wachstumszwang aussehen könnte. Zu Ende ging die Konferenz am Samstag mit einer Demonstration für Klimagerechtigkeit im Malmöer Stadtzentrum.

Es sind einige hundert Wissenschaftler, Studierende und Aktivisten, vor allem aus Europa, manche auch aus Ländern des globalen Südens, die sich alle zwei Jahre auf einer großen Konferenz auf Podien, in Workshops und Kaffeepausen über ihre Forschungsarbeiten austauschen, aber auch über zivilgesellschaftliche Projekte wie innovative Währungen, wachstumsunabhängige Unternehmen oder neue Formen der politischen Partizipation.
Sie fragen sich, wie eine Welt aussehen könnte, in der Unternehmen weniger Macht haben, die Demokratie dafür größere Spielräume. Sie überlegen sich, wie das Konsumniveau in westlichen Ländern auf ein Maß geschrumpft werden kann, das im Einklang mit den verfügbaren Ressourcen steht. Diese Ansätze sind radikal – sie stellen den Kapitalismus infrage.
Wer solche Ansätze vertritt, ist es gewohnt, damit allein zu sein. Diesmal aber sind die Idealisten unter sich: Per Email wurden die Teilnehmenden gebeten, vorab anzugeben, ob sie selbst eine Kaffeetasse mitbringen, um Müll zu vermeiden. Neben Kuhmilch gibt es am Buffet auch Ersatz aus Hafer. Die meisten hier sind ohne Flugzeug angereist, könnten von langen Fahrten mit Bus, Zug und Fähre erzählen. Aber obwohl möglichst umweltfreundlicher Konsum für die Konferenzteilnehmerinnen eine Selbstverständlichkeit ist, sind sie überzeugt, dass das nicht ausreicht.

,,Die Strukturen müssen sich ändern, damit die Menschen echte Alternativen haben. Das Auto muss durch gute öffentliche Verkehrsmittel leicht ersetzbar werden, auf Flüge und SUVs braucht es höhere Steuern.", sagt Politikwissenschaftler Ulrich Brand. Alternativen brauche auch der globale Süden. ,,Die Menschen sollen selbst entscheiden, wie sie leben wollen. Im Moment zählen nur Wirtschaftsinteressen, und unter dem Vorwand der Entwicklung werden Mensch und Natur ungebremst ausgebeutet."

Wie aber kann ein solch tiefgreifender Wandel erreicht werden? Um Menschen zu erreichen, braucht es praktische Ansätze, ist Alf Hornborg überzeugt. ,,Erst in dem Moment, wo eine Lösung im Raum steht, ist es möglich, das Problem zu akzeptieren," sagt er. Seiner Meinung nach ist vor allem unser Geldsystem, durch das jede Form von Ware und Dienstleistung mit jeder anderen direkt vergleich- und tauschbar gemacht wird, ein Problem.

Er plädiert in seinem Vortrag dafür, mehrere parallele Geldsysteme einzuführen, um Wirtschaftskreisläufe zu trennen: Geld für Produkte aus der Region, Geld für Dinge aus dem Umkreis von ein paar tausend Kilometern Entfernung, und globales Geld beispielsweise. Damit alternative Währungen wirklich relevant werden, helfe es, wenn man zum Beispiel seine Steuern damit zahlen kann, erklärt Hornborg. Eine andere Idee ist, ein Basiseinkommen an alle Bürger in dieser Währung auszuzahlen – als Gegenleistung für einige Wochenstunden gemeinnützige Arbeit. Ein solches System wird gerade in Barcelona ausgearbeitet. Welche Arbeiten das sein sollen, werden die Bewohner für ihre Nachbarschaft jeweils selbst entscheiden.

In einer Wirtschaft ohne Wachstum gäbe es auch weniger Steuergeld für Sozialpolitik. Deshalb machen sich Degrowth-Ökonominnen dazu Gedanken, wie Gesundheitssystem, Erziehung, Altenpflege und Infrastrukturen in einer solchen Gesellschaft organisiert werden könnten. Immer wieder fällt der Begriff ,,commoning". Die Idee: Privateigentum wird durch gemeinschaftlichen Besitz ersetzt, und Bürger werden in die Verwaltung und Bereitstellung von Diensten eingebunden, immer so lokal wie möglich. Das könnte Gärtnern sein, auf Kinder aufpassen, Dinge reparieren. Die nötige Zeit hätten die Menschen zum Beispiel durch eine Verkürzung der Arbeitszeit, stellt man sich in Malmö vor.

Den Teilnehmern der Konferenz ist bewusst, dass es noch lange keine Mehrheiten für solche Konzepte gibt. Doch die Überzeugung, dass sie im Recht sind und die Zeit reif ist für einen Systemwandel hin zu einer ökologischeren und solidarischeren Welt, gibt ihnen die Energie, trotz oft recht frustrierender Erfahrungen weiterzumachen.
Eine junge Aktivistin aus Schottland erzählt, wie sie sich bei den Gewerkschaften für Umweltpolitik einsetzen wollte und keiner sie ernst nahm. Umweltschutz, das sei etwas für grüne Bildungsbürger, nicht für Arbeiter. Und wenn durch Erdgas-Fracking sichere Jobs für ihre Kinder entstehen würden, dann wären diese Funktionäre dafür, auch wenn ihnen die verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt bewusst seien.

Das Problem, so der Tenor dieser Konferenz, sei vor allem der Neoliberalismus, der den Menschen die Sicherheit genommen und sie zu Einzelkämpfern in einer immer schwierigeren Welt gemacht habe, wo sie sich doch solidarisieren müssten, um sich gegen den Widerstand der Reichen und Mächtigen eine bessere Welt zu erkämpfen. Zum Nachdenken und Träumen käme man in diesem System kaum mehr.

,,Die globale Ökonomie ist nichts anderes als ein Brettspiel", sagt Hornborg. ,,Wenn die Bösen gewinnen, dann nicht, weil sie besser spielen als die anderen, sondern weil die Regeln so sind, wie sie sind. Aber die Spielregeln sind keine Naturgesetze. Menschen haben sie gemacht und Menschen können sie ändern."


Aus: "Degrowth-Konferenz: Neue Spielregeln in der Wirtschaft" Ruth Fulterer (27.08.2018)
Quelle: http://www.fr.de/wirtschaft/degrowth-konferenz-neue-spielregeln-in-der-wirtschaft-a-1570671,0#artpager-1570671-1 (http://www.fr.de/wirtschaft/degrowth-konferenz-neue-spielregeln-in-der-wirtschaft-a-1570671,0#artpager-1570671-1)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on September 02, 2018, 03:38:58 PM
Quote[...] Die Reichen werden in Deutschland immer reicher. Die Zahl der Millionäre hat in den letzten 15 Jahren um 85.000 zugenommen und liegt jetzt bei 1,4 Millionen, berichtet der Business Insider. Die Zahl der Millionäre steigt also, während die Reallöhne im Durchschnitt eher stagnieren und das Segment der Niedriglöhner wächst und wächst.

Am besten lebt es sich derweil an der Spitze bei den 1000 Reichsten, von denen knapp ein Viertel Milliardäre sind. Deren Vermögen nahm allein im vergangenen Jahr um 13 Prozent zu. 13 Prozent! Wie hoch war noch mal gleich ihre letzte Lohnerhöhung, verehrte Leserin, verehrter Leser?

Die deutsche Wirtschaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt, ist in dieser Zeit jedenfalls nur um 2,2 Prozent gestiegen, das heißt, die oberen 1000 haben nicht nur ihre Position gehalten, sondern ihr Stück vom Kuchen weiter vergrößert.

Dabei ist es nicht so, dass der Haufen, auf den der Teufel da mal wieder sein Geschäft gemacht hat, vorher klein gewesen wäre: Laut Focus wird das Vermögen der 1000 reichsten Deutschen auf 1,177 Billionen Euro geschätzt.

Um das mal ins Verhältnis zu setzen: Der Bund gibt in diesem Jahr rund 335 Milliarden Euro für all seine Aufgaben aus. Das heißt, vom Vermögen der 1000 Reichsten könnte das Land in gewisser Weise drei oder, wenn wir alle öffentlichen Haushalte zusammen nehmen, immer noch knapp zwei Jahre leben.

Nun kann man, wie es das Magazin macht, einfach alle jene, die sich an diesem obszönen Reichtum stoßen, als Neider abstempeln. Man kann auch nach Sündenböcken suchen, damit nicht allzu laut über das Naheliegende nachgedacht wird.

Letzteres wird ja von gewalttätigen Fußtruppen in Chemnitz derzeit eifrig getan und ein bestens situierter ehemaliger Berliner Finanzsenator und Bundesbanker, langjähriger Profiteur und Mitorganisator der Umverteilung von unten nach oben, liefert ihnen und ihren biederen Sympatisanten gerade jede Menge neue Argumentationshilfen.

    Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
    Art. 14 (2) GG

Man kann aber auch doch noch einmal über das Naheliegende nachdenken, sich an die vom Grundgesetz geforderte soziale Verantwortung des Eigentums erinnern und überlegen, was mit dem Geld alles Schönes angestellt werden könnte, wie mit ihm die schwer gebeutelten Beschäftigten in der Pflege besser entlohnt und dort mehr Arbeitsplätze geschaffen werden könnten.

Man könnte darüber nachdenken, wie die Grundschullehrer besser entlohnt und die Klassen verkleinert werden könnten, wie die Versorgung mit Ärzten wieder auf das Niveau der 1980er Jahre zu bringen wäre, wie in den Kommunen mehr Personal von der Kita über die Straßenreinigung bis in die Bauverwaltungen eingestellt werden könnte usw. usf.

Utopisch? Vielleicht müsste man ja einfach nur aufhören, Rattenfängern hinterher zu laufen, beginnen die richtigen Fragen zu stellen und sich umschauen, wie in der Vergangenheit und in anderen Ländern die kleinen Leute ihre Interessen durchgesetzt haben?


Aus: "Obszöner Reichtum: Die oberen 1000 haben jetzt über eine Billion Euro" Wolfgang Pomrehn (02. September 2018)
Quelle: https://www.heise.de/tp/news/Obszoener-Reichtum-Die-oberen-1000-haben-jetzt-ueber-eine-Billion-Euro-4152916.html (https://www.heise.de/tp/news/Obszoener-Reichtum-Die-oberen-1000-haben-jetzt-ueber-eine-Billion-Euro-4152916.html)

Quoteschlägerpolizist, 02.09.2018 12:53

Aber, aber ... der Trickle-down-Effekt!

Ja, aber was ist denn mit dem Trickle-down-Effekt, hä? Der besagt doch – und das wird uns doch immerzu in die Ohren getrötet – dass der Reichtum der oberen Zehntausend allmählich nach unten in die niedrigeren Schichten tropft und uns alle glücklich und reich und wohlhabend macht!!!einself111

Wie kann es denn da sein, dass die Vermögen der unteren Schichten – der Arbeiter, Angestellten und Kleinselbstständigen immer weniger werden, während das Vermögen der Reichen immer größer wird?

Kann es etwa sein, dass es genau umgekehrt ist? Kann es sein, dass in Wahrheit eine Umverteilung stets von unten nach oben stattfindet?
NEIN, NEIN, das kann doch gar nicht sein! Dann wären wir ja Jahrzehnte lang belogen worden und das würde doch niemand tun...


QuoteBGMD, 02.09.2018 10:23

13% vs. 2%

Die Zahlen im Artikel sollten auch dem letzten einleuchten lassen, dass extremer Reichtum immer auf Kosten anderer angehäuft wird.


...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on September 17, 2018, 05:31:10 PM
"Im Reich der Gier" Yanis Varoufakis | Ausgabe 35/2018
Mythos - Der Kapitalismus ist entzaubert und bringt uns das größte Faschismusproblem seit den Dreißigern. ... Die meisten meiner deutschen Freunde können es bis heute nicht verstehen: Wie konnte es passieren, dass die Deutsche Bank und der Rest der deutschen Banken 2008 praktisch pleitegingen? Wie kann eine Branche innerhalb von 24 Stunden vom Jonglieren mit Milliarden in die Insolvenz abstürzen, sodass die Steuerzahler sie retten müssen? Die Antwort ist so einfach wie niederschmetternd.
Nehmen wir die deutschen Banken und Exporteure im Sommer 2007: Deutschlands volkswirtschaftliche Gesamtrechnung weist einen großen Überschuss im Handel mit den USA aus. Genauer gesagt, liegt Deutschlands Export-Einkommen durch den Verkauf von Mercedes-Benz-Autos und ähnlichen Waren an amerikanische Verbraucher im August 2007 bei entspannten fünf Milliarden Dollar. Was die deutsche volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aber nicht zeigt, ist das wahre Drama hinter den Kulissen: das, was wirklich vor sich ging.
Zwischen Anfang der 1990er und 2007 hatten Wall-Street-Banker Unmengen toxischer Quasi-Geld-Derivate zusammengeschustert und es geschafft, dass deren Marktpreise stark anstiegen. Die Banker in Frankfurt am Main wiederum waren scharf darauf, diese lukrativen Derivate zu kaufen. Sie taten das mit Dollars, die sie sich dafür ausliehen, und zwar von – der Wall Street.
Im August 2007 dann begann das Horrorjahr der Wall Street, das im September 2008 mit der Lehman-Pleite seinen Höhepunkt erreichte. Wie es unvermeidlich gewesen war, begann der Preis der Derivate zu fallen. Die deutschen Banker traf der Schlag, als ihre in Panik verfallenen New Yorker Kollegen ihre Dollarschulden einzutreiben begannen. Die deutschen Banker brauchten sehr schnell Dollars, aber niemand wollte den Berg an toxischen US-Derivaten, den sie gekauft hatten, haben.
Das ist der Grund dafür, dass die deutschen Banken, die auf dem Papier über Gewinne im Überfluss verfügten, von einem Augenblick zum anderen dringend Geld in einer Währung benötigten, die sie nicht besaßen. Hätten sie nicht US-Dollars von Deutschlands Exporteuren leihen können, um ihre Dollar-Obligationen zu erfüllen?
Sicher, nur reichte das bei Weitem nicht aus: Was konnten die fünf Milliarden US-Dollar aus Exporten im August helfen, wo die Außenstände der deutschen Banker bei der Wall Street doch mehr als 1.000 Milliarden US-Dollar betrugen?
Man könnte das, was hier im globalen Maßstab vor sich ging, so zusammenfassen: Einseitigen, in US-Dollar denominierten Finanzströmen, die ursprünglich aufgrund des US-Handelsdefizits gewachsen waren, ,,gelang" es, sich von den sie ermöglichenden wirtschaftlichen Werten und Handelsvolumen zu lösen. Die Banker hatten toxische, in US-Dollar notierte Papiere erfunden und diese dann in ihre eigenen Bilanzen geschrieben. Dieses Vorgehen beschleunigten sie derart, dass sie die Schwerkraft fast schon überwunden hatten und ins All hochgeschossen waren – nur um 2008 dann dramatisch abzustürzen.
Von diesem Augenblick an setzten die Politiker alles daran, die Verluste von den Verursachern, den Bankern, auf unschuldige Dritte abzuwälzen: Mittelschicht-Schuldner, lohnabhängige Arbeiter und Angestellte, Erwerbslose, Menschen mit Behinderung und Steuerzahler, die es sich nicht leisten konnten, Depots in Steueroasen zu unterhalten. Vor allem in Europa wurde ein Land gegen das andere aufgehetzt – und zwar von politischen Eliten, die entschlossen waren, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Aus einer von Bankern in Nord und Süd verursachten Krise machten sie einen Konflikt zwischen arbeitsscheuen Südländern und hart arbeitenden Nordeuropäern, oder eine Krise von angeblich allzu großzügigen Wohlfahrtssystemen in Deutschland, Italien oder Griechenland. Man muss kein Genie sein, um die Puzzleteile zusammenzusetzen und zu verstehen, warum – angesichts des Fehlens einer ernsthaften, wirkungsvollen, mit einer Stimme sprechenden Linken – in den USA und vor allem in Europa Nationalismus, Rassismus und eine allgemeine Menschenfeindlichkeit triumphieren.
... Wir sind an einem Punkt angelangt, der für unsere Generation den 1930er Jahren entspricht – kurz nach dem Crash, im Angesicht eines faschistischen Momentums. Die für diese Generation drängende Frage ist hart. Aber auch wenn kein junger Mensch es verdient hat, mit solch einer harten Frage konfrontiert zu werden, so haben wir alle doch kein Recht, uns ihrer Beantwortung zu entziehen: Wann und wie werden wir gegen die nationalistische Internationale aufstehen, die im gesamten Westen durch den hirnverbrannten Umgang der Technostruktur mit ihrer unvermeidlichen Krise entstanden ist?
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/im-reich-der-gier

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Querlenker | Community

... Jedoch, was hat das alles ursächlich mit dem Lehmann Crash von 2008 zu tun?



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Sägerei | Community

@ Querlenker

Geschichtsschreibung, Schuldzuweisung, Erklärungen, die nicht an den Herrschaftsstrukturen kratzen. Keine Zinsen mehr zu bekommen ist für die deutsche Mittelschicht die schmerzhafteste Folge von 2018, wie Mr. Varufakis ausführte. Das bleibt so bis zur nächsten Nachkriegszeit. Kapital ist jetzt wieder etwas für professionelle Kapitalisten. Für Kleinbürger auf der Suche nach dem finanziellen Perpetuum Mobile ist das Thema verbrannt. Wir sollen gefälligst arbeiten, unsere privaten Versicherungspolicen und Konsumentenkredite bezahlen. Mit dem erwirtschafteten Mehrwert sollen wir die Realwirtschaft am Laufen halten, uns aber aus dem Kapitalmarkt weitgehend heraushalten. Selbstständig machen? Nur wenn Du über Sicherheiten verfügst, die Deinen Investitionskredit doppelt und dreifach absichern. Komm, geh arbeiten und überlass die Investitionslenkung anderen.

Zu der Regulierungskrise, die Mr. Varufakis beschreibt kommt ja noch die ökologische Krise und die massive Überbevölkerung (jedenfals gemessen an unserem Lebenswandel). Auch hier punkten die Faschisten. Einerseits leugnen sie das alles aus machtstrategischen Gründen komplett, andrerseits bereiten sich die radikalsten unter ihnen auf den Tag vor, an dem die Supermärkte nicht mehr beliefert werden (sog. Prepper). Seit 40 Jahren raunt die urgrüne Weissagung der Hopi in unseren Schädeln ("wenn der letzte Fisch gefangen..."), und es spricht wirklich sehr viel dafür, dass wir mit China und Indien im selben Boot einen Punkt ohne Widerkehr überschritten haben. Für diejenigen, die individuell überleben wollen ist das Preppen ein sinnvolles Hobby. Für diejenigen, die kollektiv überleben wollen ist die Aufrechterhaltung von Ordnung das entscheidende Argument pro Faschismus. Ich glaube, dass Geheimdienste ganz ähnliche Perspektiven aus ihren Erkenntnissen ableiten. Anarchie unter Millionen von lebensuntüchtigen Wohlstandszombies (mich eingeschlossen) mag ich mir auch nicht ausmalen.

Die liberale Fraktion scheint das Thema ebenfalls aus machtstrategischen Gründen auszublenden. Bei deren federführenden Vertretern habe ich den Eindruck, dass sie komplett der US-Ostküstenelite folgen, einerseits wegen des unbeschränkten Kapitals (s. Artikel), andererseits weil dort die größte Expertise in modernem Zivilisationsmanagment zu finden ist. Diese "progressiven" Kräfte wollen alles tun was technisch und kulturell möglich ist, um ohne Zivilisationsbruch so viele Menschen wie möglich durchzubringen (aber wohin?). Mit Trump und Co. bricht ihnen sowohl das Kapital als auch die Regulierungsfähigkeit weg. Der Neofeudalismus, der da auf uns zurollt braucht keine Lösungen für irgendwas zu entwickeln. Er muss nur seine Gefolgschaft unter Kontrolle halten und alle anderen ihrem Schicksal zu überlassen.



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iDog | Community

@ Madame Fu

"Und Politik ist dazu da Ökonomie und Gesellschaft auszubalancieren, was aber leider nicht praktiziert wird - aus Unfähigkeit oder Mutwilligkeit oder beidem..."

Es ist weder Unfähigkeit noch Mutwilligkeit im eigentlich Sinne. Man kann es natürlich so interpretieren , verfehlt aber den entscheidenen Punkt dabei. Diese Interpretation entstammt eher einer überholten Auffassung von Politik.

Tatsächlich mag es in manchen Perioden zumindest scheinbar oder oberflächlich betrachtet einen gewissen Ausgleich zwischen Ökonomie und Gesellschaft über die Politik als Mittelsmann gegeben haben. Man macht sich heute aber nicht mal mehr die Mühe die offensichtliche Komplizenschaft zwischen Großinduntrie und staatlicher Dienstleistung zu kaschieren. An sich aber ist Politik = Wirtschaft.

Die historischen herleitung , bzw. Kausalkette spar ich uns jetzt mal, aber der mehr oder wenihger bekannte Status Quo ist bemerkenswert: Die Monopolisierung der globalen Wirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten so rasant zugenommen, dass die 500 größten Firmen der Welt etwa 53 % des globalen Bruttosozialprodukts kontrollierten, die 85 Reichsten Personen der Welt besitzen 50% des Weltvermögens (Oxfam). Ein Investmentmanagment Firma wie BlackRock (das ist keine Bank udn unterlegt daher auch keiner Regel) hat mittlerweile das Verwaltungsvolumen von 6000 Millarden überschritten und ist damit praktisch Regierungsmacht in sehr vielen industrialisierten Ländern der Welt, weil sie bedeutende Anteile an jeder globalen Firma halten, Anteile an zB jeder deutschen Dax notieretn Firma, an jeder französischen CAC 40 notierten Firma usw usf.. Im Vergleich dazu das Jahresbudget Frankreichs oder Deutschland um die 360 Milliraden. Mit anderen Worten , die haben über die Finanzmacht einen viel größeren Einfluss auf alles als jede einzelne Regierung, können Regierungen im Standortwettkampf gegeneindander ausspielen, befördern ungehindert die weiter Monopolisierung und Machtakkumulation (zB. Bayer und Monsanto waren beides Firmen dis starkt von BlackRock beeinflusst und nun von BlackRock zusammengeleget wurden)....

Kurz , was früher vielleicht Unfähigkeit oder Mutwilligkeit, Opportunismus oder Korruption war oder genannt wurde, ist heute ganz offensichtlich und einfach nur noch pure Machtlosigkeit. Der Staat und seine "Politik" fallen weitfgehend unter Servicleistungen für die Großindustrie - siehe Entscheidungen zu Glyphosat, Energiepolitik etc. oder zur Steuerpolitik. Da braucht einen die Personalauswahl in der Politik nicht weiter wundern, oder?


tbc
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on September 17, 2018, 05:41:34 PM
"Abhängigkeit vom Wirtschaftswachstum beenden!"
Gastbeitrag - Das Streben nach Wachstum um jeden Preis spaltet die Gesellschaft, schafft wirtschaftliche Instabilität, untergräbt die Demokratie. Europa muss umdenken! Ein Brandbrief --- In den vergangenen 70 Jahren war das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) das übergeordnete wirtschaftliche Ziel der europäischen Staaten. Während aber unsere Volkswirtschaften gewachsen sind, haben auch die negativen Auswirkungen unseres Wirtschaftens auf die Umwelt weiter zugenommen. Wir überschreiten bereits heute die ökologischen Grenzen, die der Menschheit einen sicheren Handlungsraum auf diesem Planeten geben. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich die Wirtschaftstätigkeit auch nur annähernd so weit von Ressourcenverbrauch oder Umweltverschmutzung entkoppelt, wie es tatsächlich notwendig wäre. Um die sozialen Probleme in den europäischen Ländern zu lösen, brauchen wir heute kein weiteres Wachstum. Was wir brauchen, ist eine gerechtere Verteilung der Einkommen und des Reichtums, den wir bereits haben. ...
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/abhaengigkeit-vom-wirtschaftswachstum-beenden

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""Inside Lehmann Brothers" Drogen, Druck, Dollars"
,,Jemand hat ihnen einen falschen Traum verkauft": Eine Arte-Dokumentation erzählt vom Aufstieg und Fall von Lehman Brothers. Thomas Gehringer (17.09.2018)
https://www.tagesspiegel.de/medien/inside-lehmann-brothers-drogen-druck-dollars/23077808.html

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",,Lehman. Gier frisst Herz" - Schnelles Geld"  Daland Segler (23.09.2018)
...Dem Regisseur Raymond Ley gelingt eine spannende Aufarbeitung des weltweit bisher größten Finanzskandals. ... ,,Lehman. Gier frisst Herz" heißt der Film, und Ley und Eisfeld schaffen es, die Hektik, die Nervosität und die Brutalität eines Gewerbes zu vermitteln, dessen Krise weltweit katastrophale Folgen für unzählige Menschen hatte – nur nicht für die Verantwortlichen. Richard Fuld, zur Zeit des Konkurses von Lehman Brothers deren Vorsitzender, lässt es sich mit Boni-Millionen als Kunstsammler gutgehen. Josef Ackermann, als Chef der Deutschen Bank Mittäter, ist nicht mal vorbestraft und darf seit 2014 den Verwaltungsratspräsident der Bank of Cyprus spielen.
Ackermann wie auch andere Größen des Finanzkapitals haben ihren Auftritt in Leys Film. Denn der verbindet Fiktion mit Dokumentation – ein angemessener Umgang mit dem Thema: Soll keiner auf die Idee kommen, das sei alles erfunden. Ist es nicht.
Wer seinerzeit die Demonstrationen der Geschädigten vor den Sparkassen-Filialen gesehen hat, weiß, dass zum Beispiel die Restaurantbesitzer Claudia und Torsten Büttner (Susanne Schäfer und Oliver Stokowski) mitten aus dem Leben gegriffen sind. Wie sie haben Tausende ihr Geld auf Anraten ihrer Bank in Papieren angelegt, die mit der Lehman-Pleite nur noch das waren: Papier. Tatsächlich äußern sich auch einige Opfer des Lehman-Skandals. Ihnen allen ist gemeinsam: Sie hatten keine Ahnung vom drohenden Unheil, weil sie ihrem ,,Bankbeamten" vertraut haben.
Raymond Ley vermag es, mit einer rasanten Montage (Schnitt: David Kuruc) und dokumentarisch wirkenden Szenen aus Frankfurt (Kamera: Dominik Berg) die auseinanderdriftende Lebenswirklichkeit der ,,normalen" Bürger und der Investment-Banker in Bilder zu fassen. Gier regierte die Welt, und der Tanz ums Goldene Kalb wurde online aufgeführt.
Karl Dannenbaum, Ex-Geschäftsführer von Lehman Deutschland, ist real mit seiner heutigen Bewertung der Ereignisse und als fiktiver Charakter eine zentrale Figur, auch selbst ein Getriebener von den Machenschaften der Bankzentrale in den USA. Wie auch die Politiker: Selbstverständlich zeigt Ley noch einmal die leeren Versprechungen Angela Merkels und Peer Steinbrücks (damals Finanzminister), das Geld der Sparer sei ,,sicher". Heute muss Steinbrück zugeben, man habe 2008 einen ,,Kontrollverlust" erlitten.
Die enge Verzahnung von Realität (mit Interviews) und Schilderung des Schicksals von fiktiven Bankkunden bewahrt den Film davor, in Klischees abzugleiten. So ist Ley eine spannende Aufarbeitung des weltweit größten Finanz-Skandals gelungen, an dessen Ende sich auch das Bild des Sparkassen-Angestellten Arne Breuer radikal verändert hatte: Aus dem Bankbeamten wurde der ,,Bankster".
http://www.fr.de/kultur/netz-tv-kritik-medien/tv-kritik/lehman-gier-frisst-herz-schnelles-geld-a-1588109

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on September 24, 2018, 04:14:42 PM
"Wir Versprengten in der Kränkungsgesellschaft" (24. September 2018)
Der Bestsellerautor Hans-Peter Martin, ehemaliger "Spiegel"-Korrespondent und unabhängiger Europaparlamentarier, veröffentlicht in dieser Woche sein neues Buch "Game Over". Telepolis bringt exklusiv erste Auszüge.
https://www.heise.de/tp/features/Wir-Versprengten-in-der-Kraenkungsgesellschaft-4170961.html

GAME OVER
Wohlstand für wenige,
Demokratie für niemand,
Nationalismus für alle
und dann?
https://hpmartin.info/

Quotegrftjx, 24.09.2018 09:41

Der Kinderglaube des Herrn Martin

Die "gute alte Zeit" der kapitalistischen Demokratien war die Zeit, als man den Leuten noch erzählen konnte, dass der Weg zur Glückseligkeit aller darin besteht, dass alle gemeinsam für Wohlstand und Wachstum arbeiten. Sicher, dabei werden einige etwas mehr am Ende haben als andere, aber erstens geht es trotzdem allen immer besser, und zweitens kann man sich ja besonders anstrengen und zu denen aufsteigen, die mehr bekommen.

Natürlich war das immer eine Lüge. Schon mit bescheidenen Mathematikkenntnissen war leicht zu sehen, dass sich bei diesem System immer mehr Vermögen in den Händen von sehr wenigen ansammeln würde, bis die Kluft zum Rest so groß wird, dass diese wenigen über absolute Macht verfügen. Und genau das war selbstverständlich auch immer das Ziel.

Wir haben dieses Ziel weitgehend erreicht, und es beginnt auch den letzten zu dämmern, dass sie einer Lüge aufgesessen sind, und dass ihr eigenes Wohlergehen in diesem abgekarteten Spiel nie die geringste Rolle gespielt hat.

Nun ist es aber schon so, dass es für jene, die jetzt absolute Macht haben, praktisch wäre, wenn man die Illusion von Demokratie noch eine Weile aufrechterhalten könnte, während man im Hintergrund die Umstellung auf totalitäre Herrschaftsausübung weiter vorbereitet. Und dafür sind Bücher wie das von Herrn Martin, wo man sich weiter an die Lügen von damals klammert, ungemein nützlich und fördernswert.


QuoteOberstMeyer, 24.09.2018 11:07

Das alte Kriegsleiden der liberalen Linken

Nicht zuletzt durch die Manipulationen von VWL- und BWL-Lehre hält sich hartnäckig die irre Auffassung, daß Kapitalismus im Grund ganz o.k. sei, dieser nur vernünftig zu handeln und sozial zähmbar sei. Das ist auch als Hintergrund der Darlegungen des Autors zu bemerken. Dem liegt ein völliges Nichtverstehen der autarken und autonomen Abläufe in der Entwicklung der Produktionsverhältnisse, deren eigentlicher Kern der Wert ist, zugrunde. Leider erwischt diese Illusion auch leidenschaftliche Kritiker des "gegenwärtigen" Kapitalismus wie den Autor und auch den erwähnten Harald Schumann. Es gibt diesen "gegenwärtigen" Kapitalismus, der irgendwie aus dem Ruder gelaufen sei, nicht, auch keinen vernünftigen oder idealen. Es gibt nur Kapitalismus immer in einer logisch entwickelten Phase, der jetzt die kritisierten Erscheinungsformen hervorbringen muß. "Korrekturen", wie sie dem Autor vielleicht vorschweben, bringen evt. einige geschliffenere Kanten, halten den logischen Prozeß jedoch nicht auf. Dazu sei auf die Diskussion auf keimform.de verwiesen: http://keimform.de/2018/kritik-der-aufhebungs-und-keimformtheorie/
Beide mögen ja integre Personen sein, jedoch kommen sie so nie auf den Punkt und schrammen zunehmend die Hoffnungslosigkeit, zu besichtigen z.B. bei der Veranstaltung im Grips ("Fabian Scheidler, Harald Schumann im Grips Theater: Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen - Am 07.03.2018 veröffentlicht

Mit: Fabian Scheidler, Autor ("Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation", "Chaos. Das neue Zeitalter der Revolutionen" (www.revolutionen.org)) und Harald Schumann, Journalist beim Tagesspiegel und bei "Investigate Europe", Buchautor ("Die Globaliserungsfalle", "Der globale Countdown"), Autor der Arte-Filme "Staatsgeheimnis Bankenrettung", "Troika: Macht ohne Kontrolle" und "Das Microsoft-Dilemma".
Fabian Scheidler und Harald Schumann diskutieren über die globalen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft: die Krise des Lebens auf der Erde, die zunehmende Spaltung zwischen Arm und Reich und das geopolitische Chaos, das mit dem Niedergang der US-Hegemonie und dem Aufstieg Chinas verbunden ist." ---> https://www.youtube.com/watch?v=WC6lFfinzDM (https://www.youtube.com/watch?v=WC6lFfinzDM) [// https://de.wikipedia.org/wiki/Fabian_Scheidler (https://de.wikipedia.org/wiki/Fabian_Scheidler)], https://www.taz.de/!bo=18746e22b9cfdfa213/ (https://www.taz.de/!bo=18746e22b9cfdfa213/) [Kontext TV ist ein unabhängiges Nachrichtenmagazin mit Sitz in Berlin. Inspiriert von dem US-amerikanischen Sender Democracynow! lässt Kontext kritische Stimmen aus dem In- und Ausland zu drängenden Gegenwarts- und Zukunftsthemen wie Klima, soziale Gerechtigkeit und Krieg und Frieden zu Wort kommen. Gesendet wird über Internet und lokale TV- und Radiostationen. Zu den Gästen zählen AktivistInnen, WissenschaftlerInnen und JournalistInnen wie Noam Chomsky, Vandana Shiva, Bill McKibben, Maude Barlow, Harald Schumann, Ulrike Herrmann, Amy Goodman, Immanuel Wallerstein und Nnimmo Bassey.] ... ). Solange sie nicht auf die tatsächlichen Wertzusammenhänge stoßen, sind sie zu Resignation verurteilt.


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on September 26, 2018, 12:22:00 PM
Quote[...] Banken verleihen Geld, das sie sich vorher selbst geliehen haben. Von Sparern oder von der Zentralbank. Soweit das Lehrbuchwissen und soweit so falsch. Denn Banken können Kreditnehmern Geld einfach so gutschreiben, ohne vorher Geld von Dritten einzusammeln. Anders als viele glauben, hat die Zentralbank deshalb kaum Möglichkeiten, die Geldmenge wirklich zu steuern.

Das ist ein Problem, meint unter anderem Thomas Mayer, ehemaliger Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Diese Geldschöpfung durch die Banken destabilisiere immer wieder unser Finanzsystem. Selbst renommierte Volkswirtschaftsprofessoren wie Peter Bofinger haben das Problem lange nicht gesehen. Bofinger hat inzwischen sein Lehrbuch entsprechend korrigiert.

Mayer plädiert wie viele andere Kritiker für eine neue Geldordnung, zum Beispiel für ein Vollgeld-System, in dem es frisches Geld nur noch von der Zentralbank gibt. In der Schweiz haben die Bürger ein solches System allerdings im Juni abgelehnt, nachdem Banken, Vertreter der Wirtschaft und selbst die Zentralbank massiv davor gewarnt hatten.


Aus: "Wie unser Geld wirklich entsteht: Money from nothing" Vivien Leue (25.09.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/wie-unser-geld-wirklich-entsteht-money-from-nothing.1247.de.html?dram:article_id=425402 (https://www.deutschlandfunk.de/wie-unser-geld-wirklich-entsteht-money-from-nothing.1247.de.html?dram:article_id=425402)

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Quote[...] Heute wird die Wasserversorgung in England und Wales durch multinationale Großkonzerne betrieben. Die viel beschworene Effizienz ist dabei nicht sichtbar. In vielen Städten gibt es zahlreiche Leckagen. In einem kurz vor dem Parteitag veröffentlichten Strategiepapier mit dem Titel "Clear Water: Labour's Vision for a Modern and Transparent Publicly-Owned Water System" weist die Partei auf weitere durch die Privatisierung verursachte Probleme hin.

So seien die Kosten für den Endverbraucher im Laufe der vergangenen 25 Jahre um 40% gestiegen. Derweil hätten die Betreiberkonzerne in den letzten zehn Jahren Dividenden im Wert von 18 Milliarden Pfund an ihre Aktionäre ausgeschüttet. Dieses Geld, so argumentiert das Strategiepapier, hätte man stattdessen in die Infrastruktur stecken oder zur Senkung der Verbraucherpreise nutzen können. Stattdessen seien Investitionen in die Infrastruktur zwischen 1990 und 2018 massiv gesunken, obwohl 20% des Leitungswassers durch Leckagen verloren gehe. Für diese "Leistung" seien die Chefs der Wasserkonzerne im Durchschnitt mit einer Million Pfund pro Jahr bezahlt worden.

In seiner Parteitagsrede vom Montag, den 24. September, kündigte Labours wirtschaftspolitischer Sprecher John McDonnell die Verstaatlichung der britischen Wasserversorgung durch die nächste Labour-Regierung an. Das oben erwähnte Strategiepapier soll beschreiben, wie dies funktionieren könnte.

Angedacht ist demnach eine Regionalisierung der Wasserversorgung, die an "Regional Water Authorities" übertragen werden soll. Dies soll durch ein im Parlament beschlossenes neues Gesetz in die Wege geleitet werden. Dieses Gesetz soll außerdem Schutzklauseln enthalten, welche zukünftige Privatisierungsvorhaben verhindern sollen.

Die Labour-Partei fasst ihre Pläne unter dem Schlagwort "demokratischer öffentlicher Besitz" zusammen. Damit ist die Errichtung von Strukturen gemeint welche "Teilhabe und Rechenschaftspflicht maximieren" sollen. Teil dieser Rechenschaftspflicht soll eine für die Bevölkerung jederzeit einsehbare Veröffentlichung aller die Wasserversorgung betreffenden Behördendokumente im Internet sein. Außerdem sollen die "Regional Water Authorities" öffentlich tagen und paritätisch aus Lokalpolitikern, Gewerkschaftsvertretern sowie Mitgliedern von Nachbarschafts- und Umweltschutzgruppen bestückt werden. Den Profitgedanken möchte Labour aus der Wasserversorgung verbannen. Stattdessen will man eventuelle Überschüsse für Investitionen in Infrastruktur oder in die Kostensenkung stecken.

...


Aus: "Labour-Partei will britische Wasserversorgung verstaatlichen" Christian Bunke (27. September 2018)
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Labour-Partei-will-britische-Wasserversorgung-verstaatlichen-4175851.html (https://www.heise.de/tp/features/Labour-Partei-will-britische-Wasserversorgung-verstaatlichen-4175851.html)

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on October 01, 2018, 05:27:17 PM
Quote[...] ,,Potente" Unternehmen ,,befriedigen" ihre Gläubiger – allein die Sprache mache deutlich, welche Rolle Sexualität und Religion in unserem Verhältnis zum Geld spielen, sagt der Philologe Jochen Hörisch. Auch die Wirtschaftswissenschaft sei höchst irrational.

...

Rabhansl: 20.000 Euro auf dem Konto oder nicht 20.000 Euro – man könnte denken, das ist eine höchst rationale Zahl. Aber genau mit einem solchen Gedankenexperiment beginnen Sie Ihren Text und sagen ,,Stimmt nicht". Warum nicht?

Hörisch: Man muss nicht Philologe sein, um auf die Idee zu kommen, dass das, was da liegt, eine ganz seltsame Zeichenqualität hat. Man fragt sich ja immer, ist an diesem Kontoauszug irgendetwas dran, ist das gedeckt? Und schon der Begriff der Deckung – ein Hengst kann eine Stute decken – ist eigentlich ganz eigentümlich. Und wenn man sich näher heranzoomt, merkt man, dass das Geld mit sehr irrationalen Grundbegrifflichkeiten aus der sexuellen oder aus der religiösen Sphäre, also aus Sphären, die wir ja nicht als sonderlich rational begreifen, verbunden ist. Dann hat man ein Unternehmen, das ,,potent" ist. Und wenn es potent ist, dann kann ich meine Gläubiger ,,befriedigen".

Was sollen solche Begriffe wie ,,Potenz" oder ,,Gläubiger befriedigen"? Wir merken sehr schnell, auch in der Art und Weise, wie wir psychologisch das Geld besetzen, dass wir ein nicht rationales, ein gieriges, ein eher sexualisiertes, ein gläubiges, ein verrücktes Verhältnis zum Geld haben. Insofern sind die 20.000 nicht bloß eine Ziffer, sondern auch die Bezeichnung für eine eher magische Potenz.

Rabhansl: Zwischen Geld und Schuld, zwischen Schuld und Sünde, da steckt, wie Sie gerade schon gesagt haben, diese Sexualität drin, aber eben auch dieses fast religiöse Verhältnis. Und in Ihrem Text lese ich den bemerkenswerten Satz: ,,Geld ist gedeckt durch den Glauben an Geld". Also, wenn Geld nur so lange etwas wert ist, wie wir dran glauben, dass das Geld etwas wert ist, dann müssten wir ja auch eigentlich anders mit Geld umgehen, oder?

Hörisch: Nein. Wir glauben ja auch daran, dass andere an Geld glauben und dann funktioniert. Zoomen wir uns zurück in das Jahr 2008 – und die Älteren unter uns haben gewiss noch in Erinnerung, wie die Bundeskanzlerin, die damals schon Merkel hieß, und der Finanzminister, der Steinbück hieß, vor die Presse traten und die Medien, und sagten, wir garantieren euch, liebe Deutsche, dass eure Einlagen bei den Banken gedeckt sind. Und das hat funktioniert, es gab keinen Bank-Run, weil alle dran geglaubt haben, dass auch andere mitmachen bei diesem Spiel. Ansonsten hätten wir natürlich einen Bankzusammenbruch im allergrößten Maßstab gehabt.

Man muss also dran glauben, dass dieses Geld eine Macht besitzt, sich in etwas anderes zu transformieren, zu wandeln. Solange ich merke, ich schieb einen 50-Euro-Schein rüber und dann ist der Tank voll, merke ich, dass aus der Zeichenhaftigkeit des Geldes was anderes geworden ist. Und das ist den Theologen ein sehr vertrautes Denkmotiv. Es ist das der Transsubstantiation, aus Zeichen, aus einer Oblate, aus Wein wird Christi Leib und Blut. Das wandelt sich, das konvertiert sich, wenn man denn daran glaubt. Und wenn wir daran glauben, dass das Geld wandelnde Kraft hat, dann funktioniert es. Wenn wir nicht dran glauben, siehe im Augenblick etwa Venezuela, dann hat das Geld seine sexuelle und eben auch seine religiöse Kompetenz und Macht eindeutig verloren.

Rabhansl: Dass Geld funktioniert, wenn wir dran glauben, das erleben wir als finanzpolitische Laien im Alltag jeden Augenblick. Aber sieht das bei den Ökonomen, den Wirtschaftswissenschaftlern, wie sie sich nennen, genauso aus?

Hörisch: Die Wirtschaftswissenschaftler werden ja nicht schamrot, wenn sie etwa als Wirtschafts-,,Weise" bezeichnet werden – ein Begriff, der ja heute ganz unzeitgemäß ist. Ich nehme viele, nicht alle, um Gottes Willen, Wirtschaftsweise als diejenigen wahr, die so irrational sind, an ihre eigenen rationalen Modelle zu glauben. Damit das mehr als ein Aperçu ist, will ich einfach erinnern, wie etwa Schrempp, der damals Vorstandssprecher war bei Daimler, mit glänzenden Augen auftrat und sagte, wir haben jetzt eine Hochzeit im Himmel, Daimler und Chrysler machen ein Joint-Venture und vereinen sich. ,,Hochzeit" ist ein sexueller Begriff, ,,Himmel" ist ein religiöser Begriff. Dann kommen die Wirtschaftswissenschaftler und sagen, wir haben eine Agentur eingeschaltet, nennen wir sie McKinsey oder Hayek, die haben das durchgerechnet, es gibt Skalen, Effekte, das ist eine ganz rationale Geschichte. Man muss nur hinhören und merken, da ist einer mit glänzenden Augen, der sagt ,,Hochzeit" und ,,Himmel".

Wir merken also, wie viel an Verrücktheit, an Fantasien, an Erlösungshoffnungen da drinsteckt. Und denken Sie an so ein Wort wie ,,Erlösung". Noch im ökonomischen Wort ,,Erlös", ich erziele einen Erlös, steckt ja was Religiöses. Und auch ,,Kredit" und ,,Schuldner" sind ja theologische Begriffe. Man hat dann eine Wert-,,Schöpfungs"-Kette. Wenn man pleite ist, macht man einen ,,Offenbarungseid". Man geht mit den Autos, die man produziert, zur ,,Messe", und dann meint man nicht mehr das Hochamt, sondern man meint eben die Industriemesse. Wohin wir also gucken und spucken, merken wir, dass wir religiöse Begrifflichkeit haben in der ökonomischen Sphäre. Und genau das wollen eigentlich viele Wirtschaftswissenschaftler nicht zur Kenntnis nehmen.

Rabhansl: Obwohl es ja weit über solche reine Wortwahl hinausgeht. Wenn zum Beispiel Ökonomen ganz ernsthaft an die berühmte ,,unsichtbare Hand des Marktes" glauben, da lese ich bei Ihnen, dass die ökonomische Aufklärung weit hinter den Stand der religiös-theologischen Aufklärung zurückfalle. Wie erklären Sie sich, dass ausgerechnet in der Ökonomie solche Glaubenssätze bestehen bleiben?

Hörisch: Eben damit, dass man Rationalität und Irrationalität verwechselt, also ernsthaft glaubt, wenn man Mathematik als die Leitwissenschaft einsetzt in einem Bereich, wo sie eigentlich nicht funktioniert, dann verfällt man einem Irrglauben. Das ist so wie das Hexeneinmaleins in Goethes ,,Faust". Faust wird ja auch zu einer großen Figur, die ökonomische Reformen voranbringt. Die ,,Invisible hand", das ist jedem einigermaßen historisch Gebildeten bei Adam Smith klar, ist die Übersetzung der Hand Gottes, in der wir alle sind, in die ökonomische Sphäre. Es ist also für Adam Smith noch vollkommen klar, dass da eine religiöse Metapher ins Ökonomische fällt, hineinkopiert worden ist.

Rabhansl: Das ist aber ein paar Jahre her.

Hörisch: Das ist aber ein paar Jahre her, aber das ist ein Glaube, der bis heute gilt. Versuchen Sie mal in sich als aufgeklärt begreifenden ökonomischen Milieus zu sagen, Leute, ihr glaubt so an die Invisible hand wie religiöse Leute an die Hand Gottes glauben. Ihr seid die letzten Theologen und die letzten religiösen Fundamentalisten in der wissenschaftlichen Sphäre, dann werden sie nicht auf viel Sympathie treffen. Aber genauso ist das Wort gemeint, das die ökonomische Aufklärung weit hinter der theologischen Aufklärung her ist. Man kann drauf verzichten, auf den lieben Gott zu setzen und an ihn zu glauben. Wer aber nicht an die Invisible hand des Marktes glaubt, der wird keinen Lehrstuhl in der VWL oder in der BWL bekommen.

...


Aus: "Die Irrationalität in der Ökonomie,,Wir haben ein sexualisiertes, ein gläubiges Verhältnis zum Geld""
Jochen Hörisch im Gespräch mit Christian Rabhansl (20.01.2018)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-irrationalitaet-in-der-oekonomie-wir-haben-ein.1270.de.html?dram:article_id=408796 (https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-irrationalitaet-in-der-oekonomie-wir-haben-ein.1270.de.html?dram:article_id=408796)

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on October 02, 2018, 11:45:45 AM
Quote[...] Zuletzt ging es zwischen den Wirtschaftsweisen nicht immer harmonisch zu. Die Nominierung eines neuen Mitglieds sorgt für erhitzte Gemüter.

Der Sachverständigenrat für Wirtschaft (SVR) gilt als wichtigstes wirtschaftspolitisches Beratergremium der Bundesregierung. Die Besetzung des Rats der sogenannten Wirtschaftsweisen ist daher immer ein Politikum. Nun wurde bekannt: Auf Vorschlag der Gewerkschaften wird im März voraussichtlich der Berliner Ökonom Achim Truger das Ratsmitglied Peter Bofinger ersetzen. Sofort hagelte es am Wochenende Protest, allerdings ungewohnt heftigen. Die Gewerkschaften ,,entsenden einen reinen Vertreter ihrer Interessen in den SVR", rügte etwa Ratsmitglied Lars Feld auf Twitter.

Seit den sechziger Jahren berät der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – so der volle Name – die Bundesregierung. Zwei Mal im Jahr legt er ein Gutachten vor, in dem es nicht nur um die Konjunktur geht, sondern um alle relevanten wirtschaftspolitischen Fragen: um die Rente, den Arbeitsmarkt, um die Energiepolitik, die Mietpreisbremse oder die Euro-Krise. Der SVR legt damit eine Art offizielle Deutung der Vorgänge in der Wirtschaft vor, er erklärt die Wirklichkeit gemäß ökonomischen Modellen. Doch sind diese Modelle und Deutungen erstens auch unter Ökonomen umstritten. Zweitens geht es bei Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht nur um theoretische Differenzen, sondern auch um praktische Interessensgegensätze, zum Beispiel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.

Die Regeln zur Besetzung des SVR versuchen, diesen Gegensätzen gerecht zu werden: Drei der fünf Wirtschaftsweisen beruft das Wirtschaftsministerium, ein Mitglied darf traditionsgemäß von den Unternehmerverbänden vorgeschlagen werden und eines von den Gewerkschaften. So sollen die Interessen von Arbeit und Kapital im SVR vertreten sein. Auf dem sogenannten Arbeitgeberticket sitzt derzeit Volker Wieland im Rat, auf dem Gewerkschaftsticket seit März 2004 der Würzburger Ökonom Bofinger.

Doch in den vergangenen Jahren hat sich der Rat zunehmend gespalten. Statt als Einheit treten die fünf Weisen häufig als 4+1 Weise auf: Die Ratsmehrheit auf der einen Seite, Bofinger auf der anderen. Letzterer spickte die vorgelegten Gutachten regelmäßig mit seinen ,,abweichenden Meinungen".

Während Bofingers vier Kollegen warnten, die Einführung eines Mindestlohns werde viele Jobs kosten, sah er keine bedeutsamen Beschäftigungsverluste. Bofinger kritisierte das ,,uneingeschränkte Vertrauen, das die Mehrheit im Rat in die ordnenden Kräfte der Finanzmärkte setzt". Er betonte das Problem der wachsenden Ungleichheit in Deutschland und schloss sich dem Lob der Ratsmehrheit für Agenda 2010 und Hartz IV nicht an. Der Schlagabtausch kulminierte vor einem Jahr, als Bofinger eine aktivere Industriepolitik in Deutschland forderte, woraufhin die anderen vier Sachverständigen ihm öffentlich Fehler vorwarfen, die ,,einem Profi nicht passieren sollten".

Bofingers dritte Amtszeit läuft im März aus. Und nun haben die Gewerkschaften den Ökonomen Achim Truger als Nachfolger gewählt, berichtete das ,,Handelsblatt". Das SPD-Mitglied Truger ist Experte für öffentliche Finanzen und kommt aus dem Gewerkschaftslager. Er arbeitete lange für das gewerkschaftsnahe Institut IMK und lehrt derzeit Makroökonomie an der Hochschule für Recht und Wirtschaft in Berlin. Bekannt ist Truger vor allem durch seine Kritik an der rigiden Sparpolitik in Europa und an der deutschen Schuldenbremse.

In ungewöhnlich scharfer Form kritisierten am Wochenende einige Ökonomen die Nominierung Trugers. Truger habe lange auf der Gehaltsliste der Gewerkschaften gestanden, rügte SVR-Mitglied Lars Feld die Entscheidung: ,,So höhlt man die gesetzlich gewährte Unabhängigkeit des Gremiums aus." Die Wirtschaftsweise Isabel Schnabel forderte, bei der Besetzung des Rats müsse ,,die wissenschaftliche Qualifikation an oberster Stelle stehen", und diese Qualifikation zeige sich unter anderem in Publikationen in international anerkannten Fachzeitschriften.

Der Ökonom Justus Haucap kommentierte die Wahl Trugers mit: ,,Den Gewerkschaften ist der SVR offenbar völlig egal". Für seinen Kollegen Philip Jung von der TU Dortmund ,,desavouieren die Gewerkschaften den SVR als wissenschaftliches Gremium". Gewerkschaftsnahe Ökonomen hielten am Wochenende dagegen: ,,Truger kennt die deutsche Finanzpolitik wie kaum ein anderer", so IMK-Ökonom Sebastian Gechert. Andrew Watt, Leiter der IMK-Abteilung für europäische Wirtschaftspolitik, schrieb, Bofinger sei zwar schwer zu ersetzen, aber Truger sei eine ,,hervorragende Wahl".

Eine Zwischenposition nahm der Ökonom Rudolf Bachmann ein, der befürchtet, dass im SVR künftig ,,linke Themen noch weniger eine Rolle spielen werden, weil sie zu leicht mit Unwissenschaftlichkeit beschmiert werden können. Das können die Gewerkschaften nicht wollen." Bachmann hätte lieber andere Kandidaten – zum Beispiel den Düsseldorfer Ökonomen Jens Südekum – an Trugers Stelle gesehen.

Für dauerhafte Differenzen unter den Wirtschaftsweisen ist also gesorgt, sollte Truger tatsächlich berufen werden. Der Ökonom sieht darin kein Problem: ,,In der Volkswirtschaftslehre gibt es nicht die eine richtige Politikempfehlung", sagte er dem ,,Handelsblatt". Wenn es um ökonomische Zusammenhänge gehe, dann gebe es unterschiedliche Modelle und damit auch unterschiedliche wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen. Er ,,fände es gut, wenn sich in den Schlussfolgerungen das große Spektrum der in der Volkswirtschaftslehre vertretenen Ansätze widerspiegeln würde".


Aus: "Alle gegen einen" Stephan Kaufmann (02.10.2018)
Quelle: http://www.fr.de/wirtschaft/wirtschaftsweise-alle-gegen-einen-a-1593150 (http://www.fr.de/wirtschaft/wirtschaftsweise-alle-gegen-einen-a-1593150)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on October 18, 2018, 10:17:46 PM
Quote[...] David Graeber, einer der Köpfe der Occupy-Bewegung, sieht eine sinnentleerte neue Arbeitswelt – und fordert das bedingungslose Grundeinkommen.

Durch Digitalisierung und Automatisierung entstehen zunehmend sinnlose Jobs, beklagt David Graeber, Anthropologe von der London School of Economics. Der gebürtige US-Amerikaner ist als Kopf der Occupy-Bewegung berühmt geworden. In seinem kürzlich erschienenen Buch ,,Bullshit-Jobs" beklagt er die sinnentleerte neue Arbeitswelt.

,,Es ist offensichtlich, dass die Herstellung von Gütern produktiver und effizienter wird, wenn sie digitalisiert wird. Dann brauchen Sie weniger Mitarbeiter", so der Forscher in einem Interview mit Technology Review. Das aber habe nicht zu sinkenden Beschäftigungszahlen geführt, sondern zur Ausweitung bei administrativen Jobs und Managertätigkeiten. Viele davon seien jedoch Bullshit-Jobs. ,,Das ist ein Job, von dem die Leute, die ihn machen, glauben: Wenn es diesen Job nicht gäbe, würde dies nicht auffallen, würden die Dinge sogar ein wenig besser", sagt Graeber.

,,Mir schrieb jemand, dass er 15 Jahre bei einer Bank als Effizienzexperte gearbeitet hat. Seine Aufgabe war herauszufinden, wie man überflüssige Stellen loswerden kann. Er fand heraus, dass 80 Prozent aller Arbeitsplätze in der Bank ohne Weiteres gestrichen werden können. Aber die Bank hat seine Vorschläge nie angenommen. Immer wenn er einen Vorschlag machte, bedeutete das, dass irgendwelche Manager einen Teil des Teams verlieren würden, das sie so wichtig erscheinen lässt. Also haben sie den Vorschlag blockiert. Der Mann hat irgendwann gemerkt, dass er nur da ist, damit die Bank behaupten kann, es würde sich jemand um die Unternehmenseffizienz kümmern."

Die Ursache liegt für Graeber in einer ,,finanzialisierten Wirtschaft", also im Übergewicht des Finanzwesens gegenüber der Produktion von Gütern. ,,Wenn Sie Unternehmen wie ExxonMobil oder JP Morgan Chase betrachten, machen diese Riesen ihre Profite, indem sie sogenannte regulierte Renten beziehen, über Steuererleichterungen oder die Finanzmärkte. Die Regierungen setzen die Rahmenbedingungen dafür. Und wenn so viel Geld zirkuliert, ist Effizienz eine schlechte Idee." Linke wie rechte Politiker versprechen aus nachvollziehbaren Gründen mehr Arbeitsplätze. ,,Keiner sagt jedoch, dass sie nur nützliche Jobs schaffen wollen."

Für Graeber liegt die Lösung daher im bedingungslosen Grundeinkommen. "Ein Riesenproblem ist ja, dass Menschen umso weniger verdienen, je nützlicher ihr Job ist. Wenn Menschen nicht mehr gezwungen sein sollen, Bullshit-Jobs anzunehmen, sehe ich nur eine Lösung: ihnen ein bedingungsloses Grundeinkommen zu zahlen."


Aus: "Anthropologe: "Menschen verdienen umso weniger, je nützlicher ihr Job ist."" Nils Boeing (17.10.2018)
Quelle: https://www.heise.de/newsticker/meldung/Anthropologe-Menschen-verdienen-umso-weniger-je-nuetzlicher-ihr-Job-ist-4192979.html (https://www.heise.de/newsticker/meldung/Anthropologe-Menschen-verdienen-umso-weniger-je-nuetzlicher-ihr-Job-ist-4192979.html)

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on November 12, 2018, 07:34:55 PM
"Vom Segen der Privatisierung" Christian Bunke (12. November 2018)
In Großbritannien begann vor 25 Jahren der Siegeszug der Privatisierung mit der Eisenbahn, das neoliberale Versprechen kam und kommt dem Steuerzahler teuer zu stehen ...
https://www.heise.de/tp/features/Vom-Segen-der-Privatisierung-4218330.html

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",RIPMARK' von Rocco und seine Brüder & HERA – Eine Friedhof-Installation vor PRIMARK-Filiale in Berlin" (2018)
Warum sind die Preise bei vielen großen Modeketten eigentlich so verlockend billig? Vermutlich, weil andere dafür einen hohen Preis zahlen! Das Kollektiv Rocco und seine Brüder haben erstmals zusammen mit der Künstlerin HERA (von HERAKUT) eine gemeinschaftliche Kunst-Installation im öffentlichen Raum errichtet und wollen damit auf die ausbeuterischen und gefährlichen Umstände in der Textil- und Modefertigung aufmerksam machen.
https://www.notesofberlin.com/ripmark-installation-vor-primark-filiale-in-berlin/

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on December 28, 2018, 01:05:57 PM
"35C3: Der Chaos Communication Congress, das digitale Prekariat und das bedingungslose Grundeinkommen" Detlef Borchers  (27.12.2018)
Guy Standing vom Basic Income Network eröffnete den Chaos Communication Congress in Leipzig mit einem Plädoyer für das bedingungslose Grundeinkommen. Die Hacker sind wieder in Leipzig und suchen gemeinsam nach Wegen, wie die Bewegung rund um den Chaos Computer Club "vielfältiger und ideenreicher" auftreten kann. "Refreshing Memories", den Arbeitsspeicher zwischen den Ohren auffrischen und gleichzeitig Traditionen weiterreichen, das soll das Motto des 35. Kongresses sein. Neben den üblichen Vorträgen über Sicherheits- und Gesellschaftslücken gibt es erstmals "Foundation Talks" für den Nachwuchs: Wie funktioniert nochmal das Internet und was hat es mit dieser Hackerethik auf sich? Der Kongress wurde indes mit einem ganz anderen und sehr politischen Thema eröffnet. Der britische Ökonom Guy Standing hielt ein wuchtiges Plädoyer für das bedingungslose Grundeinkommen. Gerade die Mehrheit der jungen, gut ausgebildeten Kongressbesucher gehören seiner Ansicht nach zu dem Teil des Prekariat, dass mit einem solchen Grundeinkommen sinnvolle Arbeit leisten kann und nicht in irgendwelchen Jobs versauern muss.
Auf fünf Bühnen läuft zum 35. Chaos Communication Congress ein vielfältiges Programm, das im Livestream verfolgt werden kann und recht schnell auch als Video zur Verfügung steht. Zwei Hallen voller Assemblies sind abgedunkelt, damit die Hacker im Hoodie auch am hellichten Tag den nötigen nächtlichen Flow haben, den sie suchen. Rings herum: viele neugierige Besucher, die ihren ersten Kongress besuchen und viele Fragen haben. "Sprecht miteinander, knüpft neue Freundschaften, lasst uns eine neue Erinnerung bauen, eine, die man sich für immer gern erinnert", hieß es zum Auftakt des Kongresses. ...
Der Ökonom Guy Standing beschäftigt sich seit Jahren mit dem bedingungslosen Grundeinkommen und studierte die Möglichkeiten in so unterschiedlichen Ländern wie Indien und der Schweiz. Für westliche Gesellschaften hält er an der Idee eines Prekariats fest, das mit dem Kollaps der ökonomischen Transformation seit den 80er Jahren entstand. 1994 sei es der USA gelungen, ihr System der Eigentumsrechte weltweit durchzusetzen, mit Big Pharma, Big Finance und Big Tech als tragende Säulen dieser Rechte. Von diesem System profitierten Superreiche in einem obzönen Ausmaß, erklärte Standing den Zuhörern in Leipzig.
Das Gegenstück bilde das Prekariat, dass er aus drei große Gruppen besteht: Einmal aus der abgehängten alten Arbeiterklasse, die ein verlorenes Gestern verklärt und sich für US-Präsident Trump oder den Brexit stark mache. Die zweite Gruppe bestehe aus Migranten und anderen Minderheiten, häufig traumatisisert und nur vom Wunsch beseelt, eine Heimat und wieder eine Zukunft zu haben. ...
https://www.heise.de/newsticker/meldung/35C3-Der-Chaos-Communication-Congress-das-Prekariat-und-das-bedingungslose-Grundeinkommen-4259522.html

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"The Precariat: A Disruptive Class for Disruptive Times. Why and How the Precariat will define the Global Transformation to save our planet." Guy Standing  (2018-12-27)
The combination of the ongoing technological revolution, globalisation and what are usually called 'neo-liberal' economic policies has generated a global system of rentier capitalism in which property rights have supplanted free market principles and in which a new global class structure has taken shape. The 20th century income distribution system has broken down irretrievably, and a new mass class, the precariat has been growing dramatically fast in every part of the world. What are the deeper reasons for these developments? How does an ecologically sustainable strategy look like? Is it possible to restore a balanced market economy in which inequalities and insecurities will lessen and in which the drift to populist and even neo-fascist politics will be reversed? This talk will try to provide answers. ...
https://media.ccc.de/v/35c3-10021-the_precariat_a_disruptive_class_for_disruptive_times#t=188

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"Most Americans want a 70% tax rate on earnings over $10,000,000" Cory Doctorow (9:30 am Wed Jan 16, 2019)
During a 60 Minutes interview Alexandria Ocasio-Cortez casually mentioned that she thought that America's super-rich should pay a marginal tax-rate of 70% on annual earnings over $10,000,000 (which is a better deal than they got under Reagan); since then, the proposal has roiled the political classes and billionaire-backed news outlets, who coincidentally oppose taxing billionaires.
Though the establishments of the Democratic and Republican parties have scrambled to brand this proposal "unworkable" and "radical," there's another group of people who really like the sound of it: voters, including Republican voters.
A newly released Hill-HarrisX poll found that 59% of registered US voters support the proposal, and that breaks down to 62% of women, 55% of men, 57% of southerners, 56% of rural voters, 60% of independents, 71% of Democrats, and even 45% of Republicans.
The establishment has attributed AOC's incredible reach and influence to many factors -- her physical attractiveness, her ignorance, or some kind of witchy, indefinable charisma. ...
https://boingboing.net/2019/01/16/nowhere-to-run.html via https://www.nakedcapitalism.com/
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik ...
Post by: Link on January 31, 2019, 09:51:20 AM
Quote[...] Die Titel seiner Bücher sprechen für sich: "Rating-Agenturen, Einblicke in die Kapitalmacht der Gegenwart", "Heuschrecken im öffentlichen Raum – Public Private Partnership – Anatomie eines globalen Finanzinstruments". Auch in der Aufsatzsammlung "Fassadendemokratie und tiefer Staat" ist er mit einem Beitrag vertreten. Werner Rügemer, der in Bremen Philosophie studiert hat, ist ein ebenso unerschrockener wie unbequemer Analytiker, wenn es darum geht, komplexe Verflechtungen in der globalisierten Finanzwelt aufzudecken. ...

... Ein Sündenfall sei gewesen, dass die Treuhand 1990 US-amerikanische Wirtschaftsberater wie McKinsey, Ernst & Young oder Price Waterhouse Coopers eingeladen habe, zu taxieren, wie viel die rund 8000 DDR-Betriebe auf dem Weltmarkt denn wohl wert wären, sagte Rügemer. Unternehmen wie Robotron etwa wurden auf umgerechnet fünf Euro (zehn D-Mark) veranschlagt und verkauft. Die Investoren hätten durchschnittlich umgerechnet 15 Millionen Euro an Subventionen pro Fall bekommen. Dieser Ausverkauf der DDR-Unternehmen habe nach nur vier Jahren mit einem satten Minus von umgerechnet 135 Milliarden Euro geendet. "Ein Defizit, das komplett vom Bundeshaushalt übernommen wurde."

... Nach der Abwicklung der DDR-Betriebe kam die neoliberale Privatisierungsbewegung von 1995 bis 2005 in Deutschland erst so richtig in Schwung. "Es erfolgte eine Dauerbeauftragung amerikanischer Privatisierungsberater und ihrer Investoren", sagte Rügemer. In 150 deutschen Städten war ein  Ausverkauf der Infrastruktur zu verzeichnen, nach dem Prinzip "Crossborder Leasing": Beispielsweise wurde die Stromversorgung an private Unternehmen verkauft, die dann  die Strompreise stark erhöhen konnten. In Bremen wurde unter anderem in Zusammenhang mit dem Klinikum Mitte über Public Private Partnership (PPP) gestritten, auch in einer Diskussionsrunde in der Villa Ichon. "So wird der privatisierte Staat zum unmittelbaren Exekutor der minderheitlichen Interessen von privaten Eigentümern", kommentiert Rügermer die Entwicklung. Schon der Bundesrechnungshof habe davor gewarnt, dass durch die Privatisierung wichtiger Aufgaben die Gestaltungskompetenz des modernen Staates eingeschränkt werde. So wurde etwa die Kölner Kanalisation samt Stadtwerken für zwei Milliarden Euro an die Fidelity Bank in Oklahoma verkauft und dann zurück gemietet. Der Haken an der Sache laut Rügemer: Die Städte trügen trotzdem alle infrastrukturellen Risiken. Und gutgläubige Politiker hätten meist nicht einmal die bis zu 2000 Seiten dicken Verträge gelesen.

Werner Rügemer hat auch aufgedeckt, dass die drei marktbeherrschenden Rating-Agenturen Eigentum von Hedge- und Investmentfonds der Banken sind, die eben von Gefälligkeits-Bewertungen der Agenturen profitieren. Die Macht der Beraterunternehmen habe sich inzwischen verselbstständigt, kritisiert er. Ursprünglich waren sie in der Zeit des US-Präsidenten Roosevelt per Gesetz als Kontrollinstanz gegen Bilanzfälschung und als Reaktion auf den Börsencrash von 1928 ins Leben gerufen worden. Wirtschaftsberatungsunternehmen aber würden heute von denjenigen Aktiengesellschaften bezahlt, die sie prüfen sollen, sagte Rügemer. Der Geprüfte wähle den Prüfer aus, der häufig gleichzeitig der Steuerberater des Unternehmens sei und  satte Gewinne mache. "Das ist ein pervertiertes System!", schimpfte Rügemer. Und deshalb habe das Frühwarnsystem 2008 bei der großen Banken- und Weltwirtschaftskrise versagt.

Aber auch Investment-Banken wie Goldman Sachs nähmen Einfluss auf die Bundesregierung: "Jörg Kukies ging in den 15 Jahren als Chef der deutschen Niederlassung von Goldman Sachs im Bundeskanzleramt ein und aus", sagte Werner Rügemer. Selbst das "Manager Magazin" habe anlässlich der Berufung von Jörg Kukies zum Staatssekretär ins Finanzressort geschrieben: "Scholz macht Brandstifter zur Feuerwehr!"  Erster, zarter Widerstand gegen diese unguten Entwicklungen rege sich nun, sagte Rügemer und nannte Bürgerinitiativen wie "Gemeingut – Bürgerhand".


Aus: "Von der Macht der Beratungsunternehmen: Der Ausverkauf des Staates" Sigrid Schuer (23.03.2018)
Quelle: https://www.weser-kurier.de/bremen/stadtteile/stadtteile-bremen-mitte_artikel,-der-ausverkauf-des-staates-_arid,1713476.html (https://www.weser-kurier.de/bremen/stadtteile/stadtteile-bremen-mitte_artikel,-der-ausverkauf-des-staates-_arid,1713476.html)

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Quote[...] Am 8.1. 2019 wurde nach fünf Jahren das Gerichtsverfahren gegen den Lobby- und Privatisierungskritiker Werner Rügemer eingestellt. Telepolis sprach mit dem Autoren, der sich hierzulande einen Namen als Aufdecker heikler, meist skandalöser Bereiche im politisch-wirtschaftlichen Betriebssystem gemacht hat ...

Herr Rügemer, Sie sind von Prof. Dr. Klaus Zimmermann verklagt worden. Wer ist Herr Zimmermann, welche Posten bekleidet er und was waren seine Gründe?
Werner Rügemer: Herr Zimmermann war damals, 2013, Direktor des Instituts zur Zukunft der Arbeit, IZA, in Bonn. Das Institut war 1998 von Klaus Zumwinkel gegründet worden, Chef der Deutschen Post. Zumwinkel kam von McKinsey und hatte im Auftrag der Bundesregierung die Bundespost privatisiert. Das IZA sollte die Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse wissenschaftlich absichern, auch bei weiteren Privatisierungen. Das IZA hat dann auch bei den Hartz-Gesetzen beraten. Zimmermann war damals einer der führenden neoliberalen Ökonomen. Er war gleichzeitig Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, DIW, in Berlin.
Ich hatte in den Blätter(n) für deutsche und internationale Politik einen Artikel veröffentlicht: "Die unterwanderte Demokratie. Lobbyisten auf dem Marsch durch die Institutionen". Darin hatte ich Unternehmensberater wie McKinsey, Wirtschaftsprüfer wie Price Waterhouse Coopers und Wirtschaftskanzleien wie Freshfields dargestellt. Sie waren zu Dauerberatern des Staates aufgerückt, gleichzeitig aber bekamen sie weiter Aufträge von privaten Unternehmen und Banken.
Als Lobbyisten, die damit nicht einfach von außen an den Staat herantreten wie etwa der Unternehmerverband BDI, sondern schon Teil des Staates sind, hatte ich auch Institute dargestellt. Sie werden von privaten Unternehmen finanziert, haben aber eine universitäre Tarnkappe. Dazu gehört das Zentrum für Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen, ZAAR.
Das Zentrum, seine drei Professoren, das weitere Personal, die Bibliothek werden ausschließlich von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie Bayerns und Baden-Württembergs und dem Arbeitgeberverband Chemie finanziert. Das Zentrum firmiert aber nach außen als Institut der staatlichen Universität München.
Ähnlich ist es beim IZA: Es wird von der Stiftung der Deutschen Post finanziert, Präsident der Stiftung ist Zumwinkel. Gleichzeitig firmiert das IZA als Einrichtung der staatlichen Universität Bonn, die für Zimmermann eine neue Professorenstelle einrichtete. Er tat sich durch Interviews und Artikel in unternehmensnahen Medien hervor, etwa mit Polemik gegen den Mindestlohn und mit der Forderung nach verlängerter Arbeitszeit. Dabei wurde seine Funktion als Direktor des IZA erwähnt, aber nicht die private Finanzierung.

TP: Was hat Herr Zimmermann konkret moniert?


Werner Rügemer: Zimmermann ließ mir und der Zeitschrift durch einstweilige Verfügung über die Pressekammer des Landgerichts Hamburg vier Aussagen verbieten:

  1)  "faktenwidrig bezeichnet sich das Institut als unabhängig."
  2)  "Von freier Wissenschaft kann hier beim besten Willen nicht gesprochen werden."
  3)  "Das IZA betreibt Lobbying zugunsten der Unternehmer."
  4)  "Die Finanzierung durch die Deutsche Post AG ist dem breiten Publikum unbekannt."


TP: Was wurde Ihnen angedroht?

Werner Rügemer: Bei Wiederholung der fraglichen Aussagen wird ein Ordnungsgeld bis zu 250.000 Euro oder eine Ordnungshaft bis zu zwei Jahren fällig. Den Streitwert legte das Gericht auf 80.000 Euro fest. Ich widersprach der Verfügung, deshalb mussten die Vorwürfe in einem Hauptverfahren geklärt werden. Zimmermann erhob eine sogenannte Hauptsachenklage.
Er ließ sich durch die Bonner Kanzlei Redeker Sellner Dahs vertreten. Das ist eine "renommierte" Großkanzlei mit einer eigenen Medienrechtsabteilung. Mandanten waren etwa Helmut Kohl, Bundespräsident Christian Wulff, Papst Benedikt XVI. und Angela Merkel. Zimmermann maß somit auch durch die Wahl der Kanzlei dem Verfahren eine gewisse Bedeutung zu.
Was viele nicht wissen: Im Medienrecht gilt der "fliegende Gerichtsstand". Eine Zeitung oder Zeitschrift kann man überall lesen. Deshalb kann überall geklagt werden. Zimmermann wählte Hamburg. Die dortige Pressekammer gilt als die unternehmerfreundlichste in Deutschland.

TP: Wie lange hat sich das Verfahren hingezogen?

Werner Rügemer: Das Verfahren zog sich fünf Jahre hin. Das Landgericht schlug in zwei Verhandlungen Vergleiche vor. Zimmermann, aber auch ich stimmten nicht zu. Deshalb landete das Verfahren beim Oberlandesgericht. Das ließ das Verfahren drei Jahre liegen.
Dann entdeckte mein Anwalt Eberhard Reinecke 2018 eine neue Klausel im Gerichts-Verfahrensgesetz: Danach kann man bei unbegründeter Verzögerung pro Jahr eine Entschädigung bis zu 1.200 Euro erhalten. Wir verlangten das. Umgehend überwies der Finanzsenator der Freien und Hansestadt Hamburg im Dezember 2018 mir die 1.200 Euro, sozusagen als unverhofftes Weihnachtsgeschenk. Der Finanzsenator bezahlte auch die Rechnung meines Anwalts.
Gleichzeitig setzte das OLG Hamburg kurzfristig einen Verhandlungstermin für den 8.1.2019 fest. Daraufhin zogen Herr Zimmermann, beziehungsweise das IZA, sofort ihre Klage zurück und zwar vollständig. Der Termin wurde aufgehoben.

...

TP: Nun hat also Professor Zimmermann die Klage zurückgezogen. Können Sie sich vorstellen warum?

Werner Rügemer: Dem Sponsor Deutsche Post wurde das Verhalten Zimmermanns während des Verfahrens zunehmend unangenehm. Zimmermann hatte die vom Landgericht vorgeschlagenen Vergleiche auf der IZA-Website jeweils sofort als seine vollständigen Siege ausgegeben. Insbesondere das Handelsblatt berichtete ausführlich über das Verfahren, berichtete auch über dubiose Gutachten des Instituts.
Zimmermann hatte 2011 als Präsident des DIW zurücktreten müssen: Der Berliner Rechnungshof hatte die Verschwendung von Fördergeldern, zu häufige Abwesenheit und Unregelmäßigkeiten bei Abrechnungen moniert. Deutsche Post und Zumwinkel und viele internationale Ökonomie-Institutionen wie die Europäische Kommission und die Weltbank hielten allerdings an ihm fest ebenso die Universität Bonn. "Unregelmäßigkeiten" und multifunktionale Selbstbereicherung scheinen organisch zu der hier vertretenen Ökonomie zu gehören.
Das Image der Deutschen Post und ihrer Stiftung standen dann doch infrage. Deshalb wurde Zimmermann Ende 2015 auch als IZA-Direktor entlassen.
Eine Rolle mag dabei auch die Solidarität gespielt haben, die ich erfuhr. Zum einen hat die aktion gegen arbeitsunrecht das Solidaritätskonto "Meinungsfreiheit in der Arbeitswelt" eingerichtet. Darauf gingen zahlreiche Spenden ein. Die mehreren tausend Euro Verfahrenskosten konnten dadurch gedeckt werden und ich konnte das Verfahren durchhalten.

Schließlich haben 53 Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats von attac 2014 eine Solidaritätserklärung veröffentlicht, einen Offenen Brief an Professor Zimmermann: "Wir halten Rügemers Darstellung für zutreffend! Verklagen Sie uns auch!" Der Offene Brief war von Prof. Elmar Altvater initiiert worden.
Zu den Unterzeichnern gehörten u.a. Armin Bernhard, Claudia von Braunmühl, Christoph Butterwegge, Klaus Dörre, Ulrich Duchrow, Heide Gerstenberger, Peter Grottian, Andreas Fisahn, Frigga Haug, Clemens Knobloch, Lydia Krüger, Hans-Jürgen Krysmanski, Stephan Lessenich, Ingrid Lohmann, Birgit Mahnkopf, Mohssen Massarat, Jürgen Schutte, Christa Wichterich, Winfried Wolf. Auch der Schriftstellerverband PEN Deutschland hatte bei seiner Jahrestagung 2014 eine Solidaritätserklärung beschlossen.

TP:Sie sind in Ihrem Leben nicht zum ersten Mal verklagt worden. Wie oft wurde vor dem Gericht dem Kläger Recht gegeben?

Werner Rügemer: Seit 1993 wurde ich mit etwa zwei Dutzend Verleumdungsklagen und Unterlassungsforderungen überzogen, vor allem durch Politiker und Banker. Beim ersten Mal, als mir an einem Samstagvormittag zuhause durch persönlichen Boten die Klage mit einer Strafdrohung von 250.000 Mark übergeben wurde, war ich total verängstigt. Mit der Zeit entwickelte ich Routine und Gelassenheit, auch mithilfe meines Anwalts.

Das Schema bei den Klägern und bei den Gerichten ist etwa wie folgt: Die Kläger wollen ihrem Milieu demonstrieren, dass sie die "Vorwürfe" nicht auf sich sitzen lassen, fordern Unterlassung oder gehen gleich vor Gericht. Einem amtierenden Politiker und Unternehmenschef, die zudem eine strafbewehrte Eidesstattliche Erklärung beifügen, glauben deutsche Gerichte in erster Instanz immer. Meist wird auch Eilbedürftigkeit angemahnt. Deshalb wird der Beklagte wie ich erstmal nicht angehört.
Viele Beklagte wie die Blätter für deutsche und internationale Politik geben in dieser Phase auf. Sie wollen keinen Ärger, freuen sich, wenn sie mit ein paar hundert Euro Anfangskosten herauskommen und löschen die fragliche Veröffentlichung oder wiederholen sie nicht.
Das hat allerdings teilweise fatale Folgen. Die ersten harten Verfahren gegen Veröffentlichungen von mir richteten sich in den 1990er Jahren gleichzeitig gegen die Kölner StadtRevue. Sie veröffentlichte meine Titelgeschichten über den "Kölner Klüngel". Kläger waren etwa der Kölner Oberbürgermeister, der Oberstadtdirektor und der Präsident des 1. FC Köln.

Als bei der Verleumdungsklage des Oberbürgermeisters, dessen zahlreiche Nebeneinkünfte ich beschrieben hatte, ein Bußgeld von 40.000 Mark drohte, kündigte die Redaktion die Zusammenarbeit mit mir: Die sei existenzbedrohend. Das änderte sich auch nicht, als das höhere Gericht das Verfahren einstellte.
Wenn man sich wehrt, steigen die Aussichten von Instanz zu Instanz, wenn auch nicht immer. Da sind die Richter verpflichtet, sich genauer in die Materie einzuarbeiten. In den meisten Verfahren wurden die Ermittlungen gegen mich eingestellt.
In einem wichtigen Fall, einer Klage der Bank Sal. Oppenheim, damals 2006 noch die größte Privatbank Europas, ergab sich in der letzten Instanz, dem Berliner Kammergericht, ein Vergleich: Von den 22 Unterlassungsforderungen blieben 10 übrig.

Entsprechend wurden die Gesamtkosten dann aufgeteilt. Allerdings ging kurz darauf die Bank pleite, sie wurde von der Deutschen Bank aufgekauft: Die stellte den Rest der ebenfalls noch anhängigen Klagen sofort ersatzlos ein.


Aus: "Klage gegen Lobbyismus-Kritiker Rügemer zurückgezogen" Reinhard Jellen (30. Januar 2019)
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/Klage-gegen-Lobbyismus-Kritiker-Ruegemer-zurueckgezogen-4292880.html?seite=all (https://www.heise.de/tp/features/Klage-gegen-Lobbyismus-Kritiker-Ruegemer-zurueckgezogen-4292880.html?seite=all)

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Quote[...] Sie werfen tiefe Schatten über Friedrich Merz' Kandidatur um den CDU-Vorsitz: Seine Verbindungen zur Investmentindustrie. In der Kritik steht vor allem sein Job als Aufsichtsratschef bei BlackRock, der wohl mächtigsten Schattenbank weltweit. ... Dass CDU-Politiker enge Beziehungen zur Wirtschaft pflegen ist eigentlich nichts Neues - doch laut Rügemer und Grottian hat das Ganze im Fall Merz ein völlig neues Ausmaß angenommen. "Die Macht des Kapitals bei den CDU-Regierungen war immer mehr oder weniger irgendwie verdeckt - hat also nicht die Repräsentanz in der obersten politischen Spitze angestrebt. Und das ist jetzt mit Merz anders", so Rügemer. "Der vom größten Kapitalunternehmen der westlichen Welt zum deutschen Aufsichtsratsvorsitzenden ernannte oberste bezahlte Lobbyist soll nicht nur - wie bisher - im Kanzleramt [verkehren], sondern möchte jetzt CDU-Vorsitzender und Bundeskanzler werden." ...


Aus: "Friedrich Merz, Vertreter der Finanzwelt?" Ben Knight (01.12.2018)
Quelle: https://www.dw.com/de/friedrich-merz-vertreter-der-finanzwelt/a-46527408 (https://www.dw.com/de/friedrich-merz-vertreter-der-finanzwelt/a-46527408)

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Quote[...] Der Kölner Publizist und Vorsitzender der Aktion gegen Arbeitsunrecht referiert über US-Investoren, die sich seit Ende der 1990er Jahren unter den Regierungen von Gerhard Schröder und Angela Merkel in tausende der wichtigsten Unternehmen in Deutschland eingekauft haben. Die großen Kapitalorganisatoren vom Typ ,,Blackrock" sind die Haupteigentümer aller 30 DAX-Konzerne, organisieren etwa die Fusion von Bayer und Monsanto. Private Equity-Investoren haben über 10.000 gut gehende Mittelstandsfirmen aufgekauft, verwertet, an die Börse gebracht oder weiterverkauft. Ebenso geht es in dem Vortrag um die von Werner Rügemer so genannte ,,zivile Privatarmee des internationalen Kapitals" mit den Abteilungen Unternehmensberatung, Wirtschaftsprüfung, Wirtschaftsrecht und Rating. ...


Aus: "Vortrag mit Werner Rügemer über den ,,Blackrock-Kapitalismus"" (24. Januar 2019)
Quelle: https://www.lokalkompass.de/hagen/c-politik/vortrag-mit-werner-ruegemer-ueber-den-blackrock-kapitalismus_a1061736 (https://www.lokalkompass.de/hagen/c-politik/vortrag-mit-werner-ruegemer-ueber-den-blackrock-kapitalismus_a1061736)

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Quote[...] Etwa zwei Dutzend Schattenbanken spielen heute in der Oberliga der westlichen Wirtschaft. Blackrock ist der größte dieser Kapitalorganisatoren, mit den etwas kleineren Vanguard und State Street bildet Blackrock die Führungsgruppe der ,,Big Three".

Sie alle arbeiten mit dem Kapital der Superreichen, der Multimilliardäre und Multimillionäre. Unternehmerclans, Topmanager, Unternehmensstiftungen, Pensionsfonds und Versicherungen gehören dazu, deren flüssiges Kapital an Blackrock & Co. weitergereicht wird mit der Erwartung: Macht was draus – und zwar höheren Gewinn als in meiner bisherigen Bank oder in meinem eigenen Unternehmen!

Blackrock trägt zu Steuervermeidung im großen Stil bei. Denn wenn die Superreichen ihre Millionen Blackrock anvertrauen, der Kapitalorganisator damit etwa 7,86 Prozent der Eon-Aktien zusammenkauft und zum größten Eigentümer des Energiekonzerns wird, dann lässt Blackrock dafür 152 Blackrock-Tochterfirmen gründen. Das sind 152 Briefkastenfirmen, die über ein Dutzend Finanzoasen verteilt sind: Wilmington im winzigen US-Bundesstaat Delaware – dort hat Blackrock selbst seinen rechtlichen Sitz –, Luxemburg, die Niederlande, die britische Insel Jersey oder Singapur. Rechnet man das hoch, dürften also die Aktien, die Blackrock für seine Kunden allein in den 30 DAX-Konzernen hält, auf etwa 5.000 Briefkastenfirmen verteilt sein. Ob Bundesfinanzminister Olaf Scholz davon schon gehört hat? Was sagt sein Staatssekretär Jörg Kukies dazu? Kukies war vormals bei Goldman Sachs – Blackrock ist dort Großaktionär. ...


Aus: "Die im Dunkeln" Werner Rügemer (Ausgabe 47/2018)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-im-dunkeln (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-im-dunkeln)

QuoteHerr Keuner | Community


Ja, Blackrock ist schon ein Phänomen. DAs Unternehmen berät Politik und Wirtschaft und kann so ein für Blackrock günstiges Umfeld schaffen. Auf Grund von Insiderwissen kann es "legal" den Markt manipulieren. Kontrolliert wird es von jenen, die von dieser Praxis profitieren. Ein wirtschaftliches Perpetum Mobile, das zeigte, was passiert wenn sich Macht zu stark konzentriert. ...


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on March 06, 2019, 09:13:23 AM
QuoteGriesoss1 #18

Wir leben in perversen Zeiten! Ein oder, global betrachtet, von mir aus mehrere Gesellschafts bzw Wirtschaftssysteme, die es erlauben, dass nicht wenige Menschen innerhalb weniger Jahre ein Vermögen von 10, 20, 30, 40 , bis hin zu über 100 Milliarden € "erarbeiten" können. Dass diese Vermögen Schwankungen unterliegen ist klar, kann man aber bei diesen Größenordnungen vernachlässigen.


Quote[...]  sittingbull #13

... das jährliche Schaulaufen der Forbes-Liste [ist] mit einer Fieberkurve zu vergleichen, die den Grad der Krankheit unseres wahnwitzigen Gesellschaftssystems ausdrückt.



Kommentar zu: "Milliardärs-Ranking: Mark Zuckerberg fällt in "Forbes"-Reichenliste um drei Plätze" (6. März 2019)
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-03/forbes-milliardaers-ranking-mark-zuckerberg-faellt-reichenliste (https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-03/forbes-milliardaers-ranking-mark-zuckerberg-faellt-reichenliste)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on May 29, 2019, 11:19:53 AM
Quote[...] Es gibt wohl nicht viele Leute, die John Hickenlooper kennen - nicht einmal in Amerika. Dabei hat sich der demokratische Präsidentschaftsbewerber und frühere Unternehmer Großes vorgenommen: "Ich trete an, um den Kapitalismus zu retten."

Das Wahlkampfversprechen des 67-jährigen Ex-Gouverneurs von Colorado scheint im Kernland der Turbomarktwirtschaft auf den ersten Blick weit hergeholt: Wenn es ein Land gibt, in dem alle glauben, es zähle vor allem die Anstrengung jedes Einzelnen und der Staat habe sich tunlichst rauszuhalten, dann die USA.

Tatsächlich aber ist in den USA eine Debatte entbrannt, die noch vor nicht allzu langer Zeit unmöglich schien: Ist unser System am Ende? Und ist der Sozialismus womöglich die bessere Wahl?

Es sind vor allem die Jüngeren, die diese ketzerischen Fragen stellen. Fast jeder Zweite in der Altersgruppe der Millennials und Generation Z erklärte kürzlich in einer Umfrage im Auftrag des Nachrichtenportals "Axios", dass er lieber in einem sozialistischen Land leben würde.

So richtig in Schwung gebracht hat die Sache aber nun ausgerechnet jemand, der in einer Kommandozentrale des sich schnell drehenden Geldes sitzt: Ray Dalio, Gründer des weltgrößten Hedgefonds Bridgewater Association, der auf ein persönliches Vermögen von geschätzt 17 Milliarden Dollar kommt. Im Vorfeld der Milken Institute Global Conference, dem jährlichen Treffen der Finanzjongleure, veröffentlichte Dalio vor einigen Wochen auf Linkedin eine vernichtende Abrechnung mit dem Wirtschaftsmodell, das ihn reich gemacht hat.

Mit zwölf Jahren sei er zum Kapitalisten geworden, schreibt er: Was er mit Zeitungsaustragen und Rasenmähen verdiente, investierte der Schüler an der Börse. Seit dieser Zeit habe ihn "das wirtschaftliche Investitionsspiel" gefesselt, bekennt der heute 69-Jährige, und dann kommt es: Für die Mehrheit der Amerikaner jedoch "funktioniert Kapitalismus heute nicht gut". Stattdessen produziere das System eine Spirale wachsender Ungleichheit. Dalios Warnung: Was sich nicht weiterentwickelt, das sterbe: "Und das trifft nun auf den Kapitalismus zu."

Der im luxuriösen Beverly Hilton versammelten Branche hat Dalio damit ein Menetekel an die Wand gemalt, auf das viele mit Schrecken starren. Amerikas Unternehmer, Banker und Börsianer stehen unter Rechtfertigungsdruck wie nie: Kommt von ihren Milliardenprofiten noch genug bei den Menschen im Land an? Je weniger die ökonomische "Trickle-down-Theorie" funktioniert, desto schneller verliert der Sozialismus seinen Schrecken.

"Trickle down" beschreibt die Idee, dass vom Wohlstand der Reichen im Wirtschaftssystem ganz automatisch bald die Armen profitieren, wenn man den Markt nur ungestört machen lasse. Doch davon ist wenig zu spüren, trotz zehnjährigem Konjunkturaufschwung ist die Finanzlage vieler Haushalte trist. 40 Prozent der Amerikaner hatten nach einer aktuellen Studie der Notenbank Fed 2017 nicht genug Ersparnisse, um eine unvorhergesehene Ausgabe von 400 Dollar zu bezahlen.

Konzerne wie General Electric und Honeywell listen in ihren Jahresberichten "negative Einstellungen gegenüber multinationalen Konzernen" und Populismus inzwischen als Risikofaktoren für ihr Geschäft auf. Die Mitgliedschaft in der linken Gruppierung Democratic Socialists of America hat sich seit Amtsantritt Trumps verzehnfacht - auf die allerdings magere Zahl von 56.000 Mitgliedern. Schwerer wiegt: Nach einer Gallup-Umfrage vom Sommer 2018 ist der Anteil der 18- bis 29-jährigen Amerikaner, die den Kapitalismus positiv sehen, seit 2010 von 68 auf 45 Prozent gestürzt.

Die wachsende Sympathie junger Leute für die sozialistische Alternative versetze die Unternehmer in Angst und Schrecken, glaubt der Präsident der Ford Foundation, Darren Walker. "Für sie ist das unglaublich furchterregend", sagte er der "Financial Times".

Jahrzehntelang haben sich Politikwissenschaftler mit der Frage gequält, wieso die USA immun gegen sozialistische Strömungen sind. Nun liegt die Antwort vor: Sie sind es nicht.

Davon profitieren zwei Politiker, die sich an die Spitze der Bewegung gesetzt haben: eine junge Frau und ein alter Mann, die sonst wenig verbindet. Alexandria Ocasio-Cortez und Bernie Sanders nennen sich beide "demokratische Sozialisten". Die 29-jährige frischgebackene New Yorker Kongressabgeordnete und der 77-jährige Senator aus Vermont haben die Koordinaten in der demokratischen Partei nach links verschoben. Im Vorwahlrennen liegt Sanders auf Platz drei von 23 Bewerbern. "Sozialismus ist cool", sorgt sich schon das konservative "Wall Street Journal".

Als Sanders jüngst beim Feindsender Fox auftrat, schalteten 2,6 Millionen ein - nicht nur seine Anhänger, sondern auch seine Gegner nehmen den weißhaarigen Politsenior ernst, der es nach der Niederlage gegen Hillary Clinton noch mal wissen will. Inwiefern der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen sei, wurde Sanders bei einem seiner Auftritte gefragt. Wer auf Signalwörter wie die Verstaatlichung von Produktionsmitteln oder Bankenenteignungen gewartet hatte, wurde enttäuscht. Demokratischer Sozialismus bedeute für ihn, "dass wir in einer zivilisierten Gesellschaft sicherstellen, dass alle Menschen in Sicherheit und Würde leben", antwortete Sanders.

Tatsächlich kommt einem die Debatte aus deutscher Sicht wie ein semantisches Missverständnis vor: Wo in den USA Sozialismus draufsteht, ist Sozialdemokratie drin. "Meine Politik ähnelt am ehestem dem, was wir in Großbritannien, in Norwegen, in Finnland, in Schweden sehen", sagt Ocasio-Cortez selbst. Amerikas tonangebende Sozialisten wollen keinen ökonomischen Regimewechsel, sondern das, was für die meisten Europäer selbstverständlich ist: eine Krankenversicherung für jedermann, ein kostenloses Studium und höhere Steuern für diejenigen, die es sich leisten können.

Dass Amerika aber überhaupt ernsthaft über solche - milliardenteuren - Reformen streitet, ist neu. Ocasio-Cortez "ist weder ein Ausreißer noch eine Radikale. Sie ist nah am politischen Zentrum von Amerikas junger Generation", ist der Historiker Niall Ferguson überzeugt. Die jungen Wähler seien nach links gerückt, schreibt der konservative Professor in einem gemeinsamen Stück mit einem liberalen Jungwissenschaftler in "The Atlantic". Und zwar in politischen und kulturellen Fragen genauso wie in ökonomischen.

Die Elite der Demokratischen Partei setzt das unter Zugzwang. Viele Politiker vollziehen den Schwenk nach links mit, ob sie wollen oder nicht. Dass immer mehr Menschen sich desillusioniert fühlen davon, "wie Kapitalismus praktiziert wird", könnte zu einer entscheidenden Triebfeder bei der Präsidentschaftswahl 2020 werden, sagt Steve LeVine von "Axios" voraus.

So paradox es klingt: Dem republikanischen Präsidenten Donald Trump könnte das helfen. Er setzt darauf, mit dem Schreckgespenst des Sozialismus die eigene Basis und die älteren Wähler zu mobilisieren, die den Kalten Krieg aus eigener Anschauung kennen. Die Demokraten mögen Skandinavien meinen, wenn sie Sozialismus sagen - die Republikaner hören Venezuela. Also Chaos, Hunger, Diktatur. "Wir glauben an den amerikanischen Traum, nicht den sozialistischen Albtraum", polterte Trump und warnte nicht nur davor, dass die Demokraten den Amerikanern ihre Autos wegnehmen und Flugreisen streichen würden: "Du wirst keine Kühe mehr besitzen dürfen." Die Ökonomiedebatte wird zur ideologischen Twitter-Schlacht.

Die Polarisierung sorgt viele Unternehmen. "Was wirklich kommen wird, ist der Klassenkampf", warnte Alan Schwartz, Manager der Investmentbank Guggenheim Partners. Hedgefonds-Manager Dalio ist überzeugt, dass es ohne grundlegende Veränderungen nicht gehen wird. "Die meisten Kapitalisten wissen nicht, wie man den ökonomischen Kuchen gut aufteilt, und die meisten Sozialisten wissen nicht, wie man ihn gut vergrößert." Wenn es nicht gelinge, beide Seiten zusammenzubringen, dann "werden wir große Konflikte haben und irgendeine Form der Revolution, die allen schadet und den Kuchen schrumpft."

Auch Präsidentschaftskandidat Hickenlooper empfiehlt, "zu reparieren, bevor es zu spät ist". Die Wahl 2020 werde darüber entscheiden, "ob der Kapitalismus in Amerika gedeiht", glaubt er. Der Ex-Gouverneur wird daran selbst wohl nicht beteiligt sein. Seine Umfragewerte liegen bei rund einem Prozent.


Aus: "Wohlstand: Amerika zweifelt am Kapitalismus" Ines Zöttl, Washington (29.05.2019)
Quelle: https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/usa-amerika-zweifelt-am-kapitalismus-a-1269693.html (https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/usa-amerika-zweifelt-am-kapitalismus-a-1269693.html)

Quoteösterreichischeschule heute, 09:53 Uhr
15. Linke Planspiele

Bei allem nötigen Respekt, aber in Amerika gewinnt niemand Wahlen der zu weit links steht. Mit zu weit Links ist in Amerika in der Tat die Sozialdemokratie gemeint. Bernie Sanders hätte es evtl. vor 4 Jahren schaffen können, als Trump noch ein aufziehender Albtraum war. Diese Chance haben die Demokraten aufgrund von inneren Machtkämpfen verstreichen lassen. Mit seinem "Amtsbonus" wird Trump von einen "linken" Kandidaten nicht zu schlagen sein.  ...


Quotedasfred 29.05.2019, 09:21 Uhr

6. Alles eine Frage der Perspektive
"Für Arme ist es nicht schlimm, arm zu sein. Für uns wäre es eine Katastrophe." so ähnlich formuliert es eine Landadlige im Film Maurice von James Ivory. Genau diese Position nimmt der weltweite Geldadel ein. Sie nehmen es als persönliches Schicksal, reich geboren zu sein. Die Armen haben ja bisher auch irgendwie überlebt, warum sollte man etwas ändern. Im Gegenteil, sie verraten ihre eigene Kaste, wenn man ihnen Brosamen zuwirft, wie Arbeit oder ein kleines bisschen Rente. Solange jeder nur den sucht, auf den er noch herabsehen kann, geht der Blick nicht nach oben. Nur dieses System verhindert die Revolution. Die Armen kämpfen gegeneinander, statt miteinander. Die Demokraten haben nur dann Erfolg, wenn sie es schaffen, Solidarität herzustellen. Wo diese fehlt, hat die reiche Oberschicht immer die Möglichkeit, mit Aussicht auf Almosen und Arbeit, Teile der Unterschicht an sich zu binden.


Quotesaarpirat 29.05.2019, 09:55 Uhr
18.

"Die Kapitalisten wissen nicht, wie man verteilt und die Sozies nicht, wie man den Kuchen größer macht." Ist was dran. Die Kapitalisten setzen als Antrieb jedenfalls auf die menschliche Gier, die es immer gab und immer geben wird. Im Grunde ein bombensicheres Fundament. Die Sozialisten setzen auf Solidarität, was leider nicht so gut funktioniert. Sämtliche Lehren, die in diese Richtung gingen, von Jesus bis Marx sind irgenwie gescheitert. Klingt also erst einmal gut auf Kapitalismus zu setzen und den dann irgendwie zu bändigen. Wenn er durch strickte Regeln und Gesetze eingehegt ist, könnte was draus werden. Wichtig wäre eben, dass weder Konzerne, noch Einzelpersonen reich genug wären um zu mächtig zu werden, um über den Gesetzen zu stehen oder sie gar machen (lassen) zu können. Wenn das dann noch mit einem bedingungslosen (ausreichendem) Grundeinkommen und Umweltschutz kombiniert wird könnte es klappen. Wenn die Gier nicht wäre. Dass der Kapitalismus nach dem zweiten Weltkrieg bis Ende der Achtziger so human war, liegt meiner Meinung nach mehr an der Angst der Kapitalisten vor den Roten im Osten, als in ihrer Bescheidenheit. Die eigene Bevölkerung musste ja bei Laune gehalten werden, nicht dass die mit Wahlen etwas geändert hätten. Richtig enthemmt wurde er ja erst, als es diese Gefahr nicht mehr gab.


Quotefrank-xps 29.05.2019, 10:05 Uhr
25. endlich mehr sozialismus
natürlich sind alle bisherigen Sozialismus Experimente krachend gescheitert ob nationale Sozialisten oder Internationale spielte keine Rolle. Unsere Moralischen Überlegenheitsfetischisten welche die Erkenntnis ihrer moralischen Überlegenheit einzig aus ihrer Einbildung beziehen, haben natürlich eine Erklärung für die vielen gescheiterten Experimente des real existierenden Sozialismus. Das war gar kein richtiger Sozialismus und deshalb sehen sich all die Verfechter des Wettbewerbes um die aller schönste Meinung auch unbefleckt mit weißer Weste den Stalin Mao und Pol Pot das waren ja gar keine richtigen Sozialisten :-) schon klar. Jedem Haltungssozialisten sei empfohlen seine Blicke nach Nordkorea und Venezuela zu richten. Ruinen schaffen auch ohne Waffen das ist die empirische Essenz aus sozialistischen Experimenten ...


Quoteenforca  29.05.2019, 10:07 Uhr

28. Jetzt geht das wieder los, dass die Rednecks auf die Straße gehen und gegen eine gesetzliche Krankenversicherung demonstrieren, weil ihnen das zu kommunistisch ist... Das gab es schon zu Obamas Zeiten. Unglaublich hohl.


Quotesyracusa 29.05.2019, 10:09 Uhr

31. Kernfrage: was ist Freiheit

Die Frage lautet im Kern: Was ist Freiheit? Das marktradikale Modell mit der vollen Verantwortung jedes Einzelnen für sich (und *nur* für sich) entartet logischerweise zu einem Recht des Stärkeren. Das Maximum an Freiheit in einer Gesellschaft kann nur durch staatliche Regulierung erreicht werden. Die Freiheit jedes einzelnen Bürgers endet nun mal an den Freiheiten und Rechten der anderen Bürger. Auch wir in Deutschland leben in einem Staat, der die Freiheiten der Wenigen über die Freiheiten vieler stellt. Warum kann man sich als Reicher aus der sozialen Verantwortung bei der Krankenversicherung stehlen? Warum muss ein Niedriglöhner von seinem wenigen Lohn in die Rentenkasse einzahlen, und hat dann im Alter exakt gar nichts davon? ...


QuoteEmderfriese 29.05.2019, 10:10 Uhr

32. Macht
"...Jahrzehntelang haben sich Politikwissenschaftler mit der Frage gequält, wieso die USA immun gegen sozialistische Strömungen sind. Nun liegt die Antwort vor: Sie sind es nicht. ..." Sie waren es auch nie. Immer wieder gab es in den USA Versuche, sozialistische/sozialdemokratische Parteien zu etablieren oder auch "nur" sozialistische Gewerkschaften einzurichten. Immer wurden letzten Endes diese Versuche mit zum Teil brutalsten Methoden verhindert. Was den USA wirklich gefehlt hat, war eben eine soziale Revolution wie die französische, aber auch wie die deutsche 1918. Die ökonomischen Machtverhältnisse wurden nie wirklich angetastet ...


Quotechristx 29.05.2019, 10:19 Uhr

38. Ehrlich?

liebe Redaktion - was ist das denn für ein Unsinn? Absolute und leider vollkommen verkehrte Meinungsmache für die Deutschen. Ich lebe nun seit fast 25 Jahren in den USA - deutlich mehr als mein halbes Leben. Hier versucht eine kleinst Gruppierung vielleicht den Kapitalismus zu überwinden. Die Wirtschaft brummt, der Lebensstil ist genial. Jeder der einen Job haben möchte kann einen haben! Selbst als truck driver gibt es Einstiegsgehälter von 85.000$. AOC ist eine verachtete Ultra Links Politikerin die hier niemand in irgendeiner Weise ernst nimmt, auch wenn das deutsche Journalisten gerne so hätten. Die Demokraten zerlegen sich gerade wieder vollkommen selbst. Was bei den Kandidaten auch durchaus gut für unser Land ist. Aber bitte, bitte - bevor sie so einen Stuss schreiben - der sicherlich zu Klicks führt und das sehr links schlagende deutsche Herz erwärmt - gehen sie mal aus Washington DC raus und recherchieren sie in der Realität. Der Kapitalismus funktioniert ganz hervorragend. Wir brauchen keine Regierung die uns sagen will was für tun, machen, denken oder essen sollen! Die Deutschen haben mein Mitleid, sehr schade um ein ehemals wirklich schönes Land. Aber jeder bekommt das was er verdient am Ende. Ich genieße jetzt mal weiter meine Freiheit und Rechte, meinen wirklich gut bezahlten, spannenden Job - der mich alle paar Wochen auch nach Europa bringt. Und werde in wenigen Stunden mit meinem wunderschönen 5.7 Liter V8 Pick Up Truck durch unglaublich schöne, grüne und saubere Landschaften zur shooting range fahren, danach einen Burger und ein Bier genießen und mit ein paar der nettesten, freundlichsten, einfachsten und tollsten Menschen Zeit verbringen. Und wissen sie was? Hier herrscht Freiheit. Und das wird so bleiben. Viele Grüße aus Texas und bitte besser nachforschen bevor sie so einen Quatsch verbreiten.


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Quote[...] Oft ist keine Katastrophe nötig – schon eine hohe Arztrechnung oder eine kostspielige Autoreparatur können das Leben vieler US-Amerikaner aus der Bahn werfen. Fast vier von zehn US-Bürgern können aus eigener Kraft keine unerwartete Rechnung in Höhe von 400 Dollar zahlen. Zu diesem Schluss kommt eine neue Studie der US-Zentralbank Federal Reserve (Fed). 27 Prozent der Befragten müssten sich Geld borgen oder Besitztümer verkaufen, zwölf Prozent könnten den Betrag auch dann nicht aufbringen. 17 Prozent wussten zum Zeitpunkt des Interviews schon, dass sie am Monatsende ihre Rechnungen nicht komplett würden zahlen können.

Diese Zahlen der Fed beschreiben nüchtern die harte soziale Realität in den Vereinigten Staaten. Eine Realität – so zeigt die Studie –, die für Schwarze und Hispanics besonders düster aussieht.

In den Medien und in der Tagespolitik fand das Thema bislang kaum Resonanz. Dabei könnte die Bestandsaufnahme der Fed den Demokraten eine Vorlage für den Wahlkampf gegen Donald Trump liefern. Der US-Präsident brüstet sich seit seinem Amtsantritt mit den guten Wirtschaftsdaten. Doch die Studie zeigt, dass die sozialen Verwerfungen trotz des Wirtschaftswachstums noch immer groß sind. Neben Zahlen zu Einkommen und Arbeitsverhältnissen beleuchtet die Fed-Studie auch Schulden und Lücken bei der Altersvorsorge. Die Ergebnisse machen vielfältige Probleme deutlich.

Da wären zunächst die Löhne. Laut einer im Sommer 2018 erschienenen Studie des Pew Research Center stagniert die inflationsbereinigte Kaufkraft für US-Arbeitnehmer seit 40 Jahren. Vor allem Geringverdiener sind in den vergangenen Jahrzehnten leer ausgegangen. Der bundesweite Mindestlohn ist seit 2007 nicht mehr gestiegen und liegt bei nur 7,25 Dollar. Wer so wenig verdient, kann nichts zurücklegen, auch nicht 400 Dollar für eine unvorhersehbare Ausgabe – oder für die Altersvorsorge. Auch dort zeichnet die Studie ein verheerendes Bild. Ein Viertel der US-Amerikaner hat keine privaten Pensionsrücklagen. Ein deutlich höherer Mindestlohn könnte helfen.

Das sehen offenbar auch die Demokraten und Demokratinnen so. Während sie mit ihrer moderaten Kandidatin Hillary Clinton das Thema 2016 noch weitgehend umschifften, gehört die Erhöhung des nationalen Mindestlohns auf 15 Dollar mittlerweile zu den Standardforderungen der meisten demokratischen Präsidentschaftskandidaten. Auch ein Gesetzesentwurf im Repräsentantenhaus dazu liegt vor. Gerade in trumptreuen Bundesstaaten verdienen überdurchschnittlich viele Wähler weniger als 15 Dollar. Mit dieser Forderung könnten die Demokraten den US-Präsidenten unter Druck setzen, der sich seit seinem Amtsantritt nicht mehr zu dem Thema geäußert hat.

Doch auch ein weitreichender Ausbau der staatlichen Altersvorsorge Social Security wäre notwendig, um Menschen eine stabile Rente zu ermöglichen, die Altersarmut verhindert. 9,2 Prozent der über 65-Jährigen leben trotz Social Security unterhalb der Armutsgrenze des Bundes.

Bisher haben die meisten demokratischen Kandidaten das Thema jedoch ausgespart. Lediglich der Parteilinke Bernie Sanders hat im Falle seines Wahlsiegs eine Ausweitung der staatlichen Rentenversicherung angekündigt und will die Beitragsbemessungsgrenze erhöhen. Während Arbeitnehmer bisher nur auf die ersten knapp 133.000 Dollar ihres Jahreseinkommens Rentenversicherungsbeiträge abführen müssen, sollen laut Sanders' Plan Einkommen bis 250.000 Dollar einbezogen werden. Gutverdiener müssten sich stärker als bisher an der Finanzierung von Social Security beteiligen.

Auch beim Thema Studienschulden besteht Handlungsbedarf: In den vergangenen 30 Jahren haben sich die Studiengebühren in den USA an öffentlichen Universitäten mehr als verdreifacht und an privaten Hochschulen mehr als verdoppelt. Vor allem Minderheiten besuchen wegen des hochselektiven Zulassungsverfahrens an US-Universitäten häufig gewinnorientierte sogenannte For-Profit-Colleges, die zwar bereitwillig fast alle Studenten und Studentinnen aufnehmen, aber entsprechend teurer sind. 20 Prozent der Absolventen sind laut Fed-Studie bei der Rückzahlung ihrer Studienschulden im Verzug.

Diese Studienschulden lähmen viele junge Amerikaner. Laut Fed zahlen Schuldner zwischen 200 und 299 Dollar im Monat ab – Geld, das bei der Familienplanung oder beim Kauf einer Immobilie fehlt.

Da von hohen Studienschulden vor allem die demokratische Stammwählerschaft aus gut gebildeten Großstädtern betroffen ist, haben sich fast alle ihrer Kandidaten und Kandidatinnen für 2020 für eine zumindest teilweise Abschaffung der Studiengebühren ausgesprochen. Bisher hat aber nur Elizabeth Warren, Senatorin aus Massachusetts, einen detaillierten Plan zur Tilgung von Studienschulden vorgelegt. Wer ein Haushaltseinkommen von weniger als 100.000 Dollar hat, dem erstattet der Staat bis zu 50.000 Dollar Studiengebühren. Warrens Vorschlag würde nach eigenen Angaben 640 Milliarden Dollar kosten und vor allem der Mittelschicht zugutekommen.

Zu wenig politischen Rückhalt erfährt auch das Thema Arbeitsrecht. 2018 waren gerade einmal 10,8 Prozent der Beschäftigten in Gewerkschaften organisiert – halb so viele wie 1985. Während Gewerkschaften im öffentlichen Sektor noch gut vertreten sind, sieht es im Privatsektor schwach aus. Nur 6,4 Prozent der dort Beschäftigten waren vergangenes Jahr in Gewerkschaften organisiert. Das Resultat sind unter anderem prekäre Beschäftigungsverhältnisse und mangelnde betriebliche Mitsprache. Laut Fed-Studie leidet jeder vierte Arbeitnehmer unter kurzfristigen Dienstplanänderungen.

Auch hierzu haben Elizabeth Warren und Bernie Sanders die detailliertesten Vorschläge erarbeitet. Warren will, dass in den Aufsichtsräten großer Unternehmen 40 Prozent Arbeitnehmer vertreten sind, die die Interessen der Belegschaft vertreten. Bisher ist diese in Deutschland verbreitete Form der Mitbestimmung in den USA unüblich.

Sanders fordert die Abschaffung der sogenannten Right-to-Work-Gesetze, die fast ausschließlich von Republikanern ausgehen und Gewerkschaften in vielen Bundesstaaten daran hindern, Arbeitnehmerbeiträge einzuziehen. Seit Monaten unterstützt er mit Solidaritätsaufrufen Streiks im ganzen Land, erst am Donnerstag solidarisierte Sanders sich mit Mitarbeitern der Fast-Food-Kette McDonald's, die einen Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde fordern. Joe Biden, der von vielen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes unterstützt wird, äußerte sich dagegen nicht zum Streik der McDonald's-Arbeiter.

Der Fed-Bericht zeigt auch die Probleme beim privaten Zahlungsverkehr auf. Sechs Prozent der US-Amerikaner haben demnach kein Bankkonto, weitere 16 Prozent sind trotz Konto wegen mangelnder Deckung auf alternative Finanzierungsquellen angewiesen. Dazu zählen Geschäfte mit Pfandleihern, die es in den Armenvierteln aller US-Großstädte gibt, oder aber die gefürchteten Payday Loans (Zahltagkredite). Entsprechende Anbieter vergeben Darlehen zwar auch an Kunden mit schlechter Bonität, dafür verlangen sie aber Zinsen von durchschnittlich 400 Prozent. Hier sind ebenfalls vor allem Arme und Minderheiten betroffen.

Anfang Mai hat Bernie Sanders gemeinsam mit der Kongressabgeordneten Alexandria Ocasio-Cortez ein Gesetz vorgestellt, das die Zahltagkredite stark einschränkt und die Zinsen von Kreditkartenschulden auf 15 Prozent beschränkt. Darüber hinaus würde das Gesetz die US-Post dazu auffordern, kostengünstige Bankkonten für finanzschwache Kunden bereitzustellen.

Auch Elizabeth Warren kämpft seit Jahren gegen die Payday-Loan-Industrie: zunächst ab 2010 als Architektin der unter Barack Obama gegründeten Verbraucherschutzbehörde für Finanzdienstleistungen (CFPB) und danach als Senatorin. Für viele andere Präsidentschaftskandidaten hat das Thema dagegen offenbar keine Priorität.

Angesichts der Vielzahl an Problemen bleibt die Frage, warum bisher nur wenige demokratische Kandidaten detaillierte und weitsichtige Konzepte zur Überwindung der tiefen sozialen Spaltung im Land vorgelegt haben. Aus dem Kongress kamen zwar eine Handvoll Gesetzesvorlagen, etwa zur betrieblichen Altersvorsorge und zur Überwachung der Finanzindustrie. Doch diese wenigen Initiativen reichen nicht, um den Wählern auch in der Opposition zu zeigen, dass man eine legislative Agenda im Ärmel hat, die das Leben der Menschen in den USA spürbar verbessern würde.

Stattdessen werden die Kongressarbeit und die politische Berichterstattung von Untersuchungen zum Mueller-Report, Trumps Steuerbescheiden und zahllosen Vorladungen von Vertrauten des Präsidenten geprägt. Mit den Alltagsproblemen der meisten US-Amerikaner hat das nichts zu tun.


Aus: "Zu wenig Lobby für die Mittellosen" Eine Analyse von Jörg Wimalasena, New York  (26. Mai 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-05/usa-studie-fed-wirtschaftsdaten-armut-renten-finanzen-bernie-sanders/komplettansicht (https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-05/usa-studie-fed-wirtschaftsdaten-armut-renten-finanzen-bernie-sanders/komplettansicht)

Quotederi punkt partei #3

,,Trotz guter Wirtschaftsdaten"?

Vielleicht hängt ja das eine mit dem anderen zusammen?


Quotemanveras #3.1 

Offensichtlich: Statistisch gesehen besitzen ja selbst die Ärmsten der Armen kleine Vermögen: "Die privaten US-Haushalte besitzen derzeit ein Rekordvermögen von 107 Billionen Dollar. Doch die reichsten 0,1 Prozent haben gleich viel wie die ärmsten 90 Prozent."
https://www.contra-magazin.com/2018/09/usa-rekordvermoegen-doch-die-haelfte-besitzt-nichts/ (https://www.contra-magazin.com/2018/09/usa-rekordvermoegen-doch-die-haelfte-besitzt-nichts/)


Quoteartefaktum #11

>> Trotz guter Wirtschaftsdaten leben Millionen Amerikaner am Rande des Ruins. <<

Was soll eigentlich immer diese Verwunderung? Diese Entwicklung hat System. Da hat die Politik jahrzehntelang drauf hin gearbeitet, dass immer mehr Geld nach oben umverteilt wird. Das läuft bei uns nicht anders.


...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on June 05, 2019, 05:02:36 PM
Quote[...] Colin Crouch (* 1944 in London-Isleworth) ist ein britischer Politikwissenschaftler und Soziologe. Mit seiner zeitdiagnostischen Arbeit zur Postdemokratie und dem gleichnamigen Buch wurde er international bekannt. ... 2004 veröffentlichte Crouch das Werk Post-Democracy, 2008 auf Deutsch unter dem Titel Postdemokratie. Unter einem idealtypischen postdemokratischen politischen System versteht er ,,ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden. Es sind Wahlen, die sogar dazu führen können, daß Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten." Zur Beruhigung der Massen werde eine Scheindemokratie als Showveranstaltung inszeniert. Crouch warf im Jahr 2008 der Politik des Neoliberalismus vor: ,,Je mehr sich der Staat aus der Fürsorge für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zuläßt, daß diese in politische Apathie versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn – mehr oder minder unbemerkt – zu einem Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität des neoliberalen Denkens."

...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Colin_Crouch (https://de.wikipedia.org/wiki/Colin_Crouch) (5. Juni 2019)

Quote[...] Mit viel Geld lässt sich leicht Politik machen, die Zivilgesellschaft bleibt außen vor. In den USA ist das Problem allgegenwärtig, breitet sich aber auch in Europa aus.

Immer mehr Menschen stellen die Annahme infrage, Kapitalismus und Demokratie seien beste Freunde. Für diese berechtigte Skepsis gibt es zwei Hauptgründe: Erstens ist der moderne Kapitalismus ein globales Phänomen, während die Demokratie vor allem auf nationaler und lokaler Ebene stattfindet. Zweitens wird der moderne Kapitalismus von der Finanzwelt gelenkt, was zu einer wachsenden Ungleichheit führt. Größere Ungleichheit wiederum gefährdet die Demokratie.

Es steht also außer Frage, dass die Globalisierung für die Demokratie ein Problem darstellt. Die Weltwirtschaft wird entweder gar nicht oder von internationalen Organisationen reguliert, die gegenüber den Organen der Demokratie nur bedingt rechenschaftspflichtig sind. Außerdem können transnationale Firmen die Autorität der nationalen Demokratie allein schon dadurch untergraben, dass sie nur in Länder investieren, deren Wirtschaftspolitik ihnen gefällt. Das manifestiert sich am deutlichsten in den weltweit sinkenden Einnahmen aus Unternehmenssteuern, da die Staaten sich gegenseitig darin übertreffen wollen, die großzügigsten Steuergesetze zu bieten. Die Folge: Die Steuerlast wird auf den einzelnen Bürger abgewälzt und für staatliche Leistungen stehen weniger Ressourcen zur Verfügung.

Die Staaten könnten dieser Entwicklung natürlich entgegenwirken, indem sie sich der Herausforderung gemeinsam stellen. Meist ist die Versuchung jedoch zu groß, das Land mit den großzügigsten Bedingungen für internationale Konzerne zu werden. Die Europäische Union ist hier zumindest teilweise eine Ausnahme. Ihr Parlament ist das weltweit einzige Beispiel für eine transnationale Demokratie. Doch sein Einfluss ist schwach.

Die europäische Demokratie sieht sich zwei feindlichen Kräften gegenüber: der Beeinflussung der Europäischen Kommission und der einzelnen Mitgliedsstaaten durch Konzerne auf einer Ebene, die für das Parlament nicht zugänglich ist, und den Bemühungen xenophober Populisten, die Macht weg von der EU und zurück zu den Nationalstaaten zu bringen. Da die meisten Populisten in der politischen Rechten angesiedelt sind, interessiert es sie nicht, ob die Nationalstaaten gegen die Macht der Konzerne verlieren.

Grundsätzlich spielt sich Demokratie auf zwei Ebenen ab: auf der formellen Ebene der Wahlen und Parlamente und auf der informellen Ebene, auf der die Lobbyisten Druck auf die Zivilgesellschaft ausüben. Auf der ersten Ebene sind wir sehr darauf bedacht, für Gerechtigkeit zu sorgen. Jeder hat eine Stimme, egal, ob arm oder reich.

Für informelle Politik bestehen wenige Einschränkungen, und genau das ist die Grundlage für ihr Gedeihen und für unsere Freiheit. Wir können jederzeit auf vielfältige Weise Druck ausüben, um den Staat davon zu überzeugen, diese oder jene Politik zu verfolgen, solange wir nicht Korruption oder Gewalt einsetzen. Ob wir jedoch diesen Druck überhaupt ausüben können, hängt von den Ressourcen ab, über die wir verfügen. Daher begünstigt informelle Politik die Reichen und verstößt so gegen den Grundsatz der Gleichheit – einem Grundpfeiler der Demokratie.

Diese Disbalance spielt keine große Rolle, wenn die Ungleichheit in einem Land begrenzt ist oder wenn der Einfluss, der in einem Politikbereich ausgeübt wird, nicht ohne Weiteres auf einen anderen übertragen werden kann.

In den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war das weitgehend der Fall. Seither hat die Ungleichheit jedoch kontinuierlich zugenommen – nicht so sehr in der Mehrheit der Bevölkerung, sondern eher zwischen der kleinen Gruppe der Superreichen und allen anderen. Man muss schon sehr reich sein, um politischen Einfluss ausüben zu können, und diese kleine Gruppe, die vielleicht 0,1 Prozent der Bevölkerung ausmacht, ist genau in dieser Position. Ein solches Ausmaß an Ungleichheit herrscht vor allem in den USA, breitet sich aber derzeit nach Europa aus.

Der wichtigste Motor der Ungleichheit ist die Finanzialisierung der Weltwirtschaft. Was ist damit gemeint? Wer finanzielle Ressourcen besitzt und manipulieren kann, generiert Erträge, die mit keiner anderen Form menschlicher Aktivität jemals erzielt werden können. Wurde der Reichtum erst einmal erworben, kann eine Einzelperson oder ein Konzern einen Teil davon für politische Lobbyarbeit einsetzen und so staatliche Maßnahmen – wie Steuerpolitik, gesetzliche Veränderungen und Staatsaufträge – beeinflussen. Sie ermöglichen es dem Vermögensinhaber, in Zukunft noch mehr zu verdienen. Die zunehmende Ungleichheit und die Schwächung der Demokratie befinden sich so eng umklammert in einer verhängnisvollen Abwärtsspirale.

Doch eine weitere Spirale zeigt in die Gegenrichtung. Der moderne Kapitalismus ist abhängig vom Massenkonsum. Dieser wiederum hängt davon ab, dass die Einkommen der Bevölkerung in der Breite wachsen.

Im Jahr 2014 wurde in einem Arbeitspapier der Industrieländerorganistion OECD zur Beschäftigung und Migration errechnet, dass in den USA die obersten ein Prozent der Einkommensbezieher zwischen 1975 und 2007 (dem Jahr vor der Finanzkrise) fast 50 Prozent des Wachstums des Nationaleinkommens auf sich vereinten. Eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verzeichnete dagegen stagnierende ober sogar rückläufige Einkommen. Trotzdem wurde weiter konsumiert. Dies war nur mithilfe einer wachsenden Verschuldung möglich, die trotz aller Risiken von einem Finanzsystem gefördert wurde, das durch die Lobbyarbeit der Banken dereguliert worden ist. Schließlich wurde die Belastung durch die hohen Ausfallrisiken zu viel für die Finanzmärkte. Es kam zu der Krise, von der wir uns immer noch nicht vollständig erholt haben.

Es stellt sich nun die Frage: Gibt es für einen vom Massenkonsum abhängigen Kapitalismus, der zunehmend Ungleichheit generiert, keinen anderen Weg, als die Haushalte erneut zu einer nicht tragbaren Schuldenlast zu ermuntern? Zum jetzigen Zeitpunkt scheint die Demokratie nicht imstande, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Klar ist: Der globale Kapitalismus kann nur auf transnationaler Ebene gezügelt werden. Unsere politischen Parteien scheinen jedoch gespalten zwischen denen, die sich den Lobbyisten geschlagen gegeben haben und nicht an Regulierung glauben, und solchen, die sich in die begrenzte Reichweite des Nationalismus zurückziehen wollen.

Der Kapitalismus behindert so den Wirkungsgrad der Demokratie. Dennoch haben die Kapitalisten keinen Grund, mit dieser Regierungsform unzufrieden zu sein. Die Demokratie sichert Rechtsstaatlichkeit und gibt eindeutig vor, mit welchen Verfahren Gesetze geändert werden können und wie für eine vorgeschlagene Veränderung Lobbyarbeit betrieben werden kann. Dies ist für Kapitalisten attraktiv.

Auf der anderen Seite kann eine Demokratie aber auch massenweise Vorschriften zum Schutz von nicht marktbezogenen, nicht unternehmerischen Interessen produzieren. Das bevorzugte Regime der Kapitalisten ist deshalb in Wahrheit das postdemokratische, wenn alle Formen der Demokratie und allen voran der Rechtsstaat weiter fortbestehen, das Elektorat jedoch passiv geworden ist und lediglich auf die sorgfältig betriebenen Wahlkampagnen reagiert.

Aktivismus und eine dynamische Zivilgesellschaft sind dabei nicht erwünscht, da sie dann störende Kontra-Lobbys hervorbringen könnte, die mit dem stillen Wirken der wirtschaftlichen Lobbyisten auf den Fluren der Regierung konkurrieren. Das Wiederaufflammen des Nationalismus stört zwar auch diese friedliche Szenerie, da sie sich jedoch auf die eigene Nation konzentriert, spielt sie auf der globalen Ebene kaum eine Rolle. Sie liegt einfach außerhalb ihres Einflussbereichs.

Bislang sind wir noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem die Dominanz der Konzerne über die Politik vollkommen ist, denn dann wären alle Verbraucherschutz- und Arbeitsgesetze längst abgeschafft. In diese Richtung geht jedoch die Reise – angetrieben durch die zunehmende Ungleichheit und dadurch, dass politische und wirtschaftliche Macht sich gegenseitig stärken. Die Demokratie wird dem Kapitalismus wahrscheinlich auch in Zukunft den bestmöglichen Rahmen bieten. Jedoch gilt dies umgekehrt wohl nicht mehr.

Übersetzt aus dem Englischen von Supertext Deutschland GmbH 


Aus: "Die Superreichen gefährden die Demokratie" Ein Essay von Colin Crouch (5. Juni 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-04/kapitalismus-demokratie-ungleichheit-globalisierung/komplettansicht (https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-04/kapitalismus-demokratie-ungleichheit-globalisierung/komplettansicht)

QuoteĐakovo #2.5 

Ich sehe, dass in großen Teilen der Bevölkerung Gier schwindet und Teilen geil ist. Und ich bin guter Dinge, dass dieser Trend sich fortsetzt.
Es ist durchaus möglich, dass Geld als etwas asoziales betrachtet wird. Noch zeigen Hochglanzmagazine die Reichen und Schönen aber das Bild wandelt sich.
Mich beeindrucken übrigens Glückliche Menschen am meisten.
Und den Trumps dieser Welt sollte man paar Atolle zur Verfügung stellen, wo sie sich aneinander berauschen können.

Quote
Piet Vermailen #2.8

Ganz ohne Geld wird es nicht gehen, siehe Kommunismus.
Aber ich mag deinen Beitrag :)


QuoteGutsweib #2.7

Marktwirtschaften neigen immer zur Konzentration. Die notwendige Folge, es gibt eine steigende Zahl von Superreichen. Die seit Frau Merkel gültige Staatsdoktrin "marktkonforme Demokratie Staat statt sozialer Marktwirtschaft" fördert diese Entwicklung. Diese Politik wurde von den Medien immer bejubelt. Es soll sich also keiner beschweren.


Quotejaundnein #2.14

Mit einer solchen Haltung "uns geht's doch noch gut" basierend auf einem angeblichen Trend, den ich aus meinem Umfeld nicht bestätigen kann, stellen Sie den reichen 1 bis 10% doch nur einen Freibrief aus. ...

QuoteGhandi19 #2.19

"Diese Politik wurde von den Medien immer bejubelt. Es soll sich also keiner beschweren."

Genau so ist es! - Zuerst Merkels Politik unkritisch und stärkend begleiten
und dann über die Trumps, den Brexit und Co. schimpfen,
als wäre das alles nicht die Politik, die sie als Medien "hofierten"....
(ja, auch Trump. Denn er ist 'nur' eine Folge des Versagens der Demokraten in den USA...und das waren und sind ja unsere Freunde.)

Und: Die Klattens, Quandts, Springer und Mohns machen auch hier mit Merkels CDU ihre Politik:
"Mit viel Geld lässt sich leicht Politik machen, die Zivilgesellschaft bleibt außen vor. In den USA ist das Problem allgegenwärtig, breitet sich aber auch in Europa aus. "


QuoteWaldschrat86 #2.47

Sie nennen's Leistungsgesellschaft, andere nicht und selbst wenn das alle täten, ist Leistung ziemlich heterogen. Als Beispiel und damit es auch nicht krumm wird, innerhelb des Segments bleibend: Bezahlter Leistungssport. Da gibt es im Fußball Unsummen, aus anderen Gründen als der erbrachtern Leistung auf dem Platz. Beim Handball, Basketball, Leichtathletik, usw. können die Sportler nur davon träumen, auch dann wenn ihr Sport, genauso viel oder gar mehr Leistung erfordert.

Hier wird auch nicht Reichtum verteufelt, sondern Superreichtum. Es gibt bettelarm. arm, saturiert, wohlhabend, reich, superreich. Ich würde mal schätzen per Leistung schafft man maximal wohlhabend, alles darüber ist nunmal system- bzw. gesellschaftsbedingt, wie eben beim Profifußballer im Gegensatz zum Profihandballer.


QuoteJuanito alimaña #2.48

Im Kommunismus hatte jeder jede Menge Geld,aber die Regale waren leer, das ist der Unterschied.


Quote
Deine Freiheit ist auch die der Anderen #2.49

Das Märchen, der Lokomotiven der Gesellschaft, nur wer reich ist ist Leitungsträger.
Hohle Phrasen zur Selbstermächtigung, bzw. Beweihräucherung


Quote
Stan Laurel #2.51

"...während die Ackermänner, Jains, Winterkorns und wie sie alle heißen für die größten Scheißjobs noch Millionengehälter- und abfindungen in den Arsch geblasen kriegen.
Das ist so selten dämlich, dass es schon lächerlich ist...."

Tatsächlich ist es auch immer wieder erhellend wenn man sich die Mühe macht nachzuhalten, was eigentlich aus Spitzen-Managern geworden ist, die in ihrer Aufgabe offensichtlich gescheitert sind. Man stellt erstaunt fest dass diese auffallend oft an anderer Stelle wieder und erneut in Spitzenpositionen Beschäftigung finden. Soviel zum Prinzip Leistung.
In Wahrheit gilt das Prinzip Kaste.


Quote
Willy Wusel #2.52

"Es gibt keine Gleichheit!"

Ach. Und ich dachte immer vor Gott und dem Gesetz sind alle Menschen gleich.
Und ich füge hinzu: bei politischen Wahlen in einer Demokratie.

...


Willy Wusel #2.53

"Jeff Bezos alleine auf einem Südsee-Atoll hätte nicht reich werden können."

Völlig richtig. Er hat ein Herr von unterbezahlten Paketboten, die hunderttausende von Stunden für ihn schuften.
Man fragt sich, wo der Unterschied zu Ludwig XIV ist. Der hatte die Bauern und das gemeine Volk, die für ihn und seinen Hof geschuftet haben.


QuoteDeine Freiheit ist auch die der Anderen #2.54

.. zum Kenterpunkt der Egoisten, Liberalisten, Marktradikalen. Selbstermächtigung durch Eigendefinition.
Es braucht eine freie Wirtschaft keine Frage, aber keine ungezügelte Regelfreie in der bestimmte Leute sich ermächtigen in Fragen der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik die Deutungshoheit zu haben. Zumal wenn sie wie hier mit einer Selbstgefälligkeit und Absolutheit vorgetragen wird. Wer anderes zu sagen wagt wird abgewertet, diskreditiert der wird als jemand der es nicht versteht dargestellt. ...


QuoteJuanito alimaña #2.55

Tja...das mit Ludwig XIV und seine Umgebung war am Ende eine ziemlich kopflose Angelegenheit.Die französische Revolution war nichts anders als ein Putsch der Bourgeoisie gegen den Adel und die Kirche, aber das ist eine andere Baustelle.


QuoteTollerTyp87 #2.78

[Vilfredo Pareto untersuchte die Verteilung des Grundbesitzes in Italien und fand heraus, dass ca. 20 % der Bevölkerung ca. 80 % des Bodens besitzen. Im Jahr 1989 wurde festgestellt, dass 20 % der Bevölkerung 82,7 % des Weltvermögens besitzen. ... Daraus leitet sich das Paretoprinzip ab. Es besagt, dass sich viele Aufgaben mit einem Mitteleinsatz von ca. 20 % erledigen lassen, so dass 80 % aller Probleme gelöst werden. Es wird häufig kritiklos für eine Vielzahl von Problemen eingesetzt, ohne dass die Anwendbarkeit im Einzelfall belegt wird. ... https://de.wikipedia.org/wiki/Paretoprinzip (https://de.wikipedia.org/wiki/Paretoprinzip) (24. Mai 2019)]

... das Pareto-Prinzip ist keine systemunabhängige Grundkonstante, sondern beschreibt lediglich ein statistisches Verteilungs-Phänomän. Es gibt keine empirische Grundlage, die eine solche Verteilung beim Einkommen oder Besitz begründet. Die Verteilung bleibt damit eine systemische Frage.

Wir müssen endlich die Interpretation des Kapitalismus als eine Art unumstößliches Naturgesetz überwinden. Natürlich konzentriert sich in einer Welt des "imperativen Kapitalismus" mit dem Kapital auch Macht, wodurch immer auch Einfluss auf die Politik genommen wird, egal welches politische System vorherrscht. Grafiken über die Entwicklung der Verteilung von Einkommen und Besitz belegen diesen Einfluss. Die Globalisierung und überwiegend neoliberale Politik der vergangenen Jahre sei es durch IWF oder EZB hat diese Situation weiter verschärft und den Sozialstaat ausgehöhlt, der eigentlich als eine große Errungenschaft der Moderne angesehen wurde.

Eine neoliberale Marktwirtschaft ist weder sozial noch ökologisch. Sie ist Ursache der zukünftigen Herausforderungen (Klimawandel, Massenmigration etc.) und damit ungeeignet diese zu überwinden. Der Markt ist in vielen Bereichen eben nicht perfekt und muss daher reguliert werden. Klar muss auch die Einflussnahme in einem politischen System transparenter werden. Die Anpassung des politischen Systems allein, reicht allerdings nicht aus, um die ungleichen Machtverhältnisse auszugleichen.


QuoteGhandi19 #3.36

"Die Lösung ist schwierig..."

Nein, es ist ganz einfach.
Der Politik fehlt nur der Wille.

...Beispiel:
Skandinavien


QuoteJosef Fragen #3.43

Einige der Superreichen( Warren Buffett, Bill Gates u.a. ) erkennen ja mittlerweile sogar die Gefahr, die von der enormen Ungleichverteilung des Kapitals, für die westlichen Demokratien ausgeht.
Nur haben diese auch keine Idee. Etwas Wohltätigkeit da und dort ist keine Perspektive.
Damit macht man nur die Unterschicht zu Almosenempfängern.
In diesen Kreisen muss die Einsicht wachsen, dass sie selbst nichts wären, wenn es nicht Millionen andere Menschen gäbe.
Was wären Google, Microsoft, Apple, Amazon, Aramco, Alibaba, Huawei, Samsung etc. wenn es nicht Milliarden von Menschen gäbe?
Also wäre es doch eine gute Idee von all diesen Unternehmen 20% - 30% der Aktien an einen Globalen Bürgerfonds zu übergeben.
Andernfalls könnte es ja passieren, dass man diese irgendwann zerschlagen muss oder ein globaler Boykott das schnelle Ende herbeiführt.


Quoteikonist #4

1789


QuoteSörenFinnKevinCataleyaChantal #4.1

Lesen Sie mal bei Piketty nach, wie vergeblich diese Revolution im Hinblick auf die Vermögensverteilung war. Im 19.Jhd lebte und starb jeder dritte Einwohner von Paris völlig mittellos. Zwischen den glamourösesten und protzigsten Superreichen des ganzen Kontinents. Und er stellt zurecht (sinngemäß) die Frage, wie sich so viele Menschen ihr ganzes Leben lang so vera*schen lassen konnten.


Quoteikonist #9

Die Ideologie des Neofeudalismus: Popkultur


QuoteDeserteur 2.0 #12

Ein Artikel der mir aus dem Herzen spricht. Wenn ein System jegliche Balance verliert, wie damals die Monarchie durch den Absolutismus, ist es schneller Geschichte als es ihm lieb sein kann.
Deswegen muss sich unsere Politik unabhängiger machen, was keine leichte Aufgabe ist, wenn dann damit gedroht wird, dass man tausende von Arbeitsplätzen verlegt. ...


QuoteLurkling #14

Schönes Essay, dann bleibt nur zu hoffen das die junge Generation sich nicht mit gut bezahlten Jobs und vermeintlichem Erfolg abspeisen lässt wie die bisherigen und neben der Umweltkatastrophe die dieses System hervor gebracht hat auch noch das System der indirekten Beeinflussung als solches angeht.


QuoteFurbo #23

Guter Essay. Und recht hat der Verfasser. Wie die Großindustrie die Politik bestimmt, sieht man doch auch sehr gut in Deutschland. Die deutsche Regierung ist in weiten Bereichen nur noch das Sprachrohr irgendwelcher Interessenverbände.


QuoteDie Sieben Todsünden #24

Nick Hanauer (Milliardär) hat das übrigens schon vor fünf Jahren gesagt. Und wer könnte als Kapitalismusanbeter eigentlich einem Milliardär widersprechen, der das Geld nicht mal geerbt hat?

... You probably don't know me, but like you I am one of those .01%ers, a proud and unapologetic capitalist. ... In fact, there is no example in human history where wealth accumulated like this and the pitchforks didn't eventually come out. You show me a highly unequal society, and I will show you a police state. Or an uprising. There are no counterexamples.
https://www.politico.com/magazine/story/2014/06/the-pitchforks-are-coming-for-us-plutocrats-108014 (https://www.politico.com/magazine/story/2014/06/the-pitchforks-are-coming-for-us-plutocrats-108014)


QuoteKaffeeonkel #26

Der Text hätte auch von Kewin Kühnert sein können. Im Augenblick zählt nur noch Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit (was immer man darunter auch verstehen mag). Es gab schon immer (Super)Reiche und wo bitte wurde in den letzten 30 Jahren in welchem Land der EU die Demokratie gefährdet oder gar abgeschafft? Professoren leben unter einer Käseglocke und malen sich immer ihren Idealzustand aus. Die haben einfach zu viel Zeit.


QuoteAristocats1 #26.1

Ihr Beitrag zeugt von Unwissen. Beispiel Ungarn. Dort wurden nahezu alle kritischen Medien von Freunden Orbans aufgekauft. Praktisch gibt es dort keine freie Presse mehr. Oder was sagen Sie zu den Autokonzernen in Deutschland? Sie haben jahrelang geltende Gesetze gebeugt. Bis heute gibt es für die betrogenen Autokäufer nicht mal Entschädigungen. Von Strafen in Deutschland wegen der Umweltverschmutzung ganz zu schweigen.


Quoteah-jun #26.2

Vielleicht leben auch Kaffeeonkel in einer Blase?
Im übrigen ist im Artikel genau ausgeführt, dass die Demokratie formal aufrechterhalten wird, aber der "Kern" in einer Salamitatik unauffällig ausgehöhlt wird.
Auch das Streben nach einem "Idealzustand" für die breite Bevölkerung ist nichts verwerfliches. Auch die Superreichen arbeiten - erfolgreich - an einem Idealzustand für ihre Gruppe.


Quotehobuk #26.4

Während Sie in wahrscheinlich 100 Jahren kein Gehör bei der Regierung finden, geht es für einen "Leistungsträger" oder "Superreichen" bestimmt etwas schneller und auf dem kurzen Dienstweg.
Man kennt und hilft sich.
Insofern befinden wir uns eigentlich schon in einer Kleptokratie.
Oder anders gefragt, wieso werden Gesetze und Maßnahmen deutlich am Wählerwillen vorbei durchgesetzt?
(Afghanistankrieg, Glyphosat, TTIP(Versuch) , Dieselgate usw...)
Nur um ein paar Schlagwörter einzuwerfen.


QuoteKai Ne-Ahnung #26.3
Die letzten 30 Jahre haben uns dahin gebracht, wo wir in den westlichen, neo"liberalen, kapitalistischen Systemen heute gelandet sind. Es geht um den Stand heute, und der ist:
Die Superreichen gefährden die Demokratie


Quotealice_42 #28

>> Der Kapitalismus behindert so den Wirkungsgrad der Demokratie. <<

Er zerstört sie, wenn er nicht eingehegt und reguliert wird, unweigerlich. Denn eine Demokratie, in der einige wenige finanzstarke Interessenvertreter die Richtlinien bestimmen, ist bekanntlich gar keine Demokratie mehr, sondern eine Oligarchie.

Wir sind da auf einem guten Weg :-|


QuoteAristocats1 #28.1

Das ist traurig aber wahr. Wir sind auf dem direkten Weg zurück in den Feudalismus. Auch heute gibt es wieder zahlreiche Privilegien für die Reichen, die Dank des Geldes dann auch vererbt werden. Es sei hier nur an die große Bankenrettung gedacht, die letzendlich nichts anderes war als eine große Reichenrettung. Die Kosten dafür wurden auf die Allgemeinheit abgewälzt. Länder wie Deutschland konnten das auf Kosten einer verrotteten Infrastruktur noch so wuppen. In den ärmeren Ländern (Spanien, Griechenland, Italien) hat die Bevölkerung diese Rettungsaktion mit massiver Verarmung bezahlt.


QuoteAnthon Hofreiter II #32

Es ist leider genau andersherum, wie man sehr schön am Beispiel Berlins sehen kann.
Sobald mehr Menschen von Transferleistungen leben, also in Berlin Politiker + Lobyisten + Hartzer, funktioniert Demokratie nicht mehr.
Dann wird, zu Lasten der Produktiven, welche diese Gruppe durchfüttern muss Politik gemacht, weil die Nehmer schlicht in der Mehrheit sind.


QuoteBitte freundlich bleiben #32.1

Der Reiche lebt auch von den Transfairleistungen der Produktiven. ;-)


QuoteAnthon Hofreiter II #32.2

Jepp, völlige Zustimmung. ...


QuoteSuper-Migrant #35

Die Regierung der Superarmen - mit all ihren Supereigenschaften - macht dann alles besser, oder?
Wie wäre es wenn der Staat sich nicht ständig einmischen würde? Dazu gehört es auch, dass er sich nicht von ,,Reichen" bestechen lässt. Es ist doch klar, wenn der Staat sich als allmächtiger Etatismus aufführt, der meint alles bestimmen zu dürfen, dann kauft man sich diesen auch einfach.
Weniger Etatismus, mehr Freiheit, weniger Pöbel!

Quoteah-jun #35.1
"Es ist doch klar, wenn der Staat sich als allmächtiger Etatismus aufführt, der meint alles bestimmen zu dürfen, dann kauft man sich diesen auch einfach."

Da ist es doch besser die Superreichen bekommen den Einfluss umsonst!


Quote
Geht_so_oder_auch_nicht #36

Die Bürger haben durch ihr jahrzehntelanges Wahlverhalten die heutigen Verhältnisse herbeigewählt. Natürlich kann man diese Entwicklung zwar kritisieren, aber letztendlich beruhen sie nun einmal auf demokratischen Wahlen. Die Mehrheit will diese Entwicklung so, das hat man als Demokrat zu akzeptieren, auch wenn man persönlich andere Vorstellungen hat.


Quoteah-jun #36.1

Da haben Sie recht. Wenn es darauf ankommet verbündet sich der Mittelstand mit den Interessen der Reichen und Superreichen gegen die Unterschicht.


Quote
Kai Ne-Ahnung#36.2

Der Wähler will also das die gewählten Parteien/Politiker vor der Wahl ständig A versprechen aber sobald die Pöstchen gesichert sind, das B der Industrie, der Wirtschaft und der Vermögenden bedienen? Natürlich nur mit "Bauchschmerzen" und so. ...


QuoteClausM #62

Was sollen die Krokodilstränen? - Genau das war doch das allzu offensichtliche Ziel von Politik und Medien in den letzten Jahrzehnten.
Jeder Schlag, den man gegen die wirtschaftlich Schwächeren führte, wurde von frenetischem Jubel begleitet.


QuoteGoaSkin #63

Die Supperreichen mögen die Demokratie gefährden, doch die ganz einfachen Leute möchten scheinbar die Demokratie schnell hinter sich bringen - mit Hilfe der Superreichen.
Denn sie sind nicht abgeneigt, Superreiche Leute wie Trump, Berlusconi oder Farage zu wählen, um diese Entwicklung zu beschleunigen.
Paradoxerweise werden solche Leute gerade mit der Argumentation gewählt, dass geglaubt wird, die Eliten hätten sich gegen die einfachen Leute verschworen. In der Konsequenz werden dann Politiker gewählt, die wie niemand sonst für diese Klischees stehen.


Quote
konne #64

Wir leben heute in einer Scheindemokratie, Demokratie existiert nicht mehr. Wir können zwar protesitieren, frei sprechen aber das stört die Superreichen nicht. Solange man die Gehälter senken kann, Sozialleistungen streichen kann ist ihnen alles egal. Mam sieht es deutlich in Griechenland, und Spanien wo die Verarmung immer grösser wird. In Deuitschland ist man etwas diskreter ...


QuoteRabe374 #65

Ich sehe das ziemlich unproblematisch. Es geht uns allen unterm Strich sehr gut von den Lebensumständen, auch wenn such immer mehr der Sozialneid ob der angeblich so schlimmen eigenen finanziellen Lage einschleicht.

Das Problem scheint eher zu sein, dass immer mehr Leute unzufrieden mit dem eigenen sozialen Status sind. Es kann aber nun mal nicht einfach so jeder reich und schön sein, zumindest nicht ohne entsprechende oft jahrelange Anstrengung und grundlegende Fähigkeiten.

Wenn die Leute lieber mal mit dem zufrieden wären was sie haben, wäre schon viel geholfen. Man könnte jedem Normalbürger 1.000 Euro mehr im Monat an Einkommen schenken - nach ein paar Monaten würde er sich wieder arm und ungerecht behandelt vorkommen.


QuoteRekitsonga #65.1

>>Man könnte jedem Normalbürger 1.000 Euro mehr im Monat an Einkommen schenken - nach ein paar Monaten würde er sich wieder arm und ungerecht behandelt vorkommen.<<

Nein. Er würde sich freuen, dass er in seiner Wohnung bleiben darf, weil er die überhöhte Miete wieder bezahlen kann.


QuoteRabe374 #65.2


,,Nein. Er würde sich freuen, dass er in seiner Wohnung bleiben darf, weil er die überhöhte Miete wieder bezahlen kann."

Die armen Mieter. Nur ausgenommen und vor die Tür gesetzt von den pöhsen Immobilien-Haien. Schon klar. Man kann sich das Leben aber auch zurecht heulen.


QuoteFlinders #67

Balsam für die Kommunistenseele. Mehr nicht.


QuoteMix Mastermond #97

Ich bin der Meinung, dass wir keine Neid-Debatte brauchen! Die reichen Menschen sollen ruhig reich sein. Warum auch nicht?
Hauptsache die armen Menschen leben ihr Leben in Würde!


Quotechrisbo18 #72

Je mehr ich erfahre und darüber nachdenke, desto mehr bekomme ich das Gefühl, dass diese Entwicklung kein Zufall ist, sondern mehr und mehr gesteuert wird.
Die Reichsten verfügen über Medienhäuser, Rohstoffquellen und Einflüsse in fast alle Unternehmen, die für Staaten oft eine große Abhängigkeit darstellen.
Die Gesellschaften werden ausgesaugt und müssen mehr und mehr leisten, während sich die Vermögen der Reichsten von selbst vervielfachen. Und dem ist kein Ende zu setzen!
Ich bin kein Sozialist oder Kommunist, doch plädiere ich für ein Ende dieser einseitigen Auslegung.
Auch frage ich mich, was man mit so viel Geld eigentlich will? Wie viele Häuser, Autos, Yachten oder was auch immer kann man besitzen oder gar nutzen?
Ok, das ist vielleicht eine naive Frage, doch wer erlaubt es, dass Geld über der Gesellschaft steht?
Der Kapitalismus ist nicht die schlechteste Lösung, doch was daraus gemacht wird, lässt mir graue Haare wachsen!


Quotedjborislav #74

Ich kenne berufsbedingt Superreiche. Sie haben mittlerweile privaten Wachschutz und sind in ständiger Angst, dass ihre Kinder entführt werden.
Auch wird von den Superreichen chronisch die Gefahr einer Revolution unterschätzt, die Gelbwesten haben schonmal einen Vorgeschmack geliefert. Occupy ist zwar eingeschlafen, kann aber jederzeit in anderer Form wieder aufflammen, durch das Internet lässt sich gewaltsamer Widerstand bestens vernetzen.
Aber abgesehen von staatlicher Regulierung, die sehr wohl möglich wäre (Transaktionssteuer, Abschaffung privater Schiedsgerichte, strengere Bankenaufsicht mit genug Eigenkapitalauflagen...), muss sich auch jeder Aktien- und Fondbesitzer an die eigene Nase fassen: bin ich gierig und investiere ich in destruktive Heuschrecken-Unternehmen oder lege ich nachhaltig an und verzichte u.U. auf ein paar Prozent Rendite. Die Gier ist auch kollektiviert worden und betrifft uns alle.


QuoteHansifritz #100

"Die Superreichen gefährden die Demokratie"

Vor einem Jahr lief sowas noch unter Verschwörungstheorie.


...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on June 12, 2019, 12:23:51 PM
Quote[...] Das durchschnittliche Jahresgehalt eines Vorstandsmitglieds in einem Dax-Unternehmen betrug im vergangenen Jahr 3,51 Millionen Euro und war damit 52-mal so hoch wie das Jahreseinkommen der Angestellten in den Unternehmen. Diese Zahl hat die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz gemeinsam mit der Technischen Universität München errechnet. Eine entsprechende Studie zur Gehaltsschere in 29 von 30 Dax-Konzernen wurde in Frankfurt vorgestellt.

Die größte Differenz zwischen dem Einkommen eines Vorstandsmitglieds und dem eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin stellte die Studie bei Volkswagen fest: Das Gehalt auf höchster Führungsebene sei um ein 97-Faches höher als der durchschnittliche Personalaufwand pro Mitarbeiter im Unternehmen – ein Vorstandsmitglied verdiente 2018 im Schnitt sechs Millionen Euro. Mit rund 5,2 Millionen, das zweithöchste Gehalt, hätten Mitglieder des Vorstands im Pharmakonzern Merck erhalten.

Den dritten Platz erreichten die Vorstände der Deutschen Bank, was ein Autor der Studie kommentierte: Das Geldinstitut befinde sich "augenscheinlich nicht auf einem Erfolgskurs". Dennoch seien die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Leitung des Konzerns durchschnittlich mit 5,1 Millionen Euro entlohnt worden – ein Plus von 55,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Das geringste Gehaltsgefälle bestehe bei der Deutschen Börse: Das Unternehmen, das den Deutschen Aktienindex herausgibt, zahle Vorständen im Schnitt einen 25-mal höheren Lohn als Angestellten.

Der Studie zufolge war das Gehaltsgefälle 2018 ebenso hoch wie im Vorjahr. Allerdings seien die Vorstandsgehälter insgesamt um 3,5 Prozent gesunken, zum ersten Mal seit mehreren Jahren.

Der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz, Marc Tüngler, sagte: Die Aufsichtsräte müssten darauf achten, dass sich die Schere in einem Unternehmen nicht zu weit öffne. Zu befürworten sei es, wenn sich die Bezahlung eines Vorstandsmitglieds am Aktienkurs des Konzerns orientiere: "Gute Leistung soll gut vergütet werden", sagte Tüngler. "Wenn es aber schlecht läuft, muss der Vorstand dies ebenfalls im Portemonnaie spüren. Und das sehen wir oft noch nicht."

Im vergangenen Jahr habe der Teil der Bezahlung, der anhand der Aktienperformance berechnet wurde, bei knapp 30 Prozent gelegen. Ein Drittel des Geldes sei Festgehalt, der verbleibende – und größte – Posten der Gesamtvergütung für Vorstände setze sich aus variablen Bonuszahlungen zusammen.

Auch zu den Gehältern von Vorstandsvorsitzenden wurden Zahlen präsentiert: Die Chefs der Dax-Unternehmen hätten 2018 im Schnitt ein Jahresgehalt von 5,4 Millionen Euro bezogen. Am besten bezahlt worden sei SAP-Vorstandschef Bill McDermott mit mehr als 10,8 Millionen Euro. SAP ist derzeit das wertvollste Unternehmen im Dax. Auf den SAP-Chef folgten Herbert Diess, dem VW 7,9 Millionen Euro gezahlt habe, und Bernd Scheifele, der für die Leitung des Konzerns Heidelberg Cement rund 7,3 Millionen Euro bekommen habe.

Erweitere man die Menge der untersuchten Unternehmen auf die Firmen, die im MDax verzeichnet sind, liege das Spitzengehalt für Vorstandschefs noch einmal höher: Die drei Chefs des Modeversandunternehmens Zalando, Robert Gentz, David Schneider und Rubin Ritter, hätten im vergangenen Jahr jeweils knapp 19,4 Millionen Euro verdient.

Im internationalen Vergleich würden diese Summen leicht übertroffen: In Europa etwa, habe der Chef des belgischen Getränkegroßkonzerns AB InBev, Carlos Brito, im vergangenen Jahr 31,8 Millionen Euro erhalten. Der Vorstandsvorsitzende des US-Unternehmens Disney, Robert Iger, sei mit knapp 55,6 Millionen Euro entlohnt worden. Der Großteil dieser Bezüge sei jeweils an den Aktienkurs des Unternehmens gekoppelt.

In ihrer Erhebung hat die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz Pensionszusagen nicht berücksichtigt. Andere Studien mit anderer Methodik kämen deshalb möglicherweise zu abweichenden Ergebnissen.


Aus: "Deutsche Börsenliga: Dax-Vorstände verdienen 52-mal so viel wie ihre Angestellten" (11. Juni 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/boerse/2019-06/deutsche-boersenliga-dax-konzerne-vorstaende-gehalt-gehaltsschere (https://www.zeit.de/wirtschaft/boerse/2019-06/deutsche-boersenliga-dax-konzerne-vorstaende-gehalt-gehaltsschere)

Quotefelix78 #2.2

Ach was der Vorstand bekommt sind doch Peanuts, interessant ist was die Großaktionäre so bekommen. Zum Beispiel BMW Familie Quant lässt sich so 800 Millionen pro Jahr an Dividenden auszahlen, dagegen wirken die Vorstandsgehälter wie Trinkgeld. Vorstände sind auch nur Angestellte, lasst uns endlich mehr über die Beteuerung von Kapitaleinkommen diskutieren! Ich bin ja für die Steuerliche Gleichbehandlung aller einkommensarten und dafür das auch alle Einkommensarten Sozialversicherungspflichtig werden, wie in der Schweiz. Dann könnten wir uns Pflege, Rente, Polizei, Schulen, Lehrer, Kitas, Schwimmbäder, die Instandhaltung von Straßen und Brücken und vieles mehr leisten.

Aber das wird nicht passieren, wenn es unsere Regierung seit Anfang der 2000der nicht mal schafft Cum ex und Cum Cum Betrügerreien zu unterbinden.

QuoteGerne_unterwegs #2.3

Da gab es doch einmal den Wahlslogan "Leistung soll sich wieder lohnen!" War das FDP? Haben die die Quandts gemeint?


Quotefelix78 #2.5

Ich bin mir sicher die FDP hat mich als Altenpfleger gemeint. ...


Quote
GlobalPlayer5001 #8

Wo ist das Aufregerthema? Die Höhe der Vorstandsvergütung wird vom Aufsichtsrat festgelegt, dieser wiederum wird von der Hauptversammlung gewählt. Das alles ist dank Publizitätspflichten komplett transparent.

Wenn ich der Meinung bin, dass ein Vorstand zu viel verdient, kann ich ja in ein anderes Wertpapier investieren. Wenn mir das insgesamt nicht vorteilhaft erscheint, dann wird der Konzern ja immerhin so gut gemanaged, dass die Rendite trotz Vorstandsgehältern stimmt.

Also: Wo ist das Thema???


QuoteGlobalPlayer5001 #8.3

>>Das Thema ist soziale Gerechtigkeit.<<

Nein, das Thema ist Neid und (noch schlimmer) Missgunst. ...


QuoteGnurg #8.4

Das Problem ist ja, dass einige so viel Geld verdienen, wie sie unmöglich sinnvoll ausgeben können, andere hingegen nicht genug, um sich beispielsweise gesund zu ernähren oder einmal im Jahr Urlaub machen zu können. Das hat auch nicht wirklich mit Neid zu tun (jedenfalls nicht bei mir), aber es ist halt nicht gut für die Arbeitsmoral, wenn man sich den Arsch für ein Unternehmen aufreißt und nicht dafür entsprechend vergütet wird. Beziehungsweise wenn der eigene Bonus weniger Wert ist, als das Geld, dass der Vorstand verdient, wenn er während einer Sitzung mal pinkeln geht.

Abgesehen davon haben weder Aufsichtsrat noch die Mitglieder der Hauptversammlung ein Interesse am Wohl des Arbeiters oder der moralischen Verpflichtung des Unternehmens gegenüber der Gesellschaft, sondern allein an der eigenen Bereicherung.


QuoteGlobalPlayer5001 #8.6

>>Abgesehen davon haben weder Aufsichtsrat noch die Mitglieder der Hauptversammlung ein Interesse am Wohl des Arbeiters oder der moralischen Verpflichtung des Unternehmens gegenüber der Gesellschaft, sondern allein an der eigenen Bereicherung.<<

Das sind ja auch nicht alle Samariter, sondern die Aktionäre sind Kapitalgeber, die als Gegenleistung eine angemessene Rendite auf das eingesetzte Kapital erwarten. Wenn man das Zurverfügnungstellen von Kapital nicht gleich mitkriminalisieren will, hat das nicht mehr mit "eigener Bereicherung" zu tun als die Erwartung, Zinsen aus einem Wertpapier zu erzielen. Beides ist völlig legitim.


QuoteEchse des Bösen #8.12

"Nein, das Thema ist Neid und (noch schlimmer) Missgunst."

Nein, das Thema ist die Behauptung, das sei Leistungsgerechtigkeit. Man kann das System begründen mit "es ist halt so wie es ist" oder "wenn es geht, dann wird es so gemacht", aber man sollte daraus nicht ableiten, dass es auch gut oder leistungsgerecht ist. ... Das ist im Kern auch das Problem des Neoliberalismus - er definiert alles, was sich im Markt regelt, automatisch als Gerechtigkeit. Bittere Armut und überbordender Reichtum - gerecht, wenn es der Markt regelt. Da ist der Neoliberalismus nicht anders als der christlich-fundamentalistische Calvinismus von vor 300 Jahren.


Quotehamletmaschinist #8.21

Die "hohen Vorstandsgehälter finanzieren" in erster Linie die schlechtbezahlten Leiharbeiter und die Kunden.

Quelle > https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/leiharbeit-erreicht-rekordniveau-in-deutschland-a-1111375.html (https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/leiharbeit-erreicht-rekordniveau-in-deutschland-a-1111375.html) [Donnerstag, 08.09.2016 ... Fast zwei von drei Leiharbeitern arbeiteten zuletzt zu besonders niedrigen Löhnen. Sie lagen unter der Niedriglohnschwelle von rund 1970 Euro, also unter dem Lohn, der zwei Drittel des mittleren Gehalts der Beschäftigten insgesamt beträgt. 5,7 Prozent der Leiharbeitnehmer haben Anspruch auf ergänzende Leistungen und stocken ihr Gehalt mit Hartz IV auf. Nur jedes vierte Leiharbeitsverhältnis besteht neun Monate oder länger. 15 Prozent dauern 15 Monate, 12 Prozent über 18 Monate. ]


Quote
d353rt #11

... ich möchte hier eine kleine Rechnung vorführen: Wenn Sie als Arbeitnehmer das Glück haben 5000€ im Monat zu verdienen (brutto), und das, sagen wir mal, 45 Jahre lang, dann haben Sie 2,7 Millionen € (Brutto) verdient. Wenn Sie aber nur 2500€ verdienen, dann kommen Sie logischerweise auf 1,35 Millionen. Wie gesagt in 45 Jahren.

Und dann kommt so ein Vorstandschef, und kassiert 10 Millionen Euro IN EINEM JAHR. Und er spendet dann z.B. an die FDP, die dann behauptet, dass unser Rentensystem nicht mehr tragbar sei. Das ist doch der reinste Klassenkampf von oben. Unser BIP hat sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt... ...


QuoteGlobalPlayer5001 #11.1

So viel Neid und Missgunst. Sind wohl wenige Rheinländer hier im Forum: Man muss auch jönne könne ...


QuoteDrkdD #11.5

Fakten sollte man nicht mit Neid vergleichen. Außerdem ist der Ruf "Das ist nur Neid" einer der belanglosesten Argumente gegen ein Aufkommen der Unzufriedenheit bei denen, die den Reichtum finanzieren.


Quote
d353rt #11.6

"Ihre Wut in allen Ehren. Aber seit wann erkennen Vorstände ihren Mitarbeitern die Rente ab? Haben Sie einen konkreten Fall im Kopf?"

Ach davon gibt es mehr als nur einen Fall, es sind Millionen. Ein sehr aktuelles Beispiel: Amazon, ab heute der größte Konzern der Welt (größte Umsätze und Gewinne), der seine Angestellten über Leihfirmen einstellt, die keine Sozialabgaben bezahlen wollen, was die Rente nach unten drückt. Das nennt man dann gerne "Freiheit" und "Selbstständigkeit" . Es ging so weit, dass der Staat eingreifen musste, und ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werden musste.
Reicht das?


QuoteGlobalPlayer5001 #11.8

>>Es ging so weit, dass der Staat eingreifen musste, und ein entsprechendes Gesetz verabschiedet werden musste.<<

Daraus folgt ja relativ direkt, dass Amazon vor Verabschiedung des Gesetzes nichts Unrechtmäßiges getan hat, denn sonst brauchte man ja kein neues Gesetz. Und jetzt werden sie sich wohl an das neue Gesetz halten. Wofür ist dies gleich noch ein Argument?

Ein wesentlicher Grund dafür, dass Aktionäre hohe Gehälter für Spitzenmanager mittragen ist doch, dass diese im Interesse der Anteilseigner die Performance der Unternehmen verbessern. Unternehmen sind keine karitativen Einrichtungen, sondern sollen Geld für die Anteilseigner verdienen. Wenn die Ersetzung einer Belegschaft durch Leiharbeiter dazu einen Beitrag leisten kann, dann ist dies genau das, was die Aktionäre zu Recht von der Geschäftsführung erwarten.


Quote
d353rt #11.12 

"Daraus folgt ja relativ direkt, dass Amazon vor Verabschiedung des Gesetzes nichts Unrechtmäßiges getan hat, denn sonst brauchte man ja kein neues Gesetz. Und jetzt werden sie sich wohl an das neue Gesetz halten. Wofür ist dies gleich noch ein Argument?"

1. Dafür, dass Sie allem Anschein nach nicht verstehen, dass man als Unternehmer auch in der Pflicht steht, seinen Angestellten ein Gehalt zu zahlen, von dem sie auch leben können, ohne aufstocken zu müssen.
2. Dafür, dass man genau sieht, auf wessen Rücken der Wohlstand von Amazon-Vorständen aufgebaut wird.
3. Dafür, dass einige im Jahr 2019 weiterhin an Sklaverei halten. Und damit meine ich nicht den IS (Islamischer Staat), sondern gebildete Menschen aus der westlichen Welt.
4. Dafür, dass sich diese Unternehmen auf Kosten der Allgemeinheit bereichern
5. etc.


QuoteGlobalPlayer5001 #11.18 

>>Eine Frage: wer leistet die eigentliche Arbeit, ohne die, wie Sie bestimmt wissen, kein Unternehmen bestehen kann. Die Angestellten oder die ANTEILSEIGNER?<<

Nun ja, es ist ein klarer Deal bei den Arbeitnehmern: Lohn gegen Arbeit. Und ein genauso klarer Deal ist es bei den Anteilseignern: Kapitalüberlassung gegen Rendite. Natürlich arbeiten die Arbeitnehmer, aber sie könnten es nicht, wenn die Anteilseigner nicht zuvor das Kapital zur Schaffung der Arbeitsplätze investiert hätten.

Soweit alles klar?


Quote
d353rt #11.19

"Natürlich arbeiten die Arbeitnehmer, aber sie könnten es nicht, wenn die Anteilseigner nicht zuvor das Kapital zur Schaffung der Arbeitsplätze investiert hätten."

Zwei drittel der ANTEILSEIGNER haben ihr Vermögen geerbt, das heißt, sie haben keinen Finger krumm gemacht. Solche Typen kenne ich: Papa war Facharbeiter, hat sein Leben lang geschuftet, und mehrere Immobilien erstanden. Jetzt ist er tot, und der geborene Sohn hat die Immobilien verkauft und "investiert". Und er setzt sich dafür ein, dass die Vollzeit-Angestellten, die oft schlicht keine andere Wahl haben, zum Hungerlohn schuften müssen, ganz anders als der Papa. und dann müssen diese Angestellten aufstocken, weil das Geld für das Frühstück für die Kids nicht reicht. Wissen Sie, wie man solche ANTEILSEIGNER nennt? Sozialschmarotzer. Parasiten.

Soweit alles klar?

Und noch etwas: ich hoffe dass man bei der nächsten Aktionärsversammlung von Daimler Benz nicht schon wieder die Polizei rufen muss, weil sich die ANTEILSEIGNER am Würstchenbuffet um die letzten Würstchen geprügelt haben.


Quotederi punkt partei #19

ich finde, anstatt immer wieder die Gehälter der Vorstände zu thematisieren sollten wir mehr das untere Ende der Gehaltsliste in den Focus nehmen. ...

QuoteTottiZ #24

Und die Politik nennt es noch immer "Soziale Marktwirtschaft".


QuoteDrkdD #24.1

Situationskomik derer die den Lobbyisten den Weg bereiten.


QuoteAuf Krawall gebürstet #28

Jetzt aber bitte nicht wieder Klassenkampf- und Enteignungsdiskussionen. Es können halt nicht alle so viel Geld verdienen.


QuoteGlobalPlayer5001 #28.1

Ein frommer Wunsch, allein - Sie sehen es ja - die Neid- und Missgunstfraktion ist schon wieder voll in ihrem Element. Denen ist jedes Mittel recht, auf die angeblichen "Ungerechtigkeiten" in der Einkommensverteilung hinzuweisen. Und, zugegeben, Vorstände internationaler Konzerne geben hier ja auch eine schöne Projektionsfläche zum Abarbeiten her ...


QuoteSt.Expeditus #36

Niemand wird als DAX-Vorstand geboren . Jeder hat prinzipiell die gleiche Chance.
Was man braucht ist Weitsicht. So müssen heute etwa die Autobosse entscheiden,
welche Autos sie 2040 verkaufen wollen. Eine falsche Entscheidung kann die Existenz
eines Konzerns und zehntausende Arbeitsplätze gefährden. Da sehe ich den Faktor 50 nicht als zu hoch an, wenn Balltreter oder Imkreisfahrer das zehnfache verdienen.


Quoteartefaktum #36.1

@St.Expeditus

>> So müssen heute etwa die Autobosse entscheiden,
welche Autos sie 2040 verkaufen wollen. Eine falsche Entscheidung kann die Existenz
eines Konzerns und zehntausende Arbeitsplätze gefährden. <<

In der Tat. Aber welche Konsequenzen haben falsche Entscheidungen für den Autoboss? Goldener Fallschirm für's Management, Arbeitslosigkeit für die Belegschaft. Mit "Eigenverantwortung" hat das herzlich wenig zu tun. Die gilt immer nur für den blöden Durchschnittsarbeitnehmer.


Quote
Klacksklacks #36.6

Josef Ackermann hat in der Tat andere Sorgen, seit die Staatsanwaltschaft ihn als Beschuldigten im cum-ex-Skandal führt.


Quote
pöserpurche #38

Von mir aus können die auch 100-mal soviel verdienen. Verstehe das Problem nicht. Wer hat denn das zu kritisieren und/oder zu befinden, was zu viel zu wenig oder angemessen ist. Ein Komitee aus Journalisten, Robert Habeck und all die anderen Moralapostel?


Quotevlavo #39

Der Aufsichtsrat genehmigt die Gehälter der Vorstände, die wiederum die Gehälter der Aufsichtsräte vorschlagen. Beide zusammen beschließen die Dividendenzahlung an die Aktionäre, die wiederum die Gehälter der Aufsichtsräte und Vorstände absegnen. Ein Zirkel. Die Angestellten sind außenvor. So sagt Michael Hartmann, Soziologe und einer der renommiertesten deutschen Eilieforscher. Diese Gier erodiert unseren Staat und lässt ihn von innen heraus faulen.


Quote
LinuxSchurke #41

Das ist doch alles Peanuts was deutsche Manager verdienen.
Tim Cook, Apple-Chef, kassierte 2017 ein Gehalt von 12,8 Millionen US-Dollar. Das Grundgehalt liegt bei rund 3 Millionen US-Dollar pro Jahr, der Rest Boni.
Gehalt 2018:
15,7 Millionen US-Dollar
Zusätzlich zum Gehalt hat der Top-Manager jedoch noch lukrative Aktien-Optionen von Apple erhalten. So erhielt er laut dem 2011 unterschriebenen Vertrag im August 2017 ein Paket von 560.000 Aktien.

Natürlich ist das zuviel aus unserer Sicht, wird aber gezahlt. Und jetzt rechnet mal aus um wieviel mal das höher ist als bei der Apple Putzfrau mit 20000$ oder dem Apple Ingenieur mit 150000$ pro Jahr


QuoteJohanna88 #41.1

Nett von Ihnen, uns zu erklären, dass Perversion praktisch unendlich steigerbar ist.


QuoteFlatearthler10000 #44

Ah, die typisch deutsche Neidkeule wird wieder ausgepackt.


Quote
Klacksklacks #44.1

Nicht jede Kritik die Sie nicht verstehen gründet auf Neid.


QuoteRabe374 #47

Ist doch vollkommen ok. Wer das Gehalt verdienen möchte, kann ja einfach selber Vorstand werden, anstatt kleiner Angestellter zu sein. Aber vielleicht hat es doch einen Grund, weshalb es nur eine handvoll Bigplayer mit Millionengehältern gibt.


Quoteexxkoelner #47.1

Der American Dream, vom Tellerwäscher zum Millionär, hat ja auch super geklappt - ca. 40 Mio. US-Bürger erhalten Essenmarken, 1% der Bevölkerung gehört 40% der Vermögen, 1% der Bevölkerung erhält 24% der gesamten Einkommen pro Jahr. Aktuell ist die USA bei einem Manager/Angestellten-Ratio von 380:1. Kann man ja so weiter laufen lassen und mal gucken was passiert, was soll schon schief gehen? ...


QuoteKanndassein #50

Bei den Vorstandsbezügen ist schon lange einiges aus den Fugen geraten, und gerade bei Aktiengesellschaften ist es erstaunlich, dass dies so hingenommen wird, selbst wenn die Unternehmensspitzen versagt haben. ...


QuoteFlugbenzin #56

Die deutschen Vorstandsgehälter bewegen sich international im Mittelfeld. Wer gute Leute haben möchte, muss aber tief in die Tasche greifen. ...


QuoteJohanna88 #56.1

"Wer gute Leute haben möchte, muss aber tief in die Tasche greifen."

Ah, jetzt verstehe ich das endlich!

Die Vorstände von Bayer und der Deutschen Bank waren einfach zu schlecht bezahlt.....
Na, da hätte ich auch selbst drauf kommen können, ich Dummchen...


QuoteSonja #57

Aufmacher wie bei der BILD-Zeitung... und auch ähnliches Niveau. Wenn jeder so viel schlauer ist und eine ähnliche Vita wie die Vorstände vorweisen kann, soll es einfach besser machen, ganz einfach.
Meist kommt dann die Ausrede: ,,Wenn ich denn wollte könnte ich das, aber das ist einfach unmoralisch blibla" - jaja, man kennts. Ausreden, andere sind Schuld, vermeintliche Unfairness, Ungleichheit - das ganze Sozen-Gesabbel, anstatt einmal mit auf sich selbst zu schauen.


Quoteexxkoelner #59

Und die Manager tragen ja auch die ganze Verantwortung, wie Herr Winterkorn z.B.:

"Der Aufsichtsratschef von VW könnte in so einem Fall gar nicht mehr anders, als von Winterkorn Schadenersatz zu verlangen. Und ihn notfalls zu verklagen. Das brächte natürlich nicht die vielen Milliarden Euro zurück, die VW die Affäre bislang gekostet hat. Aber es wäre ein Signal. Wobei offen bliebe, was bei Winterkorn noch alles zu holen wäre. Er hat als Vorstandschef bis zu 17 Millionen Euro im Jahr an Gehalt und Boni kassiert. Als die Abgasaffäre schon eine Zeitlang lief, hat Winterkorn Millionenbeträge in die Schweiz geschafft, auf ein Depot bei einer Bank. Es handele sich wahrscheinlich um ein Depot der Ehefrau, notierten die Ermittler später. Die Ermittler vermuteten, der Ex-Konzernchef könnte einen "Notgroschen" für den Fall angelegt haben, dass er in der Affäre noch persönlich belangt werde. Der Clou an der Sache, aus Sicht Winterkorns: Nach allem, was bislang bekannt ist, wäre das völlig legal gewesen. Im Wege eines komplizierten Steuersparmodells unter Eheleuten, das "Güterstandsschaukel" genannt wird."
https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/winterkorn-vw-prozess-dieselskandal-1.4410976-2 (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/winterkorn-vw-prozess-dieselskandal-1.4410976-2)

Bisher hat er ausgesagt, das er sich an nichts mehr erinnern kann in diesem Zusammenhang, man hat ja auch den Kopf so voll, bei der ganzen Verantwortung und so ...


QuoteGisbert Beaumarais #59.1

Bei Winterkorn gibt es nur drei Möglichkeiten:
a) er lügt
b) er ist unfähig
c) er ist dement


QuoteJohanna88 #59.2

"Bei Winterkorn gibt es nur drei Möglichkeiten:
a) er lügt
b) er ist unfähig
c) er ist dement"

d) unterbezahlt....haben Sie vergessen.

Lerne ich ja gerade hier im Forum. Die Gehälter deutscher Manager sind einfach Unterkante.


QuoteLedni Rok #60

Neid ist ein schlechter Charakterzug.


QuoteProfessor Deutlich #60.1

Gier auch.


Quotepeterjunge #62

Irgendwie passend (oder erhellend), dass das Gehaltsgefälle gerade beim "Volks"-wagenkonzern am deutlichsten ist, bei dem ein Landesfürst der SPD einigen Einfluss hat aufgrund des Staatsanteils.


QuoteAllesKeinProblem #64

Aber diese Leute tragen doch so viel Verantwortung und müssen für alles in ihren Unternehmen gerade stehen! Volkswagen? Ach ja...
Aber man muss doch mit hohen Gehältern um die besten Köpfe werben um die Firma auf Erfolgskurs zu bringen! Deutsche Bank? Ach ja...
Was ist dann jetzt noch übrig als Argument? Aber natürlich: "Ihr seid doch alle nur neidisch."


QuoteTiqqun #65

Und dennoch, sobald sich dann einer aus diesem Milieu zur Wahl stellt, all seinen Prunk zeigt, dann sehen die Menschen voller Ehrfurcht hinauf. Sei es ein Trump, ein Bloomberg, oder ein Merz. "Die haben bewiesen, dass sie es können" ...


QuoteBadener im Ausland #68

"Der Studie zufolge war das Gehaltsgefälle 2018 ebenso hoch wie im Vorjahr. Allerdings seien die Vorstandsgehälter insgesamt um 3,5 Prozent gesunken, zum ersten Mal seit mehreren Jahren. "

Ich habe den üblichen Hinweis aus der neoliberalen Mottenkiste vermisst, dass es ein ,,gutes Signal" sei, wenn ,,die Ungleichheit nicht weiter wächst".


Quote
tiefstapler #77

die leiterin einer kita bekommt monatlich den betrag X - für das aufbewahren von kindern.
ein vorstand der deutschen bank bekommt monatlich das 52-fache - für das aufbewahren von geld. ...


QuoteMaxFortis #77.1

Warum ist es ein Problem des Kapitalismus, wenn den Menschen Bankgeschäfte wichtiger sind als Kindererziehung?


Quote
tiefstapler #77.2

Mit einer Weisheit, die keine Tränen kennt,
mit einer Philosophie, die nicht zu lachen versteht,
und einer Größe, die sich nicht vor Kindern verneigt,
will ich nichts zu tun haben.
( Khalil Gibran )


Quote
no-panic #78

52 mal mehr als der Durchschnittsverdiener im Laden, also 100 mal so viel wie die, die wirklich wertschöpfend arbeiten und etwas Greifbares herstellen. Das bedeutet, dass derjenige, der das Produkt, welches den Gewinn bringt, zusammenbaut, 100 Jahre arbeiten muss, um das zu bekommen, was so ein Vorstand in einem Jahr bekommt.
Wer hier nicht erkennen möchte, dass die Relationen nicht nur schief, sondern schlicht nicht mehr existent sind, ...


QuoteCarpeDiem0987654321 #79

... wieder so eine Neiddebatte. ...


...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on June 12, 2019, 01:31:20 PM
Quote[...] Der Politiker Friedrich Merz ist Vizepräsident des Wirtschaftsrates der CDU und war früher Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag. Er ist Vorsitzender des Aufsichtsrats der Fondsgesellschaft BlackRock in Deutschland und kandidierte Ende vergangenen Jahres um den CDU-Parteivorsitz.

Deutschland geht es gut. Wir leben in einem der schönsten und wohlhabendsten Länder der Welt. ... Die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung war der Versuch, die deutsche Volkswirtschaft in einem schärfer werdenden globalen Wettbewerb zukunftsfähig und zugleich die Sozialversicherungen demografiefest zu machen. ... Marktwirtschaft heißt vor allem Kapitaleinsatz: kapitalstarke Unternehmen, Kapitalbildung in Arbeitnehmerhand, Kapitalfundierung von Teilen der Sozialversicherungen, Kapitalerträge etwa für die Bildungseinrichtungen. All dies macht den Kapitalismus im bestverstandenen Sinn des Wortes zusammen mit der sozialen Verantwortung aller Akteure zum Wesenskern der sozialen Marktwirtschaft. Die Deutschen müssen wieder neu lernen, diesen Teil der Marktwirtschaft zu verstehen, damit sie gerettet werden kann. Und retten müssen wir sie, denn ohne Kapitaleinsatz und ohne Kapitalrentabilität gibt es keinen Sozialstaat und ohne Sozialstaat gibt es keine soziale Gerechtigkeit. ... Die Zahl der Aktionäre ist in Deutschland im letzten Jahr um rund 200.000 gestiegen, sie liegt jetzt wieder über zehn Millionen. Das ist, für sich genommen, eine gute Nachricht. Damit sind aber immer noch 70 Millionen Menschen in Deutschland ohne Zugang zu den Kapitalerträgen der Unternehmen. Immer noch arbeiten Millionen deutscher Beschäftigter in börsennotierten Aktiengesellschaften, deren Erfolg von Millionen ausländischer Aktionäre vereinnahmt wird. Kaum ein börsennotiertes Unternehmen in Deutschland hat noch mehrheitlich deutsche Aktionäre. Daran muss sich etwas ändern, aber daran lässt sich nur etwas ändern, wenn in Deutschland eine neue Kultur des Aktiensparens entsteht und sich daraus eine neue Teilhabe am Erfolg der Marktwirtschaft entwickelt. Ich bin, anders als früher, heute auch der Auffassung, dass der Gesetzgeber eine Verpflichtung zur privaten, kapitalmarktorientierten Vorsorge für das Alter ernsthaft prüfen sollte, in welcher Form auch immer. ... Starke Bürger vertrauen auf ihre eigenen Kräfte und übernehmen Verantwortung für sich und andere, engagieren sich in Familie, Schule und Politik, im Betrieb oder in den vielen gesellschaftlichen Problemfeldern. Wenn in dieser Weise Kapital und Soziales, Staat und Unternehmen, Stiftungen und Verbände, Initiativen und Bürger allgemeine Projekte unterstützen und tragfähige soziale Netzwerke knüpfen, kann das ganze kreative Potenzial unserer Gesellschaft zum Tragen kommen. Die unsichtbare Hand, von der Adam Smith sprach, führt dann nicht nur zu wirtschaftlichem, sondern auch zu sozialem Reichtum. Nicht inszenierter Klassenkampf, sondern eine konstruktive Partnerschaft zwischen wirtschaftlichem und sozialem Kapital schafft ein erneuertes bürgerliches Gemeinwesen. Aber ohne oder gar gegen den Kapitalmarkt sind diese Ziele allesamt nicht zu erreichen.


Aus: "Für eine neue Kultur des Sparens" Friedrich Merz (11. Juni 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-04/wirtschaftspolitik-deutschland-wohlstand-soziale-gerechtigkeit-demokratie-kapitalismuskritik/komplettansicht (https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-04/wirtschaftspolitik-deutschland-wohlstand-soziale-gerechtigkeit-demokratie-kapitalismuskritik/komplettansicht)

QuoteIdeosynkratisch #2

Hallo Herr Merz! Ich könnte mir Sie als Kanzler vorstellen! ...


QuotePolykanos #2.56

"Ich könnte mir Sie als Kanzler vorstellen!"

Ich auch - Horror!


Quote
Einfacher Bürger #78

Die alte Kultur des Herumschwurbelns - Auch hier muss ins Deutsche übersetzt werden.

"Auf Dauer unbezahlbare soziale Leistungsversprechen und eine Übertragung der Lasten auf jüngere Generationen verstoßen gleich mehrfach gegen Vorsorgeprinzip und Nachhaltigkeit."

Runter mit den Sozialleistungen, ihr verwöhnten Blagen.

"Wenn die Zustimmung zu Demokratie und Marktwirtschaft wieder steigen soll, dann müssen aber nicht nur Zusammenhänge (besser) erklärt werden."

Ihr seid zu doof zu verstehen, dass Steuerermäßigungen für Wohlhabende gut sind.

"Ich bin ... der Auffassung, dass der Gesetzgeber eine Verpflichtung zur privaten, kapitalmarktorientierten Vorsorge für das Alter ernsthaft prüfen sollte"

Seht zu wo ihr die Kohle herbekommt. Mir doch egal.

"Starke Unternehmen verstehen sich als Wertschöpfungsgemeinschaften, die von der Gesellschaft profitieren und sich deshalb auch im Sinne der Corporate Citizenship für die Gesellschaft engagieren."

Alle Großunternehmen werden ein (steuerlich abzugsfähiges) Sommerfest für Kinder organisieren. Versprochen!

"Die unsichtbare Hand, von der Adam Smith sprach, führt dann nicht nur zu wirtschaftlichem, sondern auch zu sozialem Reichtum."

Mal gucken, wer immer noch darauf reinfällt, dass es den Menschen gut geht, wenn es den Reichen gut geht.



Sorry, aber unwählbar


QuoteEinfacher Bürger #78.1

Ich fasse Merz' Aussagen mal zusammen: Wenn ihr glaubt, dass die Agenda 2010 schlimm war, dann lasst Euch mal von mir überraschen. Mir fallen noch ganz andere Sachen ein.


Quoteefwe #2.70

merz die mittelstands-Atlantikbrücke, im ernst :)


Quoteklaurot #14

Wir leben in einem der schönsten und wohlhabendsten Länder der Welt.

Wer ist "wir"? ...


QuoteBCO #14.1

Wir = der Mittelstand (im Merz'schen Sinne).


QuoteBratstein #37

Der Mister Blackrock will uns die soziale Seite des Kapitalisum näherbringen. Prima! Wir sehen ja wie prächtig soziale Gerechtigkeit im Mutterland von Blackrock funktioniert. .. .


Quoteroccco #15

Gebt mir die Kohle, zu eurem Wohle!
Der Mann von BlackRock möchte nur euer Bestes!


Quotemal denken mal handeln #38

Interessant, wie Merz von sozialer Gerechtigkeit zur Werbung für Aktienbesitz kommt, wofür er ja als Vorstand von Blackrock zu Zeiten der Parteivorsitzambitionen stark kritisiert wurde. ...


Quotetill ratzeburg #39

"Wir sind uns in unserer Gesellschaft weitgehend einig, dass die Umweltpolitik vom Vorsorgeprinzip und vom Grundsatz der Nachhaltigkeit geleitet sein muss."

Wer ?
Die CDU ?
Ist das jetzt Ironie ?
Das ist genau das was die CDU nicht will. Die wollen keine Umweltpolitik. Das stört die nur. ...


QuoteGlossolalia #42

Beim Lesen des Artikels beschleicht einen ja der Verdacht, der gute Herr Merz sei mit Marty McFly und Doc Browns deLorean direkt aus den 1980ern zu uns gekommen, um einen Essay über seine Weltsicht zu verbreiten.

Der Essay verströmt mit jedem Satz die Gewissheit, daß sich da jemand seit fast 40 Jahren kein Stück weiterentwickelt hat, sondern tatsächlich immer noch an den gleichen Kokolores erzählt, der schon vor 40 Jahren nichts als Wunschdenken war. Damals war es skurril, weil es auf der kapitalistischen Seite der gleiche weltfremde Dogmatismus war, wie die Marxismus-Leninismus Märchen der Gegenseite. Angesichts der historeischen Pleite des real existierenden Sozialismus sind diese Märchen allerdings heute eher gruselig, da sich der Verdacht erhärtet, daß auf dieser Seite (Kapitalismus) Leute tatsächlich an den törichten Quatsch glaubten, den sie verzapften...


Quote
polarapfel #42.1

Wer seit den 80ern über 40 Jahre sein Geld statt auf dem Sparbuch, Tagesgeld oder der Lebensversicherung in Aktien investiert hat, ist jetzt reich. ...


Quoteinvoker #44

Herr Merz,
ich stimme Ihnen grundsätzlich zu. Nur: Welche konkreten Maßnahmen schlagen Sie vor? Eine Pflicht zum Aktienkauf dürfte einem Paketzusteller kaum helfen, er braucht das Kapital für seinen alltäglichen Konsum.

Eigentum verpflichtet. Amazon aber zahlt keinerlei Steuern, obwohl es reich ist und Jeff Bezos zum reichsten Mann der Welt gemacht hat.
Wie wäre es internationale Konzerne endlich wieder zu besteuern? Oder Finanzjongleure mit einer Finanztransaktionssteuer?


QuoteCyber200 #50

"Deutschland geht es gut. Wir leben in einem der schönsten und wohlhabendsten Länder der Welt"

...und deshalb haben wir 7 Millionen überschuldete Haushalte, Millionen Menschen die sich durch die "Tafel" ernähren müssen, kaputte Straßen und Brücken, Mindestlöhne von denen die wenigsten leben können, eine kaum einsatzfähige Bundeswehr, Menschen die die hohen Mieten nicht mehr bezahlen können, einen Pflegenotstand in den Krankenhäusern und in den Seniorenheime, eine desolate Deutsche Bahn, ein Stop and Go Verkehr auf den überlasteten Autobahnen u.v.a.m.

Vielen geht es gut bis sehr gut. Aber der gute Herr Merz, ein talentierter Politiker und Wirtschaftsjurist, sollte den Ball etwas flacher halten.


QuoteDesaguliers #63

"Wenn die Zustimmung zu Demokratie und Marktwirtschaft wieder steigen soll, dann müssen aber nicht nur Zusammenhänge (besser) erklärt werden."

Sagen Sie mal, Herr Merz, halten Sie Ihre Landsleute eigentlich für dämlich? ...


QuoteHouse MD #71

"All dies macht den Kapitalismus im bestverstandenen Sinn des Wortes zusammen mit der sozialen Verantwortung aller Akteure zum Wesenskern der sozialen Marktwirtschaft. Die Deutschen müssen wieder neu lernen, diesen Teil der Marktwirtschaft zu verstehen,..."

Sorry, Herr Merz, das ist Quatsch. Die Kaste, zu der Sie gehören, muss das wieder neu lernen.

Manager, die Gesetze brechen gehören eingesperrt. Manager, die ihre Firma ruinieren (zum Beispiel, um eine tolle Fusion/Übernahme im Lebenslauf stehen zu haben) gehören gefeuert, und nicht mit Millionenabfindungen und Beraterverträgen für Gier und Inkompetenz belohnt zu werden. Wenn eine Bank sich überhebt, gehört sie genauso geschlossen, wie der Drogeriemarkt. Der Staat kann dann ruhig die Sparer auszahlen, aber nicht mit Staatsgeld das Weiterzocken ermöglichen.

Ein Manager ist genauso ein Angestellter einer Firma wie Klofrau und Pförtner. Wenn die Mist bauen, werden sie gefeuert. Gleiches Recht für alle.

Das Problem ist doch hierzulande, dass sich die selbsternannten Eliten sich das "Tragen der Verantwortung" hoch bezahlen lassen, aber das sie, wenn was schief geht, sich aus der Verantwortung stehlen und die Allgemeninheit die Kosten tragen lassen. Immer. Wenn es um Banken geht, um die Bahn, um den Diesel, um die Flüchtlinge (Waffen in Kriegsgebiete liefern ist okay, aber um die Flüchtlinge möge sich der Steuerzahler kümmern).

Und zur sozialen Marktwirtschaft gehört auch: Steuern zahlen.


QuoteHouse MD #86

"Erfolg deutscher Unternehmen von ausländischen Aktionären vereinnahmt"

Ja Herr Merz, das können Sie mal näher erklären. Zum Beispiel, wie es kommt, das der Erfolg von Bayer vereinnahmt wird von Monsanto, gerade rechtzeitig, wenn es darum geht, die Opfer deren Gifte zu kompensieren. Hat Ihre Firma, Blackrock, was damit zu tun, immerhin grösster oder zweitgrösster Aktionär bei beiden ?

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/monsanto-und-bayer-bei-bayer-und-monsanto-reden-auf-beiden-seiten-dieselben-investoren-mit-1.3170377 (https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/monsanto-und-bayer-bei-bayer-und-monsanto-reden-auf-beiden-seiten-dieselben-investoren-mit-1.3170377) [Bei Bayer und Monsanto reden auf beiden Seiten dieselben Investoren mit: An Monsanto und Bayer sind dieselben Investoren im großen Stil beteiligt: Blackrock etwa ist mit sieben Prozent Anteil der größte Aktionär bei Bayer - und mit 5,75 Prozent die Nummer zwei bei Monsanto. ... Die Verflechtungen der Großaktionäre sind auch der Monopolkommission aufgefallen. Sie machten den Fall interessant, sagte Achim Wambach, der Vorsitzende des Expertengremiums. "Insofern schließen sich hier Unternehmen zusammen, die eh zum Teil denselben Leuten gehören." ... (21. September 2016)]

... Wer seine Altersversorgung auf seinen stolzen Besitz von Bayer-Aktien oder auch der Deutschen Bank gründete, der durfte sich einmal vorzüglich gesichert glauben. Schließlich gehörten die beiden Unternehmen zu den Flaggschiffen der deutschen Wirtschaft. Heute ist er im Besitz von zwei erstklassigen Scherbenhaufen.


QuotePfirsichköpfchen #101

Hoffentlich wird dieser Merz, der anscheinend noch in den 1980ern des Thatcherismus festhängt und seit den Chicagoboys nix dazu gelernt hat niemals MInister oder sogar Kanzler.
Das Ergebnis dieses Ökonomiemodells kann in GB studiert werden und die fatalen Auswirkungen auf die Durchschnittsbevölkerung.

Aber mal gefragt, warum thematisiert er nicht die 120-150 Mrd. steuerhinterzogenen Euros? Weiß der Herr Merz was über die Vermögensverteilung? Findet er den status quo gut so?
Was wird er gegen Offshorebanken, Steueroasen, CumEx Geschäfte unternehmen wollen? Da wird dem Staat Geld entzogen. Fang dort mal an, Merz, danach kannst dich dem miesmachen der unteren Einkommenshälfte widmen. Wer am Ende des Geldes noch 10 Tage Monat übrig hat, weil Vermietungsaasgeier hemmungslos plündern dürfen, der beschäftigt sich mit dem Aktienerwerb? IN der Merz Welt möglicherweise, in der Wirklichkeit geht es drum, das Giro nicht über den Dispo zu strapazieren. Sparen ist anders wo.

Dies ist der intellektuelle Offenbarungseid eines Abzockers ...


Quote
Tordenskjold #106

Merz, Lindner, Weidel, Seeheimer Kreis.

Denk ich an Deutschland in der Nacht...


...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on June 17, 2019, 11:50:37 AM
Quote[...] Die unteren Bildungsschichten sind in vielen Demokratien aus der politischen Partizipation ausgestiegen. Dies gilt selbst für die kognitiv anspruchsloseste politische Beteiligungsform, nämlich Wahlen. In den USA haben 2012 bei den Präsidentschaftswahlen 80 Prozent derjenigen Personen angegeben, zur Wahl zu gehen, die über ein Haushaltseinkommen von 100.000 US-Dollar und mehr verfügten; von jenen Bürgern aber, die ein Einkommen von 15.000 Dollar und weniger hatten, erklärte nur ein Drittel seine Wahlabsicht.

Auch in Deutschland ist das untere Drittel aus der Partizipation ausgestiegen. Deutschland ist zu einer zwar stabilen, aber dafür sozial selektiven Zweidritteldemokratie geworden. Sozioökonomische Ungleichheit übersetzt sich in kapitalistischen Demokratien sehr direkt in die Ungleichheit politischer Beteiligung.

Banken, Hedgefonds und Großinvestoren diktieren direkt oder indirekt den Regierungen, wie sie besteuert werden wollen. Amazon in den USA und Google in Irland sind hier nur die spektakulärsten Fälle. Folgen die Regierungen nicht den Steuerbefreiungsforderungen der Investoren, wandern diese in Niedrigsteuerländer ab. Politiker wollen gewählt oder wiedergewählt werden. Fehlende Investitionen aber gefährden Konjunktur, Wachstum und Arbeitsplätze – und damit ihre Wiederwahl. Das Erpressungspotenzial geografisch flexiblen Anlagekapitals gegenüber demokratisch gewählten Regierungen hat zugenommen. Wie unter einem Brennglas hat sich dies in der Finanzkrise von 2007/2008 vor allem in Europa gezeigt. Die Banken erwiesen sich als too big to fail. Da der Staat die desaströsen Dominoeffekte kollabierender Banken befürchtete, rettete er viele von ihnen mit dem Steuergeld der Bürger.

In Zeiten der Globalisierung weist der Finanzkapitalismus einige Besonderheiten auf: Digitalisierung, Geschwindigkeit, Volumen, Komplexität und die räumliche Entgrenzung und Reichweite finanzieller Transaktionen. Parlamente dagegen, der institutionelle Kern der Demokratie, sind territorial begrenzt und benötigen Zeit für die Vorbereitung, Beratung und Verabschiedung von Gesetzen. So ist die Desynchronisierung von Politik und Finanzmärkten systemisch bedingt und unvermeidbar.

... Erst wenn die demokratischen Fundamente von Gleichheit und Freiheit nicht mehr durch entfesselte Märkte unterspült werden, lässt sich der Kapitalismus mit den Grundprinzipien der Demokratie versöhnen.


Aus: "Kapitalismus: Aus dem Gleichgewicht" Aus einem Essay von Wolfgang Merkel (17. Juni 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-04/kapitalismus-finanzialisierung-globalisierung-demokratie-ungleichheit/komplettansicht (https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-04/kapitalismus-finanzialisierung-globalisierung-demokratie-ungleichheit/komplettansicht)

QuoteZwischentöne #32 

Reagan und Thatcher fingen damit an und Blair und Schröder beendeten das Werk der neoliberalen Heilsversprecher.

Nur Sozialdemokraten waren in der Lage, das Fallbeil am solidarischen Gesellschaftssystem anzulegen, da es ohne ihren Verrat an der "Arbeiterklasse" den Neoliberalen unmöglich gewesen wäre, die soziale Marktwirtschaft zu entarten.

Bis heute haben es die "Seeheimer" in der SPD nicht kapiert, dass sie damit den Untergang ihrer Partei und den Sieg der neoliberalen Gesellschaftsveränderer beschlossen.

Der Warner (Lafontaine) wurde in die Wüste geschickt und die Totengräber
sitzen heute bei der Leiche und "versaufen die Haut" solange noch ein Tropen in der Flasche ist und der mehr Prozent als die eigene Partei hat.

Sogar ein Neoliberaler erster Güte, der ehem. Finanzminister und Kanzlerkandidat
Steinbrück, hat diesen Irrweg mittlerweile erkannt. Leider immer erst dann, wenn
ihm niemand mehr zuhört.

Noch heute schwärmen und loben diejenigen die ANGEDA-Politik der SPD und geben
der Partei gute Ratschläge, die sie am liebsten im Abgrund sähen. Und die SPD ist immer noch nicht so weit, ihr eigenes Versagen klipp und klar zu benennen und diesen Irrweg zu verlassen.

Ein entfesseltes Ungeheuer (Kapitalismus) bändigt man nicht durch immer neue Opfer sondern dadurch, dass man es in Ketten legt und die Krallen und Zähne zieht.

Es muss wieder gelten, dass der Staat den Markt regelt und nicht die unsägliche Merkel-Sicht der marktkonformen Demokratie.

[Der Kardinalfehler war der Genosse der Bosse und seine Anhänger, die die SPD okkupierten, alle Widersacher in der Partei kalt stellten, in die innere Immigration/Wahlenthaltung trieben oder zum Parteiaustritt.

Mit Schröder, Klement, Müntefering, Steinbrück, Steinmeier, Hombach und den versammelten Seeheimern hatte der Marsch der SPD in die neoliberale Mittel längst begonnen, alle waren überzeugte Anhänger des New Deal, der Entfesselung der Kapital- und Finanzmärkte und wollten lieber mit den Bossen Champagner schlürfen statt mit dem Kumpel ein Bier zu trinken.

Dies wäre durch Lafontaine und die paar Linken in der Partei nicht aufzuhalten gewesen.

Noch heute klatscht man in der SPD den Totengräbern (s.o.) mehr Beifall, als dem "gefallenen Engel" Lafontaine.]


QuoteFritz IV #35

Wenn die Einkommens- und Vermögensunterschiede derartig krasse Formen annehmen, gibts keine Demokratie mehr.
Die Oligarchen können sich dann alles kaufen, die Regierung, die Justiz, die Presse.
Ja, sie können sogar in den Medien die Selbst-Bezeichnung "Investoren" durchsetzen.


QuoteBberliner #38

Die Geldschöpfung war und ist feudal organisiert, solange das so bleibt und die monetären Lebensadern der Ökonomie nicht demokratisiert werden, solange sollte die Erosion von Demokratie keinen ernsthaft verwundern?


Quote1971koepi #42

Das Kapital regiert. Hat jemand etwas anderes erwartet? Demokratie ist von Menschen gemacht. Menschen agieren in der Regel im Eigeninteresse und sind somit vom Kapital beeinflussbar. Sei es durch Anerkennung, schnöden Mammon, ... . Die Käuflichkeit der Herrschenden hat bisher noch jedes System kaputtgemacht.


QuoteStrogow #46

... Globalisierung, damals noch Imperialismus genannt ...

Quotemounia #47

Es regieren die sog. Märkte.Das hat mit Demokratie nix zu tun,auch wenn es marktkonforme Demokratie genannt wird.


Quoteskipporiginal #48

"Die Banken erwiesen sich als too big to fail. " Nein.

Erwiesen - Erweisen; in diesem Zusammenhang also Nachweisen oder Beweisen;

Einen Beweis oder Nachweis hat es nicht gegeben. Es wurde schlicht als "alternativlos" bzeichnet und verkauft ...


Quote
Einfacher Bürger #62.1

Die Krönung ist diese Aussage: "Auch in Deutschland ist das untere Drittel aus der Partizipation ausgestiegen."

Ausgestiegen? Wohl eher rausgestossen, bei voller Fahrt. Und die Politik hat mit der Agenda 2010 noch nachgetreten.

Danke für nichts.


...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on July 18, 2019, 10:02:49 AM
Quote[...] Zur Demokratie gehören auch Protestbewegungen, stehen sie doch für Grundrechte und Pluralismus. Dass dabei Gewalt abgelehnt wird, zählt zu den grundlegenden Selbstverständlichkeiten. Dies wird aber in bestimmten Bereichen des Protestmilieus anders gesehen. Für Autonome ist die sogenannte Militanz konstitutiv, was auch bei den Ausschreitungen anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg 2017 beobachtbar war. Davon konnte man nicht überrascht sein. Allein die im Internet problemlos zugänglichen Mobilisierungsvideos machten deutlich, dass manche Anreisende nicht mit friedlichen Einstellungen kommen würden. Das Ausmaß der Gewalttaten verschreckte dann selbst das Umfeld und führte zu absonderlichen Reaktionen. Diese schwankten zwischen Bejubelung und Ignoranz, es gab weniger Reflexionen und Selbstkritik. Andreas Blechschmidt, der in Hamburg in der "Roten Flora" aktiv ist, äußert sich jetzt dazu in einem eigenen Kommentar, der als "Gewalt, Macht, Widerstand. G20 – Streitschrift um Mittel und Zweck" erschien.

Wer eine Distanzierung von Gewalt erwartet, der kann gleich schon auf der ersten Seite lesen: "Es wird ausdrücklich nicht darum gehen, militante Interventionen im Konkreten oder militante Politik im Allgemeinen zu diskreditieren, sondern Militanz in Beziehung zu den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen zu bringen" (S. 6). Als kleine Lesehilfe sei hier schon erläutert: Die Begriffe "Gewalt" und "Militanz" werden meist synonym genutzt, wobei mit der letztgenannten Bezeichnung etwas Grundsätzlicheres gemeint ist. Die zitierte Bekundung meint indessen nur, dass Blechschmidt sich nicht von Gewalt distanzieren will, sondern nach den Kontexten fragt. Dass Gewalt ein legitimes Mittel sei, um den Kapitalismus zu überwinden, wird dabei nicht näher begründet, sondern letztendlich vorausgesetzt. Es geht mehr um das Problem der Vermittlung.

Denn Blechschmidt war schon aufgefallen, dass bestimmte Ereignisse in Hamburg nicht unbedingt Sympathien auslösten. Diese hält er denn auch um gesellschaftlicher Akzeptanzen willen für problematisch: "Wenn binnen 24 Stunden zunächst in Altona u. a. 19 Kleinwagen abgefackelt werden, parallel dazu ein Bengalo in ein Geschäft, über dem sich Wohnungen befanden, geworfen wird und dann später im Schanzenviertel versucht wird, zwei Geschäfte, über denen sich wiederum Wohnungen befinden, in Brand zu setzen ebenso wie eine Tankstelle mitten im Viertel, dann muss die Frage nach den Mitteln zum Zweck gestellt werden" (S. 51).

Dann könnten aber auch folgende Fragen gestellt werden: Was sind das für Akteure? Welche Einstellungen haben sie? Und welche Menschenfeindlichkeit ist ihnen eigen? Blechschmidt sorgt sich aber mehr um die Vermittlung, er thematisiert weniger die Gewalt als Handlungsstil an sich. Demgemäß gelingt es ihm auch nicht, zwischen angeblich legitimen und nicht-legitimen Formen begründet und trennscharf zu unterscheiden. Stattdessen beginnt er einen Ausflug in die Ideen- und Realgeschichte, da kommen mal Hannah Arendt und Johann Galtung, mal die Pariser Kommune von 1871 und mal der Pariser Mai von 1968 vor.

Dabei verstolpert sich der Autor gleich mehrfach. Wenn dann auf Gemeinsamkeiten linker und rechter Gewalt verwiesen wird, reagiert Blechschmidt allergisch: "Diese totalitäre Gleichsetzung menschenverachtender rechter Gewalt mit linker Militanz ist Ausdruck des Establishments, die bestehende kapitalistische Ordnung zu verteidigen" (S. 70). Er selbst muss aber versteckt in einer Fußnote einräumen, dass bestimmte linke Protestformen "mittlerweile rechte Gruppen" (S. 80, Fußnote 97) nutzen. Doch darüber reflektiert er nicht.

Bei den philosophischen Deutern der Gewalt kommt übrigens Georges Sorel nicht vor, der doch für Anarchisten wie Faschisten ein Klassiker wurde. Diese Gemeinsamkeiten könnten zum Nachdenken anregen. Aber dann müsste man die Gewaltfixierung ablegen, so soll sie als pseudoemanzipatorischer "Riot" legitimiert werden. Derartige Denkungsarten und Handlungen haben den Protestbewegungen erheblichen Schaden zugefügt. Man redet über Gewalt, nicht über Globalisierungskritik. Wer freut sich wohl am meisten darüber?

Andreas Blechschmidt, Gewalt, Macht, Widerstand. G20 – Streitschrift um die Mittel zum Zweck, Münster 2019 (Unrast-Verlag), 157 S.


Aus: "Kritischer Kommentar zu einem Plädoyer der Gewalt: Gewalt und Vermittlung" Armin Pfahl-Traughber (16. Jul 2019)
Quelle: https://hpd.de/artikel/gewalt-und-vermittlung-17015 (https://hpd.de/artikel/gewalt-und-vermittlung-17015)

Quote

Roland Fakler am 16. Juli 2019 - 16:18

Gewalt erzeugt Gegengewalt, das lernt man normalerweise im Kindergarten. Man könnte auch viele Beispiele aus der Geschichte anführen oder besser aus der Gegenwart. Anschauungsmaterial dazu bieten Syrien und Libyen.
Also: Wer dieses Land zerstören will, der wende Gewalt an, um seine Ziele durchzusetzen. Dabei sollte einem allerdings klar sein, dass es in diesem Staat sehr viele unterschiedliche Vorstellungen von der ,,gerechten" Herrschaft gibt. Nicht nur Linke wollen ihren kommunistischen Staat, auch Rechte wollen ihren Führerstaat und Religiöse wollen ihren Gottesstaat....Na, dann haut einfach mal drauf los, was da wohl rauskommt. Gewalt ist nur gerechtfertigt zur Bekämpfung einer gewaltsamen Herrschaft. ....


Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on July 28, 2019, 08:24:09 PM
"Eigentümer unbekannt: Wenn Investoren Wohnungen kaufen | Panorama | NDR"
ARD - Am 26.04.2019 veröffentlicht
Offenbar wechseln zahlreiche Immobilien in Deutschland den Besitzer, ohne dass Mieter und Behörden etwas davon mitbekommen. Hinter den Immobilienfirmen steht ein komplexes Geflecht.
https://youtu.be/NSkUhz5icGk


Ann Claire Richter (24.07.2019):  .... Rausgedrängt von Immobilienhaien. Nicht einmal mehr Menschen mit mittlerem Einkommen können sich die Mieten in Toronto noch leisten. Doch Toronto steht mit diesem Problem nicht allein. Die Dokumentation ,,Push – Für das Grundrecht auf Wohnen" führte am Montagabend im Universum-Filmtheater eindringlich vor Augen, wie Menschen überall auf der Welt ihre Heimat verlieren, wie Städte veröden und Spekulanten immer reicher werden. ...
https://www.braunschweiger-zeitung.de/braunschweig/article226568807/Wenn-Wohnraum-Ware-ist-und-der-Mensch-nichts-zaehlt.html

Christiane Peitz (18.06.2019): ... Es gibt ein paar Zahlen und Bilder in diesem Film, die einen erschüttern. Zum Beispiel die Vervierfachung der Mieten in Toronto in den vergangenen 30 Jahren – die Einkommen sind nur um ein Drittel gestiegen. Oder das Bild vom Skelett des Londoner Grenfell Tower, der 2017 brannte. 72 Menschen starben: ein schwarzes Mahnmal für die Verdrängung gewöhnlicher Bewohner aus einem Reichenviertel. Oder das Bild vom abgesackten, noch bewohnten Haus in Valparaiso, wo ein ganzer Stadtteil Luxusappartements weichen muss.
Oder die 217 Billionen Dollar, auf die der globale Vermögenswert von Immobilien beziffert wird, mehr als doppelt so viel wie das weltweite Bruttoinlandsprodukt. Oder die London-Grafik mit den zahllosen roten Punkten. Jedes Pünktchen markiert ein Gebäude in ausländischem Besitz. 80 Prozent davon stehen leer. Einst lebendige Nachbarschaften voller Kneipen und kleiner Läden sind Geisterquartieren gewichen.
,,Push – Für das Grundrecht auf Wohnen" heißt der teils über Crowdfunding finanzierte Film des schwedischen Dokumentaristen Fredrik Gertten, der eine Weltreise überall dorthin unternimmt, wo die Wertabschöpfung von Wohnraum brutale Folgen hat. Es geht nicht um Gentrifizierung, sondern um ein weit größeres Monster, heißt es im Film: um anonyme Konzerne, die als Vermieter nur noch auf dem Papier existieren und Riesengewinne mit meist leerstehenden Wohnungen erzielen. ...
https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/immobilien/die-dokumentation-push-ein-kinofilm-ueber-den-ungezuegelten-kapitalismus/24433368.html


"Film der Woche: ,,Push"Das Menschenrecht auf Wohnen" Julian Ignatowitsch (05.06.2019)
Vermieter ohne Gesicht, Wohnungen ohne Mieter: Die Dokumentation ,,Push" von Regisseur Fredrik Gertten zeigt, wie horrende Mietpreise unsere Städte zu unbewohnbaren Orten machen – und ergründet die Hintergründe. Verständlich, unterhaltsam und schonungslos.
An Farhas Seite lernen wir das Ehepaar kennen, dem – um eine Kündigung zu rechtfertigen  – kriminelle Machenschaften vorgeworfen werden; oder wir sehen das kollektive Desinteresse von Politikern, während Farhas Vortrags vor den Vereinten Nationen, wenn alle nur auf ihr Smartphone starren und nach teuren Uhren googlen. Das sind Bilder, die hängen bleiben!
Dazu greift die Dokumentation auf die Expertise von Star-Ökonom Joseph Stiglitz, Autor Roberto Saviano und Soziologin Saskia Sassen zurück, die die Sachverhalte prägnant und verständlich erklären. Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise 2008, leerstehende Luxus-Immobilien als sekündlich gehandeltes Investment-Spielzeug, Geldwäsche und Steueroasen als Fundament der globalen Ökonomie – so die Experten.
... Fredrik Gerrten: ,,Das bedeutet: Wir hatten niemals einen größeren Unterschied zwischen Leuten, die in den Häusern wohnen, und denen, denen sie gehören. Die Hauseigentümer wissen oft nichts über dich, deine Stadt oder gar dein Land. Das ist etwas völlig Neues in der (Menschheits-)Geschichte."
,,Push" spitzt manche These zu, ist dabei aber nicht reißerisch, auch wenn teilweise etwas vereinfacht wird. Der Dokumentation gelingt sogar das Kunststück trotz der frustrierenden Thematik unterhaltsam zu sein und eine positive Grundstimmung zu verbreiten, was wiederum stark mit Protagonistin Farha zu tun hat.
Was fehlt ist die Konfrontation, die Stimme der Gegenseite, also der Finanzwirtschaft. Der CEO des globalen Immobilieninvestors ,,Blackstone" sagt ein Gespräch kurzfristig ab. ...
Auch Lösungsvorschläge formuliert die Dokumentation wenige. Am Ende zeigt sie immerhin wie Farha Politiker trifft, zum Beispiel die Bürgermeisterin von Barcelona, um ein Umdenken einzuleiten. Dieses Ziel hat sich Gertten auch mit seinem 700.000 Euro teuren Film gesetzt: ,,Dokumentationen sind Teil einer Widerstandsbewegung. Dieser Film verbreitet Wissen. Auch wenn wir kaum Geld haben für Marketing oder berühmte Schauspieler, wird der Zuschauer mehr mitnehmen als aus einem Hollywood-Film."
https://www.deutschlandfunk.de/film-der-woche-push-das-menschenrecht-auf-wohnen.807.de.html?dram:article_id=450597
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on July 30, 2019, 02:09:48 PM
"Datenspiegel #27: Wohin Rentner und Kapital fliehen" David Meidinger (29.07.2019)
Welche Länder hatten weltweit die meiste Zuwanderung? Wo leben deutsche Rentner? Und warum lassen sich Firmen gerne auf Mauritius nieder?
Nicht nur Rentner und Urlauber zieht es in den Süden. Auch viele Firmen schätzen tropische Inseln wie Mauritius. Zum Beispiel die US-Amerikanische Firma Aircastle. Die Leasingfirma für Flugzeuge musste dort nur 1,59% Steuern auf Geschäfte in Südafrika zahlen – dank ihrer Firmengeflechte und mit freundlicher Unterstützung von KPMG, Ernst & Young und der Deutschen Bank. Aufgedeckt wurde die Geschichte von Reportern des International Consortium of Investigative Journalists im Rahmen der Recherche »Mauritius Leaks«. Die Steuervermeiderei wird auf einer Multimedia-Seite Schritt für Schritt erklärt und ist liebevoll illustriert. ...
https://digitalpresent.tagesspiegel.de/wohin-rentner-und-kapital-fliehen

International Consortium of Investigative Journalists
Investigations    >    Mauritius Leaks ...
https://www.icij.org/investigations/mauritius-leaks/treasure-island-leak-reveals-how-mauritius-siphons-tax-from-poor-nations-to-benefit-elites/

23. Juli 2019: Gut drei Jahre nach der Veröffentlichung der "Panama-Papers" mit Enthüllungen über teils illegale Steuerflucht vor allem in der Karibik steht nun die Insel Mauritius als Steuerparadies im Fokus. Ein Netzwerk internationaler Journalisten veröffentlichte dazu am Dienstag Hinweise, die sich auf vertraulich weitergeleitete Daten eines Informanten stützen.
Sie belegen nach Angaben des Verbunds, dass gerade den Staaten Afrikas viele Steuergelder entgehen. In dem Zusammenhang wird auch der Name des prominenten Afrika-Aktivisten und Musikers Bob Geldof genannt, der sich zunächst nicht dazu äußerte. Die einstige französische Kolonie Mauritius liegt im Indischen Ozean, rund 2000 Kilometer vom afrikanischen Kontinent entfernt.

https://www.kleinezeitung.at/wirtschaft/5663806/Nach-PanamaPapers_Mauritius-als-neue-Steueroase-angeprangert

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/mauritius-leaks-steueroase-offshore-1.4535869

https://www.wiwo.de/politik/ausland/mauritius-leaks-steuerparadies-mauritius-indiens-eigenes-luxemburg/24703092.html

Die Hilfsorganisation Oxfam sieht den eigentlichen Skandal in der Gesetzmäßigkeit der Steuertricks und forderte neben transparenten Steuersystemen einen weltweiten Mindeststeuersatz. "Regelmäßig werden neue schmutzige Tricks bekannt, mit denen sich internationale Konzerne und Superreiche davor drücken, ihren fairen Beitrag zum Gemeinwohl zu leisten - auf Kosten gerade auch armer Länder", meinte Oxfam-Kampagnenmanager Jörn Kalinski. Die Bundesregierung müsse beim laufenden Prozess zur Reform des globalen Steuersystems im Industrieländerklub OECD für Sanktionen gegen Steueroasen eintreten. ...
https://www.manager-magazin.de/finanzen/artikel/mauritius-auch-bob-geldof-soll-diese-steueroase-fuer-geschaefte-nutzen-a-1278611.html

https://www.icij.org/investigations/mauritius-leaks/

https://en.wikipedia.org/wiki/Mauritius_Leaks

https://en.wikipedia.org/wiki/Swiss_Leaks

https://en.wikipedia.org/wiki/Panama_Papers

https://de.wikipedia.org/wiki/Offshore-Leaks

https://en.wikipedia.org/wiki/Lagarde_list

https://en.wikipedia.org/wiki/2008_Liechtenstein_tax_affair

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on August 14, 2019, 04:58:53 PM
Quote[...] Klang nach einem coolen Geschäftsmodell: Wer grad keine Zeit hat zu kochen, kann sich das Essen fix bestellen, zwischendurch, per App. Reproduktion mit einem Klick erledigt. Früher unbezahlte (weibliche) Hausarbeit wird nun auf den Markt geworfen: So entstehen sogar Jobs. Klar, für 7,50 Euro pro Stunde durch den Regen radeln, zig Stockwerke erklimmen, dabei vom Chef per App gestresst werden, das klingt uncool. Aber hey, c'est la vie. Fahrer beschwerten sich hier und da, gaben Zeitungen Stoff für Reportagen, und das Geschäft brummte weiter. Türkise und pinke Radler überall.

Nun verschwinden erstere: Deliveroo zieht sich vom 16. August an aus Deutschland zurück, kündigte das Unternehmen an – am 12. August. Was innerhalb von vier Tagen auch verschwindet: das Einkommen der Fahrer. Kündigungsfrist gab es bei den 1.100 Freelancern keine, Anspruch auf eine Abfindung auch nicht. Aus PR-Gründen zahlt Deliveroo ihnen nun ,,Kulanzpakete", basierend auf dem Tagessatz der durchschnittlichen wöchentlichen Einnahmen der letzten Wochen. Mindestens: 50 Euro.

Dass prekäre Arbeitsbedingungen super in ein Geschäftsmodell passen, das Angebot und Nachfrage just in time aufeinander abstimmen muss, ist nichts Neues. Volle Flexibilität für das Unternehmen, volle Unsicherheit für die Arbeiterinnen: das Comeback der Tagelöhner im Neoliberalismus. Wer profitiert? Die Kapitalisten!, möchte die Marxistin rufen, nur: Das stimmt nicht. Deliveroo und sein niederländischer Konkurrent Takeaway, Mutter des deutschen Lieferando, verzeichnen Jahr für Jahr Verluste. Was ist das für ein Geschäfsmodell?

Ein ,,sehr schlechtes" – zitiert das Manager Magazin Takeaway-Gründer Jitse Groen selbst, ,,unmöglich profitabel zu betreiben". Der ,,Gewinn" von Takeaway in Deutschland lag 2018 bei minus 36,7 Millionen Euro. Besiegen konnte der Konzern Deliveroo dennoch, einfach, weil er wächst: von 2016 auf 2018 stieg der Takeaway-Umsatz von 37 auf 86 Millionen Euro. Das Unternehmen schluckte Lieferando, Foodora – und nun den britischen Lieferdienst Just eat. Friss oder stirb wird zu: Friss einfach! Irgendein Investor wird schon weiter Kapital zuschießen. Bis die Wette aufgeht, die Konkurrenz weg ist und die Preise steigen können. Oder: Bis die Blase platzt.


Aus: "Friss einfach" Elsa Koester (14.08.2019)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/friss-einfach (https://www.freitag.de/autoren/elsa-koester/friss-einfach)

QuoteLethe | Community

Alternative: Alle kochen selbst, mögliche FahrerInnen werden von vornherein nicht benötigt und können sich also sonstwo lustvoll und selbstermächtigt verwirklichen^^


...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on August 15, 2019, 02:55:43 PM
Quote[...] Der Kapitalismus scheint immer noch wie etwas, das Außerirdische auf der Erde eingepflanzt haben, um uns zu verknechten. Aber wir haben ihn selbst geschaffen! Wir haben diese hässlichen Bürotürme gebaut, wir haben das Plastik ins Meer gekippt, wir haben die Erde geplündert für Konsum und Profit. Hier geht es um eine aufgeklärte Aufklärung, denn nicht Gott hat die Welt gemacht, sondern wir Menschen. Der neue Twist ist: Wir sind aber nicht allein hier. Die Natur ist da, die Pflanzen, die Tiere. Gerade müssen uns sogar Jugendliche wie Greta Thunberg daran erinnern, indem sie sagen: Entschuldigt mal, so geht das nicht weiter. Diese maßlose, rücksichtslose, ignorante Bereicherung muss ein Ende haben. ... Unsere westliche Kultur – damit meine ich alle Länder, die durch eine antike, christliche und koloniale Vergangenheit verbunden sind – hat das Denken vor das Dasein gestellt und das Machbare vor das Brauchbare. Der Weg aus der Krise beginnt damit, wieder über das Brauchbare nachzudenken. Was Menschen beispielsweise am glücklichsten macht, sind tiefe soziale Beziehungen. Wir wissen das alles. Das ist so spannend an dieser Zeit: Wir wissen alles und machen alles falsch. ... Die Welt ist noch da, sie ist uns nur abhanden gekommen. Wir müssen sie wieder lieben lernen. Doch das ist eine schreckliche Liebe. Weil wir auch grässliche Gebäude lieben müssen und den Müll im Ozean. Ebenso uns selbst, die das doch alles verursacht haben. Vielleicht ist das der tiefste Aufruf der Stunde, dass die Welt uns auf unendlich vielen Ebenen damit konfrontiert, dass unser Leben uns etwas angeht. Wir sind alle hier, der ganze Rest auch, sehr unordentlich die ganze Sache. ...


Aus: "Ariadne von Schirach über Gesellschaft: ,,Jetzt heißt es aufräumen"" Das Interview führte Jana Petersen (7. 5. 2019)
Quelle: https://taz.de/Ariadne-von-Schirach-ueber-Gesellschaft/!5589389/ (https://taz.de/Ariadne-von-Schirach-ueber-Gesellschaft/!5589389/)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on August 20, 2019, 02:18:41 PM
Quote[...] Bei einem Treffen des Dachverbandes der führenden Unternehmen in den USA wie Apple, Pepsi und Walmart, haben fast 200 Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer neue Grundsätze der Unternehmensführung definiert. Zum ersten Mal seit mehr als 20 Jahren distanzierte sich der Business Roundtable dabei vom sogenannten Shareholder-Value-Prinzip, wie die New York Times berichtet. Stattdessen soll der Fokus auf Investitionen in Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, Umweltschutz und einen fairen und ethischen Umgang mit Zulieferern gelegt werden.

"Wir wissen, dass viele Amerikaner Probleme haben. Zu oft wird harte Arbeit nicht belohnt, und es wird nicht genug getan, damit sich die Arbeitnehmer an das rasche Tempo des wirtschaftlichen Wandels anpassen können", schreiben die Unternehmer in ihrer Erklärung.

Nach dem Shareholder-Value-Prinzip hat die Unternehmensführung im Sinne der Anteilseigner zu handeln. Ziel ist die Maximierung des langfristigen Unternehmenswertes durch Gewinnmaximierung und Erhöhung der Eigenkapitalrendite. Im Statement formulieren die CEOs neue Eckpunkte für eine Unternehmungsführung. So soll ein Mehrwert für Kundinnen und Kunden sowie die Umwelt an Standorten geschützt werden. Außerdem sollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unterstützt werden, indem sie etwa gerecht entlohnt werden und Aus- und Weiterbildungen erhalten. 

Damit reagieren die Unternehmer auf die aktuelle gesellschaftliche Lage in den USA. So sind laut einer Umfrage der Voter Study Group viele US-Amerikaner offen für ein radikales Programm, das die Wirtschaft des Landes umgestaltet. Eine klare Mehrheit befürwortet Steuererleichterungen für Geringverdiener, bezahlte Elternzeit, eine Anhebung des Mindestlohns und höhere Steuern für die Reichen. Eine Mehrheit spricht sich auch dafür aus, große Banken zu zerschlagen und es Arbeitern zu erleichtern, sich gewerkschaftlich zu organisieren.

Der Business Roundtable vertritt Geschäftsführer der führenden US-amerikanischen Unternehmen. Diese CEO-Mitglieder leiten Unternehmen mit mehr als 15 Millionen Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von mehr als sieben Billionen US-Dollar. Seit 1978 stellt der Business Roundtable regelmäßig Grundsätze für die Unternehmensführung aus.


Aus: "US-Unternehmer rücken vom Prinzip der Gewinnmaximierung ab" (20. August 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2019-08/usa-unternehmen-aktionaere-ethik-business-roundtable (https://www.zeit.de/wirtschaft/unternehmen/2019-08/usa-unternehmen-aktionaere-ethik-business-roundtable)


QuoteManni_23 #8

Schöner Traum oder dummes Geschwätz. Das wir nie so passieren, weil es im vollkommenen Gegensatz zum Grundprinzip der kapitalistischen Wirtschaftsordnung steht.


Quotegigue #9

"US-Amerikaner offen für radikale Umgestaltung der Wirtschaft"

Es mehren sich schon seit einiger Zeit die Anzeichen dafür, dass es ein Umdenken in den Chefetagen der großen Konzerne gibt.
Die meisten CEOs usw. der Konzerne stammen ja nicht mehr aus den Reihen der OldBoysConnection oder den Eastcoast-Reichen, die nichts anderes gelernt haben, als alles zusammen zu raffen, was zu kriegen ist.
Im Grunde ist es reichlich grotesk, dass ausgerechnet einer aus der alten Garde der Raffer jetzt Präsident geworden ist, wo längst sich in den Köpfen der Führungsetagen ein anderes Denken breit macht.
Vor allem dieser ständige Run auf die Quartalszahlen, der sinnlose Hype um den Shareholder Value, der immer seltsamere Blüten treibt und vor allem unternehmensfernen Gestalten mit Titeln wie "Businessanalyst" usw. Wichtigkeit zutreibt, wo absolut keine Wichtigkeit ist, wird es Zeit, sich nach anderen Formen der gewerblichen Tätigkeit und deren Finanzierung umzuschauen.
Letztendlich ist eine Firma wie ein kleiner Staat: das Auskommen der Bürger ist final entscheidend, dass alle halbwegs profund leben können und nicht nur diejenigen, die sich in jeder Beziehung besser durch setzen können und der Rest dahin darbt. Eine solche Gesellschaft wünschen sich vielleicht noch einige Korrupties in unterentwickelten Ländern, aber in Industrieländern wird es Zeit, über andere Verteilungsmechanismen nachzudenken, die einer breiten Schicht von Menschen gerecht wird.


QuoteWiilibald #9.1

Ich kann mich an ein Interview eines deutschen Unternehmers (Selfmademan) durch einen US Journalisten im US TV erinnern. Wo der Journalist den Deutschen mehrmals ungläubig fragte, warum der mit den exorbitant hohen Steuern und Auflagen in Deutschland zufrieden sei. Und der Unternehmer antwortete: Ich verdiene auch mit den Steuern mehr als ich jemals ausgeben könnte und ich möchte in einem Land leben, wo ich jederzeit ohne Angst um mein Leben alleine durch die Stadt laufen kann und jedem in die Augen schauen kann. Erinnert mich an die Albrechts, die persönlich um die Ecke einkaufen gingen und jeden Pfennig umdrehten - Aldi - Sie wissen schon. Oder die Reimanns - Deutschlands reichste Familie - wo jeder Erbe vor Antritt des Erbes unterschreiben muss, ein unauffälliges Mittelstandsleben zu führen und alles Geld in den Firmen zu lassen.


QuoteFrittiere nicht dein Leben Frittiere deinen Traum #10

Gab's so eine Erklärung nicht vor drei, vier Jahren schonmal? Wenn man das jetzt turnusmäßig aus Imagegründen wiederholt, ohne es tatsächlich umzusetzen, ist das alles wenig wert.


QuoteOccam #12

Die Geschäftsführer können sich nur so lange von den Interessen der Anteilseigner distanzieren, bis sich die Anteilseigner von den Geschäftsführern distanzieren.
Geschäftsführer, CEO und Unternehmer synonym zu verwenden, ist problematisch.


QuoteComandante Amigo #17


Sollte das der Beginn des "nachhaltigen Kapitalismus" sein? Für US amerikanische Ohren wird das bestimmt wie purer Kommunismus klingen. Mal sehen was die Thinktanks des Kapitals daraus machen.


Quotearnolsi #21

Jetzt, nachdem sie so pervers reich sind und ihnen eh schon praktisch alles gehört, bekommen sie moralische Anflüge?


Quotek-os2o14 #27

Die Unterzeichner findet man hier -> https://opportunity.businessroundtable.org/ourcommitment/ (https://opportunity.businessroundtable.org/ourcommitment/) und ich hab schon gut gelacht. Das Who is Who von Finanzkrise bis lass mal Länder platt Bomben und Öl-Deals sichern.



QuoteSchattenboxen #27.1

Danke für den Link. Das liest sich im Original völlig anders als die ZON-Interpretation. ...


QuoteGrüneHoffnung #28

Ups, Revolte von oben gegen sich selber???

Nur zu, kann gar nicht heftig genug sein. :)

> ZON hat Halluzinationen.

Nicht wirklich.

Die Beschreibungen und Art der Wortwahl erinnern mich mehr an agile Prinzipien und da ist dann nicht mehr der Sharehoulder im Mittelpunkt sondern der Stakehoulder. Ist tatsächlich was anderes, wenn auch der Unterschied in den Feinheiten steckt. Stakehoulder sind im Prinzip wir alle, die an einem Produkt, dem dem/den herstellendem/n Unternehmen und/oder Dienstleister. Kann man sogar auf die Politik ausweiten, im Sinne von dienen, den Wünschen der Interessierten.

Ist sicher alles andere als eine Revolte gegen sich selber von oben aber immerhin ein kleines Schrittchen hin zurück zu etwas mehr Verantwortungsbewußtsein fürs eher Ganze.

Wenn man die letzten 30-250 Jahre hier eher auf der Null Linie agierte ist etwas mehr als Null schon ein riesiger Satz.

;)


QuoteFür mehr nach vorne #7

Da Christian Lindner und Friedrich Merz immer noch nicht kapiert haben, dass der Wirtschaftsliberalismus ein Auslaufmodell ist, sollten sich beide ein Beispiel am Umdenken dieser Unternehmen nehmen.


Quote
W_Schäfer #7.1

Sie lassen sich aber schnell mit Lippenbekenntnissen einlullen.


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on September 10, 2019, 10:19:31 AM
Quote[...] Stellen wir uns einen ganz normalen Sonntagmorgen vor. Am gedeckten Tisch warten alle Familienmitglieder auf den Vater. Auf sein Kommando beginnt das Frühstück, zu dem es für jeden genau ein Brötchen mit vom Vater bestimmtem Belag gibt. Nach einem durch den Vater festgelegten Zeitraum gehen alle an ihre durch den Vater verteilten Aufgaben: Kind Nummer eins soll die Fenster putzen, Kind Nummer zwei hat alle Zimmer aufzuräumen und mit dem Stubenbesen zu fegen, Kind Nummer drei muss den Keller ausmisten, die Mutter kümmert sich um die Wäsche, den Einkauf, das Kochen, das Geschirrspülen und um Kind Nummer vier.

Eigentlich möchten heute alle raus, um das Wetter zu genießen. Das wäre auch möglich, denn die Arbeit muss erst am Abend erledigt sein. Doch der Vater befiehlt, dass sich alle ab neun Uhr für genau acht Stunden im Haus aufhalten müssen – die halbstündige Mittagspause nicht eingerechnet. Warum es acht Stunden sind, das erklärt der Vater nicht. Ebenso wenig begründet er, warum sich jeder pro Jahr nur eine willkürlich durch den Vater benannte Zahl an Arbeitstagen freinehmen darf. Auf allen Smartphones sind Sperren für Facebook, Amazon und Youtube eingerichtet.

Der Vater legt fest, wer am Abend welche Menge an Essen erhält. Die richtet sich nicht nach Bedarf, sondern nach schwer durchschaubaren und durch den Vater bestimmten Kriterien. Wenn Kind Nummer eins keinen Spinat mag, dann darf es das dem Vater ohne Furcht mitteilen. Es kann dann frei entscheiden: Spinat oder nichts. Jeder muss sein Dinner in einem verschlossenen Raum allein zu sich nehmen, damit die anderen nicht sehen, wer wie viel und welches Essen erhält.

Das führt zu einer sozialen Kontrolle, die ohne den Vater funktioniert. Wenn Kind Nummer eins schon um kurz vor halb sechs das Haus verlässt, dann grummeln und tuscheln die anderen. Geht Kind Nummer zwei mehrmals zur Toilette, dann gerät es unter Faulheitsverdacht. Bleibt die Mutter fünf oder gar zehn Minuten länger als alle anderen zur Mittagspause im Garten, dann raunen die Kinder: ,,Die kann sich das nur erlauben, weil sie ständig mit dem Vater kungelt!"

Manchmal meckern alle gemeinsam über die Regeln oder den Vater, doch nur hinter vorgehaltener Hand. Kind Nummer drei hält sich aus solchen Debatten lieber komplett heraus, denn der Vater hat ihm nur ein auf zwölf Monate befristetes Aufenthaltsrecht in der Familie gewährt, und seine Entscheidung, ob es über diesen Zeitraum hinaus ein Teil der Familie bleiben darf, kann sehr kurzfristig erfolgen.

Es dürfte schwerfallen, eine Familie zu finden, die ihre Sonntage genau so verbringt und in der ein solches Regime herrscht. Niemand würde die Tyrannei auf Dauer hinnehmen. Wer die beschriebene Situation aber von der Familie auf ein Unternehmen überträgt, der findet plötzlich nichts daran seltsam. Beim Betreten des Arbeitsplatzes legen wir unsere Autonomie ab und unterwerfen uns einer Diktatur der Hierarchien. Wir akzeptieren in der Arbeitswelt ein Ausmaß an Unterordnung, das uns in beinahe jeder anderen Lebenssituation abstoßend erscheinen würde.

Überall stehen die Zeiten im Zeichen des Protests. Leute demonstrieren gegen die menschengemachte Klimakatastrophe, gegen Flüchtlinge, gegen Flüchtlingsfeinde, gegen ,,Islamisierung", gegen Rassismus, gegen Krieg, gegen Konzernschutzabkommen, gegen Atomkraft, gegen Massentierhaltung. Selten aber protestieren sie gegen das Offensichtlichste in ihrem eigenen Leben: die grundlegenden Bedingungen, unter denen sie arbeiten.

Schon immer haben Menschen für ihren Lebensunterhalt gearbeitet. Die Idee der Erwerbsarbeit, seine Arbeitskraft also einem Unternehmen zu übereignen und im Gegenzug ein wenig Geld zu nehmen, ist aber historisch noch sehr jung.

Wer wissen will, wann und warum Menschen sich entschieden haben, abhängig erwerbstätig zu sein, sollte mit einer Gegenfrage kontern: Haben sie sich jemals so entschieden? Zu Beginn der Industrialisierung folgten die Massen dem Ruf der Unternehmer und zogen vom Land in die Stadt, um in den Fabriken für einen Lohn zu arbeiten. Eine scheinbar glückliche Fügung von Angebot und Nachfrage.

Was diese Betrachtung ausblendet, ist die Vorgeschichte. Im Kapital beschreibt Karl Marx Die ursprüngliche Akkumulation, ohne die das kollektive Begehren zur Lohnarbeit nicht hätte entstehen können. In einem langen und gewaltsamen Prozess wurden demnach Millionen von Armen enteignet. Produzent und Produktionsmittel waren nun getrennt. Seitdem können die Eigentümer der Produktionsmittel die Produzenten (also die Arbeiter) zwingen, für sie zu schuften – und das weitgehend zu den Bedingungen, die den Interessen der Eigentümer entsprechen.

Ganz selbstverständlich sprechen wir bei der Gegenleistung für unsere Arbeit von ,,Entlohnung". Das ist verräterisch, denn dem Wortsinne nach bedeutet diese Wendung nichts anderes als ,,jemanden um den Lohn bringen". Eine entwaffnende Ehrlichkeit, die niemand begrifflich als ,,Belohnung" tarnen muss, weil die meisten von uns niemals aus eigenem Antrieb auf die Idee kämen, die abhängige Erwerbsarbeit fundamental in Frage zu stellen.

Die Normalität fremdbestimmter Arbeit hat sich über Jahrhunderte in unsere Körper eingeschrieben. Das Denken in Marktlogik erscheint uns alternativlos. Der spanische Soziologe César Rendueles erzählt in seinem Buch Kanaillen-Kapitalismus (2018) von einer Erfahrung am eigenen Leib. Er sei vor Jahren bei einem Unternehmen beschäftigt gewesen, in dem man zuerst die Null wählen musste, bevor man ein externes Telefongespräch führen konnte. Bei privaten Anrufen am Abend habe er stets automatisch die Null hinzugefügt und sei, weil alle Festnetzanschlüsse in Madrid mit 91 beginnen, jedes Mal bei der Polizei gelandet, die in Spanien unter der Nummer 091 zu erreichen ist.

Symbolisch für diese Kolonisierung des Menschen durch die Erwerbsarbeit steht besonders das Hauptverwaltungsgebäude des niederländisch-britischen Großkonzerns Unilever in Hamburg. In dem Dokumentarfilm Work Hard Play Hard (2012) leuchtet Carmen Losmann aus, wie an diesem Ort die Architektur das Soziale bestimmt. Mit der Kamera beobachtete sie den Planungsprozess für die Firmenzentrale. Einer der Architekten sagte, die Mitarbeiter sollten am Ende ,,auf keinen Fall daran erinnert werden, dass sie arbeiten". Die dahinterstehende Logik geht davon aus, dass nur derjenige leistungsfähig bleibt, der während der Maloche alles um sich herum vergisst und den ,,Flow" spürt.

Die Aufnahmen aus dem fertigen Unilever-Haus zeigen bunte Polstermöbel, Meeting Points, Coffee Points und kieselsteinbelegte Innenhöfe. Inmitten riesiger Räume ohne Privatsphäre stehen nackte Schreibtische. Niemand hat hier mehr einen festen Arbeitsplatz, Zugehörigkeit und Verbindlichkeit schwinden zugunsten einer für das Unternehmen optimalen Verwertung der Ressource Mensch. Dafür hängen an den Wänden überall Flachbildschirme, die Landschaftsaufnahmen zeigen, um eine bürgerliche Wohnzimmeratmosphäre zu simulieren.

Auch jenseits von Büro, Baustelle und Fabrik bleiben wir Verdrängungskünstler. In Kino und Literatur werden Menschen selten beim Arbeiten gezeigt – vielleicht nicht obwohl, sondern gerade weil es einen erheblichen Teil ihrer wachen Zeit ausmacht. Wir vergessen, dass die Grenze zwischen Arbeit und Leben gefallen ist, weil Arbeit unser Leben geworden ist. Darauf reagieren wir, indem wir den Wegfall dieser Grenze leugnen.

Schon in den siebziger Jahren hatte es die subversive Fernsehserie Acht Stunden sind kein Tag schwer, weil es im damaligen Fordismus noch hieß: ,,Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps." Heute hätte es die Serie schwer, weil sie Illusionen zerstört und Utopien entwirft. Rainer Werner Fassbinder lässt darin den Arbeitsalltag einer Gruppe von Werkzeugmachern nachspielen. Die Geschichte verwebt von Mietpreissteigerungen bis zum Rassismus verschiedene soziale Probleme, rückt aber die Frage der betrieblichen Mitbestimmung in den Fokus – bis am Ende die Arbeiter quasi einen Kollektivbetrieb führen.

Von solcher Träumerei möchten die meisten Menschen in der Freizeit nichts wissen. Sie wollen entspannen, ausruhen, ,,abschalten". Auf paradoxe Weise gilt das sogar für jene meist jüngeren Hochqualifizierten, die auf privaten Partys am Wochenende am liebsten über ihren Job sprechen. Unternehmen wie Unilever wollen vergessen machen, dass man arbeitet. Daraus entspringt bei Beschäftigten der Glaube, selbstbestimmt, souverän und damit privilegiert zu handeln, sich also außerhalb des Hamsterrads zu bewegen, in dem die Mehrheit darbt. Identifikation mit dem Unternehmen und das Mitteilungsbedürfnis sind bei diesen Menschen hoch, bis die Selbstverwirklichungsschraube nicht mehr greift, weil sie zum Burn-out überdreht ist.

Erwerbsarbeit ist ein soziales Verhältnis, in dem die Eigentümer mit den durch sie eingesetzten Chefs herrschen und die Belegschaft beherrscht wird. Keine ausgefeilte Architektur, keine ,,flachen Hierarchien", kein Duzen der Vorgesetzten, keine ,,gewaltfreie Kommunikation" und keine ,,Vertrauensarbeitszeit" können das ändern. Zwar gibt es Arbeitgeber, bei denen ein umsichtigeres Regiment herrscht. Dabei handelt es sich aber meist um kleinere Betriebe, die ihre Beschäftigten im Alltag darum besser behandeln, weil sie ihnen keinen branchenüblichen Lohn zahlen.

Wer sich daran stört, sieht eine Lösung häufig in einem Abschied von der Festanstellung. Freie Entfaltung und ,,Work-Life-Balance" stehen im Mittelpunkt des Wertekanons vieler Selbstständiger. Zahlreiche Studien haben diese Priorität für die Generation Y belegt, also die Geburtsjahrgänge zwischen den frühen achtziger und den späten neunziger Jahren. Doch bleibt die freie Arbeit für fast alle weiterhin unfreie Erwerbsarbeit, denn sie werkeln vor allem frei von Sicherheit. Wer die Abhängigkeit von einem einzigen Unternehmen aufgibt, gleitet in neue Abhängigkeiten hinein. Die soziale Absicherung müssen viele komplett selbst schultern, sie dürfen sich oft keine Krankheitstage oder Urlaubsreisen erlauben, und wenn keine Aufträge reinkommen, kann das freiberufliche Dasein existenzbedrohend werden.

Erst kürzlich hat die Justiz dem Gesetzgeber einen Auftrag im Sinne der Festangestellten erteilt. Der Europäische Gerichtshof entschied im Mai, dass Unternehmen künftig die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter genau erfassen müssen. Geklagt hatte die spanische Gewerkschaft CCOO gegen die Deutsche Bank, damit in Zukunft die Überstunden korrekt ermittelt werden. Offenbar sind die häufig nicht nur unbezahlt, sondern werden in vielen Fällen auch nicht mit Freizeit ausgeglichen.

Dabei bleibt auch ganz ohne Überstunden am Ende der Arbeit wenig vom Tage übrig. Die beliebige Festlegung auf eine werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden sorgt dafür, dass Erwerbstätige in sogenannter Vollzeit während der meisten Stunden ihres wachen Lebens direkt oder indirekt mit ihrem Job befasst sind.

Eine Woche umfasst insgesamt 168 Stunden. Bei acht Stunden Schlaf pro Nacht bleiben noch 112 Stunden, von denen 40 für die Nettoarbeitszeit draufgehen. Der durchschnittliche Arbeitsweg beträgt in Deutschland 30 Kilometer. Für Hin- und Rückweg ergibt sich damit, vorsichtig kalkuliert, eine Stunde pro Tag, also fünf Stunden pro Woche.

Nach dem Aufstehen brauchen die meisten für Duschen, Frühstück und Organisatorisches etwa eine Stunde, um sich auf die Arbeit vorzubereiten. Wer Kinder hat, wird diese Zeit deutlich überschreiten. Zieht man dann noch die Zeit ab, die nötig ist, um die Arbeitskraft im Sinne der Arbeitgeber zu reproduzieren – also Mittagspause, Einkaufen, Sport, Kochen, Essen – dann bleibt für soziale Kontakte, Kultur oder Hausarbeit weniger wache Zeit, als wir insgesamt für Ermöglichung und Ableistung der Erwerbsarbeit aufwenden müssen.

In der Rechtsordnung ist die Arbeit ein Nebenschauplatz. Viele europäische Staaten, auch Deutschland, haben kein Arbeitsgesetzbuch. Alle Versuche, ein solches für die Bundesrepublik zu etablieren, sind an den Interessengegensätzen der Beteiligten gescheitert. Es sagt viel aus über eine Gesellschaft, wenn ein so raumgreifender Bestandteil des Lebens in verschiedenen Rechtsquellen zersplittert ist. Das Fehlen eines Arbeitsgesetzbuches deutet darauf hin, dass der Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital auch heute bedeutsam ist.

Viele Beschäftigte bemerken diesen Widerspruch kaum mehr. In den unteren Segmenten des Arbeitsmarktes ist es die Angst vor Hunger und Obdachlosigkeit, die einen die Arbeitsdespotie vergessen lässt. In den mittleren und höheren Sphären sind es Wohlstandsversprechen, Anerkennungsdrang und Arbeitsethik, die den Weg zur Knechtschaft ebnen. Geeint sind Arme und Selbstverwirklicher in der Einsicht, dass wir nicht nur vom Brot leben, wie Marcel Reich-Ranicki wusste: ,,Geld allein macht nicht glücklich. Aber es ist besser, in einem Taxi zu weinen als in der Straßenbahn."


Aus: "Was vom Tage übrig bleibt" Christian Baron (Ausgabe 30/2019)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/cbaron/was-vom-tage-uebrig-bleibt (https://www.freitag.de/autoren/cbaron/was-vom-tage-uebrig-bleibt)

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Senneka | Community

...und wir werden früh daran gewöhnt, mit verschärften Mitteln, so dass uns der Arbeitsalltag sogar manchmal wie eine Befreiung vorkommt. Wir müssen uns schon als ganz junge Menschen täglich etwa sechs, sieben Stunden in einem Gebäude aufhalten, dass wir uns nicht aussuchen können. Dort werden wir in einer strengen Hierarchie für die Arbeitswelt geformt und lernen gleichzeitig, dass die jungen Menschen, die neben uns das gleiche Schicksal teilen, unsere schärfsten Konkurrenten sind, die es auszustechen gilt.


Quote
Zack | Community

,,Unser Leben ist der Mord durch Arbeit,
wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zappeln,
aber wir werden uns losschneiden."

(Georg Büchner, Dantons Tod, 1835)

"Die Liebe zur gut durchgeführten Arbeit und der Wunsch nach einem Vorwärtskommen in der Arbeit sind heute unauslöschliche Zeichen von Stumpfheit und allerdümmster Unterwerfung.
Deswegen bahnt sich überall dort, wo Unterwerfung gefordert wird, der alte ideologische Furz seinen Weg,
von dem "Arbeit macht frei" der Konzentrationslager bis zu den Reden von Henry Ford und Mao Tse-Tung."

(Raoul Vaneigem , Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen, 1967)

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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on September 12, 2019, 10:15:13 AM
Quote[...] Schon mit seinem ersten Buch aus dem Jahr 2013 ,,Das Kapital im 21. Jahrhundert" sorgte der französische Wirtschaftsprofessor Thomas Piketty weltweit für Aufsehen. Vor allem in den USA war seine These, dass unregulierter Kapitalismus immer zu Vermögensungleichheit führt, hoch umstritten. Nun hat er nachgelegt. Sein neues Werk erscheint am heutigen Donnerstag in Frankreich und trägt den Titel ,,Capital et Idéologie" (zu deutsch: Kapital und Ideologie). Es ist ein ehrgeiziges Werk von 1232 Seiten. Und wieder spart Piketty nicht an radikalen Forderungen.

,,Ich schlage vor, dass wir das Privateigentum hinter uns lassen und zum sozialen und temporären Eigentum übergehen." Was für ihn aber keinesfalls Kommunismus bedeutet, sondern ein bessere Verteilung des Reichtums. Der Franzose, Forschungsdirektor an der Schule für Sozialforschung EHESS und Wirtschaftsprofessor am Ecole d´économie in Paris, sieht Ungleichheit als ideologisch und politisch bestimmt und damit gewollt.

Pikettys erstes Werk wurde in 40 Sprachen übersetzt und mehr als 2,5 Millionen Mal verkauft. ,,Capital et Idéologie" bezeichnet der Autor selbst im Vorspann als eine Fortsetzung. Er betont: ,,Es ist Zeit, den Kapitalismus zu überwinden." Reichtum solle nicht mehr nur in den Händen weniger sein, das Kapital müsse besser verteilt werden. Er zeigt unter anderem mit Grafiken, dass ab den 1980er Jahren die Reichen immer reicher wurden. Das Buch ist eine Geschichte der Ungleichheit auf wirtschaftlicher, sozialer, intellektueller und politischer Ebene von frühen Sklavengesellschaften bis zu den heutigen modernen kapitalistischen Formen.

Pikettys Tenor dabei: Der Kampf für Gleichheit und Bildung war es, der die wirtschaftliche Entwicklung und den menschlichen Fortschritt gefördert hat, nicht der Besitz. Er plädiert für einen neuen Sozialismus, in dem Mitbestimmung herrscht. Für ihn ist das eine neue Gleichheit, sozialer, in der alle das gleiche Recht auf Bildung haben, die Macht besser verteilt ist und niemand zu viel Eigentum anhäufen kann.

Obwohl es auf trockenen Zahlen beruht, konnte Piketty mit dem ersten Werk eine große Leserschaft erreichen. Er selbst glaubt fest daran, dass Buch Nummer zwei ihm noch besser gelungen ist. Dem Magazin ,,L'Obs" sagte er: ,,Ich habe Fortschritte gemacht." Er habe noch mehr Material gesammelt. Deshalb brauche er noch ein paar Seiten mehr. Dass das Thema Wirtschaft die große Leidenschaft des heute 48-Jährigen ist merkt man. Auf Basis vieler Forschungsergebnisse und Zahlen leitet er konkrete Tipps für Änderungen der Wirtschaftsordnung ab. Und er könnte damit durchaus Gehör finden; viele politisch eher links Beheimatete schwören auf ihn, so auch der Ex-US-Präsident Barack Obama.

Besitz ist für Piketty dabei heute so etwas wie eine heilige Kuh. ,,Die Sakralisierung des Eigentums ist eine Art Antwort auf das Ende der Religion." Es fülle die Leere. Da Piketty aber ein pragmatischer Ökonom und kein Idealist ist, will er den Kapitalismus nicht abschaffen, sondern eben nur geschickt ,,überwinden". Privateigentum soll nicht abgeschafft werden, sondern umgewandelt werden, sozial werden und nicht mehr auf alle Ewigkeit in den Händen weniger verbleiben.

Dazu kommen vor allem im letzten Teil des Buches die konkreten Beispiele: Kein Aktionär soll an börsennotierten Firmen mehr als zehn Prozent der Stimmrechte halten dürfen – so wird der Besitz eingeschränkt. Piketty schlägt außerdem eine progressive Vermögenssteuer ab 100.000 Euro vor, die für Milliardäre dann 90 Prozent betragen soll. Das habe es nach dem ersten Weltkrieg schon in den USA gegeben, rechtfertigt sich Piketty. Damit will er die abgehobene Luxuswelt der Milliardäre zerschlagen.

Das Geld aus der Reichensteuer will er für eine ,,Universalkapitalausstattung" verwenden, eine Art Grundeinkommen für alle. Alle Französinnen und Franzosen sollen – sobald sie 25 Jahre alt werden – 120.000 Euro erhalten, damit sie Häuser kaufen und Firmen gründen können. Das ist in Paris nicht viel: damit kann man gerade mal zehn Quadratmeter erwerben. Privateigentum, das im Rahmen bleibt, sieht Piketty durchaus als vernünftige Motivation. Laut Piketty stört eine Reichensteuer das Wachstum keinesfalls. Im Gegenteil; in den Unternehmen plädiert er für mehr Mitbestimmung der Angestellten und bessere Verteilung der Macht, um auch die Bezahlung von Spitzenmanagern transparenter zu machen.

Im Gegensatz zu Präsident Emmanuel Macron will er das Gesamtvermögen wieder versteuern. Macron war davon abgerückt und veranschlagt die Steuer nur noch auf Immobilien ab 1,3 Millionen Euro, nicht mehr auf Kapital. Das kritisiert Piketty im Interview mit ,,L'Obs": ,,Das wirkliche Ziel war, die Reichen zu schonen." In Deutschland soll das Buch am 11. März 2020 im Verlag C.H. Beck erscheinen.


Aus: "Thomas Pikettys zweites Buch: Der Star-Ökonom, der jedem Franzosen 120.000 Euro schenken will" Tanja Kuchenbecker (12.09.2019)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/thomas-pikettys-zweites-buch-der-star-oekonom-der-jedem-franzosen-120-000-euro-schenken-will/25005412.html (https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/thomas-pikettys-zweites-buch-der-star-oekonom-der-jedem-franzosen-120-000-euro-schenken-will/25005412.html)

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Quote[...] Zu Pikettys Rockstar-Status passt sein Wunderkind-Werdegang. Als Sohn eines Aussteigerpaars schaffte er es mit 18 an die Ecole Normale Supérieure in Paris, mit 22 doktorierte er an der London School of Economics, anschliessend wurde er Professor an einer dritten Elite-Uni, dem MIT in Boston. Heute ist er 48 und lehrt unter anderem an der Paris School of Economics, die er mitgegründet hat.

... In seiner Karriere beschäftigen Piketty bis heute zwei Dinge ganz besonders: erstens die Ungleichheit, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Und zweitens die Statistiken, die in den Archiven verstauben, aber eigentlich die mitreissende Weltgeschichte dieser sozioökonomischen Abgründe erzählen.

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Aus: "Starökonom fordert 90-Prozent-Steuer auf Milliardenvermögen" (10.09.2019)
Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/standardstaroekonom-fordert-90prozentsteuer-auf-milliardenvermoegen/story/29649023 (https://www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/standardstaroekonom-fordert-90prozentsteuer-auf-milliardenvermoegen/story/29649023)

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Quote[...] Im neuen Buch versucht er sich an einer weltweiten Geschichte ungleicher Gesellschaften, von der frühen Feudalzeit bis heute, und der Ideologien, die sie rechtfertigen sollten, von französischen Bischöfen des 11. Jahrhunderts bis zum chinesischen Parteiherrscher Xi Jinping.

Diesmal hebt Piketty allerdings hervor, dass es keine Zwangsläufigkeit ungerechter Verhältnisse gebe: Nach dem Zweiten Weltkrieg sei von Europa bis Amerika dank entschiedener Politiken zur Umverteilung die extreme Konzentration von Vermögen und Einkommen korrigiert worden. Gleichzeitig sei dies die dynamischste Phase wirtschaftlicher Entwicklung in den betreffenden Ländern gewesen.

Die intellektuelle Auslaugung der Sozialdemokratie, ihre mangelnde Antwort auf die Globalisierung, die Enttäuschung über den Kommunismus und dessen Ende in einem ,,kleptokratischen Hyperkapitalismus" macht Piketty dafür verantwortlich, dass es seit Ende der 80er-Jahre wieder zu einer Verschärfung der Ungleichheit und einer Rückkehr des Nationalismus kommen konnte.

Die Apologeten einer ,,Heiligsprechung des Eigentums" hätten freie Bahn gehabt. Das offiziell kommunistische China sei ,,innerhalb kurzer Zeit viel ungleicher geworden als Europa, eindeutig ein Scheitern des Regimes", schreibt Piketty mit detaillierten Statistiken als Beleg. Insgesamt aber fällt der Part über die postkommunistischen Staaten viel zu kurz aus.

Ausführlich behandelt der 48-Jährige dagegen seine Alternative, den ,,partizipativen Sozialismus". Damit dürfte er sich fast alle zum Feind machen, von den Anhängern eines reinen Kapitalismus bis zur harten Linken, die ihn umworben hat und deren Wahlkampagnen er in den vergangenen Jahren öfters unterstützt hat. Piketty spricht zwar von der ,,Überwindung des Kapitalismus", doch sein Rezept bedient sich ausdrücklich einiger Elemente der deutschen Sozialen Marktwirtschaft, besonders der paritätischen Mitbestimmung.

... Der Sozialismus à la Piketty ist eine Kombination aus einer weiterentwickelten Mitbestimmung, progressiven Vermögens- und Erbschaftsteuern und einem chancengerechten Bildungssystem unabhängig von der sozialen Herkunft.

Hinzu kommt eine andere Parteienfinanzierung, die den Einfluss finanzstarker Interessen auf die Demokratie stoppen soll. Schließlich will er Besteuerung und Parlamentarismus möglichst auf eine transnationale Ebene heben – ,,ein ideales, idyllisches Szenario", wie er selbst einräumt.

Mit seiner Lebensgefährtin Julia Cagé, deren Arbeiten er ausführlich zitiert, habe er in den letzten Jahren ,,die Welt neu erfunden", schreibt Piketty in der Danksagung. Hunderttausende Leser werden am Ergebnis teilhaben wollen. Ob der Idealist auch politischen Erfolg hat, steht auf einem anderen Blatt.


Aus: "Mit seinem neuen Werk macht sich Ökonom Piketty alle zum Feind – Linke wie Rechte" Thomas Hanke (12.09.2019)
Quelle: https://www.handelsblatt.com/politik/international/buch-capital-et-ideologie-mit-seinem-neuen-werk-macht-sich-oekonom-piketty-alle-zum-feind-linke-wie-rechte/25003506.html (https://www.handelsblatt.com/politik/international/buch-capital-et-ideologie-mit-seinem-neuen-werk-macht-sich-oekonom-piketty-alle-zum-feind-linke-wie-rechte/25003506.html)

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on October 26, 2019, 12:13:38 PM
Quote[...] Vor sechs Jahren löste Piketty mit seiner Studie über Das Kapital im 21. Jahrhundert viel Wirbel aus; nun macht ihn der neuseeländische Regisseur Justin Pemberton zur Hauptperson in seinem gleichnamigen Film. Eskortiert wird Piketty von Wirtschaftswissenschaftlern, die wie Flügeladjutanten seine Position absichern und ohne kritische Gegenregung eloquent ergänzen (ZEIT Nr. 43/19). Die Ausgangsthese ist schlagend und schlicht: Große Siege schaden dem Sieger, denn sie machen ihn glauben, der Weltgeist persönlich habe ihm auf die Sprünge geholfen. Ganz ähnlich war es 1989. Der Westen fühlte sich als Testsieger im Systemvergleich und glaubte, nun dürfe er all jene Ketten beseitigen, die "Gleichheitsfantatiker" einst dem Markt angelegt hatten. Wenn die kommunistische Alternative total falsch war, könne ein entfesselter Kapitalismus nur total richtig sein.

Das war, sagt Francis Fukuyama, ein Irrtum. Der Westen verkannte, dass der Kommunismus den Westen gezwungen hatte, die gröbsten Ungleichheiten zu bekämpfen. Doch selbst Sozialdemokraten hatten das vergessen und halfen mit, den Deregulierungswettlauf auf Touren zu bringen. Die Regeln für den Finanzkapitalismus wurden gelockert, und bald war es lukrativer, im Himmelreich der Spekulation Geld mit Geld zu verdienen, anstatt auf Erden riskant eine Fabrik zu errichten. Heute, behauptet der Film, dienen 85 Prozent des Kapitals großer Finanzinstitutionen rein spekulativen Zwecken.

Mit der Globalisierung, so will Pemberton zeigen, schwebt das Kapital gleichsam über den nationalstaatlichen Wassern und erholt sich in Steueroasen von der Mühsal, die es die Emanzipation von Sozialstaat und Gemeinwohl gekostet hat. Das ist schwer in Bilder zu fassen, mehrfach zeigt Pemberton, wie sich Luxusjachten in Luxushäfen den Platz an der Sonne sichern. Dann sieht man den Manager eines Internetriesen, der seine Steuervermeidungstricks beichten muss: "Und so landet das Geld auf den Bermudas?" Der Mann grinst abgründig. "Yes."

Mit der Entfesselung des Kapitals beginnt für Piketty die Tragik des Siegers. Nicht lange, und das System zeigt erste Risse, die Mittelschicht gerät unter Druck, die Armen bleiben arm – und im Jahr 2008 wäre der Casino-Kapitalismus beinahe vollständig zusammengebrochen: Millionen Bürger verlieren ihre Arbeit und müssen die Zeche zahlen, während die Schuldigen mit Boni-Millionen gefüttert werden. Leistung muss sich wieder lohnen.

Geändert hat sich seitdem wenig. In etlichen Ländern, erfährt der Zuschauer, besitzt ein Prozent der Superreichen siebzig Prozent des Vermögens, das war schon im Jahr 1914 so. In diesem Neo-Feudalismus wird der Reichtum vornehmlich vererbt, Geld heiratet Geld, und eine ständisch organisierte Managerklasse schanzt sich Privilegien zu. Dass sie wie die Made im Speck leben, mag man obszön finden. Doch dass sich die Milliardenfürsten Macht, Medien und Einfluss kaufen und so die Änderung der Verhältnisse verhindern können – das ist für Piketty und Pemberton das eigentlich Beunruhigende.

Vor der Französischen Revolution gehörte dem Adel fast alles; die Revolutionäre änderten das, aber sie waren, sagt Piketty, ziemlich verlogen und glaubten, es reiche aus, Gerechtigkeit nur zu predigen. Der feudalistische Geist, jedenfalls sein hässlicher Teil, überlebte die Revolution und wanderte mit dem Schlagstock durch die neuen Fabriken, hier durfte geprügelt, aber nicht gestreikt werden. Erschütternd sind die Dokumente, die zeigen, wie alte Herrschaftsformen mit dem Industriekapitalismus eine schlagende Verbindung eingehen, wie Sklaven als Humankapital gehandelt und misshandelt und als Deckungsreserve bei der Kreditvergabe eingesetzt werden.

Erst nach 1945 beginnen die westlichen Staaten, ihre Gleichheitsversprechen einzulösen. Unter den Augen der kommunistischen Konkurrenz bauen sie den Wohlfahrtsstaat aus, einen Kapitalismus for the many, not the few. Die Steuern waren hoch, die Aufstiegschancen ebenfalls. In einer alten TV-Aufzeichnung wird eine englische Politikerin gefragt, ob auch eine Frau Premierministerin werden könne. "Bestimmt", antwortet die Lady, "doch ich selbst werde das nicht mehr erleben." Es war Margaret Thatcher.

Gut dreihundert Jahre lässt Pemberton auf seiner Zeitreise Revue passieren, für ihn ist der Kapitalismus Schönheit und Biest zugleich, atemberaubend kreativ und ein Erfinder herrlicher Dinge – doch wehe, er bricht zusammen. Piketty hat Angst vor brutalen sozialen Spaltungen, und die Stimmen, die der Film versammelt, haben das auch. Kate Williams, Suresh Naidu, Paul Mason, Gabriel Zucman, Joseph Stiglitz und viele andere sind Meister darin, die Dinge klar und klug zu erklären und den Nagel auf den Kopf zu treffen. Und doch beschreibt der Film die Welt simpler, als sie ist, wobei die überhastete Clip-Ästhetik ironischerweise an jene visuellen Geschmacksverstärker erinnert, mit der einst der Neoliberalismus in die Köpfe getackert wurde. "Piketty to go" sei das, lästert die SZ, und es stimmt: Wer allen verständlich sein will, der macht seinen Gegenstand unverständlich. Etliches wird nur behauptet, zum Beispiel die These, dass Klassenkämpfe schon zweimal in kulturellen Nationalismus überführt wurden und einen Weltkrieg auslösten.

Anders als der Film hofft, ist Piketty kein Revolutionär, er will nur den Markt besser regulieren und den Eigentumsbegriff ändern. Man sieht kitschige Bilder aus einer glücklichen Nachkriegszeit, als der Laden noch brummte. Das ist ein linker Wachstumsglaube, der sich die Frage erspart, ob er die Natur nicht genauso ausbeutet wie der Marktfundamentalismus, dem er den Kampf ansagt.


Aus: ""Das Kapital im 21. Jahrhundert": Der neue Adel" Eine Rezension von Thomas Assheuer (23. Oktober 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/2019/44/das-kapital-im-21-jahrhundert-dokumentarfilm/komplettansicht (https://www.zeit.de/2019/44/das-kapital-im-21-jahrhundert-dokumentarfilm/komplettansicht)

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on November 03, 2019, 02:20:24 PM
Quotewütend.com #6

"Abeitgeberverband warnt Union vor teurer Grundrente"

Das Kapital macht Politik


Kommentar zu: "Große Koalition: Arbeitgeberverband warnt Union vor teurer Grundrente" (3. November 2019)
Die SPD will keine Bedürftigkeitsprüfung, die CDU mindestens eine Einkommensprüfung. Wie soll die Grundrente aussehen? Der Arbeitgeberverband warnt vor hohen Kosten.
https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-11/grosse-koalition-grundrente-arbeitgeber-union-beduerftigkeitspruefung (https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-11/grosse-koalition-grundrente-arbeitgeber-union-beduerftigkeitspruefung)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik ...
Post by: Link on November 08, 2019, 10:05:45 AM
Quote[...] Wer prüft eigentlich, ob sich Banken und Finanzdienstleister an Gesetze halten? Eine Behörde namens BaFin. Die aber sei zu mutlos, sagt der Finanzexperte Gerhard Schick.
Interview: Caterina Lobenstein


... Schick: Die BaFin ist oft zu mutlos. So wie man sich fragen kann, warum der Dieselskandal bei VW von amerikanischen Behörden aufgedeckt wurde und nicht von deutschen, kann man sich fragen, warum die Skandale bei der Deutschen Bank von amerikanischen und britischen Aufsichtsbehörden untersucht wurden. Der BaFin mangelt es am Willen, wirklich aufzuräumen. Selbst da, wo es Hinweise auf kriminelle Geschäfte gibt.

ZEIT ONLINE: Wo zum Beispiel?

Schick: Wir haben es auf dem Kapitalmarkt mit einer Serie von Skandalen zu tun. Etwa bei der Investmentfirma P&R, bei der rund 54.000 Anleger in Schiffscontainer investiert haben, die es zu einem großen Teil gar nicht gab. Das war ein riesiges Schneeballsystem mit einem Anlagevolumen von über drei Milliarden Euro, davon sind wohl zwei Milliarden für immer verloren. Schon vor Jahren hat ein Journalist vor den Geschäften gewarnt. Da hätte die BaFin nachhaken müssen. Oder der Cum-Ex-Skandal, der größte Fall von Finanzkriminalität und Steuerraub in der Geschichte unseres Landes. Auch da gab es schon 2007 erste Hinweise von einem Whistleblower. Die hat die BaFin aber ins Leere laufen lassen. Nach jedem Skandal heißt es: Es muss besser reguliert werden. Und nach jedem Skandal kann man zwei Sachen feststellen: dass die Regeln nicht hart genug sind. Und dass die BaFin die bestehenden Regeln nicht hart genug umsetzt und ihre Möglichkeiten nicht nutzt.

ZEIT ONLINE: Die BaFin hat im vergangenen Jahr laut eigener Auskunft Bußgelder von insgesamt mehr als 13 Millionen Euro verhängt. 

Schick: 13 Millionen, das ist die Gesamtsumme! Die amerikanischen Aufsichtsbehörden verhängen ein einzelnes Bußgeld in dieser Größenordnung. In den USA gibt es Milliardenstrafen für die Banken. In Deutschland gibt es praktisch nichts.

ZEIT ONLINE: Woran liegt das?

Schick: Ich glaube, ein Grund dafür ist die Kultur der BaFin. Viele Mitarbeiter denken, dass sie dann gute Aufseher sind, wenn sie sich mit den Bankern gut verstehen, wenn sie kooperativ sind. Meines Erachtens ist das ein völlig verfehlter Ansatz. Die Steuerverwaltung sagt doch auch nicht: Wir kuscheln mal mit dem Bürger und unterhalten uns nett mit ihm, damit er uns Auskunft gibt. Sie fordert die Unterlagen an, sie setzt eine Frist, und wenn die nicht eingehalten wird, dann gibt es eine Strafzahlung. Öffentliche Verwaltung kann schon knackig sein. Und das vermissen wir bei der Finanzaufsichtsbehörde. Sie muss klar und transparent im Auftrag der Verbraucher handeln.
ZEIT ONLINE: Der Verbraucherschutz wurde bei der BaFin in den letzten Jahren gestärkt.

Schick: Aber er spielt immer noch eine untergeordnete Rolle. Die Abteilung für Verbraucherschutz ist viel zu schwach besetzt. Nehmen wir den Bereich der Bankenaufsicht: Da versucht die BaFin vor allem zu vermeiden, dass Banken umkippen und dann vom Steuerzahler gerettet werden müssen. Das ist erst mal richtig. Aber es führt dazu, dass sich die Behörde scheut, hart durchzugreifen, denn das könnte die Banken gefährden. Verbraucherinteressen sind oft nicht gut für die Ertragslage der Banken. Man verhängt nicht so gern eine Strafzahlung – weil das eine Bank Millionen kostet.

ZEIT ONLINE: Als die Finanzkrise ausbrach, stand die BaFin schon einmal massiv in der Kritik. Hat sich seitdem in Ihren Augen gar nichts verbessert?

Schick: Doch, natürlich. Zum Beispiel wurde die Aufsicht über die großen Banken auf die Europäische Zentralbank übertragen. Das ist ein großer Fortschritt. Außerdem kann die BaFin heute höhere Bußgelder verhängen und Finanzprodukte sogar verbieten. Sie tut es aber oft nicht. Ein Beispiel: Die BaFin wollte Bonitätsanleihen verbieten, das sind komplexe Produkte, die einem Kleinanleger eigentlich nicht angeboten werden sollten. Dann aber kam der entsprechende Derivateverband mit einer wachsweichen Selbstverpflichtungserklärung – und die BaFin zog das Verbot zurück.

ZEIT ONLINE: Ist die Nähe zwischen Finanzaufsicht und Finanzindustrie zu groß?

Schick: Ja. Das ist definitiv ein Problem. Das ist das, was wir in der Wissenschaft regulatory capture nennen.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet das?

Schick: Dass Aufsichtsbehörden häufig vereinnahmt werden durch die Branche, die sie beaufsichtigen sollen: Das Kraftfahrzeugbundesamt wird zum Vertreter der Automobilindustrie in Berlin statt zum Kontrolleur im Auftrag der Bürgerinnen. Dasselbe findet bei der Finanzaufsicht statt. BaFin-Mitarbeiter und Banken arbeiten oft über Jahre an denselben Themen, treffen sich auf denselben Konferenzen, vielleicht gehen ihre Kinder in dieselben Schulen wie die der Bankerinnen.

ZEIT ONLINE: Das allein ist aber noch nicht verwerflich.

Schick: Aber die Gefahr einer zu großen Nähe gibt es, und gegen die muss man vorgehen als Behördenleitung. Wir wissen aus der Forschung, dass die Einflussnahme immer dort besonders groß ist, wo der Staat versucht, sehr stark einzugreifen. Also zum Beispiel auf dem Finanzmarkt.

ZEIT ONLINE: Wie viele Finanzlobbyisten gibt es in Deutschland?

Schick: Wir kennen die Zahl nicht. Wir haben in Deutschland kein Lobbyregister wie in der Europäischen Union. In Brüssel gibt es etwa 1.700 Finanzlobbyisten. Ich rechne damit, dass es in Deutschland nicht viel weniger sind.

ZEIT ONLINE: Wie gut sind die Beamten der BaFin ausgebildet? Können die einem Lobbyisten oder einem Banker auf Augenhöhe begegnen?

Schick: Es gibt richtig gute Mitarbeiter bei der BaFin. Und es gibt durchaus auch welche, die würden gern härter zupacken. Die Vorstellung, dass beim Staat nur Doofe sitzen, die stimmt nicht. Ein großes Problem ist aber, dass die BaFin oft nicht ihre eigenen Leute in die Banken oder Versicherungen schickt, sondern Wirtschaftsprüfungsgesellschaften beauftragt. Deshalb sammelt sich bei der BaFin nicht so viel Know-how. Es ist ein Unterschied, ob man selbst in einer Bank die Bücher prüft und die Dateien und Excel-Sheets durchforstet oder ob man nur einen Bericht darüber liest. Die FDIC, ein amerikanisches Pendant zur BaFin, macht das anderes, die prüft nur mit eigenem Personal.

ZEIT ONLINE: Die BaFin hat aber 2018 sogar einen Sonderbeauftragten in die Deutsche Bank geschickt, der tagtäglich dort sitzt und aufpassen soll, dass keine weiteren Geldwäscheskandale passieren.

Schick: Ja. Aber genau dieser Sonderbeauftragte ist kein BaFin-Mitarbeiter, sondern er kommt von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG. Das ist insofern pikant, weil KPMG über viele Jahre der Abschlussprüfer der Deutschen Bank war. Die KPMG überprüft da also auch ihre eigene Tätigkeit. Wie soll da am Ende ein wirklich neutrales Ergebnis rauskommen?

ZEIT ONLINE: Es hat auch Vorteile, wenn ein Insider die Kontrollen vornimmt – und nicht ein Beamter, der an seinem Schreibtisch sitzt und noch nie eine Bank von innen gesehen hat.

Schick: Ja, das klingt erst mal plausibel. Aber wenn Sie rauskommen wollen aus der Behördenmentalität, brauchen Sie den Blick in die Praxis. Über die Jahre zahlt es sich für den Staat aus, die Kompetenz selbst aufzubauen. Die Betriebsprüfer in der Steuerverwaltung machen das ja auch. Wenn die eine Bank prüfen, wissen sie genau, wo sie hingucken müssen. Ich erwarte, dass sich auch die Finanzaufsichtsbehörde die Finger schmutzig macht.

ZEIT ONLINE: Hat die BaFin dafür genug Personal?

Schick: Sie bräuchte dafür tatsächlich mehr Personal, aber das würde nicht mehr kosten, denn die Wirtschaftsprüfer müssen ja auch bezahlt werden.

ZEIT ONLINE: Wie soll die BaFin gute Leute finden, IT-Spezialisten zum Beispiel, wenn die Banken ihnen locker das Doppelte zahlen?

Schick: Ich bin dafür, dass man für solche Spezialisten mehr zahlt als im starren Tarifrahmen vorgesehen. Man darf bei der Finanzaufsicht nicht am Gehalt sparen. Wenn ein guter Aufseher verhindert, dass eine Bank in die Schieflage kommt und danach mit Steuergeld gerettet werden muss, so wie gerade die Nord/LB mit 3,6 Milliarden Euro, dann ist es das wert.

ZEIT ONLINE: Die BaFin untersteht dem Finanzministerium. Warum sorgen die Politiker in Berlin nicht dafür, dass die Prüfer in Frankfurt und Bonn genauer hinsehen?

Schick: Die Schwächen der BaFin gehen letztlich auf den mangelnden politischen Willen zurück, die Behörde so aufzustellen, dass sie wirklich im Interesse der Bürgerinnen arbeitet. Und viele Abgeordnete nehmen ihre Aufgabe, die Administration zu überprüfen, zu wenig ernst.

ZEIT ONLINE: Sie waren selbst Bundestagsabgeordneter. Wie erklären Sie sich das?

Schick: Sich da wirklich reinzufuchsen, das dankt Ihnen niemand im politischen Betrieb. Wenn Sie Steuersenkungen fordern, kommen Sie groß raus, das leuchtet allen ein. Aber das viele Geld, das die Leute verlieren, weil es miese Finanzprodukte gibt, das sieht oft keiner. Das ist mühsame Behördenkontrollarbeit, und die ist nicht so schlagzeilenträchtig.

ZEIT ONLINE: Braucht es schärfere Gesetze?

Schick: Ja, an vielen Stellen. Ich würde mir beispielsweise wünschen, dass die BaFin bei den Direktinvestments, also bei Geschäften wie denen mit den Schiffscontainern, mehr Kompetenzen bekäme. Und es reicht nicht, die Kundenprospekte formal zu überprüfen, es braucht auch einen Blick auf das Geschäftsmodell.

ZEIT ONLINE: Ist das nicht die Aufgabe der Kunden: sich das Geschäftsmodell anzuschauen?

Schick: Der Kunde hat eine Verantwortung, er sollte zum Beispiel schauen, ob das Renditeversprechen überhöht ist. Aber oft kann er gar nicht wissen, ob er gezielt ausgetrickst wird. Er kann nicht selbst überprüfen, ob es die Container, in die er investiert, wirklich gibt oder wie alt sie sind. Das können nur Experten. Er kann nicht wissen, ob die Gelder einer Pensionskasse für die Altersvorsorge in fünf oder zehn Jahren noch ausreichen. Dazu muss man Versicherungsmathematiker sein. Das ist, wie wenn Sie in ein Restaurant gehen: Sie können sehen, ob die Tische sauber sind, ob es gut riecht, ob der Salat frisch ist. Aber sie können nicht sehen, ob es in der Küche Salmonellen gibt. Dafür gibt es eine Gewerbeaufsicht.

ZEIT ONLINE: Die BaFin ist eine nationale Behörde. Der Finanzmarkt aber umspannt die ganze Welt. Kann ein einzelner Staat ihn überhaupt zähmen?

Schick: Es wird häufig unterschätzt, wie viel man immer noch auf der nationalen Ebene machen kann. Nehmen wir den Skandal um die Danske-Bank. Das ist ein internationaler Geldwäscheskandal, bei dem es um die estnische Tochtergesellschaft einer dänischen Bank geht, die für bestimmte Überweisungen die Deutsche Bank eingesetzt hat. Hätte die BaFin richtig hingeschaut, hätte die Deutsche Bank diese Rolle in dem Skandal nicht spielen können. Natürlich kann eine Aufsichtsbehörde nie alles sehen, der Wissensvorsprung der Finanzindustrie ist gewaltig. Und natürlich ist nicht die BaFin unser Gegner, sondern es sind die Banken, die schlechte Geschäfte machen, die Fonds, die die Leute über den Tisch ziehen. Wir wollen eine Diskussion über die Qualität der Finanzaufsicht in Deutschland anstoßen, auch mit der BaFin selbst. Dort ist ja nicht alles schlecht. Aber der Verbesserungsbedarf ist eklatant.   


Aus: "Gerhard Schick: "In den USA gibt es Milliardenstrafen für Banken. Hier fast nichts"" (7. November 2019)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-11/gerhard-schick-bafin-banken-finanzaufsicht-verbraucherschutz-lobbyismus/komplettansicht (https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-11/gerhard-schick-bafin-banken-finanzaufsicht-verbraucherschutz-lobbyismus/komplettansicht)

QuoteDrkdD #15

Der Bundesfinanzminister entscheidet letztendlich. Und Schäuble und Scholz gehören nicht zu denen die den Banken ans Beins pinkeln wollen. Eher im Gegenteil.


QuoteBenjowi #11

Es gibt eine relativ einfache Erklärung für all die Ungereimtheiten, die sowohl im Finanz- als auch in den Kfz-und Landwirtschaftsbereichen ablaufen: Dieses Land mit seinen "Kontrollbehörden" leidet ganz klar unter institutioneller Korruption. Die Behörden würden vielleicht schon wollen, aber spätestens wenn das vorgesetzte Ministerium davon erfährt, kommt der Deckel drauf.  ...


QuoteEtaork #17

Na wen man sich von Lobbyverbänden des Finanzwesens ganze Gesetzestexte erstellen lässt und sie dann Wort für Wort übernimmt , der braucht auch in der Bafin oder sonstigen Aufsichtsbehörde keine Contra Geber , da wird halt so besetzt das der Dieb den Räuber beschützt:)

Herr Scholz :) -------- wichtigster Berater kommt von Goldman-S aber passt schon.

Das Denken des Bundestags, das es dem Kapital verpflichtet, ist widerspricht absolut dem Grundgesetz, da steht was von den Bürgern und Bürgerinnen drin aber nix davon das dieses nur jene mit entsprechenden Kontostand sind, sondern alle.


QuoteAugenaufundMitreden #19

... Siehe EX-CUM-Geschäfte, wo die Politik trotz massiver Hinweise jahrelang zugeschaut hat. ...


QuoteBotbauer #22

Lobbyismus ist in seiner heutigen Ausprägung nichts weiter als professionalisierte legalisierte Korruption.
Finanzkrisen, Dieselskandal, CumEx... das kann alles nur passieren wenn Regulierung und Aufsicht fehlt.


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on November 14, 2019, 10:40:26 AM
Quote[...] Quinn Slobodian ist Historiker und Autor des Buches Globalists: The End of Empire and the Birth of Neoliberalism. In Ausgabe 30/2019

... Pinochet, Thatcher und Reagan mögen tot sein. Doch die Kennzahlen für wirtschaftliche Freiheit halten das neoliberale Banner weiter in die Höhe, indem sie die Ziele sozialer Gerechtigkeit in alle Ewigkeit als unrechtmäßig verschreien und die Nationalstaaten dazu drängen, sich einzig als Wächter der wirtschaftlichen Macht zu betrachten. Stephen Moore, der zu Beginn des Jahres einmal als Trumps Favorit für den Posten im Vorstand der US-Notenbank gehandelt worden war, formulierte es in einem Interview ganz einfach: ,,Kapitalismus ist wesentlich wichtiger als Demokratie. Ich glaube nicht einmal besonders an Demokratie."


Aus: "Wacht auf, Verdammte dieser Erde" Quinn Slobodian (2019)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/wacht-auf-verdammte-dieser-erde

Quotedissident | Community

Der Neoliberalismsu heisst neuerdings nicht mehr Neoliberalismus.
Seit den Chile-Demonstrationen gibt es ein neues wording.
Der Neoliberalismus heisst jetzt ULTRAliberalismus.


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on November 25, 2019, 05:01:18 PM
"Geldpyramiden bauen oder eine lebenswerte Gesellschaft?" Rob Kenius (25. November 2019)
... Wir wollen noch einmal in Gedanken in das alte Ägypten zurückkehren und nehmen an, einer von uns lebte dort und hätte die Fähigkeit zur Systemkritik. Ihm käme die Erkenntnis, dass der Kult, den Priester und Beamte, Königshaus und Staatsgewalt betreiben, unsinnig ist, weil die Früchte der Arbeit den lebenden Menschen entzogen sind, um damit einen Totenkult zu betreiben. Was könnte jemand, der das erkannt hat, tun? ... Trotzdem sind wir alle auch Teil dieser Maschine, sobald wir nur Geld in die Hand bekommen und es wieder ausgeben, und wir sind Teil des imaginären Staates Pecunia, der den Bau von Geldpyramiden auf vielfältige Weise begünstigt. Wir stecken in dieser sinnlosen Mühle, die einen Stoff produziert, der uns heilig ist, obwohl wir schon viel zu viel davon haben. ...
https://www.heise.de/tp/features/Geldpyramiden-bauen-oder-eine-lebenswerte-Gesellschaft-4581488.html

Quote

Rob Kenius ist Diplom-Physiker und hat vorwiegend als Selbständiger im Medienbereich gearbeitet. Seit 2012 gestaltet er als systemkritischer Autor die Webseite kritlit.de.

Literatur:

Michael Hudson, Der Sektor.
Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert
Rob Kenius: Leben im Geldüberfluss



Quote[...] oberham, 25.11.2019 14:55

Der heutige Totenkult spiegel sich wohl ähnlich in nutzloser Gigantomanie, doch heute spielen wir, wie der Autor richtig bemerkt, freiwillig mit, am Bau der Pyramiden aus Geld.

Wir werden demnächst wohl gar einen Kanzler wählen, der praktisch ein Soldat der neuen Arrondierung von Geld und Wohlstand ist, ein Knecht der Megavermögenden, die heute schon die Staaten zu nichts weiter als Ställen gestalten, in welchen die gewöhnlichen Menschen sich dem Verteilungskampf hingeben und ihre Leben eben an die Gewinner opfern, hoffend, selbst zu Gewinnern zu werden.

Es nützt nichts, zu erkennen, dass wir ein selbstzerstörerischer Haufen von Wettkämpfern sind, die sich letztlich von einer winzigen Minderheit nutzen und melken lassen, wenn wir doch weiter devot unser Haupt senken, damit sie aus unserer Würdelosigkeit ihren Profit treiben, da wir noch andere unter unseren Füßen fühlen, die uns den Boden bieten, selbst zumindest noch über dem Morast zu taumeln.

Würden wir uns diesem Spiel verweigern, wäre es eben schnell zu Ende, doch jene wenigen, die es tun, sich zu verweigern, sei es durch Selbstmord oder Askese, manche gar durch die Etablierung kleiner sozialer Inseln, Kleinode der Menschlichkeit, die irgendwo in der Masse der Milliarden versteckt existieren mögen, sind schlicht seit Jahrtausenden zu wenige.

Die Massen gehorchen und unterwerfen sich, entweder geschmiedet an Ketten, gebeubt durch rohe Gewalt und Angst oder eben durch das Verwöhnarmoa des Massenkonsums und der Betäubung durch Drogen und mehr oder weniger anspruchsvolle Kultur. Es wird just in dem Moment keine Massen mehr geben, sobald die Technik diese überflüssig und sämtliche Wünsche der "Eliten" erfüllbar macht.

Der Text bietet ein klares Bild, in meinen Augen spiegelt es auch meine Sicht der Dinge, ich sehe mein Leben und die Welt seit etwa 30 Jahren so, mit jedem Tag bestätigt es sich weiter, wird es klarer und schärfer.

Ich finde meinen Trost in der Bedeutungslosigkeit, letztlich ist es völlig gleichgültig, ob der Mensch nun existiert oder nicht, interessant wäre hingegen, ob die physikalischen Theorien nur unser geistiger Halt, oder ein Stück ewiger Gültigkeit besitzen, welcher Ladungsimpuls nun einen Gedanken kreiert, der Ionenbindungen bildet, die durch Raum und Zeit gleiten, in harmonischer Anziehung, wer weiß, vielleicht empfinden sie Glück?

Das Posting wurde vom Benutzer editiert (25.11.2019 14:58).


https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Geldpyramiden-bauen-oder-eine-lebenswerte-Gesellschaft/Der-heutige-Totenkult/posting-35664225/show/ (https://www.heise.de/forum/Telepolis/Kommentare/Geldpyramiden-bauen-oder-eine-lebenswerte-Gesellschaft/Der-heutige-Totenkult/posting-35664225/show/)

QuoteXira Arien, 25.11.2019 14:47

Re: wohlgemeint

Es begann vor etwa 30 Jahren. Als sich der Ostblock auflöste, musste das "Schaufenster des Westens", das die BRD damals war, nicht mehr so hübsch dekoriert werden, und man begann nach und nach die schönen Auslagen abzuräumen.
Die soziale Marktwirtschaft, oder der "rheinische Kapitalismus" wurde Stück für Stück demontiert und man schaufelte ohne Scham die Knete von unten nach oben, z. B. mit üppigen Steuersenkungen.
Seitdem befinden wir uns in rasanter Talfahrt. Ziel ist das amerikanische Modell, dem wir uns schon sehr stark angenähert haben. Stück für Stück wird weiter demontiert. Viele wissen gar nicht mehr, das es früher mal besser war, weil sie es nie erlebt haben.
Die Frösche merken nicht, wie das Wasser langsam zum Kochen gebracht wird.


QuotePulitzerpreisträger, 25.11.2019 13:13


Die entscheidende Frage ist ja, was wird mit dem Geld gemacht. ...


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on January 12, 2020, 04:21:10 PM
Quote[...] Schriftsteller Philipp Weiß war viele Wochen in Chile unterwegs: Teil zwei einer Erzählung über Ungleichheit, Gewalt und die Möglichkeit der Solidarität
Philipp Weiß,12. Jänner 2020


Am 27. Tag meiner Reise erreiche ich Chile. Ich komme aus dem Norden, von den Hochlandsteppen des peruanischen Altiplano hinab in die chilenische Atacama, die trockenste Region der Erde, eine Millionen Jahre alte Wüste im Regenschatten der Anden und meerseitig abgeschirmt durch den kalten Humboldtstrom, der die Wolkenbildung und damit jeden Niederschlag verhindert.

Es gibt Orte in dieser Wüste, in der seit Jahrzehnten kein Tropfen Regen gefallen ist. Die USA testen hier ihre Marssonden und die riesenhaften Parabol-Antennen der Radioteleskope beobachten durch den klarsten Nachthimmel des Planeten hindurch Millionen Lichtjahre entfernte Galaxien und Schwarze Löcher. Man fühlt sich dem Universum nahe hier.

Die Vergangenheit, so denken wir, ist das, was hinter uns liegt. In der Weltanschauung der indigenen Völker der Anden aber verhält es sich umgekehrt. Man blickt vorwärts in die Vergangenheit. Der Zukunft kehrt man den Rücken, denn man weiß nicht, was kommt. Laufen wir also – wie Walter Benjamins "Engel der Geschichte" – seit jeher rückwärts, blind und stolpernd, in die Zukunft? Umgeben von den Anden, in einem Land im Aufruhr, das sich in der schwersten sozialen und politischen Krise seit Jahrzehnten befindet, fühle ich, dass ich es den andinen Völkern gleichtun muss. Ich will aus der wirren Gegenwart vorwärts in die Vergangenheit blicken, um auf diese Weise vielleicht zu verstehen, was um mich herum geschieht.

Am 18. Oktober 2019 hört man in Santiago den metallischen Lärm der Cacerolazos. Man schlägt mit Kochlöffeln auf die symbolisch leeren Töpfe und, so erzählt mir später ein Dichter, die Tauben erheben sich erschrocken über die Stadt. Eine Oase der Ruhe und der politischen Stabilität, so nennt der chilenische Präsident sein Land noch vor dem explosiven Ausbruch der Proteste. Die reichste Nation Südamerikas. Das Erfolgsmodell des freien Marktes. Ein wirtschaftliches Wunder.

Aus den Fenstern lehnen sich Kinder und Alte, klopfen auf Pfannen, Autos bilden hupende Korsos, die Mengen auf den Straßen skandieren, pfeifen, singen alte Freiheitslieder, Barrikaden werden errichtet, die Straßen brennen. Wer ist es, der die Metrostationen zerstört, die Busse anzündet, die Supermärkte plündert? Als der öffentliche Verkehr zusammenbricht, sind es Millionen, die gehen, zwischen Wasserwerfern, Hoffnung, Rauch und Tränengas. Die Regierung schickt Soldaten und Panzer, der Multimilliardär im Kostüm des Präsidenten spricht von Krieg. In den folgenden Tagen werden Menschen von Polizei und Militär erschossen, überfahren oder zu Tode geprügelt. Woher kommt die Gewalt?

Jorge, ein Umweltaktivist der Lickanantay, jener Ureinwohner der Atacama, die über Hunderte Generationen der Kargheit und Dürre der Landschaft trotzend die kunstfertige San Pedro-Kultur hervorbrachten, erzählt mir in einer klaren Wüstennacht vom Pachakuti, der Zeitenwende. In der Kosmovision der Anden ist Pachakuti die Umstülpung des Ganzen, die im Tumult die Koordinaten von Raum und Zeit umkehrt. Das letzte Mal, erklärt mir Jorge, sei es zu einer solchen Inversion der Welt gekommen durch die Ankunft des weißen Mannes vor fünfhundert Jahren.

Eine mündliche Überlieferung allerdings berichte von einem noch ausstehenden Pachakuti, einer kommenden Revolution, die nach einer chaotischen, dunklen Periode des Übergangs die Koordinaten erneut wendend das Gleichgewicht des Kosmos wiederherstellen werde. "Vielleicht", sagt Jorge, "ist es das, was heute geschieht. In Lateinamerika erheben sich die indigenen Völker. Auf der ganzen Welt wird protestiert." Und seine Frau Loreto, eine während der Diktatur Pinochets im finnischen Exil geborene Chilenin, fügt lachend hinzu: "Was sind schon 500 Jahre der Repression, wenn man bereits vierzehn Jahrtausende an einem Ort überlebt hat? Wir halten durch!" Ihrer einjährigen Tochter haben die beiden einen Namen in Kunza gegeben, der während der Kolonialzeit verbotenen, darum ausgestorbenen Sprache der Lickanantay. Sie heißt – wie das kostbarste Gut der Wüste – Sairi: Regen.

Am nächsten Morgen besuche ich die Ruinen von Quitor, eine im 12. Jahrhundert, in einer Periode der extremen Dürre, zur Verteidigung der Wasserressourcen errichtete Festung auf einem Hang über der Oase von San Pedro de Atacama. Inkas und Lickanantay kämpften hier gemeinsam gegen die europäischen Eroberer und Ausbeuter, die Quitor zerstörten, die Köpfe der Unterlegenen abtrennten, auf Pfähle spießten und dieserart den gesamten Hang mit den Schädeln der Indigenen überzogen. Noch heute nennen manche den Ort die "Festung der Köpfe".

Würde man eine Geschichte der Ungleichheit Chiles schreiben wollen, man könnte sie in Quitor beginnen lassen und ohne Unterbrechung bis in die Gegenwart Chuquicamatas fortschreiben. Die Sedimente der Ungleichheit liegen hier offen, in diesem bis vor wenigen Jahren größten Kupfertagebau der Welt, einem gigantischen, im Verlauf von mehr als hundert Jahren über tausend Meter tief in die Erde gesprengten Loch. Diesem Loch verdankt Chile seinen Reichtum. Es klafft im größten Kupfererzkomplex des Planeten und auf der seit Jahrtausenden bewohnten Erde der Atacameños.

Über ein Drittel des in den Weltmärkten gehandelten Erzes stammt aus dieser Region. Und über die Hälfte aller Exporte des Landes sind Kupferkonzentrate. In Form von Stromleitungen überziehen sie unseren verkabelten Planeten. Loreto und Jorge warnen mich, bevor ich aufbreche: "Wenn du zu den Minen fährst, nimm eine Atemmaske mit! Die Menschen dort sind alle krank." Die Geburtsstadt Jorges wurde vom Loch geschluckt. Die Gesundheitsschäden waren zu groß, die Erzvorkommen unter den Häusern und Spielplätzen zu profitabel. "Wir sind beide Flüchtlinge", sagt Loreto. Bereits aus der Ferne sehe ich den tief stehenden, dunkelgrauen Nebel, der die Bergbaustadt Calama bedeckt, zeitweise so dicht, dass sie darunter verschwindet.

Eine Phantasmagorie der Wüste. Es sind die Schwefeldioxid- und Arsen-Emissionen der Kupferhütten, die sich als giftiger Schleier über die Dinge legen und in die Lungen der Menschen sickern. "Die kontaminierte Wolke weht von hier bis Argentinien, bis Bolivien und in den Amazonas Brasiliens", erklärt mir Claudio, ein Lickanantay, der selbst zehn Jahre im Bergbau gearbeitet hat und mich nun begleitet. Die Öfen der Kupferhütten brennen darum vor allem nachts, wenn man den Rauch nicht sieht.

Lange stehen wir auf der Anhöhe am Rand der Schnellstraße und blicken auf die Minen, beobachten die Schwerlaster, die im aufgewirbelten Staub das Gestein zu den Brecheranlagen oder den monströsen, wie Gebirge sich auftürmenden Abraumhügeln bringen. Für jede Tonne Kupfer entstehen 200 Tonnen Abfall. Die mich umgebende Landschaft, so begreife ich in diesem Moment, ist die Folge menschlicher Aktivität, einer Löcher sprengenden, Schneisen ziehenden und Berge aufschüttenden Emsigkeit des Anthropozäns. Die künstlichen Hügelketten und Abraumseen kontaminieren Böden und Flüsse mit Schwefelsäure, Arsen und Schwermetallen.

Noch schwerer aber wiegt in einer Weltgegend, in der zwanzig Mal weniger Regen fällt als in der Sahara, der infame Verbrauch des Wassers. Der Bergbau, allem voran die Aufbereitung und Raffination der Metalle, konsumiert, verdunstet und verschmutzt über zwei Drittel des in der Region verfügbaren Süßwassers, mit fatalen Auswirkungen auf die so fragilen, über Jahrtausende an den Flussläufen gewachsenen Ökosysteme und indigenen Gemeinschaften. Für jede Tonne Lithium, die aus dem mineralhaltigen Grundwasser der etwa hundert Kilometer südlicher liegenden Salztonebene, dem Salar de Atacama, gewonnen wird, verdunsten in den gigantischen grünen, gelben und blauen Becken der Minen zwei Millionen Liter Wasser.

In der Folge vertrocknen die Lagunen. Und die rosafarbenen, vom Krill lebenden Flamingos, die hier zuweilen noch durch den lichtblauen Himmel fliegen, verschwinden. Es geschieht für die Schimäre einer mit Lithiumbatterien betriebenen Wende zur Nachhaltigkeit, für die man, ohne an den Logiken einer krankenden Weltordnung zu rütteln, das schwarze Öl kurzerhand gegen das weiße tauscht. Die Atacama, so sagen die Einheimischen, sei eine der fünf Opferzonen Chiles, jener Zonas de Sacrificio, in welchen den Göttern des Marktes huldigend für das höhere Ziel des Bruttoinlandsprodukts Menschen und Umwelt preisgegeben werden.

Etwa eine Woche später, es ist der 41. Tag der Unruhen, erreiche ich Santiago de Chile, das ursprüngliche, doch verwandelte Ziel meiner Reise, die Stadt ohne Klimakonferenz. Ich beginne zu gehen, in krummen Traversen und Winkelzügen, die ich, erst zögerlich, dann immer mutiger, bald in einem heimlichen Taumel abschreite, rund um die neu benannte Plaza de la Dignidad, das Zentrum der Proteste. Und tatsächlich finde ich das Wort »Dignidad« – Würde – in riesigen Lettern auf den Asphalt geschrieben, sodass die Drohnen der Polizei, die als wachsame Augen der Staatsmacht im Himmel über Santiago kreisen, es auch niemals aus dem Blick verlieren.

Es sind nicht zuallererst die Spuren der Zerstörung, die meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen – das zerschlagene Glas, die Schuttgruben einstiger Metroabgänge, die mit Eisenplatten verbarrikadierten Läden, die vereinzelt ausgebrannten, geplünderten Häuser –, es sind vielmehr die Zeichen einer verblüffend kreativen Aneignung des urbanen Raums. Die Straßenzüge der Stadt sind zum Wunderblock geworden, zu einem bunten, vielgestaltigen Palimpsest aus politischen Graffitis, Plakaten und mit Botschaften bedeckten Fassaden, einer Bildschrift, die, wie das mehrfach überschriebene Pergament von Ciceros De re publica, die Fiktion eines anderen, besseren Lebens verhandelt.

Im Kreuzundquergehen durch die Stadt wird man hier tatsächlich zum Leser einer spekulativen Geschichte aus sich überlagernden Schriften, und man muss achtgeben, im Versuch des Entzifferns nicht über die in den Asphalt geschlagenen Löcher oder die als Wurfgeschosse herausgerissenen Pflastersteine zu stolpern. Was hier angegriffen wird, notiere ich, ist die falsche Ordnung selbst, nicht nur die einer himmelschreienden ökonomischen Ungleichheit, sondern auch die ihr zugrundeliegende gewaltsame Ordnung des Denkens. Sie wird in den Straßen Santiagos karikiert und verwandelt in einem subversiven symbolischen Spiel. Ich bin fasziniert.

Hier ist das Trauma, um das sich alles dreht: Am 11. September 1973 wird die demokratisch gewählte sozialistische Regierung Salvador Allendes durch einen von den USA finanzierten Militärputsch gestürzt. Die Gefahr durch den neuen "Castro auf dem Festland" ist für den imperialistischen Norden zu groß. Mit dem Putsch wird die gerade im Wachsen begriffene demokratische Kultur des Landes ausgelöscht, die Vision einer auf Gleichheit und Gerechtigkeit basierenden Gesellschaft erstickt und ersetzt durch Unterdrückung, Verfolgung, Folter und Mord. Was folgt, ist ein erster Großversuch des Neoliberalismus unter den idealen Bedingungen der Diktatur.

Noch vor der Neuordnung der Welt am Ende des Jahrtausends, vor dem Fall der Mauer, der großen Deregulierung und der Erschaffung jenes Weltinnenraums des Kapitals, in dem, wie Wolfgang Streeck schreibt, "Märkte nicht mehr in Staaten, sondern Staaten in Märkte eingeschlossen sind", etabliert das mörderische Regime Pinochets unter der Anleitung der "Chicago Boys", einer Gruppe markthöriger chilenischer Ökonomen um Milton Friedman, ein Wirtschaftsprogramm als neoliberalen Modellversuch: Privatisierung, Deregulierung, Freihandel, Zerschlagung der Gewerkschaften und die Unterwerfung allen Lebens unter den Bann penetranter Geldverhältnisse. Was geschieht mit einer Gesellschaft, in der alles den ungezügelten Kräften des freien Marktes überlassen wird – und dem Willen eines Diktators?

Am 20. Oktober 2019 schießen Soldaten in der Nähe eines geplünderten Einkaufszentrums in La Serena in die Menge und treffen den 26-jährigen Romario Veloz Cortes tödlich am Hals. Am folgenden Tag wird der 23-jährige Manuel Rebolledo Navarrete in der Nähe einer Fischfabrik in Talcahuano durch einen Schuss ins Bein verwundet und von einem Marinefahrzeug überfahren.

Der 39-jährige Alexis Núñez wird bei einer Demonstration in Santiago von Polizisten mit Schlagstöcken und Fußtritten geprügelt und stirbt bald darauf an einem Schädel-Hirn-Trauma und einer Schädelfraktur. Fabiola, 19 Jahre alt, wird in Viña del Mar von einem mit Gummischrot feuernden Polizisten angeschossen, erleidet ein schweres Augentrauma und verliert, verursacht durch die nachweislich Blei enthaltenden Schrotkugeln, ihr Sehvermögen.

Der 28-jährige Fernando berichtet, wie er und seine Freunde bedroht, geprügelt, in einem Militärfahrzeug fortgebracht, zur scheinbaren Hinrichtung an eine Friedhofsmauer gestellt und gezwungen wurden, ihren Tod erwartend, "Vergib mir, Chile!" zu rufen, bevor die zwölf Soldaten ihre Waffen wieder senkten. Im ganzen Land erzählen Frauen, selbst minderjährige, von Vergewaltigungsdrohungen, erzwungener Entblößung und nackten Kniebeugen während ihrer Inhaftierung auf Polizeistationen.

"Die Diktatur hat nie wirklich geendet", erklärt mir Rafael, ein junger Dichter aus Valparaíso, der von seinem Schreibtischfenster aus die eskalierende Gewalt zwischen Protestierenden und Polizei täglich beobachten kann. "Im Innern bleibt die Angst."

Seit zehn Jahren ist es trocken. In Chile herrscht eine tödliche Dürre. Die Modelle zeigen: Das Land wird auf einem sich erwärmenden Planeten zunehmend weniger Wasser haben. Es gibt zwar Fluten, Überschwemmungen und Erdrutsche an den sonst staubigen Küsten des Nordens und die Eisfelder Patagoniens schmelzen schneller und in höheren Lagen als irgendwo sonst auf der Welt, im Zentrum und Süden Chiles aber bleibt der Regen aus, die Felder vertrocknen, Tiere verhungern, es kommt zu Waldbränden und zum Zusammenbruch der Wasserversorgung in vielen Teilen des Landes.

Die Natur derweil verwandelt sich in eine Verkaufsmesse unter freiem Himmel. Der chilenische Wasserkodex von 1981 gehört zu den radikalsten juristischen Texten der neoliberalen Ära. Er definiert Wasser nicht als Gemeingut, nicht als elementaren Bestandteil allen Lebens, sondern als wirtschaftliche Ressource und privates Eigentum, das, unbefristet und vererbbar, auf dem freien Markt gehandelt werden kann.

In der Atacama-Wüste mache ich mich mit Claudio auf die Suche nach dem Eigentum der Minen. Wir folgen den massiven Wasserrohren, die von Chuquicamata und Calama neben der Routa 21 flussaufwärts zu den Staubecken des Río Loa führen, zum längsten Fluss Chiles, der von den Anden herab sich durch die Atacama windend in den Pazifik fließt und dessen Oasen seit jeher den Lickanantay als Lebensgrundlage dienen. "No es sequía, es saqueo", erklären mir die Bewohner des Dorfes Chiu-Chiu: Es ist keine Dürre, es ist Plünderung.

Das staatliche und weltweit führende Kupferunternehmen CODELCO kaufte noch in den 80er-Jahren die Wasserrechte des Loa-Beckens. Der Fluss verwandelte sich in ein Rinnsal. Über Jahre war er so stark mit Schwermetallen kontaminiert, dass die Versorgung der Tiere und Felder unmöglich wurde. Jeden Morgen, zum Sonnenaufgang, so erzählt mir später eine alte Frau im etwas weiter flussaufwärts liegenden Lasana, komme die schwarze Wolke von den Minen und lege sich über das Dorf. "Die Anbauflächen haben sich halbiert. Die Kinder ziehen weg und kommen nicht zurück", sagt sie und fällt dann in ein langes Schweigen. "Es gibt keine Tiere mehr."

Die Landschaft ist zugleich von einer berückenden, archaischen Schönheit. Ich fühle mich hier so nahe am Mars, wie ich in diesem Leben nur kommen kann. Auf unserer langen Fahrt durch die Hochebene, auf der die Erde ihre Schlote öffnet, mit Blick auf den über 6.000 Meter hohen Vulkan San Pedro, erzählt mir Claudio vom Talatur, der Wasserzeremonie der Lickanantay.

Einmal im Jahr, im Oktober, nach dem Ritual des Dankes an die fruchtbare Erde, werden die Wasserkanäle der Dörfer rituell gereinigt, Ablagerungen und Pflanzen werden entfernt, Lieder gesungen in Kunza, Quechua und Spanisch, es wird mit Trommeln, Flöten und Hörnern musiziert, getanzt und ein Karneval veranstaltet, bis schließlich, am letzten Tag der Feierlichkeiten, das Wasser wieder in die Kanäle eingelassen wird, um nun wieder frei zu den Feldern und Tieren zu fließen. "Somos agua", sagt Claudio. Wir sind Wasser.

Als wir wenig später, nach der abenteuerlichen Überquerung einiger staubiger Pisten, im ausgetrockneten Flussbett des Río San Pedro, einem Zufluss der Loa, stehen, vor einer Straßensperre und neben den Rohren, die den gesamten Wasserlauf kurzerhand zu den Minen leiten – ein rostiges Blechschild weist ihn als Besitz von CODELCO aus –, verliert mein sonst so besonnener Begleiter für einen Moment die Beherrschung: "Das ist also aus unserem kulturellen und natürlichen Erbe geworden!", schreit Claudio. "Der Fluss tot! Die Wege versperrt!"

Es ist keineswegs alles trostlos. Im Vergleich zu China, wo ich 2018 zwei Monate verbrachte und wo, so mein Eindruck, die Repression mittels perfider technischer Überwachung bis ins Innerste, unter die Haut und in die Gedanken reicht und so zur Isolation des Einzelnen führt, was mir viel hoffnungsloser erscheint, erlebe ich die Gesellschaft Chiles in einem kommunikativen Rausch, in einem zukunftsoffenen und enthemmten, über soziale Grenzen hinweggehenden Gespräch darüber, was ist und was sein soll. Jeder Versuch, sie mittels physischer, altmodischer Gewalt zum Schweigen zu bringen, scheint nur die Solidarität und das Einvernehmen über die Notwendigkeit eines Wandels zu bestärken.

Ich komme an einen kleinen utopischen Ort. Es ist, als wäre ich weitergereicht worden, von hier nach dort, in einem hochlebendigen, chaotischen Netzwerk, über unzählige Stationen, verschlüsselte und unverschlüsselte Pfade und Plattformen, nur um zuletzt hier zu landen, in Santiago, bei der improvisierten, bunten Ambulanz der Freiwilligen. Zu Beginn, nach Ausbruch der Proteste, so erzählt man mir, seien es nur ein paar Wenige gewesen, die helfen wollten, noch vereinzelt auf den Straßen, ehe sie sich zusammenschlossen und organisierten.

Man fand die bunt bemalte Villa, nur ein paar hundert Meter entfernt von der Plaza de la Dignidad, ein Seminargebäude der Federación de Estudiantes de la Universidad de Chile, das – eine dunkle Ironie der Geschichte – während der Diktatur als Hauptquartier des Nationalen Geheimdienstes fungierte, als ein Archiv des Grauens, in dem die Akten der Folterer und Überwacher versammelt lagen. Davon ist heute, bis auf eine Mahntafel, keine Spur mehr zu finden.

Es ist vielmehr ein Asyl, ein Ort der Solidarität, innerhalb kürzester Zeit entstanden und gewachsen, als ein Netzwerk von über hundert Freiwilligen: Ärztinnen, Krankenpflegern, Sanitätern, Studierenden der Psychologie, Rechtswissenschaften oder Medizin, vorwiegend jungen Menschen, aus Chile, aus Kolumbien, aus Venezuela und Haiti.

Kleine Truppen von bedingungslos Hilfsbereiten brechen von hier jeden Abend auf zu den Konfliktlinien und Eskalationspunkten der Stadt, wo Protestierende und Polizei teils gewaltsam aufeinandertreffen. Mit roten und blauen Kreuzen als Ersthelfer markiert und, so gut es eben geht, geschützt gegen die nicht tödlichen und weniger tödlichen Waffen der Sicherheitskräfte, mit Helmen, Gasmasken und aus Satellitenschüsseln improvisierten Schilden, machen sie sich auf, um Verwundete zu bergen.

Wer nicht vor Ort versorgt werden kann, wird zur bunten Villa getragen. "Wir nähen und reinigen Wunden, stabilisieren die Patienten, behandeln Säureverätzungen und entfernen Schrotkugeln von Gummigeschossen", erklärt mir Rocio, eine junge Ärztin, die tagsüber in einer Praxis arbeitet und abends als Freiwillige hilft. An einem Tag werden hier bis zu zweihundert Menschen behandelt. "Wir hatten bereits Patienten mit einem Dutzend Schrotkugeln im Körper: in den Lungen, im Kopf.

Das heißt, dass die Polizei aus nächster Nähe auf Menschen schießt." Im Innern des Gebäudes gibt es drei Behandlungsräume. Medikamente und medizinische Ausstattung erhält die Ambulanz durch Spenden. "Menschen aus der ganzen Stadt kommen zu uns, bringen Verbände, Nahtmaterial, Krankentragen, Geld und Essen", erzählt mir Pablo, ein Biochemiestudent, der die Abläufe vor Ort koordiniert. Eine mit Gartenschlauch, Brausekopf und Plastikplane improvisierte Dusche dient zur Reinigung nach chemischen Reizmittelattacken. "Das Gas klebt an der Haut", sagt Rocio. "Wir reinigen die Patienten mit Wasser, dann mit Seife, dann mit Milch, dann wieder mit Seife und Wasser." Neben Tränengas und Capsaicin, dem Alkaloid der Chilischote, das starke Irritationen hervorruft, setzt die Polizei auch verbotene Chemikalien ein. "Sie verursachen Übelkeit und Schwindel. Manche Patienten sind nach Gasattacken so dehydriert durch Erbrechen und Durchfall, dass wir sie intravenös behandeln müssen."

Der Theorie des Neoliberalismus gilt soziale Gerechtigkeit als Verbrechen – nämlich als Verteilung nicht leistungsgerecht erworbener Einkommen. In der meritokratischen Ordnung sind alle Menschen gleich: vor dem Markt. Wer mehr besitzt, hat mehr geleistet. Er hat ein Recht auf Eigentum. Und alle Ungleichheit ist notwendiger Anreiz für unternehmerisches Handeln. "Die Menschen in Umstände zu versetzen, wo jeder gleiche Chancen hat, ist extremer Totalitarismus", so der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek, Nobelpreisträger und Schlüsselfigur des Neoliberalismus, der General Pinochet während der Jahre der Diktatur mehrmals in Chile besuchte.

Die Demokratie galt Hayek ohnehin als Problem und als nur so lange akzeptabel, wie der Marktprozess in seiner Substanz unangetastet bleibt. Immerhin ist die Offenherzigkeit dieses Denkers erfrischend, dessen geistiges Erbe bis heute ungebrochen fortwirkt. "Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich", so Hayek. Für eine auf egalitäre Ideen gegründete Welt, in der garantiert würde, "dass jeder am Leben erhalten wird, der erst einmal geboren ist", sei nämlich "das Problem der Überbevölkerung unlösbar."

Hayeks Wort in Piñeras Ohren. In Chile jedenfalls wird dem Bevölkerungswachstum erfolgreich entgegengewirkt. Das von Weltbank und Internationalem Währungsfonds gepriesene Land, das makellose Statistiken, eine gesunde Volkswirtschaft und konstantes Wachstum vorzuweisen hat, gehört zu den ökonomisch und sozial ungleichsten Nationen der Welt. Sechs Familienimperien kontrollieren das Land. Sie besitzen Zeitungen, Fernsehsender, Universitäten, Bergbau-, Agrar-, Transport- und Energieunternehmen. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt in Armut oder im Prekariat. Über die Hälfte der Arbeitenden verdient geringfügig mehr als den staatlich festgesetzten Mindestlohn. Er entspricht den durchschnittlichen Mietpreisen in Santiago.

Die Renten liegen im Mittel deutlich darunter. Sie werden zum Risiko der Versicherten am Finanzmarkt angelegt. Es gibt massive Altersarmut. Staatliche Sozialhilfe kennt man vom Hörensagen. Die Gesundheitsversorgung ist privatisiert. Wer nicht zahlen kann, muss warten. "Als mein Großvater einen Behandlungstermin im Krankenhaus bekam", erzählt mir jemand, "war er bereits mehrere Monate tot." Der Bildungssektor wurde unter Pinochet zum Geschäftsfeld erklärt. Die Konkurrenz belebe die Lehre – und den Geldfluss der Eigentümer. Ein Großteil der Bevölkerung ist von höherer Bildung ausgeschlossen. Die meisten Universitätsstudien werden durch Kredite finanziert. Chile ist ein Land der Verschuldeten. Es gibt mehr Kreditnehmer als Lohnbezieher.

Man erzählt mir von der Großmutter, die im Supermarkt ihre importierte Pasta mit Kreditkarte in drei Monatsraten bezahlt. Leben, das heißt hier Schulden machen. Und die Schuld, dieser äußere Zwang, frisst sich langsam nach innen. Der chilenische Präsident Piñera, einer der reichsten Männer des Landes, machte sein Vermögen mit Kreditgeschäften. Die Kaste der Oligarchen wird derweil auffällig durch Korruptionsskandale: Geldwäsche, Steuerhinterziehung, illegale Wahlkampffinanzierung. Wer viel hat, will noch mehr.

Was man in Chile in nuce beobachten kann, ist die vom französischen Ökonomen Piketty beschriebene, dem Kapitalismus inhärente Tendenz zur Konzentration des Kapitals. Die Ungleichheit, so zeigt sich, wächst schneller als der allgemeine Wohlstand. Bloßes Wirtschaftswachstum löst keine sozialen Probleme, sondern verursacht sie. Im freien Markt ist allein der Markt frei. Die Aufgabe des Staates wird reduziert auf die Verteidigung bestehender Eigentumsverhältnisse. Der Neoliberalismus, schreibt Noam Chomsky, ist ein "Kapitalismus ohne Maske". Um zu überleben, zeigt er seine autoritäre Fratze. Er braucht die Gewalt.

Ich habe Angst, ja, aber ich beschließe die freundlichen Helfer zu begleiten, um Verwundete zu bergen. Das alles, so fühle ich, hat auch mit mir zu tun, mit meiner, mit unserer aller Welt. Als ich in der bunten Ambulanz eintreffe, finde ich Leo, den jungen venezolanischen Sanitäter, triefend nass und verstört. Er wird unter die Dusche gestellt und dekontaminiert. Auf dem Weg hier her, so erzählt man mir, wurde er, friedlich am Straßenrand gehend, von einem Wasserwerfer der Polizei angegriffen.

Ein Polizist habe ihn gesehen, erkannt, und dem Guanaco ein Zeichen gegeben, dem spuckenden Fahrzeug, das ihn attackierte. Dem Wasser waren chemische Reizstoffe beigemischt. Leos Haut ist gerötet von Säureverätzungen. "Die Polizei kommt manchmal an die Tore", erzählt er mir, "sie stellen sich auf und beschimpfen uns, wir seien Verräter. Oder sie werfen Gasgranaten.

Dabei dienen wir den Menschen. Und jeder, dem wir helfen, ist einer weniger auf ihrer Schuldliste." Vor einem Jahr kam Leo aus Venezuela, wo er das Leben nicht mehr ertragen konnte. "Die Menschen sind alle innerlich zerstört." Sieben Tage die Woche arbeitet Leo als Altenbetreuer. "Manchmal Tagschichten, manchmal Nachtschichten. Und jeden Abend bin ich auf den Straßen, um zu helfen." Ich frage ihn, wann er schläft. Er zuckt mit den Schultern. "Wir sind alle müde", sagt er. "Wir können nicht mehr."

Letzte Woche sei er plötzlich kollabiert. "Es ist auch die schlechte Ernährung." Sechzehn Dollar am Tag würde er verdienen, oft auch weniger, weil er Menschen betreue, die selbst nichts haben. Er teilt eine Wohnung mit seinem Cousin. Und jeden Peso, der übrig bleibt, schickt er nach Venezuela, zu seinen Eltern. "Sie haben nichts." Der Innenhof verwandelt sich derweil in ein Feldlazarett. Eine weißhaarige Frau wird auf einer Trage hereingebracht, die tiefe Wunde am Bein sofort behandelt. Einer mit rotblauer Brust wird vom gemieteten Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren.

Ein anderer, in wärmende, goldene Folie gewickelt und totenblass, wird stöhnend ins Gebäude getragen. Ich erfahre: Er hat acht Schrotkugeln im Körper und ist hyperthermisch. "Die Menschen hier", sagt Leo, "sind nicht nur körperlich, sie sind auch seelisch verwundet. Sie fühlen sich elend, weil sie für etwas kämpfen, für Würde, für Menschenrechte, und daran verzweifeln. Vor einigen Tagen trug ich eine junge Frau hier her. Sie war am Ellenbogen und am Knie verwundet und blutete. Und sie begann zu weinen. Sie sagte, sie habe wegen ihrer Ausbildung fünfzehn Millionen Pesos Schulden beim Staat. Ihr Vater sei vor zwei Monaten gestorben.

Es gab kein Geld, um seine Medikamente zu bezahlen. Sie war wirklich sehr verzweifelt. Sie sagte: Ich schulde dem Staat Geld. Mein Vater ist tot. Nun bin ich auf der Straße und mache Fotos. Sie wurde angeschossen, als sie fotografierte. Was soll man darauf sagen? Außer, dass sie nicht alleine ist, dass wir versuchen einander zu helfen, dass wir dieser zusammengewürfelte Haufen sind, grundverschiedene Menschen, aber gemeinsam versuchen, es besser zu machen. Und dass mir das Hoffnung gibt. – Ich glaube, dass sie es auch fühlte. Ich glaube, sie fühlte Trost. Es tröstete sie zu wissen, dass sich Menschen verbinden, und sich riskieren, aus denselben Gründen, aus den richtigen Gründen, und dass dieses Land und dieser Kontinent vielleicht doch nicht so schlecht sind."

Ich bekomme eine Gasmaske, einen Helm, einen fürsorglichen Blick. Man will auf mich aufpassen. Die Schibrille gegen das Tränengas aber gehört zur Grundausstattung der Revolution. Ich kaufe sie in der Sommerhitze bei einem der freundlichen Straßenhändler. Leos Haut ist noch rotfleckig gereizt. Das hält ihn nicht zurück. "Mein Platz ist draußen", sagt er, "auf der Straße bei den Menschen." Wir brechen auf zu sechst: eine Krankenschwester, eine Studentin, ein Hacker, zwei Sanitäter, ein Autor. "Tränengas!", ruft Leo, atmet tief ein und lacht. "Ganz wie Zuhause!"

Wir stehen nicht ohnmächtig vor der Welt, so erlebe ich in Chile, wenn wir in ihr gemeinsam agieren. Es waren die Übersetzungen der Massenproteste in die Sprache des Kapitals – der fallende Peso, die stürzenden Börsenkurse –, die die tiefen Ängste der Besitzenden weckend den Ausschlag gaben, einem zentralen Anliegen der Bewegung nachzugeben: der Forderung nach einer neuen Verfassung und somit nach einem Ende des bis heute in der innersten Textur des Staates verankerten Fluchs der Diktatur. Der Weg, wenn auch gespickt mit Fallen, ist frei für die erste demokratisch legitimierte Verfassung der chilenischen Geschichte. Es ist ein Triumph.

Carl, ein befreundeter Klimaforscher, schreibt mir aus Madrid, von der COP 25, der Klimakonferenz, die, während ich in Richtung Westen den Atlantik überquerte, den umgekehrten Weg nahm. Mit dem nunmehr offiziellen Austritt der USA aus dem Pariser Klimavertrag, mit dem Bruch also der zentralen Achse zu China, schreibt Carl, sei das multilateralistische Projekt vorerst begraben. Und ehe es nicht Europa gelänge, eine neue Kooperation zu etablieren, zu China, vielleicht auch zu Indien, gelte der Satz Antonio Gramscis: »Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.«

Neben der Bestie des Nationalismus und dem Behemoth des Kapitals ohne Maske, dem Golem der Technokratie und dem Kannibalen des selbstzerstörerischen Liberalismus – neben all diesen Irrlichtern einer gescheiterten Globalisierung lebt noch ein anderes Monster in Chile. Es ist der imbunche, eine mythologische Kreatur aus dem Süden des Landes, insbesondere der Insel Chiloé, ein von den brujos, den Zauberern, entführtes Kind, das, gefoltert, deformiert und der Sprache beraubt, die Höhle seiner Peiniger bewacht. In Chile spricht man auch vom imbunchismo: der Monstrosität, dem Kult des Hässlichen und der nationalen Lust an der Zerstörung.

Vielleicht aber, so schlägt Rafael, der Dichter aus Valparaíso, in einem Brief an mich vor, könnte man den imbunche auch anders deuten, als Figur des kulturellen Widerstands, als bisher unterdrücktes kreatives Prinzip, das gegen die atavistischen Traumata der Unterwerfung und Erniedrigung aufbegehrt, in einer Gesellschaft, die aufs Äußerste hierarchisch und ungleich ist. Vielleicht ist Chile nicht nur ein Paradigma für einen Neoliberalismus, der, um fortzubestehen, immer autoritärere Züge annehmen muss, jederzeit bereit, die Eigentums- und Machtverhältnisse mit Gewalt zu verteidigen. Vielleicht ist Chile auch ein Vorbild für die Möglichkeit des Widerstands, für einen zwar von der Folter deformierten, aber wieder zur Sprache findenden imbunche, der dem globalen politischen Versagen und dem neuen Kampf aller gegen alle ein organisches, offenes Netzwerk ohne Zentrum entgegenstellt: eine Gemeinschaft. (Philipp Weiß, ALBUM, 12.1.2020)



Aus: "Reportage - Chile: Der Kapitalismus ohne Maske" (12. Jänner 2020)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000113145035/chile-der-kapitalismus-ohne-maske (https://www.derstandard.at/story/2000113145035/chile-der-kapitalismus-ohne-maske)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on January 19, 2020, 05:27:47 PM
"Wie der Mensch korrumpiert wird" Andreas von Westphalen (19. Januar 2020)
Geld spielt im Kapitalismus die zentrale Rolle des Motivators. Oder, um es mit den Worten des Sozialwissenschaftlers Meinhard Miegel zu sagen: "Das kapitalistische Belohnungs- und Bestrafungssystem (ist) von bestechender Schlichtheit."
Tatsächlich spricht Geld direkt das sogenannte Belohnungszentrum des Gehirns direkt an. Je größer die Summe, die in Aussicht steht, desto stärker der Ausstoß an Dopamin, dem Neurotransmitter, der auch gerne mit dem vielsagenden Namen "Glücksbotenstoff" bezeichnet wird.
Geld ist die extrinsische Motivation par excellence. ...
Richard David Precht gibt [...] zu bedenken: "Die intrinsische Motivation - das selbstbestimmte Interesse - muss im Mittelpunkt jeder Utopie stehen." ...
https://www.heise.de/tp/features/Wie-der-Mensch-korrumpiert-wird-4639977.html?seite=all
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on January 23, 2020, 09:27:04 AM
"Ein Ex-Mitarbeiter von Merrill Lynch berichtet, wie die Investmentbank den deutschen Fiskus ausplünderte – während die Politik zusah"
Von Karsten Polke-Majewski und Christian Salewski (22. Januar 2020)
Zum ersten Mal spricht Baker öffentlich darüber, was er bei Merrill Lynch erlebt hat. Es geht um Cum-Ex und ähnliche Deals. Es geht aber auch um eine Untersuchung des US-Senats, der schon 2008 vor dem Raubzug warnte, ihn in den USA unterband – und ihn damit in Europa erst richtig entfachte. Und es geht um Milliarden an Steuern, deren Raub man hätte verhindern können, wenn sich amerikanische und deutsche Behörden ausgetauscht hätten. So erzählt Baker von der Machtlosigkeit nationaler Aufseher, wenn sie auf international vernetzte Banker stoßen.

... Um sieben Uhr morgens, bevor der Markt öffnet, machen wir das. Dann dies. Dann jenes. Dann solches." Dieses Dokument sei wie ein Kochbuch, enthalte alle Zutaten, die nötig seien, damit am Ende Geld fließt.

Die Leute, die das Kochbuch anwenden, nennt Baker Macher. Wer sich die Macher als Investmentbanker vorstellt, die hektisch auf ihre Tastaturen tippen und unablässig telefonieren, der irrt. "Sie verbringen einen großen Teil ihres Tages mit Plaudern, Spielen und Kaffeetrinken", sagt Baker. Oder sie verkaufen ihr altes Auto und suchen ein neues. "Sie leben das gute Leben. Denn sie wissen, dass sie, um 14 Millionen Euro für die Bank hereinzuholen, vielleicht nur ein oder zwei Transaktionen pro Tag machen müssen."

https://www.zeit.de/2020/05/cum-ex-files-merrill-lynch-investmentbank-steuerbetrug (https://www.zeit.de/2020/05/cum-ex-files-merrill-lynch-investmentbank-steuerbetrug)
...

Quotebromfiets #41

"Doch seit der Warnung durch den Levin-Report bis 2016 entstand ein Schaden durch Cum-Cum- und Cum-Ex-Deals von mindestens 20 Milliarden Euro. Das hat Christoph Spengel, Steuerprofessor an der Universität Mannheim, berechnet. "Dieser Schaden wäre vermeidbar gewesen", sagt der Professor. "


Quotenano846a #21

" Der Bankenverband wolle die Geschäfte auf Kosten des Staats nicht unterbinden, sondern im Gesetz verankern. Doch niemand hört auf sie. Der Vorschlag des Bankenverbands wird mit dem Jahressteuergesetz 2007 umgesetzt und wirkt wie ein Brandbeschleuniger für Cum-Ex. "

Dann sind genau die Parlamentarier, die für diese Gesetzesänderungen gestimmt haben, mitverantwortlich.

Nicht Wissen gilt nicht, weil Warnungen vorlagen. Also bedingter Vorsatz (billigend in Kauf nehmen) seitens der Abgeordneten, die dafür gestimmt haben.


QuoteLustigerSeth #55

Auszug Wikipedia "dividendenstripping"

"Arnold Ramackers, ein ehemaliger Finanzrichter aus Düsseldorf, sagte im Untersuchungsausschuss aus. Ramackers soll im Sinne führender Banken Gesetzestexte formuliert haben. Ramackers war unter anderem an der Gesetzesänderung von 2007 beteiligt, die sich als ungeeignet zur Verhinderung von Cum-Ex-Geschäften erwies und damit Banken und Anlegern ermöglichte, für weitere fünf Jahre ungerechtfertigte Ausschüttungen aus dem Steuervolumen zu erlangen. Er hatte Zugang zu Dokumenten, die Parlament und Öffentlichkeit nicht erhalten durften, und hat sie an Banken weitergereicht, so dass diese die neuen Regelungen gleich wieder umgehen konnten.[60] Auch im Ruhestand soll Ramackers noch Einfluss ins Ministerium gehabt, sich an der Formulierung von Gesetzen beteiligt und an Sitzungen teilgenommen haben. Später nahm Ramackers einen Beratervertrag beim Bundesverband deutscher Banken an."



QuoteJoggerSN #17

Ein Beispiel der elenden Verstrickung des Finanzkapitals, von Banken, in denen Kriminelle arbeiten mit staatlichen Stellen die manchmal zu blöde sind, oftmals zu feige oder gar willentliche Handlanger des Großkapitals sind. Bestohlen werden die ... , die ... keine Wahl haben, da bei ihnen die Finanzämter sehr genau hinsehen und auf jeden Cent achten.


Quoteichwillebessagendazu #25

Schäuble war Finanzminister! Diese schwarze Null.


Quotealice_42 #25.1

>> Schäuble war Finanzminister! Diese schwarze Null. <<

Bis Oktober 2009 war es noch Steinbrück. Aber selbst wenn man dem noch freundlich eine gewisse Begriffsstutzigkeit zubilligen will, gab es zu Schäubles Zeiten wirklich keine Rechtfertigung mehr.

[>> Auf Nachfrage antwortet das Bundesfinanzministerium, gegen solche Geschäfte sei man schon vor 2007 vorgegangen, aber vor Gerichten mit seiner Auffassung gescheitert. Erst 2012 wird Cum-Ex hierzulande gesetzlich unterbunden. Die verwandten Cum-Cum-Deals sogar erst 2016. <<

Soso. Der Gesetzgeber scheitert vor 2007 vor Gericht und braucht danach mindestens 5 bis 9 Jahre, um tätig zu werden. Spätestens seit dem 11. September 2008 gibt es keine Ausreden mehr. Abgesehen davon, dass man das nicht mal der Parkuhr erzählen kann, ohne dass diese sich beschämt abwendet: Was soll eine Regierung, die das zulässt, eigentlich insgesamt gut gemacht haben?  Und was Schäuble betrifft: der Umschlag in der Schublade. Sein (glücklicherweise an der SPD gescheitertes) Steuerabkommen mit der Schweiz, das ein Geschenk an die organisierte Kriminalität geworden wäre. Und das hier. Wie in aller Welt geht so einer noch als seriöser Politiker durch. ...]


Quotebromfiets #48

Man darf gespannt sein, wie hoch die Gefängnisstrafen und Steuerstrafen tatsächlich ausfallen werden. Oder ob womöglich den beteiligten Banken die Lizenz in Deutschland entzogen wird.


Quotetxt. #50

Jedenfalls haben manch reiche Leute, was Sie uns vorenthalten. Ein bedingungsloses Grundeinkommen!
:O


Quotejgstefan #58

Nun ist ja alles gut , wir haben die Kassenbon pflicht für unsere Semmeln und niemand kann mehr betrügen. Ein hoch auf unsere Fachleute.



...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on February 22, 2020, 10:50:22 AM
Quote[...] In ,,Der Preis des Profits" beschreibt der Ökonom und Träger des Wirtschaftsnobelpreises Joseph Stiglitz die vielfältigen Ursachen des stagnierenden Wachstums, der steigenden Ungleichheit und der politischen Spaltung der USA.

Zahlreiche seiner Befunde lassen sich auch auf Deutschland übertragen: Die Lebens- und Sozialstandards stagnieren für breite Teile der Bevölkerung – für einige sinken sie gar, auch weil die Reallöhne für viele Menschen in vielen Staaten nicht gewachsen sind. Die Vermögensungleichheit steigt an, während die Chancengleichheit abnimmt. Menschen, die in Armut oder ,,bildungsfernen Familien" geboren werden, haben kaum Aufstiegschancen.

Für diese Probleme macht Stiglitz eine defekte Wirtschaft verantwortlich. Sie sei durch eine Politik entstanden, die schon zu lange auf unregulierte Märkte setzt. Stiglitz nennt drei Ursachen für die dysfunktionale Wirtschaft: die falsch gestaltete Globalisierung, unregulierte Finanzmärkte und die Marktmacht großer Konzerne.

Die Globalisierung habe ihre Versprechen nicht eingelöst: Zwar wuchs die Wirtschaft in vielen Staaten, doch das Wachstum kam nur einer kleinen Anzahl von Menschen zugute und nicht der breiten Arbeitnehmerschaft. Handels- und Investitionsabkommen würden so gestaltet, dass sie einzig das Wachstum der Unternehmen ankurbeln. Sie resultierten im Abbau von Regulierungen und Verbraucherschutzstandards.

Das führe dazu, dass Konsumenten nicht mehr ausreichend vor unsicheren und umweltschädlichen Produkten geschützt werden könnten, so Stiglitz. Zudem führe die Globalisierung zu einem Wettlauf um möglichst geringe Unternehmenssteuern. Die Globalisierung der Finanzmärkte habe schließlich dazu beigetragen, die Ökonomien von Entwicklungs- und Schwellenländern durch hochmobile Finanzströme zu destabilisieren.

Stiglitz fordert eine bessere Steuerung der Globalisierung. Handels- und Investitionsabkommen müssten den Menschen dienen, die durch die Globalisierung begünstigte Steuerflucht müsse eingedämmt und ärmeren Ländern müsse es erlaubt werden, Generika herzustellen. Für die Verlierer der Globalisierung schlägt er eine aktive Arbeitsmarkt- und Industriepolitik vor, um neue Jobs zu schaffen. Es brauche aber auch engmaschige Sozialsysteme.

In den deregulierten Finanzmärkten sieht Stiglitz eine weitere Ursache der steigenden Ungleichheit und der stagnierenden Wirtschaft. Banken, Fondsmanager und Spekulanten hätten sich auf ,,Kosten des Rests der Gesellschaft bereichert". Selbst nachdem sie mit staatlichen Geldern gerettet wurden, waren sie nicht zu grundlegenden Reformen bereit.

Ganz im Gegenteil: Ein Heer von Lobbyisten hätte strenge Regulierungen verhindert und die wenigen neuen Gesetze weitestgehend rückgängig gemacht. Die Banken seien noch immer zu groß und untereinander zu vernetzt, sodass sie nicht scheitern dürfen. Das setze die Staaten unter Druck, die Banken bei der nächsten Krise erneut zu retten.

Der Finanzsektor diene nicht der Allgemeinheit: ,,In den ersten drei Jahren der wirtschaftlichen Erholung nach der Finanzkrise kamen 91 Prozent der Wachstumsgewinne dem reichsten einen Prozent der Amerikaner zugute." Durch die Fixierung auf Gewinne und Börsenkurse denke der Finanzsektor viel zu kurzfristig.

Statt die Wirtschaft – vor allem Klein- und mittelständische Unternehmen – mit Krediten zu versorgen, konzentrierten sich die Banken auf Dienstleistungen, die keinen Mehrwert generieren: spekulative Wetten, die Vergabe von Verbraucherkrediten, Fusionen und Übernahmen sowie die Unterstützung von Steuerflucht und -betrug.

Beispiele dafür seien die Cum-Ex-Prozesse oder die zahlreichen Geldwäsche-Anschuldigungen gegen die Deutsche Bank, hier zeigten sich Gemeinsamkeiten zwischen den USA und Deutschland. Stiglitz fordert, der Staat solle stärker eingreifen und Gelder für neu gegründete Unternehmen, langfristige Investitionen, hochriskante Technologieprojekte, bankenmäßig unterversorgte Kommunen und Hypothekendarlehen bereitstellen. Als Mittel gegen kurzfristige Spekulationen schlägt er eine Finanztransaktionssteuer vor.

Die Marktmacht großer Konzerne erlaube es Anbietern, den Verbrauchern ,,höhere Preise abzunehmen" und geringere Löhne zu zahlen, schreibt Stiglitz. Sie führte zur Konzentration der Einkommen bei einigen wenigen. Um Innovationen und den Wettbewerb zu fördern, fordert Stiglitz unter anderem strengere Kartellgesetze und Regulierungen, die es erlauben, geistige Eigentumsrechte zu beschneiden. Auch müssten Daten und deren Nutzung reguliert werden, denn sie trügen zur Marktmacht dominanter Konzerne bei.

,,Der Preis des Profits" ist eine umfassende Generalkritik am derzeitigen Zustand des Kapitalismus. Stiglitz weist jedoch selbst darauf hin, dass das Buch seine früheren Werke zusammenführt. Dementsprechend vielfältig sind die Themen, die Stiglitz behandelt. Seine Erkenntnisse büßen dadurch nicht an Aktualität ein. Doch die Bündelung zahlreicher Themen geht etwas auf Kosten der inhaltlichen Tiefe.

Es hätte dem Buch aber gut getan, wenn Stiglitz ihm ein Kapitel über die wirtschaftlichen Ursachen und Folgen des Klimawandels hinzugefügt hätte. Er schreibt zwar, dass es einer CO2-Steuer bedarf, ohne die es schwer werde, die auf internationaler Ebene vereinbarten Klimaziele zu erreichen.

Auf den Raubbau an der Erde und die ,,größte Gefahr" des Klimawandels geht er jedoch nur am Rande ein. Dabei stellen sich dringender denn je die Fragen: Wie sind Wachstum und Wohlstand für alle mit dem Kampf gegen den Klimawandel vereinbar? An welchen politischen Stellschrauben müsste gedreht werden, um gleichzeitig die Ungleichheit zu verringern und den Klimawandel einzudämmen? Hier wäre auch Stiglitz' Einschätzung zu Konzepten eines Green New Deal spannend gewesen.


Aus: "Rundumschlag gegen den modernen Kapitalismus: Nobelpreisträger Joseph Stiglitz rechnet mit der Globalisierung ab" Nico Beckert (22.02.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/rundumschlag-gegen-den-modernen-kapitalismus-nobelpreistraeger-joseph-stiglitz-rechnet-mit-der-globalisierung-ab/25548492.html (https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/rundumschlag-gegen-den-modernen-kapitalismus-nobelpreistraeger-joseph-stiglitz-rechnet-mit-der-globalisierung-ab/25548492.html)

Quotejonnyrotten 09:00 Uhr

    Für diese Probleme macht Stiglitz eine defekte Wirtschaft verantwortlich. Sie sei durch eine Politik entstanden, die schon zu lange auf unregulierte Märkte setzt.
    Stiglitz nennt drei Ursachen für die dysfunktionale Wirtschaft: die falsch gestaltete Globalisierung, unregulierte Finanzmärkte und die Marktmacht großer Konzerne.


Das ist keine neue Erkenntnis, das nennt man Kapitalismus!

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on March 15, 2020, 12:29:56 AM
"Ungleichheitsforscher Piketty warnt vor nationalistischer Falle und Wirtschaftskrise" Andreas Danzer (13. März 2020)
Thomas Piketty kritisiert überdies die Politik, die nun zugunsten der Gesundheit zu drastischen Maßnahmen greift, Gleiches aber nicht für die Umwelt machen würde. ... In sozialer Ungleichheit sieht Piketty primär ein politisches und ideologisches Problem. Eliten würden Begründungen schaffen, um Ungleichheit zu rechtfertigen. Deswegen fordert er eine radikale Umverteilung. Der Franzose plädiert für eine Einmalzahlung in der Höhe von 120.000 Euro für jeden Bürger, finanziert durch Steuereinnahmen. Das würde die Chancengleichheit erhöhen, ohne zu einer Gleichmacherei zu führen, erben doch die Kinder reicher Eltern deutlich mehr. Auch progressive Erbschaftssteuern von bis zu 90 Prozent nennt er als Option. ...
https://www.derstandard.at/story/2000115723050/ungleichheitsforscher-piketty-warnt-vor-nationalistischer-falle-und-wirtschaftskrise

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UNBOXING CAPITALISM - Wie wir unter 1,5 Grad bleiben (Feb 23, 2020 - Now Collective)
Klimakrise, Mass Extinction, Ungerechtigkeit und Hunger - Warum passieren auf der Welt so schreckliche Dinge?
Das wollen wir verstehen. Und mit euch eine Debatte starten.
Darüber, wie wir in einer Welt leben können, in der es allen gut geht.
https://youtu.be/JSGuy3LA-d0

https://docs.google.com/document/d/1DM75_ASQddCzqfKt-5RATgiw0mwpPfgtXF1-LJ3Q7nY/edit
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on April 07, 2020, 02:40:24 PM
Quote[...] In der ZEIT Nr. 15/2020 veröffentlichte Adam Soboczynski den Text "Made in China", in dem er die bisherige Vorherrschaft der liberalen westlichen Demokratien und den wachsenden Einfluss der autoritären Volksrepublik China thematisierte. Hier hinterfragt der Schriftsteller Eugen Ruge Soboczynskis wohlwollende Sicht auf jene Epoche, die nun mutmaßlich mit der Corona-Pandemie zu Ende geht. 

... Auslagerung der Produktion ist für das Kapital deshalb eine Option, weil diese Auslagerung unglaubliche Profite bringt – allerdings auf Kosten der anderen. Unternehmen lagern Produktion aus, weil die Näherin in Äthiopien für 1,50 Dollar am Tag näht, weil Arbeitsschutzvorschriften in Pakistan nicht eingehalten werden müssen, weil Umweltvorschriften in China umgangen werden können. Darunter leiden Menschen, egal ob Chinesen, Pakistani oder Afrikaner. Der Sinn der Globalisierung besteht ja – aus der Perspektive des Profits – gerade darin, die Produktion in Länder zu verlagern, in denen die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur ohne allzu große staatliche Behinderung stattfinden kann, aus welchen Gründen auch immer. Sie zielt geradezu auf Staaten, die auf diese oder jene Weise die Sorge um Mensch und Umwelt vernachlässigen oder vernachlässigen müssen. Und auch wenn ganz große Gewinnmargen an Fonds, Manager und dubiose Zwischenhändler gehen, muss man sagen, dass unser sogenannter Wohlstand zumindest zu einem Teil auf brutaler Ausbeutung und Umweltzerstörung beruht – ein Wohlstand, der übrigens auch nur bei einer Hälfte der Bevölkerung ankommt: bei der oberen.

Für diesen Bruchteil der Menschheit werden täglich Millionen Tonnen an Waren durch die Welt geschippert – dafür dass diese kleine Gruppe immer alles sofort zur Verfügung hat, ob Erdbeeren zu Weihnachten, Wein aus Südafrika oder Datenzugriff noch im letzten Winkel, in dem sie Urlaub zu machen wünscht; für ihren Zweitwohnsitz in der Bretagne, für die Server auf denen sie Milliarden sinnloser Fotos deponiert. Dafür arbeitet die Näherin in Äthiopien, aber auch bei uns der Erntehelfer aus Rumänien, der Bauarbeiter aus Polen oder die 24-Stunden-Pflegekraft aus Bulgarien. Und sie dürfen noch froh sein, dass sie überhaupt bei uns arbeiten dürfen, dass sie nicht in Dürregebieten leben müssen oder jenen Kriegen ausgesetzt sind, die auch wegen der wirtschaftlichen Interessen des Westens geführt werden. Schlimmstenfalls sind wir noch stolz darauf, dass wir sie hereinlassen und in den Dienst stellen.

...


Aus: "Unser schicker Kapitalismus mit tödlichem Antlitz" Eugen Ruge (7. April 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2020-04/globalisierung-china-coronavirus-eugen-ruge (https://www.zeit.de/kultur/2020-04/globalisierung-china-coronavirus-eugen-ruge)

QuoteIUFRGMP #69 

Der erste gute Beitrag in den letzten drei Wochen, abgesehen von einem Interview mit Herrn Drosten:
https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/christian-drosten-coronavirus-pandemie-deutschland-virologe-charite (https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-03/christian-drosten-coronavirus-pandemie-deutschland-virologe-charite)

Warum sind die Materieallager im Krankenhaus leer?
Warum konnte sich ein Virus aus einer Provinz in China binnen eines Monats weltweit ausbreiten?
Warum wird PflegerInnen gekündigt?
Warum ist der sogn. "Betreuungsschlüssel" 1:50 I'm Nachtdienst?
Warum gibt es ein Zweiklassenmedizin in Deutschland?
Wo sind die flächendeckenden Tarifverträge in der Pflege, für KassiererInnen?
Wie kann es sein, dass Deutschland jetzt Masken aufkauft, die Preise hoch drückt und Staaten in Afrika plötzlich für 4$ keine Masken kaufen können. (Solidarität)
Wie kann es sein, dass wir in Deutschland statt über die besten Möglichkeiten zur Eindämmung des Virus, von Anfang an darüber sinnieren, wie furchtbar die Krise für die Hotels etc sei, wo doch - selbst aus dem Dogma des Wachstums heraus gedacht- die Einbußen nach einer weltweiten Krise wieder kommen durch Nachholung von Konsum?
Die Menschen fahren immer in den Urlaub! Wenn woanders keine "Entwarnung" gegeben wird, wo werden sie wohl hin fahren?

Vollkommen richtig ist: Die globale Oberschicht jammert, dabei stehen die größten Katastrophen erst noch bevor. ...


QuoteFahrinurlaub #10

Genauso sieht das aus! Der Kapitalismus den die moderne Welt in gang gesetzt hat, dient nur einer kleinen Gruppe von Menschen, der Rest sind Statisten und werden gnadenlos ausgebeutet . Die Natur Zerstört und die Lebensgrundlage vergiftet.


QuoteHitch-22 #10.1

Kompletter Unsinn.

Anzahl Menschen mit mindestens einer Impfung:
1980: 22%
2016: 88%

Menschen mit Elektrizität:
1991: 72%
2014: 85%

Mädchen in der Schule:
1970: 65%
2015: 90%

5-Jahres-Überlebensrate von Kindern und Jugendlichen bei Krebs:
1975: 58%
2010: 80%

Unternährte Menschen:
1970: 28%
2015: 11%
(Man beachte, das gleichzeitig die Gesamtbevölkerung stark angestiegen ist)

Kinderarbeit:
1950: 28%
2012: 10%

Es ist faszinierend was sich Menschen zusammenreimen wenn sie keine Ahnung haben.


Quotehonko1234 #10.2

Woher haben Sie ihre Zahlen. Es reicht eine Zahl: täglich sterben ca.15000 Kinder an Mangelernährung etc..
Etwa 5,6 Millionen Kinder kamen 2016 ums Leben – vor allem wegen schlechter hygienischer und medizinischer Versorgung.


QuoteHitch-22 #10.3

"Etwa 5,6 Millionen Kinder kamen 2016 ums Leben – vor allem wegen schlechter hygienischer und medizinischer Versorgung."

Mein Frage: Wie waren die Zahlen vor 10, 20 oder 30 Jahren?

Die Zahlen stammen aus dem Buch "Factfulness".
Wirklich sehr zu empfehlen.


QuoteFahrinurlaub #10.4

Ach und die Zerstörung der Lebensgrundlagen, spielt keine Rolle.

Außerdem sagen diese Zahlen nichts über die tatsächlichen Verhältnisse.
https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/weltmaedchentag-130-millionen-maedchen-gehen-nicht-zur-schule-a-1172269.html (https://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/weltmaedchentag-130-millionen-maedchen-gehen-nicht-zur-schule-a-1172269.html)

Sie können sich diese Ausbeutungssystem auf kosten von Menschen und der Umwelt ja schön reden, ich lebe in diesem System und sehe was auf der Welt vorsiech geht.


QuoteHitch-22 #10.6

Nicht alles ist gut, das haben Sie sehr richtig erkannt.
Der Klimawandel und seine möglichen Folgen sind hier natürlich zuallererst zu nennen.

Sie haben allerdings geschrieben, dass der Kapitalismus nur einer kleinen Gruppe von Menschen dient.
Das ist falsch und widerspricht jeder Statistik.

Ja, es gibt Missstände. Nein, weder der Kapitalismus noch ein anderes System kann diese Missstände von heute auf morgen ausmerzen.
Viele dieser Missstände haben sich allerdings massiv verbessert und das ist kein Zufall.
Bedenken Sie das wenn Sie das nächste mal auf den Kapitalismus schimpfen.


QuoteSWAGhetti_YOLOgnese #10.12

Beide Beiträge perfekt geschrieben. Kspitalist*innen mögen es nicht, aus der Metaebene heraus zu betrachten. Sie liefern einfache Erklärungen und neigen dazu, Statistiken losgelöst aus irgendwelchen Kontexten zu lesen und zu benutzen.


QuoteVerantwortungsethiker #10.18

Diejenigen die alles von der Metaebene herab betrachten verlieren in den allermeisten Fällen den Bezug zur Realität.


Quote
ich habe eine frage #11

Friday for future, wie wurden die jungen Menschen, von Medien und Politikern in der letzten Zeit angegriffen diffamiert verleumdet und so weiter. Aber eine Antwort auf ihre Fragen hat hat keiner gegeben.

Wie erklären wir den Menschen Afrika oder Asien dass sie hart arbeiten müssen aber wenig Anteil an dem Erfolg haben?

Wie erkläre ich einer Friseuse, einer Verkäuferin ein Physiotherapeuten dass es eigentlich gar keine gelernten Berufe sind und sie deshalb kaum Rente bekommen, weil die Gesellschaft sie eigentlich gar nicht braucht?

Wie kann ich es meinen Kindern Enkelkindern erklären dass einer so fleißig ist dass er 200000 € Monat verdient und ihren seinem Unternehmen einen Mitarbeiter hat die die nicht zu fleißig sind und da ja nur 1300 € verdienen Monat?

Wie erkläre ich es den Kindern und Enkelkindern dass es früher mal Insekten Maikäfer Marienkäfer Schmetterlinge gab?

Wie erkläre ich es den Europäern dass die NATO jetzt über eine Billion für die Verteidigung ausgibt aber nicht sagen kann wer uns angreift?


QuoteProfessor Deutlich #26

Die "moderne" Art zu leben und zu wirtschaften ist langfristig gesehen ähnlich absurd wie der Glaube an ein Perpetuum Mobile. Wir vernichten auf Dauer unsere eigenen Existenzgrundlagen. Und das in einem sich beschleunigenden Prozess.


QuoteBullit #32

Beim lesen des Artikels konnte ich mich zeitweise des Eindrucks nicht erwehren, dass Marx und Lenin hier unter einem Pseudonym geschrieben haben.


QuoteMowKow #48

"Der Sinn der Globalisierung besteht ja – aus der Perspektive des Profits – gerade darin, die Produktion in Länder zu verlagern, in denen die Ausbeutung von Mensch, Tier und Natur ohne allzu große staatliche Behinderung stattfinden kann"

Und "Freihandelsverträge" dienen dazu diese Ausbeutung zu legalisieren und, dank geheimer Schiedsgerichte, auch noch zu zementieren.


Quote
Minilieb #54

Die Globalisierung hat für Wohlstand gesorgt!


QuoteSüdvorstadt #54.1

Blicken Sie mal weiter als bis zum eigenen Gartenzaun. Dahinter sieht die Welt ganz anders aus.


QuoteThomasP1965 #64

Der plötzliche Coronaschock wird vielleicht schnell vergessen sein und vielleicht wird man danach weiter machen wie bisher.
Die aber dann unvermeidbare Klimakrise wird aber anders. Diese wird Dauerzustand sein. Die Verteilungskämpfe werden härter und brutaler. Es wird nicht mehr um das Horten von Klopapier gehen, sondern darum, genügend zu Essen zu bekommen in einer Welt, in der immer weniger Nahrung wächst. ...

Wer sich von den bisherigen Profiteuren der Globalisierung [einreden lässt], dass die gewaltigen Verwerfungen, die das nach sich zieht ihn nicht betrifft, irrt. Seine Kinder und Erben wird es treffen.


QuoteWolf9 #73

Ja der ,, Systemfehler" ist eingenäht. Es ist Wettbewerb. Wann will man den Wettbewerb anhalten? 1950, 1970, 2020?
Die letzten die den Wettbewerb angehalten haben waren die Ostblockstaaten mit ihrer Planwirtschaft. Das Ergebnis ist bekannt.


QuoteMagiccarpet #77

Also dann weiterhin fleißig bei Amazon bestellen. ...


QuoteKOmentar #85

Ich bin mir ziemlich sicher das wenn die Corona Krise vorbei ist es genauso so weitergehen wird wie vor der Krise, Wachstum, Wachstum, Wachstum......einige werden sogar versuchen alles aufzuholen koste es was es wolle.....so ist der Mensch.


Quote
Südvorstadt #85.1

'so ist der Mensch'

Nein, so ist der Mensch nicht. So ist vielleicht das neoliberale Idealbild des Menschen namens Homo oeconomicus. Der Mensch an sich ist aber nicht so, er wird vom Kapitalismus lediglich in diese Rolle gezwungen. ...


Quote
quantosoph #86

Was nun das freie Spiel der Kräfte des Marktes in den letzten Jahrhunderten mit unserem Planeten gemacht hat, stellt sich wie folgt dar und bedarf keiner weiteren Erläuterung: Klimawandel, ungelöste Atommüllendlagerung, Bevölkerungsexplosion, Artenschwund, Ressourcenverbrauch, Plastikmüll in den Weltmeeren, die nicht überstandene Finanzkrise usw. usw. usw. Es bedarf daher keiner komplizierten Theorien, um zu dem einen vernünftigen Schluss zu gelangen, dass eben jenes Wirtschaftssystem, das unseren Planeten an den Rand des Abgrunds geführt hat, nicht dasjenige sein kann, welches den richtigen Weg, quasi wieder wie durch Geisterhand gelenkt, in eine nachhaltige Zukunft findet. - Volker Zorn ( 2015)
Ergänzung : Die Coronakrise legt die Unzulänglichkeiten und fatalen Folgen eines auf Angebot und Nachfrage basierenden Wirtschaftssystems schonungslos frei.


...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on April 22, 2020, 10:31:22 AM
QuoteSabine Beck @sabine_beck, 12:45 nachm. · 21. Apr. 2020
Hatte heute einen Handwerker im Haus. Er meinte, die ganze Coronahysterie ginge ihm auf den Nerv. Weil was wäre denn das größte Problem auf der Welt? Die Überbevölkerung und da wäre es doch nich falsch, wenn die Kranken, Armen u Schwachen schneller sterben.
Ich weine immer noch.


https://twitter.com/sabine_beck/status/1252548941113065478 (https://twitter.com/sabine_beck/status/1252548941113065478)

QuoteSabine Beck @sabine_beck, 1:06 nachm. · 21. Apr. 2020
Ich befürchte, es gibt viele Leute, die so denken.
Ein netter, freundlicher Familienvater.... Ich sags nur.
Und das ist an der Sache für mich das Beängstigendste.


QuoteGrrrBrrr @Die_Papierkugel Antwort an  @sabine_beck

Wenn das Virus nur die Dummen angreifen würde, wäre heute ein anderer Handwerker zu dir gekommen.


QuoteAnna Rosa Brito @AnnarosaBrito Antwort an  @sabine_beck

Solch dummen Menschen begegne ich ständig. Sie müssen zuerst ein Kind, einen Ehepartner, einen geliebten Menschen, eine Mutter, einen Vater, eine Omi, einen Opa, einen Onkel, eine Tante ... verlieren.


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Quote[...] Als im zweiten Jahr des Peloponnesischen Krieges die Pest ausbrach, war für Thukydides der Erreger selbst kaum der Rede wert. Den Geschichtsschreiber interessierte nicht das Biologische, sondern das Historische. Welche Wirkungen hinterlässt die Seuche im Denken und Handeln? Was löst sie aus?

In der Corona-Pandemie ist das kaum anders. Klar, man redet ausgiebig über die Natur des Virus, doch die wahre Lektion, die uns das toxische Nichts erteilt, ist eine soziale – eine Lektion über uns selbst. Mit der Pandemie, so der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl in der Zeitschrift monopol, "ist die Welt in ein Entwicklerbad gefallen". Schon bald werde man "genau sehen, welche Kontraste und Konturen sich herausprägen werden".

Einige Konturen zeigen sich schon jetzt. Die Corona-Krise bringt tabuisierte Dunkelzonen ans Licht, und plötzlich bekommen Zeitungsleser und Fernsehzuschauer Bilder zu Gesicht, die eben noch als Quotenkiller galten – Bilder von Hungerleidenden und Obdachlosen, von Bettelarmen und Prekären, die von keiner Mitleidstafel mehr restversorgt werden und nun dankbar sind für jeden Krumen, der vom Tisch des Herrn für sie abfällt. Solche Aufnahmen stammen nicht aus den Elendsvierteln von Bengaluru, sondern aus den Premiumbezirken westlicher Wohlstandsgesellschaften 30 Jahre nach ihrem Sieg über den Kommunismus. Und wie bereits in der Finanzkrise 2008 kommt das ikonische Foto auch diesmal aus dem "großartigsten Land der Menschheitsgeschichte" (Donald Trump). Wegen Ansteckungsgefahr hatten Wohnungslose in Las Vegas eine Notunterkunft räumen und auf dem Parkplatz eines Fußballstadions übernachten müssen. Mit weißen Linien, wie in einem Setzkasten, hatte die Polizei winzige "Wohnflächen" markiert, auf denen sie ihre Körper ablegen durften, während die Luxushotels ringsum leer standen. "Keep safe distance!"

Man sollte diese Bilder aus dem real existierenden Liberalismus im Hinterkopf behalten, wenn man nachschaut, was noch so alles im Entwicklerbad der Pandemie sichtbar wird. Scharf belichtet werden nämlich nicht nur die neuen Armutszonen, sondern auch intellektuelle Diskurslinien treten nun deutlicher hervor. Theorien, die bislang frei über der Empirie schwebten, feiern ihren konkreten Anwendungsfall oder werden unter Echtzeitbedingungen nachgeschärft. Zutiefst bestätigt fühlt sich zum Beispiel der italienische Philosoph Giorgio Agamben: In seinen Augen beweisen die hysterischen Reaktionen auf die "erfundene" Bedrohung durch das Virus, erst recht aber die drastischen Ausgehverbote der römischen Regierung, dass der Liberalismus an nichts mehr glaube, an keine Gemeinschaft, nur noch an die Macht und das nackte Leben. Italien führe es der Welt vor Augen: Weil sich in der sinnentleerten modernen Gesellschaft das menschliche Leben aufs Überleben reduziere, ziele alles Handeln darauf ab, die reine biologische Existenz zu retten. Getrieben von der panischen Angst, auch noch das letzte ihnen Verbliebene zu verlieren, das nackte Leben, flüchteten die epidemisch einsamen Bürger in die Arme des autoritären "monströsen Leviathan mit dem gezückten Schwert" und opferten ihm ihre Freiheit.

Keinen hat die Beschreibung der italienischen "Biopolitik" so empört wie den französischen Philosophen Alain Finkielkraut; Agamben verharmlose menschliches Leid und sei ebenso "unerträglich arrogant" wie der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk, der in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Le Point das Virus zu einer stinknormalen Grippe bagatellisiert und ebenfalls den Teufel des drohenden Sicherheitsstaates an die Wand gemalt habe. Finkielkraut dagegen ist überzeugt, dass in den staatlichen Reaktionen auf die Pandemie zivilisatorische Standards auf dem Spiel stehen. "Das Leben eines Greises ist so viel wert wie jenes eines Menschen im Vollbesitz seiner Kräfte. Solange wir dieses Prinzip hochhalten, hat der zeitgenössische Nihilismus nicht endgültig triumphiert, und wir bleiben eine Zivilisation." 

Aber es ist nicht nur Giorgio Agamben, der in der Art und Weise, wie die Behörden auf die Pandemie reagieren, die Eiseskälte der Moderne zu spüren glaubt. Auch der gern zitierte Kulturphilosoph Charles Eisenstein, ein Vordenker der Occupy-Bewegung, fragt sich, ob der intensivmedizinische Aufschub des Todes nicht in Wahrheit eine Entfremdung vom Leben ist: Ist die Technizität der Lebensrettung, das verzweifelte Anschließen der Infizierten an Beatmungsgeräte, nicht der Beweis dafür, dass die liberale Gesellschaft den kulturell eingebetteten Tod beseitigt und die familiäre Geborgenheit durch Apparate ersetzt hat? In der Logik des medizinischen Systems sei der Tod das Schlimmstmögliche, und doch wüssten wir alle, dass "der Tod ungeachtet dessen auf uns wartet. Ein gerettetes Leben bedeutet eigentlich einen aufgeschobenen Tod." Würden sich, fragt Eisenstein rhetorisch, peruanische Ureinwohner intubieren lassen? Nein, sie würden den Schamanen bitten, ihnen zu helfen, gut zu sterben. Einige Sätze später räumt Eisenstein immerhin ein, dass man Corona-Opfern helfen müsse – mit allen Mitteln. 

Es ist furchtbar, wenn todkranke Infizierte in Krankenhäuser eingesperrt, wenn sie isoliert werden und es nicht einmal den nächsten Angehörigen gestattet ist, von ihnen Abschied zu nehmen. Und doch muss man die Kritik an der Apparatemedizin scharf und unmissverständlich von einer Behauptung unterscheiden, die dieser Tage ebenfalls die Runde macht: Von der Behauptung, die vom Egoismus korrumpierte Gesellschaft weigere sich, in der Stunde der Not dem Gemeinwesen ein Opfer zu bringen. Oder um die Katze aus dem Sack zu lassen: Sie weigere sich, die Alten zu opfern, um den schleichenden Tod der Wirtschaft zu verhindern. 

Absurd? Nein, der texanische Vizegouverneur Dan Patrick, ein Republikaner, war der erste, der darüber streiten wollte, ob sich die älteren Amerikaner nicht für die heimische Wirtschaft opfern sollten. "Es gibt da draußen viele Großeltern wie mich. Ich habe sechs Enkel. Ich will nicht, dass das ganze Land geopfert wird." Auch der englische Journalist Jeremy Warner (Telegraph) ist der Auffassung, die gesundheitliche Gefährdung der Älteren sei ernsthaft kein Grund, die komplette Wirtschaft abzuwürgen. Im Gegenteil, stürben die Alten, verjünge sich die Wirtschaft, und auch das Rentensystem werde wohltätig entlastet: "Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, könnte sich das Covid-19 langfristig sogar als leicht vorteilhaft erweisen, indem es unverhältnismäßig viele ältere Angehörige aus dem System stößt." Mit seiner Ökonomie des Lebens ist Warner nicht allein. Der Brexit-Stratege Dominic Cummings, mittlerweile Boris Johnsons Chefberater, wird mit den Worten zitiert, Vorrang müsse "dem Schutz der Wirtschaft" zukommen – es sei "halt Pech, wenn das bedeutet, dass ein paar Rentner dabei draufgehen". Später dementierte er diese Sätze.

Auch die aufrichtig marktliberale Neue Zürcher Zeitung veröffentlicht Wortmeldungen, deren Autoren keine Rücksicht mehr auf die Alten nehmen möchten und deshalb mit der Gleichheitsmoral der "Roten" und "Grünen" abrechnen. "Wir wählen", so sarraziniert dort ein Schweizer Unternehmer vor sich hin, "den wirtschaftlichen Suizid, um zu verhindern, dass einzelne betagte Menschen das Zeitliche einige Jahre früher segnen, als es unter normalen Umständen zu erwarten wäre (...). Akzeptieren wir, dass der Mensch sterblich ist, ein langes Leben nicht per se Ziel sein kann." Und eine betörend schlichte Ökonomin und "Influenzerin" zwitschert ihm hinterher: "Kurzfristig wird uns der Verlust vieler Menschenleben schmerzen (...), aber mittel- und langfristig dürfte uns das soziale und ökonomische Chaos stärker beschäftigen, in das wir uns vom Virus haben stürzen lassen. (...) Das Leben geht weiter (...). Darum muss auch der Kapitalismus überleben. Er schafft Wohlstand (...) und stärkt die Menschenrechte."

Auch der emeritierte, in Stanford ansässige Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht hat sich vom rechten Opfervirus anstecken lassen. Seinen erwartbar nietzscheanischen Refrain kennt man schon auswendig, doch diesmal klingt er besonders erbarmungslos: Gumbrecht fürchtet, dass die Gleichheitsmoral – also die ethische Maxime, alle Menschen vor Covid-19 retten zu wollen – das Überleben des Kapitalismus, mehr noch: das Überleben der Menschheit gefährdet. Willfährig haben sich die Regierungen dem lebensrettenden Moralismus der Massen ergeben und einen "populistischen Notstands-Staat" hervorgebracht, der deshalb so drakonisch durchgreife, weil er beim "Durchhalten des Gleichheitsprinzips" niemanden opfern wolle. Doch die (verständliche) Tragikvermeidung rufe eine viel gewaltigere Tragödie hervor und fordere möglicherweise ein noch viel größeres Opfer: das Opfer der Weltwirtschaft. Deshalb müsse man die "skandalös wirkende und gewiss schmerzhafte Frage" stellen, ob die Moral, alle Bürger nach dem Gleichheitsprinzip "maximal gegen eine Todesgefahr zu schützen", nicht das "Überleben der Menschheit aufs Spiel" setzte. "Wie tief können die Börsenkurse sinken, ohne eine Erholung unmöglich werden zu lassen?" Todesmutig bricht Gumbrecht in seinem Bocksgesang ein Tabu und stellt sich "eine bisher ganz und gar ungewohnte Entscheidungssituation" vor, "in der es tatsächlich darum ginge, ob man bewusst die Überlebenschancen der ältesten Generation zugunsten der Zukunftsmöglichkeiten ihrer jüngeren Zeitgenossen verringert".

Das Leben der Alten gegen das "Leben" des globalen Kapitalismus? Solche Zynismen kann nur unterbreiten, wer ernsthaft glaubt, die Wirtschaft sei ein herrischer Willkürgott, der immer wieder und zu Recht tragische Entscheidungen verlangt – man muss ihm opfern, damit er den Endverbrauchern des irdischen Lebens gewogen bleibt. Im Up and Down der Konjunkturen und Börsenkurse tritt der Gott der Ökonomie aus dem Dunkel seiner Unerkennbarkeit ins Licht der Welt, und niemals wird das menschliche Wissen ausreichen, um das Mysterium des Marktes zu verstehen. Das Einzige, was der Gegenwartsmensch noch tun kann, ist es, den Allmächtigen nach antikem Muster gnädig zu stimmen. So wäre dann das Opfer der Alten, Unproduktiven und Unnützen, das Opfer der systemisch Irrelevanten, die sich weder für Leistungsanreize noch für Preissignale empfänglich zeigen, jene fällige Gegengabe, die den wankelmütigen kapitalistischen Gott bei Laune und seinen numinosen Markt am Laufen hält. Für alle reicht es nicht.

Eine ähnliche Mythenbildung gab es bereits im Gilded Age, im amerikanischen Hochkapitalismus Ende des 19. Jahrhunderts, und nicht zufällig paktierte sie mit einem Sozialdarwinismus, der über Leichen ging. Das sollte wissen, wer darüber klagt, die Gesellschaft habe unter der Tyrannei eines maschinisierten Gesundheitssystems das Sterben verlernt, den menschlichen Tod in einer familiären "Kultur der Sorge". Diese berechtigte Klage ist nämlich Musik in den Ohren jener, die ein Menschenopfer für den Markt verlangen und nun die historische Gelegenheit beim Schopf fassen wollen, um den Geburtsfehler der Demokratie zu korrigieren, die Gleichheit aller Bürger. Man sollte, mit anderen Worten, höllisch aufpassen, dass Agambens und Foucaults Kritik am "biopolitischen Regime" nicht in die falschen Hände gerät – in die Hände derer, die uns weismachen wollen, "ein langes Leben" könne "nicht per se ein Ziel sein", weshalb man bitte schön ein Opfer nicht für das Vaterland, wohl aber für die vaterländische Wirtschaft zu bringen habe.

Die Vereinigten Staaten haben der Welt bewiesen, wie sehr es die "ökonomische Ungleichheit, Vermögensverteilung, Einkommensdifferenzen sind, die nicht nur über die Erträglichkeit von Ausnahmesituationen, sondern über Leben und Tod entscheiden". Das Gesundheitssystem, so der erwähnte Joseph Vogl, "ist zu einem Lackmustest für Marktlogiken geworden, die sich im Wettbewerb der Schwerkranken um Intensivbetten und Restlebenszeiten fortsetzen". Donald Trump, der menschgewordene kapitalistische Geist, schlug alle Warnungen vor der Pandemie in den Wind, und einige seiner Parteifreunde verkauften heimlich ihre Aktienpakete, bevor das Sterben einsetzte und das Virus sie um ihren leistungslosen Gewinn brachte.

Der Markt ist ein intelligentes, wenngleich hochgradig störanfälliges Steuerungsinstrument, und wer nun fordert, man müsse ihm Menschenopfer bringen, der verklärt ihn zum barbarischen mythischen Kult. Die kapitalistische Kultreligion feiert die blinde Akkumulation, sie feiert die Selbstbereicherung der bereits unendlich Reichen und die Verwandlung von Geld in noch mehr Geld. Im kapitalistischen Kult besteht der Sinn des Lebens in der Anpassung ans Tote.


Aus: "Menschenopfer für den Kapitalismus" Ein Essay von Thomas Assheuer (21. April 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2020-04/corona-pandemie-kapitalismus-oekonomie-menschenleben/komplettansicht (https://www.zeit.de/kultur/2020-04/corona-pandemie-kapitalismus-oekonomie-menschenleben/komplettansicht)

Quote[...] Thomas Assheuer (* 1955 in Arnsberg) ist ein deutscher Journalist.

Von 1975 bis 1982 studierte Assheuer an den Universitäten Münster und Hamburg Germanistik und Philosophie; 1983 absolvierte er ein Volontariat beim Hessischen Rundfunk und war anschließend Redakteur im ,,Kulturellen Wort". 1991 wechselte er ins Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 1997 ist er Feuilleton-Redakteur der Wochenzeitung ,,Die Zeit".  ...


Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Assheuer (https://de.wikipedia.org/wiki/Thomas_Assheuer) (18. April 2020)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on April 22, 2020, 12:26:42 PM
Quote[...] Jörg Rocholl ist Präsident der internationalen Wirtschaftshochschule ESMT Berlin [https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%B6rg_Rocholl (https://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%B6rg_Rocholl)]

... Der letzte amerikanische Präsidentschaftswahlkampf kostete 6,5 Milliarden Dollar – und übertraf damit die Ausgaben für den deutschen Bundestagswahlkampf 2017 um fast das Hundertfache. Es zeichnet sich ab, dass die bevorstehende US-Wahlschlacht noch teurer wird als vor vier Jahren.

Allein der Milliardär Michael Bloomberg gab für seine Kandidatur gut 500 Millionen Dollar aus. Immerhin zeigt Bloombergs Scheitern, dass in den USA nicht nur tatsächliche oder vermeintliche Milliardäre Präsident werden können.

Das Nettovermögen von Trumps Gegner Biden wird auf vergleichsweise bescheidene neun Millionen Dollar geschätzt. Dennoch ist bei den atemberaubenden Ausgaben in amerikanischen Wahlkämpfen und deren fulminanten Anstiegen kein Ende in Sicht.

Offenbar geht es dabei nicht um hehre politische Ideale, sondern um handfeste wirtschaftliche Interessen. Denn der Ausgang einer Präsidentschaftswahl hat unmittelbare Auswirkungen auf die Aktienkurse von Unternehmen.

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen: Unternehmen, die vor der Wahl einen ehemaligen Politiker in den Vorstand geholt haben, legen in ihrem Aktienwert zu, wenn die Partei des Ex-Politikers die Wahl gewinnt – und zwar unabhängig von der Branche. Selbst die Höhe der Spenden, die das Unternehmen vor der Wahl geleistet hat, ist zweitrangig.

Spenden werden offensichtlich als nichts Dauerhaftes wahrgenommen. Erst mit dem Vorstandsposten für einen früheren Politiker –  Demokrat oder Republikaner – legt sich das Unternehmen politisch fest.

Im Umkehrschluss heißt das allerdings auch, dass nach der Präsidentschaftswahl die Aktienkurse von Unternehmen sinken, die einen ehemaligen Politiker aufs Schild gehoben haben, dessen Partei bei der Wahl unterlegen war. Grundsätzlich aber begrüßen die US-Aktienmärkte Berufungen ehemaliger Politiker in Vorstände, besonders wenn der Ex-Politiker zum ersten Mal in der Wirtschaft anheuert.

Beim Eintritt in ein weiteres Unternehmen ist der Effekt immer noch positiv, aber deutlich schwächer – das Ganze gleicht gewissermaßen einem Teebeutel, der an Aroma verliert, je häufiger man ihn nutzt.

Die Bedeutung ehemaliger Politiker und ihrer Netzwerke für die US-Wirtschaft ist auch deshalb so groß, weil in den Vereinigten Staaten jedes Jahr lukrative Regierungsaufträge über mehrere Hundert Milliarden Dollar ausgeschrieben und an Unternehmen vergeben werden. Konzerne, gerade im Rüstungsbereich, die besonders von Regierungsaufträgen profitieren, haben sicherheitshalber oft ehemalige Politiker sowohl der Demokraten als auch der Republikaner in ihren Reihen.

Empirische Studien belegen, dass Unternehmen, bei denen frühere Politiker der jeweiligen Mehrheitspartei in Senat und Repräsentantenhaus Vorstandsposten bekleiden, deutlich mehr Regierungsaufträge bekommen als Unternehmen mit fehlenden oder ,,falschen" politischen Verbindungen.

Über die Regierungsaufträge hinaus engagieren sich Ex-Politiker für ihr Unternehmen aber auch allgemein bei der Pflege der politischen Landschaft – ob es um die Lockerung von Umweltschutzauflagen geht oder um steuerpolitische Initiativen.

Die Milliardengelder der Spendenkönige wiederum werden in US-Wahlkämpfen auf wenige Landstriche konzentriert, um Wählerinnen und Wähler vom jeweiligen Kandidaten zu überzeugen. Entscheidend für den Ausgang der Präsidentschaftswahlen sind letztlich nur einige ,,Swing States".

Denn die siegreiche Partei in einem Bundesstaat erhält alle Wahlleute, unabhängig davon, wie hoch sie diesen Staat gewonnen hat. Mit der einfachen Mehrheit in einem Staat gilt: ,,The winner takes it all."

Da etwa  Kalifornien oder New York traditionell an die Demokraten und andere Staaten wie Nebraska oder Oklahoma an die Republikaner fallen, findet Wahlkampf dort kaum statt. Die Geldströme fließen massiv in Staaten wie Florida und Ohio, die am Ende den Ausschlag geben.

Die wachsende Bedeutung des Big Business und seiner Lobbyisten für den Ausgang von Präsidentschaftswahlen wurde durch ein Urteil des Supreme Court entscheidend gefördert. Im Jahr 2010 befasste der Oberste Gerichtshof der USA sich in dem Verfahren ,,Citizens United" vordergründig mit der Frage nach dem Recht auf freie Meinungsäußerung von Unternehmen. Doch faktisch ging es darum, ob Unternehmen unbegrenzt an Parteien und deren Kandidaten spenden können.

Die Richter entschieden, das müsse möglich sein. ....


Aus: "Die demokratische Legitimation der Regierung wird immer schwächer" Jörg Rocholl (22.04.2020)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/politik/bedrohlicher-einfluss-der-wirtschaft-auf-us-wahlen-die-demokratische-legitimation-der-regierung-wird-immer-schwaecher/25761844.html (https://www.tagesspiegel.de/politik/bedrohlicher-einfluss-der-wirtschaft-auf-us-wahlen-die-demokratische-legitimation-der-regierung-wird-immer-schwaecher/25761844.html)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on May 05, 2020, 04:26:43 PM
Quote[...] Bei einem Zaubertrick besteht die Kunst darin, die Aufmerksamkeit des Publikums abzulenken, damit es nicht merkt, was tatsächlich vor seinen Augen geschieht. Bei der Corona-Epidemie liegt die Magie in einem Diagramm mit zwei Kurven, das auf Fernsehkanälen in der ganzen Welt zu sehen ist. Die x-Achse gibt die Zeit an, die y-Achse die Zahl der schweren Erkrankungen.

Die erste Kurve geht steil nach oben, sie zeigt den Verlauf der Epidemie, wenn nichts unternommen wird. Diese Kurve überschreitet sehr schnell die horizontale Linie, mit der die maximale Aufnahmefähigkeit der Krankenhäuser angegeben ist. Die zweite Kurve zeigt die Entwicklung, wenn Maßnahmen wie Kontaktsperren und Ausgangsbeschränkungen die Verbreitung des Virus begrenzen. Sie ist leicht gewölbt, wie ein Schildkrötenpanzer, und bleibt unter der horizontalen Kapazitätsgrenze.

Das in den Medien allgegenwärtige Diagramm macht deutlich, wie dringend notwendig es ist, den Rhythmus der Ansteckungen zu verlangsamen, um die Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern. Wenn jetzt Journalisten in der ganzen Welt dieses Schaubild weiterverbreiten, wird ein wesentliches Element oft vergessen: die unauffällige Gerade, die die Zahl der Betten darstellt, die für Schwerkranke zur Verfügung stehen. Diese ,,kritische Schwelle" wird quasi als gottgegeben akzeptiert. Dabei ist sie das Ergebnis politischer Entscheidungen.

Wenn man heute ,,die Kurve abflachen" muss, liegt das auch daran, dass die seit vielen Jahren herrschende Austeritätspolitik die Messlatte gesenkt und das Gesundheitswesen seiner Aufnahmefähigkeit beraubt hat. 1980 gab es in Frankreich elf Krankenhausbetten pro tausend Einwohner, davon sind heute noch sechs übrig. Macrons Gesundheitsministerin hat im September 2019 vorgeschlagen, sie ,,bed managers" zu überlassen, die das rare Gut zuteilen sollten.

In den USA sank die Zahl von 7,9 Betten 1970 auf 2,8 im Jahr 2016.1 Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es in Italien 1980 für ,,schwere Fälle" 922 Betten pro 100.000 Einwohner. 30 Jahre später waren es nur noch 275. Überall galt nur eine Devise: Kosten senken. Das Krankenhaus sollte wie eine Autofabrik im Just-in-time-Modus funktionieren. Das Resultat ist, dass die Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimation und Intensivtherapie (Siaarti) die Arbeit der Notärzte heute als ,,Katastrophenmedizin" bezeichnet. Sie warnt, angesichts der fehlenden Ressourcen ,,könnte es nötig werden, eine Altersgrenze für den Zugang zur Intensivversorgung festzulegen".2 Auch im Nordosten von Frankreich spricht man mittlerweile in ähnlicher Weise von ,,Kriegsmedizin".

Die Coronakrise hat also nicht nur mit der Gefährlichkeit der Krankheit Covid-19 zu tun, sondern auch mit dem organisierten Niedergang des Gesundheitssystems. Doch statt diese Tatsache kritisch zu hinterfragen, laden die großen Medien – seit jeher die Echokammern der Sparpolitik – Leser und Zuschauer zu einer atemberaubenden philosophischen Diskussion ein: Wie entscheiden wir, wen wir retten und wen wir sterben lassen?

Diesmal wird es jedoch schwierig werden, die politische Frage hinter einem ethischen Dilemma zu verstecken. Denn die Corona-Epidemie führt allen vor Augen, dass unsere Wirtschaftsorganisation noch weit absurder ist, als man vermutet hatte: Während die Airlines ihre leeren Flugzeuge fliegen ließen, um ihre Slots zu behalten, erklärte ein Virologe, wie neoliberale Politik die Grundlagenforschung über das Coronavirus behindert hat.3

Offenbar muss man manchmal die Normalität verlassen, um zu begreifen, wie unnormal sie ist. Marshall Burke, Dozent am Zentrum für Ernährungssicherheit und Umwelt der Universität Stanford, twitterte dazu folgendes Paradox: ,,Die Reduktion der Luftverschmutzung aufgrund von Covid-19 in China hat vermutlich zwanzigmal so viele Leben gerettet, wie durch den ­Virus bisher verloren gingen. Das heißt

nicht, dass Pandemien gut sind, aber es zeigt, wie gesundheitsschädlich unsere Wirtschaftssysteme sind, auch ohne Coronavirus."4

Der Höhepunkt der Absurditäten in der Corona-Krise liegt dabei nicht einmal darin, dass es durch die Verlagerung von Produktionsketten einen Mangel an Medikamenten geben könnte, und auch nicht in der Verbohrtheit, mit der die Finanzmärkte Italien bestraften, als die Regierung die ersten Maßnahmen ergriff. Nein, den Höhepunkt finden wir in den Krankenhäusern selbst: Die Mitte der 2000er Jahre in Frankreich eingeführte ,,Gebührenberechnung nach Tätigkeit" (tarification à l'activité, T2A) kalkuliert die Finanzierung der Einrichtungen anhand des Behandlungsaufwands für jeden einzelnen Patienten. Die Leistungen werden wie im Supermarkt einzeln abgerechnet.

Würde nun dieses aus den USA importierte Prinzip der Pflege als Ware während der aktuellen Krise angewendet, wären die Krankenhäuser, die die Schwerkranken aufnehmen, bald ruiniert. Denn der kritische Verlauf von Covid-19 erfordert vor allem eine Beatmung, die Zeit kostet, aber in der Tariftabelle weniger einbringt als diverse Untersuchungen und Eingriffe, die wegen der Epidemie verschoben wurden. Einbußen der Kliniken durch die Pandemie bestätigte etwa der deutsche Virusforscher Christian Drosten in seinem populären Podcast. Drosten sagte am 30. März im NDR: ,,Wir haben Betten freigeräumt. Das macht natürlich auch im Krankenhaus massive finanzielle Verluste. Auch die Medizin ist ein Wirtschaftszweig, und die Verluste sind extrem, die da jeden Tag entstehen."

Für kurze Zeit schien es so, als sprenge das Virus die sozialen Grenzen. Seine Ausbreitung führte zu Maßnahmen, die wir uns jedenfalls in Friedenszeiten nie hätten vorstellen können. War nicht der Wall-Street-Banker plötzlich ebenso bedroht wie der chinesische Wanderarbeiter? Sehr schnell aber wurde deutlich, dass auch in der Krise vor allem das Geld den Unterschied macht. Auf der einen Seite machen die Gutbetuchten es sich in ihren Villen mit dem Homeoffice-Laptop neben dem Pool gemütlich. Und auf der anderen Seite sind die bislang Unsichtbaren des Alltags, Pfleger, Reinigungskräfte, Kassiererinnen im Supermarkt und Lieferanten, einem Risiko ausgesetzt, das den Begüterten erspart bleibt. Eltern sitzen im Homeoffice in ihrer kleinen Wohnung, durch die das Geschrei der Kinder schallt, Wohnungslose würden gern in einem Zuhause bleiben.

Der Historiker Jean Delumeau, Autor einer Geschichte der ,,Angst im Abendland", stieß in seiner Untersuchung über ,,typische kollektive Verhaltensweisen in Pestzeiten"5 auf eine Konstante: ,,Wenn die Gefahr der Ansteckung auftaucht, versucht man zunächst, die Augen davor zu verschließen." Und Heinrich Heine notierte nach der offiziellen Ankündigung der Choleraepidemie 1832 in Paris: ,,Die Pariser tummelten sich umso lustiger auf den Boulevards", als ,,das Wetter sonnig und lieblich war".6 Als Nächstes flohen dann die Reichen aufs Land, und die Regierung ordnete für die Stadt Quarantäne an.

,,Die Unsicherheit entsteht nicht nur aus dem Auftreten der Krankheit", erklärt Delumeau, ,,sondern ebenso aus einer Auflösung des Alltags und der gewohnten Umgebung. Alles ist anders geworden." Genau diese Erfahrung machen heute die Einwohner von Wuhan, Rom, Madrid oder Paris.

Die großen Pestepidemien zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert wurden oft als Zeichen des Jüngsten Gerichts, des Zorns eines rächenden Gottes gedeutet. Damals wandten sich die Menschen entweder der Religion zu und flehten um Gnade oder sie suchten Schuldige in der Nachbarschaft. Juden und Frauen waren beliebte Sündenböcke. Im Europa des 21. Jahrhunderts trifft die Corona-Epidemie säkularisierte Gesellschaften, die seit der Finanzkrise von 2008 bei Themen wie Klimaverschlechterung, Politik, Finanzen, Demografie oder Migration in unterschiedlichem Ausmaß unter einem Gefühl des Kontrollverlusts leiden.

In dieser Endzeitstimmung, in der wieder Bilder der brennenden Kathedrale von Notre-Dame kursieren und über den kommenden Zusammenbruch geredet wird, richten sich alle Blicke auf die Regierung. Der Staat hat das Problem durch die langjährige Zerstörung des Gesundheitssystems verschärft – und ist dennoch die einzige Instanz, die eine Antwort auf die Epidemie finden kann. Aber wie weit kann man dabei gehen?

Noch im Februar löste die mehrwöchige Isolierung von 56 Millionen Einwohnern der chinesischen Provinz Hubei, die Stilllegung der Fabriken oder die Ermahnung der Bürger durch Drohnen mit Kameras und Megafonen in Europa spöttische Reaktionen aus oder Kritik an der eisernen Faust der Kommunistischen Partei.

,,Aus der chinesischen Erfahrung lassen sich keine Lehren hinsichtlich der möglichen Dauer der Epidemie ziehen", erklärte die Zeitschrift L'Express noch am 5. März. Sie sei dort durch ,,drastische Quarantänemaßnahmen verlangsamt worden, die in unseren Demokratien wahrscheinlich nicht anwendbar sind". Doch kurze Zeit später war klar: Im Kampf gegen das Virus, das sich nicht um die Überlegenheit ,,unserer" Werte schert, kommt man nicht umhin, zentralisierten Entscheidungen den Vorrang zu geben gegenüber den Freiheiten des Wirtschaftsliberalismus.

WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus betonte, es sei möglich, die Epidemie zu besiegen, aber nur mit einem kollektiven, koordinierten und umfassenden Herangehen und unter Einsatz aller Kräfte.7 Kollektiv und staatlich koordiniert: Das ist das Gegenteil von Markt. In wenigen Tagen vollführen die bis dato unangreifbaren Experten, die uns die Welt erklären, eine 180-Grad-Wendung: ,,Alles ist anders geworden." Begriffe wie Souveränität, Grenze, Einschränkung und sogar staatliche Hilfen, die seit einem halben Jahrhundert im öffentlichen Diskurs stets in die populistische Ecke gestellt oder als ,,nordkoreanisch" bezeichnet wurden, erscheinen plötzlich als Lösungen in einer bis dato vom Kult der Geld- und Warenströme und von der Sparpolitik regierten Welt.

Von Panik getrieben, entdecken selbst die Mediengurus plötzlich, was sie eifrig ignoriert hatten: ,,Kann man nicht auch sagen, dass uns diese Krise im Grunde auffordert, ganz neu über Aspekte der Globalisierung, unsere Abhängigkeit von China, Freihandel und Flugverkehr nachzudenken?", fragte am 9. März auf France Inter der Journalist Nicolas Demorand, der sein Mikrofon seit Jahren den Kritikern des Protektionismus überlässt.

Die Marktlogik muss den Verstand schon gründlich deformiert haben, wenn die Mächtigen erst nach dem Ausbruch einer mörderischen Pandemie den einfachen Wahrheiten Gehör schenken, die Mediziner seit Jahrzehnten wiederholen: ,,Ja, wir brauchen eine staatliche Krankenhausstruktur, die ständig verfügbare Betten hat", betonen die Mediziner André Grimaldi, Anne Gervais Hasenknopf und Olivier Milleron.8 ,,Das neue Coronavirus hat das Verdienst, uns an Selbstverständlichkeiten zu erinnern: Man bezahlt die Feuerwehrleute nicht nur, wenn es brennt. Man möchte, dass sie in ihrer Wache bereitstehen, auch wenn sie nur ihre Fahrzeuge polieren, während sie auf den Alarm warten."

Von der Krise im Jahr 1929 bis zur neoliberalen Offensive in den 1970ern hat sich der Kapitalismus erhalten und erneuert, indem er seine Institutionen, oft widerwillig, der Verpflichtung unterwarf, vorauszusehen, was ohne Warnung hereinbricht: Brände, Krankheiten, Naturkatastrophen, Finanzkrisen. Um das Unvorhergesehene zu planen, musste man mit der Marktlogik brechen, die allein nach Angebot und Nachfrage einen Preis festlegt, das Unwahrscheinliche ignoriert und die Zukunft mit Formeln berechnet, in denen die Gesellschaft nicht vorkommt.

Diese Blindheit der Standardökonomie, die an den Börsen ins Extrem getrieben wird, bemerkte auch der ehemalige Broker und Statistiker Nassim Nicholas Taleb. In seinem Buch ,,Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse", das wenige Monate vor der Finanzkrise von 2008 erschien, schrieb er über die Prognostiker: ,,Das Expertenproblem besteht darin, dass sie keine Ahnung von dem haben, was sie nicht wissen."9 Taleb bezeichnete es als absurd, das Unvorhergesehene zu ignorieren in einer Welt, die durch die Vervielfachung unerwarteter Ereignisse – eben die ,,schwarzen Schwäne" – geprägt sei.

Ende März 2020 kann jeder, der an seinem Fenster die Stille der eingesperrten Stadt dröhnen hört, über die Verbissenheit nachdenken, mit der sich der Staat nicht nur der Intensivbetten beraubt hat, sondern auch seiner Planungsinstrumente, die heute von ein paar globalen Versicherungs- und Rückversicherungskonzernen monopolisiert werden.10

Kann die Zäsur dieser Pandemie die Entwicklung umdrehen? Um das Mögliche und das Zufällige wieder in die Steuerung der öffentlichen Daseinsvorsorge aufzunehmen, um weiter zu schauen als bis zur Kosten-Nutzen-Rechnung und eine ökologische Planung vorzunehmen, müsste man den größten Teil der Dienste verstaatlichen, die für das Leben der modernen Gesellschaft unverzichtbar sind, von der Straßenreinigung über die digitalen Netze bis zum Gesundheitswesen.

Die Sichtweise des Historikers legt nahe, dass eine Veränderung der Verhältnisse, der Entwicklung, des Nachdenkens über das kollektive Leben und die Gleichheit unter normalen Umständen unmöglich ist. ,,Im Laufe der Geschichte", schreibt der österreichische Historiker Walter Scheidel, ,,haben vier verschiedene Arten gewaltsamer Brüche die Ungleichheit verringert: Massenmobilisierungskriege, Revolutionen, der Bankrott von Staaten und verheerende Pandemien."11 Sind wir an diesem Punkt angelangt?

Andererseits hat das Wirtschaftssystem im Verlauf seiner Geschichte eine außergewöhnliche Fähigkeit bewiesen, die immer häufiger werdenden Stöße zu parieren, die seine Irra­tio­nalität verursacht. So setzen sich auch bei den heftigsten Erschütterungen in der Regel die Verteidiger des Status quo durch. Sie nutzen die allgemeine Fassungslosigkeit aus, um die Macht des Marktes noch weiter auszudehnen. Der Katastrophen-Kapitalismus, den Naomi Klein kurz vor der großen Rezession von 2008 analysierte, schert sich nicht um die Erschöpfung der Rohstoffe und der sozialen Sicherungssysteme, die die Krise dämpfen könnten. In einer Anwandlung von Optimismus schrieb die kanadische Journalistin: ,,Wir reagieren auf einen Schock nicht immer mit Regression. Manchmal wachsen wir auch angesichts einer Krise – und zwar schnell."12 Diesen Eindruck wünschte wohl auch Präsident Macron in seiner Erklärung vom 12. März zu erwecken.

Er wolle, ,,das Entwicklungsmodell, dem unsere Welt seit Jahrzehnten folgt und das jetzt seine Tücken offenbart, und die Schwächen unserer Demokratie hinterfragen", sagte Macron. Bereits heute offenbare diese Pandemie, dass ein kostenloses Gesundheitswesen ohne Unterscheidung nach Einkommen, Karriere oder Beruf sowie unser Wohlfahrtsstaat kein bloßer Kostenfaktor sei, sondern ,,ein unverzichtbarer Trumpf, wenn das Schicksal zuschlägt". Die Pandemie zeige, dass es Güter und Dienstleistungen gebe, die außerhalb der Marktgesetze stehen müssten. ,,Es ist Wahnsinn, wenn wir unsere Ernährung, unseren Schutz, die Fähigkeit, unser Leben zu gestalten, in fremde Hände geben. Wir müssen wieder die Kontrolle übernehmen."

Drei Tage später verschob er die Rentenreform und die Reform des Arbeitslosengelds und verkündete Maßnahmen, die bisher als unmöglich galten: die Einschränkung von Entlassungen und die Aufgabe der Haushaltsbeschränkungen. Und die Umstände könnten diesen Wandel noch verstärken: Die Obsession des Präsidenten etwa, die Ersparnisse und Beamtenpensionen an den Aktienmärkten zu investieren, wirkt vor dem Hintergrund des Absturzes der Börsenkurse nicht gerade wie ein visionärer Geniestreich.

Das Arbeitsgesetz aussetzen, die Bewegungsfreiheit einschränken, Unternehmen mit vollen Händen unterstützen und sie von Sozialabgaben freistellen, auf denen das Gesundheitssystem beruht – diese Maßnahmen allerdings stellen keinen radikalen Bruch mit der bisherigen Politik dar. Der massive Transfer von öffentlichen Geldern in den Privatsektor erinnert an die staatliche Bankenrettung von 2008. Die Rechnung kam dann in Form der Sparpolitik, von der vor allem die Angestellten und die öffentlichen Dienstleistungen betroffen waren. Weniger Krankenhausbetten, um die Banken wieder flottzumachen: das war die Devise.

Auch deshalb drängte sich bei Macrons Rede die Erinnerung an einen Septembertag des Jahres 2008 auf. Damals, kurz nach dem Crash von Lehman Bro­thers, trat der damalige Präsident Sarkozy vor die Kameras und verkündete seinen verblüfften Anhängern feierlich: ,,Eine bestimmte Vorstellung der Globalisierung stirbt gerade mit dem Ende eines Finanzkapitalismus, der der ganzen Wirtschaft seine Logik aufgezwungen und dazu beigetragen hat, sie zu verderben. Die Idee, dass die Märkte immer recht haben, war eine irrsinnige Idee."13 Das hinderte ihn allerdings nicht daran, auf den Weg des gewöhnlichen Wahnsinns zurückzukehren, sobald das Unwetter vorüber war.

1 Quelle OECD.

2 ,,Raccomandazioni di etica clinica per l'ammissione a trattamenti intensivi e per la loro sospensione", Siaarti, Rom, 6. März 2020.

3 Bruno Canard, ,,J'ai pensé que vous avions momentanément perdu la partie", Rede am Ende der Demonstration vom 5. März 2020, nachzulesen unter academia.hypotheses.org.

4 Twitter, 9. März 2020.

5 Jean Delumeau, ,,Angst im Abendland, Die Geschichte kollektiver Ängste in Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts", Reinbek (Rowohlt) 1998.

6 Heinrich Heine, ,,Französische Zustände", online frei verfügbar bei Zeno.org.

7 New York Times, 11. März 2020.

8 Le Monde, 11. März 2020.

9 Nassim Nicholas Taleb, ,,Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse", München (Hanser) 2008.

10 Razmig Keucheyan, ,,La Nature est un champ de bataille. Essai d'écologie politique", Paris (La Découverte) 2014.

11 Walter Scheidel, ,,Nach dem Krieg sind alle gleich: Eine Geschichte der Ungleichheit", Darmstadt (Konrad Theiss Verlag) 2018.

12 Naomi Klein, ,,Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus", Frankfurt a. M. (Fischer) 2009.

13 Rede in Toulon am 25. September 2008.


Aus: "Marktlogik und Katastrophenmedizin" (Aus dem Französischen von Claudia Steinitz Le Monde diplomatique vom 09.04.2020, von Renaud Lambert und Pierre Rimbert)
Quelle: https://www.monde-diplomatique.de/artikel/!5672009 (https://www.monde-diplomatique.de/artikel/!5672009)

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on October 21, 2020, 10:30:36 AM
Quote[...] ZEIT ONLINE: Die Wirtschaftskrise durch Corona trifft auch die Mittelschicht. Spiegelt sich das in der Zusammensetzung der Menschen wider, die zu den Tafeln kommen?

Kirkhart: Ja, absolut. Ich schätze, dass etwa 40 Prozent derjenigen, die durch die Pandemie neu zu unseren Verteilungsstellen kamen, nie zuvor auf Essensspenden angewiesen waren. Aber sie wussten sich nicht mehr anders zu helfen. Sie müssen wissen, die Menschen hier in Appalachia sind stolz. Viele haben geweint, als sie zum ersten Mal zur Lebensmittelverteilung kamen, ihre Kinder hinten im Auto. Sie sagten Dinge wie: "Ich würde das hier eigentlich nicht tun, aber ich habe Kinder." Es hat viel Zuspruch unsererseits gebraucht, um zu vermitteln: Es ist in Ordnung, das hier sind außergewöhnliche Umstände, niemand konnte das vorhersehen. Es ist wichtig, das so würdevoll wie möglich zu gestalten.

...


Aus: "Hunger in den USA: "Viele haben geweint"" Interview: Johanna Roth, Huntington (20. Oktober 2020)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-10/ngo-facing-hunger-west-virginia-armut-cynthia-kirkhart-usa-lebensmittelverteilung/komplettansicht (https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-10/ngo-facing-hunger-west-virginia-armut-cynthia-kirkhart-usa-lebensmittelverteilung/komplettansicht)

Quotetaxonix #8

Die USA haben eines der höchsten BIP pro Kopf der Welt, und trotzdem sind dort Menschen auf Lebensmittelspenden angewiesen. Das kapitalistische System erweist sich ein weiteres Mal als völlig ungeeignet, die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen zu erfüllen, aber das soll es vermutlich auch gar nicht. Es soll die Reichen einfach immer noch reicher machen, und noch reicher, und noch reicher. Und das klappt schließlich super, auch in Corona-Zeiten.


Quotemounia #8.1

Vor allem in Corona Zeiten.


Quotelilaa #56

...

https://www.theguardian.com/business/2020/sep/17/wealth-of-us-billionaires-rises-by-nearly-a-third-during-pandemic (https://www.theguardian.com/business/2020/sep/17/wealth-of-us-billionaires-rises-by-nearly-a-third-during-pandemic)

Dass es in den USA so wenig Aufstände gibt, wundert mich mittlerweile wirklich.


Quotestegie1 #23

Amerika weiss das und will das so.


QuoteEnde Gelände #49

Bitte nicht immer dieser herablassende Blick auf die USA. Ja, es gibt Probleme und ja, dort ist nicht alles Gold was glänzt. Nur sollten wir nicht vergessen, dass es dort vielen besser geht als in den meisten anderen Länder auf der Welt. Und das es immer noch das Sehnsuchtsland Nr. 1 für Auswanderer auf der Welt ist und es wohl immer bleiben wird. Im Hinblick auf die momentane dt. Hochnäsigkeit gilt weiter der Spruch: Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall."


QuoteQuer- und Weiterdenker #53

Jeder kann es schaffen in Amerika - bettelarm zu werden und zu verhungern. Das ist der amerikanische (Alb)Traum. Während andere Länder schon seit vielen Jahren einen funktionierenden Sozialstaat aufgebaut haben, bauen die US-Amerikaner ihre jüngsten Schritte in Richtung einer allgemeinen Gesundheitsfürsorge, Obamacare, ab. Den verhungernden Evangelikalen bleibt da noch der Glaube an ein Leben im Paradies nach dem Tod, allen anderen bleibt gar nichts. Außer den Superreichen natürlich, die machen fetten Gewinne mit Spekulationen an der Börse. Deren Vorratskammern sind voll und vor der Einfahrt parkt der neue Ferrari, schon der fünfte Neue dieses Jahr. Aber jeder kann es schaffen, man muss nur besonders fleißig, nicht wahr liebe Amerikaner?


QuoteSublime85 #72

... liebe ZEIT, wenn ihnen dieser Hunger eine Topplatzierung wert ist, wann wird genauso prominent eine Reportage über eine der anderen hungernden Bevölkerungen gemacht, welche, wohl wahr nicht in der nördlichen Hemisphäre leben. Jeden Tag hungern weltweit über 600 Mio Menschen, mehr als es Amerikaner gibt. Von denen habe ich in letzter Zeit bei ihnen nicht viel gehört.

Quelle: https://www.actionagainsthunger.org/world-hunger-facts-statistics (https://www.actionagainsthunger.org/world-hunger-facts-statistics)


QuoteDrkdD #72.1

Allerdings sind das meistens keine Hungernden aus einem reichen Land. Es sind die Länder die arm sind oder korrupte Regierungen haben. Oder beides. Dann ist eine hungernde Bevölkerung so gut wie sicher......


QuoteR4mbo #75

Hauptsache dem Aktienmarkt geht's gut.


QuoteHH1960 #87

Es ist schon bitter, was sich die letzten 10-20 Jahre nicht nur in den USA zum Schlechten verändert hat. Auch bei uns sind ähnliche Tendenzen zu erkennen.

Arme gab es immer, aber einen solches Ausmaß wohl kaum. Tafeln hier wie dort, prekäre Arbeitsverhältnisse zuhauf. In den USA zusätzlich noch schlechte Schulen und viele Menschen ohne Krankenversicherung.

Gleichzeitig ist das BIP, die Aktienkurse und das
Vermögen der Reichen exorbitant gestiegen.
Wenn dann die Rede von höheren Spitzensteuersätzen oder einer Vermögensteuer ist, schallt einem das Wort ,,Sozialismus ,, entgegen.

Dabei sieht ein Blinder, dass das System so nicht weitergehen kann.


Quoteprincline #93

"Viele haben geweint"
Auf der ganzen Welt weinen Menschen denen es noch viel schlechter geht als denen in Trumps Land. Afrika, Lateinamerika, Mexiko, Indien wie in Diktaturen in Asien.

Pandemie stürzt in Lateinamerika 45 Millionen in Armut.


QuoteLobotominho #93.1

Können wir uns darauf einigen, Arme nicht gegen andere Arme auszuspielen? ...


Quoteschorndruck #113

Das Essen scheint dazu sein, nur fehlt das Geld um Essen kaufen zu können. Ich mag den Kapitalismus so sehr, dass ich manchmal kotzen könnte.


...
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on October 31, 2020, 10:43:44 PM
U$A - Die Dollar-Demokratie | Doku | ARTE
Der Dokumentarfilm wirft einen Blick hinter die Kulissen der US-amerikanischen Politik, im Mittleren Westen wie im Weißen Haus, bei Demokraten wie bei Republikanern. Lobbygruppen, Unternehmen und Milliardäre finanzieren das politische Geschäft mit millionenschweren Spenden, die ganz legal in unbegrenztem Umfang fließen.
In den USA regiert das Geld. Bei jeder Wahl fließen finanzielle Zuwendungen in Strömen. 2010 hatte der Oberste Gerichtshof entschieden, dass Kampagnenfinanzierungen von staatlicher Seite nicht eingeschränkt werden dürfen. Ob in der Bundeshauptstadt Washington oder im tiefsten Arkansas: Lobbygruppen, Unternehmen und Milliardäre finanzieren das politische Geschäft mit millionenschweren Spenden. Noch nie ist so viel Geld geflossen wie 2020.
Während Donald Trump und die Präsidentschaftswahlen die Schlagzeilen dominieren, werden im Hintergrund eine Reihe weiterer Entscheidungen getroffen, die von großer Bedeutung sind: die Neuwahl eines Drittels des Senats, die Wahlen zum Repräsentantenhaus in allen 50 Bundesstaaten, aber auch Ernennungen von Richtern. Keine dieser Entscheidungen wird umgesetzt, ohne dass Geld fließt. Dabei sprechen sich zwei Drittel der US-Amerikaner für eine Deckelung der Wahlkampfausgaben aus, viele empfinden die massiven Zuwendungen als eine Form von Korruption. Eine ,,legale Korruption", die vor aller Augen betrieben wird und sich auf eine Wirtschaftspolitik auswirkt, die Wohlhabende begünstigt.
Die Dokumentation lässt viele Beteiligte zu Wort kommen: eine Abgeordnete im Wahlkampf, die ihren Tag damit verbringt, Spenden einzuwerben; einen Millionär, der die Hintergründe des Systems erläutert; eine Mitarbeiterin der Aufsichtsbehörde, die ihre Machtlosigkeit einräumt; und natürlich wütende Bürger. Ist Donald Trump womöglich nur Ausdruck eines Systems, bei dem sich letztlich alles ums Geld dreht?
Dokumentarfilm von Sylvain Pak (LUX/F 2020, 90 Min)
https://youtu.be/-JRAotDftBo (https://youtu.be/-JRAotDftBo)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on November 02, 2020, 04:17:13 PM
Quote[...] Das schweizerische Pharmaunternehmen Lonza macht dieser Tage Schlagzeilen: Dort stellte man 2017 fest, dass seine Fabrik in Visp im Kanton Wallis jahrzehntelang immense Mengen an Lachgas (Distickstoffmonoxid) emittiert hat. Dieses hat einen Treibhauseffekt von etwa 600'000 Tonnen Kohledioxid pro Jahr (der Treibhauseffekt von Lachgas ist 300 -mal so stark wie der von CO2), über ein Prozent der gesamten Klimagasemissionen der Schweiz, und das aus einer einzelnen Fabrik! Ein global führender Chemiekonzern, der sich in den letzten Jahren gerne als Vorreiter einer grünen Industrie präsentiert, hat also jahrelang nicht bemerkt, dass er Hunderttausende CO2-äquivalente Extra-Tonnen Klimagas in die Luft bläst. Man würde nach dieser Peinlichkeit denken, dass Lonza daraufhin doch die Emissionen schnell stoppt. Möglich wäre das durch den Einbau eines Katalysators, der das Lachgas in Stickstoff und Sauerstoff umwandelt, es also buchstäblich in Luft auflöst. Pustekuchen. Stattdessen entschied sich der Konzern zu einem Katz-und-Maus-Spiel mit den schweizerischen Behörden, wie Recherchen des schweizerischen Tagesanzeigers aufgezeigt haben. Dabei ging es um die Finanzierung der Katalysator-Anlage, die 12 Millionen Schweizer Franken kostet, ein läppischer Betrag für eine Firma, die im Jahr 2019 fast sechs Milliarden Umsatze und weit über eine Milliarde Franken Gewinn verbuchte. Lonza verlangt nicht nur, dass der schweizerische Staat die 12 Millionen Franken Kosten übernimmt. Denn auf einmal rochen die Manager Geld. Sie forderten, dass der der Bau des Katalysators vom Bund als CO2-Kompensationsprojekt anerkannt wird. Jede Tonne CO2-Reduktion (oder das Äquivalent dazu) können der Firma 95 Franken einbringen. Auf einmal winken der Firma also Dutzende Millionen Franken Extra-Gewinne anstatt nur die Übernahme der 12 Millionen Kosten durch den Staat. In all der Zeit der Verhandlungen (unterdessen sind mehr als drei Jahre vergangen, seit die Firma die Lachgas-Emission entdeckt hat) pustet die Firma Mengen an Klimagas in die Luft, obwohl es so einfach wäre, dieses zu verhindern. Die Öffentlichkeit und die Lonza-Aktionäre wurden über diesen Ausstoss erst zwei Jahre später informiert, und der Katalysator wird voraussichtlich erst im Frühjahr 2022 eingebaut. Die Firma ist kostenmässig dagegen längst aus dem Schneider.

Aus solchen Beispielen wird deutlich, dass das 1776 von Adam Smith eingeführte Konzept der ,,unsichtbaren Hand" in der Realität kaum auf die Weise wirkt, wie sich das die Ökonomen in ihren Modellen gerne vorstellen (es ist umstritten, ob Smith selbst mit diesem Ausdruck gemeint hat, dass, wenn alle Akteure an ihrem eigenen Wohl orientiert sind, eine Selbstregulierung des Wirtschaftslebens zu einer optimalen Produktionsmenge und -qualität und zu einer gerechten Verteilung führt. Aber so ging diese Metapher in die Wirtschaftslehre ein). Ein bedeutender Aspekt, der verhindert, dass ein unbedingter, reiner marktwirtschaftlicher Wettbewerb zu gesellschaftlich akzeptablen Zuständen führt, ist, dass Kosten externalisiert werden. So ist der Ausstoss von Treibhausgasen wie CO2 oder Lachgas nach wie vor mit sehr geringen Kosten für die Verursacher verbunden; die realen Kosten werden weitestgehend in die Zukunft verbucht – und dann von allen bezahlt. Es ist, als würde man Müll aus dem Autofenster werfen. Dies ist für einen selbst die am wenigsten aufwendige und damit kostengünstigste Form der Entsorgung. Dass die Allgemeinheit mit dem Müll belastet wird, beziehungsweise für seine Entsorgung zahlen muss, wird nicht berücksichtigt. Es ist das bekannte Problem der ,,Tragik der Allmende", das bereits Aristoteles in seinem Werk ,,Die Politik" beschrieben hat: ,,Dem Gut, das der grössten Zahl gemeinsam ist, wird die geringste Fürsorge zuteil". Die Marktdynamik bietet keinen Mechanismus, der dieses nur allzu menschliche Verhalten verhindern würde. Die unter Kostendruck stehenden Unternehmen könnten sich den Wettbewerbsnachteil nicht leisten, wenn sie freiwillig den tatsächlichen Preis für Produktion, Nutzung, Nebenkosten und Entsorgung ihrer Produkte kosten, wenn dies ihre Konkurrenten nicht tun.

Konkrete Berechnungen von global externalisierten Klimakosten kommen auf sehr grosse Zahlen:


* Der Internationale Währungsfonds IWF bezifferte 2013 die externalisierten, also nicht im Preis berücksichtigten Kosten der fossilen Energieerzeugung auf ca. 4,9 Billionen US-Dollar pro Jahr. Das sind etwa 5,8 Prozent des globalen Bruttoinlandproduktes.

* Nicholas Stern, Leiter des volkswirtschaftlichen Dienstes der britischen Regierung und ehemaliger Weltbank-Chefökonom, schätzte 2006 die direkten jährlichen Kosten für Klimaschäden ebenfalls auf 5 Prozent des globalen BIP. Bei Berücksichtigung der Kosten, die darüber hinaus durch die Belastung von Umwelt und Gesundheit entstehen, kommt Stern sogar auf ca. 17 Billionen US-Dollar, also auf 20 Prozent des globalen BIP. Umgerechnet auf die ca. 37 Milliarden Tonnen CO2-Emissionen, die im Jahr 2019 emittiert wurden, sind das für jede Tonne emittierten Kohlendioxid Schadenskosten von ca. 450 Dollar.

Kann man den Firmen einen Vorwurf machen, die in einem enormen wirtschaftlichen Wettbewerb stehen, nicht nur um Kosten und Kunden, sondern auch um Investoren und Aktionäre? Die Maxime der «shareholder value»-Optimierung aus den späten 1980er Jahren besagt, dass es nicht reicht nur wettbewerbsfähig zu sein, sondern dass auch der Firmenwert so weit wie möglich gesteigert werden muss. Da stören externe Auflagen natürlich nur. Wirtschaftsethiker stellen genau dieses Paradigma immer mehr in Frage und fordern stattdessen ein ethisches Fundament des wirtschaftlichen Schaffens, z.B. in Form einer Sinngebung, die über die Gewinnmaximierung hinausgeht. Diese könnte darin liegen, den Zweck der Firma für die Gesellschaft klarer zu definieren.

Beispiel für ethisches Fehlverhalten von Firmen gibt es jenseits von Lonza viele. Ein besonders eklatantes gibt uns die schweizerische Firma Glencore, die in den letzten Jahren immer wieder durch Skandale auf sich aufmerksam gemacht hat. Korruptionsvorwürfe, Verstösse gegen Umweltauflagen, Ausbeutung von Land und Bevölkerung in Drittwelt-Staaten, umstrittene Geschäfte zum Beispiel im Kongo und in Venezuela, die Untersuchungen der US-Justiz und kanadischer Behörden nach sich gezogen haben, Klagen von Aktionären wegen missbräuchlicher Geschäftsführung – die Liste der Klagen, die gegen diese Firma vorgebracht werden, ist lang. Und dennoch gedeiht die Firma prächtig, zu ihrem unredlichen Management gehören zahlreiche der reichsten Schweizer. ,,Ich bin Geschäftsmann, kein Politiker", sagte ihr Chef einmal und rechtfertigte diese Aussage damit, dass es völlig in Ordnung sei, Geschäfte mit korrupten, gewalttätigen und rassistischen Regierungen zu tätigen und gegen Umweltauflagen zu verstossen.

Es gibt keine ,,unsichtbare Hand", die ganz von allein die Dinge zum Besseren wendet. Der Ansatz, die Politik solle die Dinge einfach laufen lassen, um ein für alle Menschen bestmögliches Ergebnis zu bekommen, ist grundverkehrt. Denn ethisches Fehlverhalten wird vom Markt nicht zureichend abgestraft. Solange bedeutende Firmen wie Glencore und Lonza, oder auch Exxon und Koch Industries sich selbst keine Grenzen setzen und lieber dem eigenen Gewinnstreben auf Kosten des Gemeinwohls dienen, müssen diese Grenzen von aussen gesetzt werden. Dies ist in erster Linie die Rolle der Politik. Konsumenten und Aktionäre können zwar gewisse Zeichen setzen, doch eine sichere und dauerhafte Änderung dieser Missstände kann allein der Gesetzgeber erreichen. Dass dies möglich ist, zeigen die folgenden Beispiele:

* In der Pharmabranche gelten in der meisten Ländern der Welt strenge Verfahren bei der Zulassung neuer Medikamente. Sie gewährleisten, dass Unternehmensinteressen nicht zu übergrossen Risiken für die Gesellschaft führen. In Deutschland hat nicht zuletzt der Contergan-Skandal Anfang der Sechzigerjahre Politik und Bürger für das Thema sensibilisiert.

* Bei der Kernenergie gibt es klare staatliche Auflagen, was Sicherheit und Entsorgung angeht. KKWs unterstehen daher strengen Auflagen.

* Nach vielen Jahren hat die amerikanische Justiz endlich gegen die jahrzehntelangen unsäglichen Lügen der Tabakindustrie bzgl.- der gesundheitlichen Schäden ihrer Produkte durchgegriffen und sie zur Zahlung von Hunderten von Milliarden Dollar verurteilt.

In der Schweiz gibt es am 29. November 2020 eine Volksabstimmung, die fordert, schweizerischen Firmen in die volle Verantwortung zu nehmen, wenn es um Verletzungen von gesetzlichen Auflagen im Ausland geht. Firmen sollen sich dann im Ausland an die gesetzlichen Regeln halten, ganz so, wie sie es auch im Inland tun müssen. Eine Selbstverständlichkeit sollte man denken. Aber genau darüber tobt zurzeit eine heftige politische Schlacht in der Schweiz, in der die Wirtschaft über den Verlust ihrer Wettbewerbsfähigkeit jammert. Bezeichnender geht es nicht.


Aus: "Der Mythos von der «unsichtbaren Hand» – Von Ethik, Anstand und staatlichen Rahmenbedingungen der Wirtschaft" Lars Jaeger (25. Okt 2020)
Quelle: https://scilogs.spektrum.de/beobachtungen-der-wissenschaft/der-mythos-von-der-unsichtbaren-hand-von-ethik-anstand-und-staatlichen-rahmenbedingungen-der-wirtschaft/ (https://scilogs.spektrum.de/beobachtungen-der-wissenschaft/der-mythos-von-der-unsichtbaren-hand-von-ethik-anstand-und-staatlichen-rahmenbedingungen-der-wirtschaft/)

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on November 19, 2020, 03:45:00 PM
Quote[...] Corona hat die Grenzen des neoliberalen Wirtschafts- und Politikmodells schonungslos aufgezeigt: Das Gesundheitswesen kann nicht allein nach Profitabilitätskriterien organisiert werden, und um eine tiefe Depression zu verhindern, braucht es staatliche Hilfen. Die neoliberalen Theoretiker hatten sich das ganz anders vorgestellt – nicht zuletzt autoritärer.

Philipp Sarasin lehrt Geschichte der Neu­zeit an der Universität Zürich. Er ist Mit­be­gründer des Zentrums Geschichte des Wissens, Mitglied des wissen­schaft­lichen Beirats der Internet­plattform H-Soz-Kult und Heraus­geber von Geschichte der Gegenwart.

Die Meldungen waren aufse­hen­er­re­gend: Sowohl die Finan­cial Times wie auch der Gründer des Davoser Welt­wirt­schafts­fo­rums, Klaus Schwab, spra­chen neben vielen anderen davon, dass die Tage des Neoli­be­ra­lismus als große wirtschafts- und gesell­schafts­po­li­ti­sche Leit­linie mit welt­weiter Wirkung gezählt seien. Die Corona-Krise, aber auch die drohende Klima­ka­ta­strophe hätten gezeigt, dass ,,die Märkte" nicht alle Probleme das Planeten und der auf ihm lebenden Gesell­schaften lösen können. Das Corona-Virus führe gerade dras­tisch vor Augen, dass ein auf Effi­zienz und Profi­ta­bi­lität getrimmtes Gesund­heits­wesen zu wenig Ressourcen, Personal und Redun­danzen bereit­hält, um im Fall einer Pandemie nicht an den Rand des Zusam­men­bruchs oder darüber hinaus gedrängt zu werden. Zudem habe die neoli­be­rale Globa­li­sie­rung nicht nur das Migra­ti­ons­pro­blem verschärft, sondern auch die gefähr­liche Verletz­lich­keit zu langer, welt­um­span­nender Liefer­ketten gezeigt. Mehr Regio­na­lismus tue not. Aber auch im Innern der Gesell­schaften habe die neoli­be­rale Reduk­tion von staat­li­chen Trans­fer­leis­tungen und Regu­lie­rungen und die damit verbun­dene Explo­sion des Reich­tums einiger Weniger zulasten der Vielen popu­lis­ti­sche Gegen­re­ak­tionen provo­ziert, die nichts weniger als die Demo­kratie als Staats­form gefährden.

Ist der Neoli­be­ra­lismus also am Ende? Man wird sehen. Denn ganz abge­sehen davon, dass mit all diesen vielen Meldungen und Stel­lung­nahmen noch kaum klar wird, was ,,der Neoli­be­ra­lismus" genau sei, ist immerhin gewiss, dass man ihn wohl nicht so einfach wieder abschalten könnte wie einen Kühl­schrank, der sich nicht mehr regu­lieren lässt. Denn erstens zeigten die Wahlen in den USA gerade, dass sich dort fast die Hälfte der Wählenden, darunter auch Millionen von Benach­tei­ligten, für eine Politik gewinnen lassen, deren wich­tigste Errun­gen­schaft eine massive Steu­er­re­duk­tion für die Reichen und Super­rei­chen war, und die den Abbau staat­li­cher Leis­tungen und Regu­lie­rungen zum Schutz der Schwa­chen und der Natur laufend voran­trieb. Mit anderen Worten – und abge­sehen davon, dass es ,,den" Neoli­be­ra­lismus nicht gibt, wie die anti-globalistische Politik Trumps zeigte –: Neoli­be­rale Wirtschafts- und Gesell­schafts­po­litik wird durch mäch­tige Inter­es­sen­gruppen gestützt, die jetzt nicht einfach ein Einsehen haben.

Zwei­tens sind viele Elemente des Neoli­be­ra­lismus auch ein akzep­tierter, ja selbst­ver­ständ­li­cher Teil unserer Realität geworden. Es gibt keine grund­sätz­liche Alter­na­tive mehr zu Gesell­schaften, die in über­wie­gender Weise als Markt­ge­sell­schaften funk­tio­nieren. Es gibt vor allem seit den 1970er Jahren eine zumin­dest teil­weise inhalt­liche Kongruenz in der Frei­heits­rhe­torik der neoli­be­ralen Theo­re­tiker (es waren weit über­wie­gend Männer) bezie­hungs­weise Politiker:innen (die Rede ist von Margaret That­cher) auf der einen Seite und vieler linker, auto­nomer und queerer Gruppen und Bewe­gungen auf der anderen. Der Feind beider war der mäch­tige Staat, das büro­kra­ti­sche Monster, der kalte Apparat. Das Ziel beider war ein selbst­be­stimmtes Leben ohne allzu viel Rück­sicht auf Normen, Zwänge und Konven­tionen der Massen- und Sozi­al­staats­ge­sell­schaften, wie sie in zumin­dest ähnli­cher Weise von beiden Seiten für ihren Konfor­mi­täts­druck kriti­siert wurden.

Und drit­tens haben die Neoli­be­ralen, wie insbe­son­dere der ameri­ka­ni­sche Wirt­schafts­his­to­riker Quinn Slobo­dian jüngst in einer beein­dru­ckenden Studie gezeigt hat, als ,,Globa­listen" – so auch der Titel des Buches – seit dem Ende des Ersten (!) Welt­kriegs an einem Rahmen für den Welt­handel gear­beitet, der sich bis heute in Tausenden von Verträgen und recht­li­chen Rege­lungen verdichtet und konkre­ti­siert hat. Lange Jahr­zehnte eher als Theo­re­tiker, ab den 1970er Jahren aber auch als einfluss­reiche wirt­schafts­po­li­ti­sche Berater und Experten auf der Ebene inter­na­tio­naler Orga­ni­sa­tionen tätig, propa­gierten die Globa­listen eine juri­di­sche Struktur für die Welt­wirt­schaft, in der das Privat­ka­pital barrie­re­frei zirku­lieren können sollte. Das heißt, das Kapital sollte sich auf der Suche nach profi­ta­blen Inves­ti­ti­ons­mög­lich­keiten ebenso unge­hin­dert inter­na­tional bewegen können wie in den Kolo­ni­al­rei­chen und Impe­rien des 19. Jahr­hun­derts, die mit dem Ersten Welt­krieg entweder schon zusam­men­ge­bro­chen waren oder sich mit ihrem unver­meid­li­chen Ende konfron­tiert sahen. Das zu diesem Zweck schritt­weise dichte Geflecht von Verträgen und Rege­lungen, die ab dann etwa den 1980er Jahren nicht nur die Libe­ra­li­sie­rung des Kapi­tal­ver­kehrs ermög­lichten, sondern auch den Aufbau globaler Liefer­ketten für alles und jedes, wird kaum so schnell einer gesell­schaft­li­chen Stim­mungs­schwan­kung weichen.

Dennoch ist es notwendig, sich in dieser Situa­tion, in der immerhin ein Stück weit ein wirtschafts- und gesell­schafts­po­li­ti­scher Stra­te­gie­wechsel möglich und auch nötig scheint, genauer zu verstehen, was ,,Neoli­be­ra­lismus" jenseits des allzu beliebig gewor­denen Schlag­wortes bedeutet. Die erste Beob­ach­tung kann vom eben erwähnten Buch von Quinn Slobo­dian ausgehen: Neoli­be­ra­lismus ist nicht die Abwe­sen­heit von Rege­lungen und bedeutet auch nicht die Abwe­sen­heit des Staates. Die Ökonomen, die sich seit einem einfluss­rei­chen Kollo­quium 1938 in Paris auf eine Reform des damals von links wie von rechts geschmähten Laissez faire-Libe­ra­lismus des 19. Jahr­hun­derts verstän­digten und nun eben von ,,Neoli­be­ra­lismus" spra­chen, konstru­ierten ihr Programm grob gesagt über zwei Problem­wahr­neh­mungen: Zum einen sahen sie das Problem des ,,alten" Libe­ra­lismus darin, dass der Staat zu wenig regu­lierte – und zum andern das Problem des Sozia­lismus, dass der Staat alles regu­lieren wolle. Ihnen ging es darum, dass der Staat den Markt ,,einhegen", das heißt durch Regeln und Gesetze schützen und so das gleichsam natür­liche Funk­tio­nieren des Preis­me­cha­nismus, des freien Spiels von Angebot und Nach­frage, sicher­stellen soll. Keines­falls aber solle der Staat in poli­ti­scher, etwa vertei­lungs­po­li­ti­scher Absicht oder gar, um die Produk­tion zu steuern, selbst in den Markt eingreifen.

Was das bedeutet und warum die Neoli­be­ralen diese para­doxe Rolle für den Staat entwarfen, lässt sich sehr gut an der wirt­schafts­po­li­ti­schen oder auch, wenn man so will, wirt­schafts­phi­lo­so­phi­schen Theorie des überaus einfluss­rei­chen österreichisch-britischen Neoli­be­ralen und Nobel­preis­trä­gers von 1974, Fried­rich August von Hayek, zeigen. Hayeks Haupt­ar­gu­ment lautete: Der zentrale (staat­liche) Planer kann gar nicht wissen, was er wissen müsste, um planen zu können. Es war ein klas­si­sches Argu­ment, das schon die libe­ralen Ökonomen des 18. und 19. Jahr­hun­derts vorge­bracht haben: Der Staat kann gar nicht genug Wissen über die Wirt­schaft, über die vielen Produ­zenten und Konsu­menten und alle verwi­ckelten Bedin­gungen ihrer Akti­vi­täten haben, um zum Beispiel die Korn­preise so fest­zu­setzen, dass genügen Korn produ­ziert wird, es in den Handel kommt und die Konsument:innen auch güns­tiges Brot kaufen können. Das könne allein der Markt regeln.

Hayek hat diesen grund­sätz­li­chen Vorbe­halt gegen die staat­liche ,,Präten­tion zu wissen" – so der Titel seiner Nobel­preis­rede – im Stil der Zeit kyber­ne­tisch gefasst: Der Markt sei ein großer Computer, der eine unüber­schau­bare Zahl von Einzel­in­for­ma­tionen verar­beite und den einzelnen wirt­schaft­li­chen Akteuren, ob Produ­zenten oder Konsu­menten, allein über das ,,Preis­si­gnal" anzeige, was sie zu tun haben. Alles, was der Staat daher tun müsse, sei, wie gesagt, sicher­zu­stellen, dass der ,,Computer" funk­tio­niert, dass der Markt die rich­tigen Preis­si­gnale produ­zieren kann.

Die mit diesem an sich gut nach­voll­zieh­baren Argu­ment verbun­denen Probleme zumin­dest der Hayek­schen Vision einer voll­ständig ,,libe­ralen" Gesell­schaft sind aller­dings unüber­sehbar. Denn Hayek leitete aus seiner Beschrei­bung des Preis­me­cha­nismus ab, dass dieser und damit der freie wirt­schaft­liche Austausch im Wesent­li­chen die einzige Form sei, wie moderne ,,Groß­ge­sell­schaften" zusam­men­ge­halten werden: als ein Resultat der Vernet­zungs­ef­fekte des Marktes – und nicht etwa durch einen gemeinsam formu­lierten poli­ti­schen Willen, der sich zum Beispiel vom Gedanken der Vertei­lungs­ge­rech­tig­keit leiten lässt. Das ist ein zentraler Punkt. Das Poli­ti­sche durfte laut Hayek auf keinen Fall über den Schutz des Marktes hinaus Gestal­tungs­kraft erlangen, denn über den Hebel der poli­ti­schen Parti­zi­pa­tion würden sich Sonder­in­ter­essen und Grup­pen­ego­ismen unge­recht­fer­tigte, das heißt nicht über den Markt gere­gelte Anteile am Sozi­al­pro­dukt aneignen. Es gab für Hayek neben dem alles bestim­menden Preis­me­cha­nismus daher nur eine einzige Rahmen­be­din­gung, die nicht markt­förmig war, nämlich die ,,rule of law", das heißt die gemein­same Aner­ken­nung der Herr­schaft des Rechts, der basalen recht­li­chen Grund­sätze und Regeln, auf deren Basis ein Staat auch Gesetze zum Schutz des Marktes und des Privat­ei­gen­tums erlassen könne.

Diese ,,rule of law" als solche müsse aller­dings eben­falls dem poli­ti­schen Willen, dem poli­ti­schen Gestalten entzogen bleiben: Hayek verstand sie als einen Tradi­ti­ons­be­stand, der spätes­tens seit dem 17. Jahr­hun­dert das Rechts­ge­fühl steuert, das heißt den funda­men­talen Wert der persön­li­chen Frei­heit und des Privat­ei­gen­tums garan­tiere. Diese grund­le­genden Werte – die Neoli­be­ralen spre­chen gerne von ,,Menschen­rechten", von ,,human rights", wie die Philo­so­phin Jessica White gezeigt hat – könnten nun, so Hayek, nicht durch eine moderne Verfas­sung ,,konstru­iert" werden, sondern sie seien als Tradi­tion das, was als unver­än­der­liche ,,rule of law" eine Markt­ge­sell­schaft erst ermög­liche.

Abge­sehen davon, dass mit dieser Idee einer selbst­ver­ständ­li­chen Aner­ken­nung der tradi­tio­nellen ,,rule of law" de facto immer schon ein über Besitz, Geschlecht und Haut­farbe homo­ge­ni­siertes ,,Wir" derje­nigen voraus­ge­setzt wurde, die diese Aner­ken­nung teilen, bestand die unmit­tel­bare poli­ti­sche Konse­quenz dieser Konstruk­tion darin, dass Hayek die Demo­kratie als Regie­rungs­form weit­ge­hend ablehnte. Sein Neoli­be­ra­lismus konnte unver­hüllt auto­ritär werden. So schrieb er 1977, kurz vor seinem Besuch im Chile Pino­chets, ,,dass ich eine beschränkt nicht-demokratische Regie­rung einer unbe­schränkten demo­kra­ti­schen [...] vorziehe".  Denn letz­tere, konkret die parla­men­ta­ri­sche Demo­kratie, würde, getrieben von den Umver­tei­lungs­ge­lüsten all jener, denen sie Mitsprache ermög­lichte, ,,jede belie­bige Frage zum Gegen­stand von Regie­rungs­maß­nahmen machen" – das heißt die ökono­mi­schen Akti­vi­täten und Inter­essen der Einzelnen in gren­zen­loser Weise dem Regieren unter­werfen. Sie würde dadurch ,,tota­litär", was Hayek glei­cher­maßen der Sowjet­union, der Regie­rung Allende in Chile wie auch, in der Tendenz, der euro­päi­schen Sozi­al­de­mo­kratie vorwarf. ,,Links­ex­trem" begann in dieser Logik schon bei Willy Brandt.

Die Lehre, die sich aus einem solchen hier nur äußerst knapp und bruch­stück­haft skiz­zierten Rück­blick ziehen lässt, ist im Grunde einfach: Ja, Märkte sind oft die effi­zi­en­testen Allo­ka­ti­ons­me­cha­nismen knapper Güter, und ja, man hat allen Grund, allzu viel staat­liche Macht zurück­zu­weisen. 1978 nannte Michel Foucault ,,Kritik" an der zu großen Macht des Staates die Haltung zu fordern, ,,dass man nicht derartig, im Namen dieser Prin­zi­pien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird – dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird". Wir möchten tatsäch­lich nicht in einem zentra­li­sierten Planungs­staat leben – wir müssen einer Regie­rung gegen­über ,,nein" sagen können und wünschen uns recht­liche Struk­turen, die ihre Macht in Schranken halten.

Aber die These Hayeks und der Neoli­be­ralen, dass es über die Siche­rung der persön­li­chen Frei­heit und des Privat­ei­gen­tums hinaus keine weiteren Ziele und Werte geben könne, die eine Gesell­schaft in der Rege­lung ihrer Ange­le­gen­heiten verfolgen kann, ohne dadurch den Markt und damit die Grund­lage des Wohl­standes zu zerstören, ist ebenso falsch wie unplau­sibel. Denn offen­sicht­lich ist der Markt keine unbe­rührte Natur, die, unter Schutz gestellt, ihre Früchte frei­giebig an die Tüch­tigsten verteilt, sondern eine sehr mensch­liche, nur durch Gesetze und Rege­lungen zum Funk­tio­nieren zu brin­gende Einrich­tung. Wenn ,,rule of law" heißt, dass z.B. Regeln für alle gelten sollen, können auch Umwelt­schutz­maß­nahmen oder Sozi­al­stan­dards für alle gelten, ohne den Markt zu ,,verzerren". Das heißt, man kann die Exis­tenz von Märkten dort, wo sie produktiv sind, mit der poli­tisch ausge­han­delten Orien­tie­rung an Zielen und Werten verbinden, die dem Markt als solchem nicht inhä­rent sind und die auch nicht per se mit dem Eigen­in­ter­esse aller Markt­teil­nehmer kongruent sind. Aus der Perspek­tive einer strikt markt­wirt­schaft­li­chen Logik kann es zwar tatsäch­lich kost­spielig und gera­dezu ärger­lich inef­fi­zient sein, im Gesund­heits­wesen zu große Kapa­zi­täten sowie mehr als genug – und über­dies gut bezahltes – Personal zu finan­zieren. Aber wenn ,,der Markt" nicht mit einer Pandemie rechnen kann, ist er offenbar doch nicht die beste aller infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tenden Maschinen, die die Mensch­heit ersonnen hat.


Aus: "#Neoli­be­ra­lismus" Philipp Sarasin (2020)
Quelle: https://geschichtedergegenwart.ch/neoliberalismus/ (https://geschichtedergegenwart.ch/neoliberalismus/)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on December 02, 2020, 09:49:46 AM
"OECONOMIA" Interview mit Carmen Losmann (28. September 2020)
Ich bin der Auffassung, dass unser Leben durchdrungen ist von der Ideologie des modernen Kapitalismus – gleichzeitig ist die Frage nach der Funktionsweise des Kapitalismus seltsam unterrepräsentiert im Film. Ich selber kann nur sagen, dass ich gerne analysiere und begreife, was mich umgibt und durch mich hindurchwirkt. Und weil ich nun mal das Filmemachen gelernt habe, mache ich zu diesen Fragen eben Filme.  ...
http://www.revolver-film.com/oeconomia/

Details: Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Carmen Losmann: "Oeconomia" und die Produktion von Geld
05/12/2020 deutsch Rüdiger Suchsland
Carmen Losmann ist Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin.
Mit Rüdiger Suchsland spricht sie über ihren neuen Film "Oeconomia", welcher auf der Berlinale 2020 Premiere hatte, und die Frage, woher Geld kommt und wer es macht. Dabei geht es auch um die Kapitalisierung des Gesundheitssystems vor dem Hintergrund der aktuellen Krise.
https://www.kurzfilmtage.de/en/blog-festival-2020-en/news-details/news/ruediger-suchsland-im-gespraech-mit-carmen-losmann-oeconomia-und-die-produktion-von-geld/

"Doku "Oeconomia" im Kino:Zum Wachstum verdammt" Martina Knoben (14. Oktober 2020)
Wie kann Geld einfach so aus dem Nichts entstehen und doch überall fehlen? Carmen Losmann stellt in ihrer Finanzwirtschafts-Doku "Oeconomia" Fragen, die selbst Top-Banker ins Schwitzen bringen. ... Dass das Finanzsystem künstlich ist, sich abgekoppelt hat von der Warenproduktion, ja von der Realität, gleichwohl zunehmend unser Wirtschaftssystem und die Politik bestimmt - auf diese Kritik steuert der Film ganz unaufgeregt zu. Außerdem bringt Losmann Ökonomie und Ökologie am Ende zusammen, wenn sie konstatiert, dass es auf einem Planeten mit endlichen Ressourcen kein unendliches Wachstum geben kann. Das alles ist nicht neu, über vieles können Wirtschaftsexperten auch sicher kundig streiten. Der "Kapitalismus für Dummies"-Ansatz aber funktioniert. Über Geld spricht man nicht? Besser doch. ...
https://www.sueddeutsche.de/kultur/kino-doku-oeconomica-1.5068338

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on December 31, 2020, 02:58:59 PM
QuoteUlrich Schneider@UlrichSchneider

Diese Pandemie zeigt es überdeutlich: Der gesamte Gesundheits- und Pflegebereich gehört der Profitlogik entzogen und als Daseinsvorsorge ausschließlich in gemeinnützige und öffentliche Hand. #Bedarfswirtschaft statt Profitwirtschaft!

1:16 nachm. · 30. Dez. 2020

https://twitter.com/UlrichSchneider/status/1344256154831089664 (https://twitter.com/UlrichSchneider/status/1344256154831089664)

Quoterachel-kim (lach)
@rachelk44138983
Antwort an @UlrichSchneider
das und das Beenden von Immobilien als Spekulationsobjekt würde der Gesellschaft sehr helfen.

1:19 nachm. · 30. Dez. 2020


https://twitter.com/rachelk44138983/status/1344256791878770688 (https://twitter.com/rachelk44138983/status/1344256791878770688)

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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on December 31, 2020, 03:36:58 PM
QuoteDaniel Schwerd @netnrd

Als die Gewinne der Krankenhausgesellschaften sprudelten, wurden sie an die Eigner ausgezahlt. Jetzt, wo Verluste entstehen, springt der Staat ein. Gewinne sind privatisiert worden, Verluste werden sozialisiert. Privatisierung ist super.

8:05 nachm. · 29. Dez. 2020


QuoteChristian Keiler @_Christian_K_
Antwort an @netnrd
und @Michael_Kunz

Ist ja nicht die einzige Ecke, in der Privatisierung "so toll" geklappt hat.


QuoteDaniel Schwerd @netnrd
Antwort an @_Christian_K_ und @Michael_Kunz

Nein, nur ein weiteres Beispiel für das Prinzip.

8:28 nachm. · 29. Dez. 2020


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on January 14, 2021, 06:10:07 PM
— UNBOXING UNBOXING: The Amazon Oracle.
The future. Amazon knows.
No second-guessing: one-click-shopping!
veröffentlicht am 19. Dezember 2020 unter dokumentationen, neuigkeiten, theorien
https://www.geheimagentur.net/unboxing-unboxing-the-amazon-oracle/
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on February 24, 2021, 12:46:27 PM
Quote[...] In Manhattan lief einmal ein Trickbetrüger herum, der den Namen Confidence Man bekommen hatte. Seine Masche bestand darin, auf Menschen zuzugehen und sie zu fragen: "Würden Sie mir bis morgen Ihre Armbanduhr anvertrauen?" Gaben sie ihm die Uhr, tauchte er ab, und bis er eines Tages gefasst wurde, waren erstaunlich viele Menschen darauf hereingefallen.

Nach seiner Verhaftung konnte man im New York Herald eine sarkastische Beileidsbekundung lesen, dass diesem Confidence Man die Chance entgangen war, für die Wall Street zu arbeiten. "Seine Genialität ist im Kleinen auf dem Broadway zum Einsatz gekommen. Die ihre an der Wall Street. Das ist der einzige Unterschied", hieß es. "Ihm legt die Polizei Handschellen an. Ihnen bringt die Gesellschaft Wertschätzung entgegen. Lang lebe der wahre Confidence Man! – der Confidence Man der Wall Street."

Jia Tolentino, Journalistin des New Yorker und als eine der besten jungen Essayistinnen der USA gefeiert, erzählt diese Geschichte in ihrem Essayband Trick Mirror, der jetzt auf Deutsch erscheint. Sie erzählt sie, weil sie glaubt, jegliche Art von Trickserei sei ihrer Generation, den Millennials, zur "allumfassenden Realität" geworden. Und die Finanzkrise 2008, ausgelöst durch die Confidence Men der Wall Street, sei eine Art Startschuss gewesen für das Erwachsenwerden einer Generation entlang der Betrugsmaschen.

Nach dem Crash folgten soziale Medien wie Facebook, schreibt Tolentino, die Verbundenheit versprachen und stattdessen eine Welt erschufen, in der wir permanent an der Vermarktung unseres Ichs und unserer Beziehungen arbeiten. Es folgte ein marktkonformer Feminismus, der Gleichberechtigung für alle versprach und sich dann darauf beschränkte, den Erfolg einzelner "Girlbosse" als progressive Politik zu verkaufen.

Und dann sind da natürlich die ganz offensichtlichen scams. Ernährungsmythen wie das angeblich gesunde, in Wahrheit aber nur schmutzige raw water. Oder das von berühmten Models wie Kendall Jenner und Emily Ratajkowski beworbene Fyre Festival, das dann gar nicht existierte. Das Gefühl, irgendwie verarscht zu werden, wechselt sich ab mit der Bewunderung für Menschen, die in einer Welt der Taschenspieler einen funktionierenden Trick gefunden haben. Menschen, die etwa 1,5 Millionen Dollar Kapital für eine App eintreiben können, die nur eine Sache macht: das Wort "Yo" unter seinen Usern zu verschicken.

Tolentino beobachtet die feinen Linien, die sich durch unsere Gegenwartskultur ziehen, mit analytischem Gespür und einem bewundernswerten Hintergrundwissen. Sie gilt als manische Leserin, die oft ein halbes Buch vor dem Schlafengehen liest. Und sie ist gleichzeitig very online, wie man auf Englisch so gut sagt. Mit zehn Jahren hatte sie sich eine eigene Website gebaut, auf der sie gleich einen Text einbaute: Wie Jia internetsüchtig wurde. Sie schrieb diverse Blogs voll, diskutiert auf Twitter und geht für Interviews live auf Instagram.

Diese Kombination hat sie bekannt gemacht. Als Susan Sontag der Millennials oder Joan Didion des Internets wird sie immer wieder bezeichnet, was vielleicht weniger fachlich passende Urteile sind als Zeugnisse der schieren Bewunderung für Tolentino. Sie schrieb früh die Art kluger und meinungsstarker Texte, die sich im Netz gut verbreiten. Zunächst für den Blog The Hairpin und später beim feministischen Onlinemagazin Jezebel, dessen stellvertretende Chefredakteurin sie wurde, bevor das Angebot vom New Yorker kam. Sie schrieb über Schwangerschaftsabbruch, über Vaping, über identitätspolitische Fragen im Publishingbusiness oder über die Frage, warum Millenials eigentlich den Ruf haben, alles zu zerstören, von der Autoindustrie bis zu Hotelbranche. Durch Trick Mirror, da sind sich viele Kritikerinnen einig, etabliere sie sich nun endgültig als eine der wichtigsten Stimmen ihrer Generation. Und was normalerweise verdächtig nach Hype klingen würde, ist in diesem Fall völlig angemessen.

Wer Jia Tolentino liest, hat das Gefühl, für einen Moment klarer zu sehen durch den Nebel der Gegenwart, in der so viele Dinge gleichzeitig verwirrend und absolut selbstverständlich scheinen. Sie selbst sei eigentlich ständig verwirrt, schreibt Tolentino. Und wenn "mich etwas verwirrt, dann schreibe ich darüber". Und ihre Suche nach Antworten besteht zu einem großen Teil darin, die eigenen Selbsttäuschungen abzuschütteln, und das ist oft witzig, mutig, überraschend und scharfsinnig.

Dabei hilft ihr besonderes Talent, persönliche Geschichten mit Gedanken zu verweben. Sie scheut sich etwa nicht, über die Zeit zu sprechen, in der sie als Teenagerin an einer Reality-TV-Sendung namens Girls v. Boys: Puerto Rico teilnahm. Aber ihre Erzählung gerät nie zur Nabelschau. Jedes Detail führt zu einem Gedanken. Wenn sie zum Beispiel über ihrem Auftritt am Strand vom Puerto Rico die verschiedenen Schichten der Selbstinszenierung freilegt. Wie etwa die ständige Selbstanalyse aufhörte in dem Moment, in dem sie vor der Kamera stand. Wie es unmöglich wird, bewusst zu performen, wenn alles eine Performance ist. "Das war eine nützliche, wenn auch fragwürdige Vorbereitung auf ein Leben in den Fängen des Internets", schreibt sie.

In einem der stärksten Essays, Ekstase, erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend in der Gemeinde einer evangelikalen Megakirche im texanischen Houston. Sie erzählt von Bibelstunden, von dieser riesigen Stadt, deren Highways eigentlich die einzigen öffentlichen Orte sind, und von "chopped and screwed", einer Remixtechnik, die Hip-Hop-Songs stark verlangsamt und das Gefühl nachahmt, high auf Hustensaft zu sein. Aber vor allem geht es darum, wie sie ihren Glauben verliert, weil das, was sie für Gott hielt, ihr im Drogenrausch ebenso begegnet. Auf Ecstasy fühlt sie sich, "als würde Gott meine Lunge ersetzen", schreibt sie und versucht daraufhin, mit der Literatur der Mystikerin Marguerite Porète und der Philosophin Simone Weil die Formen der Ekstase besser zu verstehen.

Zwei Themen ziehen sich durch fast alle neun Essays des Buches: der Feminismus und das Internet. Und Tolentinos Beobachtungen dazu gehören zu den genauesten, die man in den letzten Jahren dazu gelesen hat. In Optimierung ohne Ende untersucht sie etwa das Bild der perfekten Frau. Mit zunehmender Emanzipation scheinen sich wie zum Ausgleich die Ansprüche an ihr Äußeres zu steigern, beobachtet Tolentino. Die perfekte Frau trägt heute kein Make-up mehr oder Spanx-Wäsche, um kleine Makel verschwinden zu lassen, denn sie hat keine. Mit teurer Skincare ist ihre Haut selbst perfekt so wie ihr Körper, der nicht geformt werden muss, weil er bis auf jeden Muskel schlank und fit ist, wie sie durch ihre enge Yogaleggings beweist. Sich in diesem Sinne "um sich selbst zu kümmern", schreibt Tolentino, ist heute nicht nur eine ästhetische, sondern eine ethische Frage für Frauen geworden.

Tolentino analysiert das, während sie selbst mittendrin steckt. Auch sie besucht teure und seltsam sexualisierte Fitnesskurse. Und während sie die Aufmerksamkeitsspiralen des Internets kritisiert, schaltet auch sie abends die Apps aus, die ihre Bildschirmzeit reduzieren sollen, um weiterscrollen zu können. Das ist nicht nur die millennialtypische Selbstreflexion. Es ist eine Reflexion über Komplizenschaft, die sich durchs ganze Buch zieht. Auch ihre Karriere habe von der "ungesunden Fokussierung des Internets auf Meinungsäußerungen profitiert", schreibt sie, sowie davon, dass sich Feminismus derzeit so gut verkauft.

Es geht um die Komplizinnenschaft, in die ein extrem ungleiches System zwingt, die Komplizinnenschaft, wenn man Dinge einfach will, wie Schönheit, Komfort, Freiheit. Die Komplizenschaft mit den Confidence Men nicht nur an der Wall Street: "Der Hochstapler und sein Opfer wollen beide von einer Situation profitieren; der Unterschied besteht darin, dass der Hochstapler erfolgreich ist."

Was sie wirklich fertigmache in der Ära von Trump und einer ganzen Schwindlerkultur, schreibt Tolentino, sei, dass die beste Strategie, sie zu überstehen, darin bestehe, nur an sich selbst zu denken. Da sei ein Druck, "uns moralisch zu kompromittieren, um weiterhin zu funktionieren". So sucht sie nicht nur Klarheit, sondern noch etwas anderes, das schwierig zu finden scheint – Integrität: "Ich glaube noch immer, in einem unbelehrbaren Winkel meines Ichs, dass ich es hier herausschaffen kann. Schließlich hat es nur etwa sieben Jahre, in denen ich meine eigene Persönlichkeit im Internet verhökert habe, gedauert, an einen Punkt zu gelangen, an dem ich es mir problemlos leisten kann, auf Amazon zu verzichten, um 15 Minuten und fünf Dollar zu sparen."

Diese Treffsicherheit ihrer Gedanken hat etwas Tröstliches. Auch wenn Tolentino keine Lösungen anbietet für die Risse, die sie aufzeigt, meistens nicht einmal abschließende Erklärungen. Aber es gibt diesen Punkt beim Lesen ihrer Essays, da verschiebt sich etwas in einem, als hätte man einen Funken Realität besser verstanden. Zwischen all den Absurditäten hofft Tolentino darauf, dass sich "kleine Wahrheiten" auftun, und das ist vielleicht die treffendste Beschreibung dessen, was man heute von Gegenwartsbeobachtungen erwarten kann. Und davon bekommt man in diesem Buch ganz schön viel.

Jia Tolentino: "Trick Mirror. Über das inszenierte Ich". S. Fischer, 368 Seiten


Aus: "Jia Tolentino: Überall Schwindler" Eine Rezension von Maja Beckers (23. Februar 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/jia-tolentino-trick-mirror-kritik/komplettansicht (https://www.zeit.de/kultur/literatur/2021-02/jia-tolentino-trick-mirror-kritik/komplettansicht)

QuoteThomas_SF #4

Verarscht worden sind die Menschen immer schon.

Allerdings wird es heute schwieriger, ein Gespür für das Reale zu finden, weil die Welt um uns herum immer künstlicher wird, und wir das, was uns umgibt zunehmend durch Bildschirme und Filter erfahren.


QuoteKassandra 1 #4.1

"Allerdings wird es heute schwieriger, ein Gespür für das Reale zu finden, weil die Welt um uns herum immer künstlicher wird"

Kurz gedacht mag das stimmen, doch wer sorgt dafür, dass die Welt immer künstlicher wird...das sind doch wohl wir Menschen mit unserer grotesken Technikabhängigkeit, unserer Denkfaulheit, unserem Allmachtswahn, der Allen Alles zugänglich machen will und das Individuum zum Zentrum der Universums erklärt.


QuoteOneTrickPony #6

Eine Kritik zu Tolentinos neuem Buch, in dem nicht ein einziges Mal das Wort "Kapitalismus" fällt. Das muss man erst mal schaffen.

Zwei Schlussfolgerungen: Entweder Frau Beckers unterschlägt die Kapitalismuskritik in dem Buch, die sich, wenn man diese angerissenen Themen richtig angehen würde, eigentlich wie ein roter Faden durch dieses Buch ziehen müsste. Müsste.

Oder aber Frau Tolentino kratzt tatsächlich nur an der Oberfläche ...


Quoteihrfodsn #11

Ich bin im gleichen Jahr geboren wie Frau Tolentino. Hab noch nie von ihr gehört. Weder ist sie die Stimme der Generation Y, noch besonders bekannt. Und als ehemalige Jezebel-Autorin (wer es nicht kennt, Hengameh in noch arroganter) wundert mich das auch nicht wirklich.

Mir scheint, Maja Beckers ist der wahre Confidence Man hier.


Quotelosgehen #17

Das Problem ist doch nicht neu. Erich Fromm, Theodor Adorno, Hannah Arendt, Sigmund Freud, Friedrich Nietzsche, Seneca, Aristoteles, Platon usw. usf. haben schon über die (zeitlosen) Probleme der menschlichen Gesellschaft geschrieben, über Lug und Trug, Selbstfindung und Lebensglück durch Wahrhaftigkeit und Selbstliebe. Lösungsansätze für die Menschheit als Ganzes sind auf theoretischer Ebene nicht zu erarbeiten. Lösungsansätze für das Individuum dagegen schon (s.o.)

Das scheint dem Zeit online Leser von heute aber zu hoch und deshalb werden ihm Bücher vorgestellt, die eben keine Lösungsansätze bieten, sondern eine "Gesellschaftsanalyse" liefern, die man als Betroffenheitsliteratur bezeichnen könnte. Mag diese auch wortgewandt daher kommen, sie bleibt genau das, was die Autorin in ihrem Buch kritisiert: Selbstvermarktung.


Quotejack_carlton #18.2

... wie ein Forist hier schrieb, wenn dies eine Kritik am Leben IM Kapitalismus sein soll, UNTER kapitalistischen Bedingungen, und es fällt nicht ein einziges Mal das K-Wort, dann springt die Autorin zu kurz. (Wie gesagt, ich kenne das Buch nicht, aber die Rezension lässt vermuten...)


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on March 29, 2021, 09:56:43 PM
Quote[...] Bis zuletzt blieb er unter dem Radar. Bill Hwang (56) stand bei vielen Investmentbanken auf der schwarzen Liste, schließlich hatte er schon 2012 einen Hedgefonds schließen und eine Strafe wegen Insiderhandels akzeptieren müssen. In Hongkong hat ihn die Börsenaufsicht sogar lebenslang vom Handel ausgeschlossen. Und doch konnte er auf eigene Rechnung mit gewaltigem Kredithebel ein Multi-Milliardenportfolio aufbauen - und ein Großrisiko für den Finanzmarkt schaffen, das jetzt mehreren Großbanken um die Ohren fliegt. ... Hwang, in seiner Jugend als Sohn eines koreanischen Priesters in die USA gekommen und bis heute Beirat des evangelikalen Fuller Theological Seminary im kalifornischen Pasadena, gehört zu den sogenannten Tiger Cubs (Tigerjungen), den Schülern des Hedgefonds-Pioniers Julian Robertson (88). In dessen Tiger Management stieg Hwang als Aktienanalyst auf und verdiente sich zumindest in einem Jahr einen Sonderbonus als Bestperformer der Firma. ... s gehe ihm nicht nur um das schnelle Geld, sagte er in einem 2018 veröffentlichten christlichen Youtube-Interview. "Es geht um die lange Frist, und Gott hat sicher eine langfristige Sicht." ...

"Faith and Work | Bill Hwang on investing in people" (07.03.2018)
Bill Hwang, CEO and Founder of Archegos Capital Management and Fuller Trustee, shares how his faith influences his business practices and the importance of asking "where can I invest to please our God?" He is interviewed by Tod Bolsinger, Vice President and Chief of Leadership Formation.
https://youtu.be/vnbeQ-WFOUU (https://youtu.be/vnbeQ-WFOUU)

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Aus: "Die Rückkehr des Tigerjungen" (29.03.2021)
Quelle: https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/hedgefonds-bringt-credit-suisse-in-bedraengnis-wie-bill-hwang-zum-zweiten-mal-investoren-an-der-nase-herum-fuehrte-a-dc359aa2-ab26-4714-9896-35a774534248 (https://www.manager-magazin.de/unternehmen/banken/hedgefonds-bringt-credit-suisse-in-bedraengnis-wie-bill-hwang-zum-zweiten-mal-investoren-an-der-nase-herum-fuehrte-a-dc359aa2-ab26-4714-9896-35a774534248)

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Quote[...] Bill Hwang ist wohl nicht das, was man sich unter einem typischen Hedgefonds-Manager vorstellt: Denn für ihn scheint nicht das Geld der grösste Antrieb zu sein, sondern er will mit seinen Investments das Werk Gottes voranbringen. Deshalb engagiert er sich auch für das evangelikale Fuller Seminar in Kalifornien.

Geld hat der 56-jährige Hwang sowieso schon genug verdient. Er kam als Jugendlicher aus Südkorea in die USA und machte dort in der Finanzbranche Karriere. So verdiente er in den Neunzigerjahren mit Deals in Asien ein Milliardenvermögen. Dieses verwaltet er nun mit seiner eigenen Firma Archegos. ...

... Hwangs Spezialität sind riskante Wetten. Er gehört zu den sogenannten Tiger Cubs. Damit sind die Schüler des legendären Hedgefonds-Managers Julian Robertson gemeint. Für dessen Tiger Management arbeitete Hwang, bis sich Robertson vor zwanzig Jahren zurückzog und das Feld seinen Nachfolgern überliess. Hwang fokussierte sich auf Asien und war dort sehr erfolgreich. Doch erhielt seine Karriere 2012 einen Knick. Damals gestand er gegenüber der US-Börsenaufsicht ein, dass der Erfolg auch auf Insiderhandel beruhte. Hwang bekannte sich schuldig und zahlte insgesamt 44 Millionen Dollar – als Busse und als Entschädigung für private Kläger. Hwang schloss danach Tiger Asia und zog sich etwas zurück.

Mit Archegos begann er wieder von vorne. Der Neustart wurde in den Banken zuerst kritisch gesehen. So wurde er von der US-Grossbank Goldman Sachs lange als zu grosses Risiko angesehen, wie die «South China Morning Post» berichtet. Die Bank weigerte sich noch Ende 2018, mit ihm Geschäfte zu machen. Doch habe sich die Meinung von Goldman Sachs wieder geändert, als die Bank gesehen habe, wie lukrativ Hwang als Kunde gewesen sei. Er brachte den Banken mit seiner Firma hohe Einnahmen. Offenbar war er da schon wieder mit mehreren anderen Banken gut im Geschäft.

Denn Hwang soll einen extrem riskanten Kurs gefahren haben, indem er für seine Deals sehr wenig eigenes Geld und sehr viel Fremdkapital eingesetzt habe. So lukrativ das in guten Zeiten ist, so teuer ist es, wenn der Investor sich verspekuliert. Das ist ihm nun mit Wetten auf die Wertpapiere der US-Medienkonzerne Viacom CBS und Discovery, des kanadischen Onlineshop-Anbieters Shopify und der chinesischen Internetriesen Baidu und Tencent Music passiert.

Als Hwang die von den Banken geforderten Sicherheiten nicht mehr liefern konnte, begannen einige Institute letzten Freitag mit dem Notverkauf der Aktien aus dem Archegos-Portfolio, um sich möglichst schadlos zu halten. Die Folge waren heftige Ausschläge an den Börsen und lange Gesichter bei den Banken, die nun herausfinden müssen, wie gross das Loch ist, das Hwang bei ihnen hinterlassen hat.


Aus: "Wer ist Bill Hwang? - Dieser Finanzmanager sorgt für Panik bei den Grossbanken" Jorgos Brouzos (29.03.2021)
Quelle: https://www.zuonline.ch/dieser-finanzmanager-sorgt-fuer-panik-bei-den-grossbanken-231822374496 (https://www.zuonline.ch/dieser-finanzmanager-sorgt-fuer-panik-bei-den-grossbanken-231822374496)

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Quote[...] Am Freitag hatte ein Ausverkauf von Aktien in den USA zu markanten Kursverlusten bei einer Reihe von Unternehmen geführt, die einem Insider zufolge mit Archegos in Verbindung stehen. Die Papiere der Medienkonzerne ViacomCBS und Discovery hatten jeweils 27 Prozent an Wert verloren. Die in den USA notierten Anteile der chinesischen Konzerne Baidu und Tencent Music waren im Laufe der Woche um ein Drittel beziehungsweise knapp 50 Prozent abgesackt.

Nach Angaben informierter Kreise hatten die Deutsche Bank, Goldman Sachs und Morgan Stanley im Auftrag von Archegos Aktien im Wert von rund 30 Milliarden Dollar auf den Markt geworfen. Investoren halten systemische Risiken zum jetzigen Zeitpunkt zwar für unwahrscheinlich, zeigten sich allerdings nervös über das Ausmaß der Auflösung von Archegos-Positionen und mögliche weitere Verkäufe.

Das Unternehmen, geführt von Bill Hwang, ging aus dem Hedgefonds Tiger Asia hervor. Der Manager einigte sich 2012 mit der US-Börsenaufsicht SEC gegen Zahlung von 44 Millionen Dollar auf die Einstellung von Ermittlungen zu Insiderhandel. Archegos, auf der Firmen-Internetseite als Family Office bezeichnet, soll Medienberichten zufolge rund zehn Milliarden Dollar verwalten. Hwang war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.

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Aus: "Archegos Capital sorgt für Beben US-Hedgefonds-Ausfall trifft Bankenbilanzen" (Montag, 29. März 2021)
Quelle: https://www.n-tv.de/wirtschaft/US-Hedgefonds-Ausfall-trifft-Bankenbilanzen-article22459530.html (https://www.n-tv.de/wirtschaft/US-Hedgefonds-Ausfall-trifft-Bankenbilanzen-article22459530.html)

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Quote[...] Welche Auswirkungen es haben kann, wenn ein Hedgefonds sich verzockt, hat Anfang des Jahres das Beispiel von Gamestop einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt [https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/gamestop-anhoerung-in-den-usa-wer-hat-verhindert-dass-die-rechnung-der-kleinanleger-aufgeht/26932936.html (https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/gamestop-anhoerung-in-den-usa-wer-hat-verhindert-dass-die-rechnung-der-kleinanleger-aufgeht/26932936.html)]. Die Leerverkäufer von Melvin Capital hatten darauf gesetzt, dass die Papiere des Computerspieleverkäufers an Wert verlieren würden. Als diese dann aber massiv stiegen, stand der Hedgefonds dem Vernehmen nach kurz vor dem Aus – und musste mit Milliardenbeträgen gerettet werden. Nicht wenige hatten damals bereits mit einem großen Crash gerechnet.

Nun steckt ein anderer Fonds in Problemen. Und wieder betreffen die Auswirkungen die gesamte Börse. Der US-Hedgefonds Archegos Capital reißt diesmal vor allem Banken mit in Schwierigkeiten. Die Schweizer Großbank Credit Suisse und die japanische Investmentbank Nomura warnten am Montag vor erheblichen Verlusten durch den Ausstieg aus Positionen bei einem US-Hedgefonds. Sie nannten den Namen des Hedgefonds zwar nicht, doch Finanzkreisen zufolge handelt es sich um Archegos.

Auch die Deutsche Bank ist einem Insider zufolge betroffen, allerdings weniger stark als die Wettbewerber. Das Exposure des Frankfurter Geldhauses sei nur ein Bruchteil dessen, das andere hätten, sagte eine mit der Angelegenheit vertraute Person der Nachrichtenagentur "Reuters" am Montag. Bis Freitagnacht habe die Bank keine Verluste aus den Geschäften mit Archegos erlitten und manage die Positionen.

Die japanische Investmentbank Nomura bezifferte den Verlust auf zwei Milliarden Dollar, die Credit Suisse zufolge könnte der Verlust ,,sehr bedeutend und wesentlich" für das Ergebnis des ersten Quartals sein. Die Schweizer erklärten, ein bedeutender Hedgefonds sei Nachschusspflichten – den sogenannten Margin-Calls – nicht nachgekommen. Das bedeutet, er hätte eigentlich Geld nachzahlen müssen, weil sein eingesetztes Kapital unter den für seine Positionen benötigten Wert gesunken ist. Da der Investor kein Geld nachschoss, seien die Schweizer Großbank und andere Geldhäuser nun dabei, diese Positionen aufzulösen. Haben diese nun an Wert verloren, bleibt die Bank auf dem Minus sitzen.

Am Freitag hatte ein Ausverkauf von Aktien in den USA zu markanten Kursverlusten bei einer Reihe von Unternehmen geführt, die einer mit der Sache vertrauten Person zufolge mit Archegos Capital in Verbindung stehen. Die Papiere der Medienkonzerne ViacomCBS und Discovery hatten jeweils 27 Prozent an Wert verloren. Die in den USA notierten Anteile der chinesischen Unternehmen Baidu und Tencent Music waren im Laufe der Woche um ein Drittel beziehungsweise knapp 50 Prozent abgesackt.

Investoren halten systemische Risiken zu jetzigen Zeitpunkt zwar für unwahrscheinlich, zeigten sich allerdings nervös über das Ausmaß der Verkäufe von Archegos und möglich weitere Veräußerungen. Die Aktien der Credit Suisse stürzten am Montag an der Börse in Zürich um 14 Prozent ab – das ist der größte Tagesverlust seit dem Börsencrash vom Frühjahr 2020 ein.

In Tokio waren die Nomura-Anteile 16 Prozent eingebrochen. Auch an der deutschen Börse konnte man die Auswirkungen spüren: Die Titel der Deutschen Bank fielen in Frankfurt um gut fünf Prozent, konnte sich im Laufe des Nachmittags aber wieder auf ein Minus von nur noch gut drei Prozent erholen. Damit waren sie noch immer der schwächste Wert im Leitindex.

Die Credit Suisse lehnte eine weitergehende Stellungnahme ab und stellte mehr Informationen zu gegebener Zeit in Aussicht. Die Warnung ist erneut ein Rückschlag für die Bank, die erwägt, Investoren zu entschädigen, die vom Zusammenbruch von Fonds betroffen sind, die mit der insolventen Finanzfirma Greensill verbunden sind. Bereits im vierten Quartal 2020 war eine Investition in einen Hedgefonds-Anbieter die Credit Suisse teuer zu stehen gekommen: Das Institut musste den Wert der Beteiligung an York Capital um 450 Millionen Dollar berichtigen. (mit rtr)


Aus: "Ein strauchelnder Hedgefonds stellt die Wall Street vor Probleme" Thorsten Mumme (29.03.2021)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/hohe-verluste-befuerchtet-ein-strauchelnder-hedgefonds-stellt-die-wall-street-vor-probleme/27051650.html (https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/hohe-verluste-befuerchtet-ein-strauchelnder-hedgefonds-stellt-die-wall-street-vor-probleme/27051650.html)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on April 15, 2021, 02:44:33 PM
Quote[...] Das Aus des Berliner Mietendeckels vor dem Bundesverfassungsgericht hat unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen – große Erleichterung vor allem in der Immobilienwirtschaft, Frust beim Mieterbund und eher hilflose Appelle des Berliner Senats. ... So sprachen Verbände der Hausbesitzer und Immobilienbranche von der "maximalen Niederlage". Das Gericht habe die Berliner Landesregierung aus SPD, Grünen und Linken "komplett abgewatscht", sagte etwa Haus-&-Grund-Präsident Kai Warnecke. "Nun ist Rechtsklarheit für Mieter und Vermieter gleichermaßen geschaffen worden", sagte der Präsident des Bundesverbands Freier Immobilien- und Wohnungsunternehmen (BFW), Andreas Ibel.  ...

... Die Entscheidung aus Karlsruhe ist bitter", sagte der Präsident des Deutschen Mieterbundes, Lukas Siebenkotten. Sie sei aber auch "ein lauter Weckruf an den Bundesgesetzgeber, endlich zu handeln und die Mietenexplosion in vielen deutschen Städten zu stoppen!"

... Mieterinnen und Mieter in Berlin müssten nun gegebenenfalls die Differenz zwischen der Mietendeckelmiete und der Vertragsmiete nachzahlen – wenn sie zuvor eine Mietminderung erwirkt hatten. "Dabei sieht sich der Senat auch in der Pflicht, sozial verträgliche Lösungen für Mieter:innen zu entwickeln", sagte Stadtentwicklungssenator Scheel, dessen Vorgängerin Katrin Lompscher (Linke) den Mietendeckel eingeführt hatte.

... Die AfD-Landesvorsitzende Kristin Brinker sprach von einer "schallenden Ohrfeige mit Ansage", Fraktionschef Georg Pazderski von einem Zeichen gegen "sozialistische Verbote".


Aus: "Vermieter begeistert, Mieterbund frustriert, Senat verspricht Hilfen" (15. April 2021)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-04/mietendeckel-berlin-nachzahlungen-vermieter-mieterbund-bundesregierung (https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-04/mietendeckel-berlin-nachzahlungen-vermieter-mieterbund-bundesregierung)

QuotePolitik macht traurig #3

Meine persönliche Meinung - ganz unabhängig vom aktuellen Mietendeckel Thema - ist dass es zur Zeit der Corona-Pandemie eigentlich ein Thema sein sollte Mieten generell zu kürzen oder gar auszusetzen bis die Menschen wieder arbeiten können/dürfen. Jemand der aufgrund der Gesetzeslage nicht arbeiten darf sollte keine Miete zahlen müssen.
Ich frage mich sowieso wie ein Mensch drauf sein muss , im Wissen dass seine Mieter kein Einkommen haben trotzdem Miete zu verlangen. ...


Quotemcurmel #3.1

"Politik macht traurig"

"Ich frage mich sowieso wie ein Mensch drauf sein muss , im Wissen dass seine Mieter kein Einkommen haben trotzdem Miete zu verlangen."

Das einhalten von Zahlungsverpflichtungen von jedem Marktteilnehmer ist eine schlichte Notwendigkeit?
Wenn das nicht mehr gilt, können Sie den Laden hier wirklich besser zusperren und sich ins Ausland absetzen.


QuotePolitik macht traurig #3.10

Sie fordern gerade jemand der durch das Gesetz ein Berufsverbot bekommen hat trotzdem arbeiten soll damit er seine Miete zahlen kann weil er sonst eine Vollkaskomentalität hat?
Verstehe wer will...


Quotemcurmel #3.11

@ Politik macht traurig

"Wie soll eine Zahlungsverpflichtung denn eingehalten werden wenn es per Gesetz nicht erlaubt ist seiner Beschäftigung nachzugehen?"

Im Zweifel gar nicht, nur dann eben auch mit den entsprechenden Konsequenzen.
Ich spreche mich auch nicht grundsätzlich gegen Hilfen aus, nur was Sie vorgeschlagen haben, das man einfach mal sämtliche Zahlungsverpflichtungen aussetzt, ist wirklich gefährlich für den ganzen Wirtschaftskreislauf.


QuoteRagas #3.2

"Das ist unerträglich asozial und so funktioniert keine Gesellschaft."

Leider eben doch. Was meinen Sie, warum Zuschüsse wie Überbrückungshilfen nur die reinen beruflichen Ausgaben (Miete, Strom, Nebenkosten etc) abdecken? Da liegt eine Quersubventionierung der Immobilien-, Telekommunikations- und Energiewirtschaft vor. Selbst die entsprechenden Anteile an Hartz4 sind so gestaltet, dass dem "Jobcenterkunde" zwar kaum noch Teilhabe an Gesellschaft ermöglicht wird andererseits die teils exorbitanten Miete vollständig nach dem örtlichen Mietspiegel zugestanden bekommt.

Aber irgendwo muss die Schere unserer Gesellschaft ja seinen Anfang haben.


Quoteastrolenni #3.13

Letztendlich läuft doch der Coronahilfen-Kreislauf so:

Staat gibt Wirtschaftshilfe an Bürger
Bürger zahlen Miete an Vermieter
Vermieter zahlt Kredit(zinsen) an Bank
Bank gibt Staat Kredit (und würde ohne Niedrigzinsphase, und die ist Corona-unabhängig, dafür Zinsen kriegen)

Letztendlich profitieren am Ende die Banken und Großvermieter, die ohne physische Leistung aus dem ganzen Kreislauf Zinsen bzw. allgemeine Rendite gewinnen, und zwar stärker als je zuvor.


Quotemcurmel #4

Ein positives Signal für alle Marktteilnehmer, egal ob Mieter oder Vermieter. Nun besteht wenigstens die Chance das eine sinnvolle regionale Wohnungsbaupolitik etwas verbessern kann. ...


QuoteIkarus95 #4.3

Wo ist das positive Signal an die Mieter?


QuoteDas grüne Programm #23

Es sind auch die Mieter*innen begeistert, die sich jetzt wieder mit ihrem dicken Geldbeutel die schönen Wohnungen mieten können.


QuoteThelonius Mink #4.1

Die Normalverdiener können ja dann solange unter die Brücke ziehen, bis diese sinnvolle, regionale Wohnungsbaupolitik ihre Segnungen entfalten kann...


QuoteDer Niederbayer #4.5

Wenn die Buden in Berlin so teuer sind, dann zieht doch raus ins Grüne und kauft euch eine Bahncard.


QuoteDieter Bohlen #4.6

Nicht jeder hat Zeit und Lust am Tag 4 Stunden zu pendeln.


QuoteIlloran #4.8

Wäre doch mal ne Maßnahme. Wenn Berlin endlich so weit Gentrifiziert ist, dass es in der Stadt nur noch Banker, Buchhalter und Vermieter gibt die sich gegenseitig über den Tisch ziehen können die ja 4 Stunden aus Berlin rauspendeln aufs Land um dort einzulaufen und sich die Haare schneiden zu lassen.


QuoteLo Manthang #4.10

Mal ehrlich. Hauptsächlich haben vom Mietendeckel doch Leute in hippen Stadtteilen profitiert. Ärmere Menschen hatten davon doch sowieso nichts, da die Miete diesbezüglich noch Platz bis zur Grenze hatte.


QuoteErnst Blache #11

Ein juristisch wohl korrektes Urteil. Nur - als Zeichen ist es fatal. Die explodierenden Mieten in Großstädten sind eine tickende soziale Zeitbombe, die jetzt wieder scharf ist.
Um das grassierende Spekulatentum und seine Folgen einzudämmen wird man irgendwann um die Tabubegriffe Besetzen, Enteignen und Vergesellschaften nicht mehr herumkommen - wenn jetzt nicht endlich drastisch gegengesteuert wird.


QuoteIngwerknolle #11.1

Offensichtlich besteht kein Interesse daran gegenzusteuern.
Berlin wird also das neue London.

Diejenigen, die was daran ändern könnten betrifft es ja eh nicht. Sie profitieren noch davon.


QuoteKalbshaxeFlorida #12

Na Mensch, dann kanns jetzt mit der Gentrifizierung ja so richtig losgehen. Super Entscheidung auch mitten in Zeiten von Corona.


Quotepeter.linnenberg #13

"Sie sei aber auch "ein lauter Weckruf an den Bundesgesetzgeber, endlich zu handeln und die Mietenexplosion in vielen deutschen Städten zu stoppen!"

Früher hat der Staat Sozialwohnungen gebaut. Dann hat er immer mehr davon an grosse Investoren verkauft. Und dann wundert man sich, dass die Mieten steigen? ...


QuoteErnst Blache #13.1

Sie haben sowas von Recht. Wohnen ist eine Grunddaseinfunktion. Es ist in Großstädten aber zu einem reinen Wirtschaftsmodell verkommen.


QuoteErnst Blache #15

"Nur der Bund habe das Recht, so etwas wie einen Mietendeckel vorzuschreiben, nicht eine Landesregierung wie der Berliner Senat." - Nun gut, dann ist jetzt der Bund in der Pflicht. Und zwar schnellstens. Es muss dringend etwas gegen diesen Mietenwahnsinn unternommen werden.


QuoteFliederblüte #15.1

Der Bund hat das Recht. Daraus folgt aber keine Pflicht.


QuoteKreuzberger-10999 #24

Ich finde der Großteil der Mietshäuser in den Großstädten sollten in genossenschaftliches Eigentum übertragen werden und dem Gewinnstreben von
Spekulanten und Fonds entzogen werden.
Genossenschaften könnten viel besser langfristig Planen und vernünftig modernisieren um die Bausubstanz zu erhalten.

Die durch Spekulanten und Fonds hoch getriebenen Mieten sind ein sozialer Sprengstoff.
Hier werden Sozialleistungen wie Wohngeld oder Kindergeld sowie Kaufkraft von Konsumenten in Form von überhöhten Mieten in die Taschen der Reichen umgeleitet.

Ich wohne in einem Gründerzeitbau in Berlin, der der vor 15 Jahren von Privat für 4-5 Millionen an Spekulanten verkauft wurde. Jetzt soll für 20 Millionen weiterverkauft werden.
Seit 30 Jahren wurde an dem Haus nichts gemacht, das Dach, die Fenster, der Keller - undicht, der Farbe im Hausflur abgeblättert. Allein die Wohnungen wurden von den Mietern mit jeweils 20.000 - 30000 Euro renoviert, auf eigenen Kosten Bäder und Küchen eingebaut.
Mittlerweile ist der Investitionsrückstau so groß, man müßte "Millionen" in das Haus stecken, das nur eine "Luxussanierung" lohnt, dann mit Neumieten von geschätzt 16-18 Euro, um die Kosten für den Hauskauf und die Sanierung zu bezahlen.

Der Markt regelt eben nicht alles zum Besten.

Eigentum ist nicht nur Spekulationsmasse sondern auch Verpflichtung, sich um den Erhalt zu kümmern.


QuoteBummerrang #28

Die nun also laut Verfassungsgericht rechtswidrig gekürzten Mieten müssen selbstverständlich zurückerstattet werden. Alles andere wäre ja Diebstahl.
Wenn die Mieter kein Geld haben, dann sollen Sie eben dorthin ziehen wo es günstiger ist. Habe ich mit meiner Familie auch gemacht.
Man kann doch nicht erwarten, dass andere für den eigenen Lebenstil zahlen. ...



QuotegEd8 #32

"Deutschland brauche nun einen "echten Konsens für das gemeinsame Schaffen von mehr bezahlbaren Wohnungen"."

Wie der aussieht, kann schon fast prognostiziert werden: "Leider kann es keinen Konsens geben, demnach müssen die Mieten der Nachfrage angepasst werden, Sie wissen schon, der Markt..."


QuoteEdelfeder #46

Die Berliner haben wirklich geglaubt, sie können Politik gegen das Kapital machen. Diese naiven Kinder!


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on April 28, 2021, 02:52:26 PM
Quote[...] Die Wohnungskrise steht erst am Anfang. Sieben Monate haben Journalistinnen und Journalisten in 16 europäischen Großstädten gemeinsam recherchiert. Das Ergebnis: Die Ursachen der Krise sind gewaltig, die neuen Akteure auch – und die Folgen für die Menschen kaum absehbar.

[Fehlende Datenvisualisierungen nur im Original Artikel... ]

In London ist seit einigen Jahren ein seltsames Phänomen zu beobachten. Wenn es dunkel wird, gehen in besonders begehrten Wohnlagen in Covent Garden oder Chelsea nur noch vereinzelte Lichter in den Fenstern an. Die Wohnungen gehören einer kosmopolitischen Elite, die in mehreren Städten Immobilien besitzt und sie nur bei ihren seltenen London-Aufenthalten braucht. Finanziell lohnt sich das trotzdem. Denn es sind gute Anlageobjekte – selbst unbewohnt.

Auch Paris leert sich abends. Weil es als lukrativer galt, Büros in der Innenstadt zu betreiben, sinkt dort die Zahl der Wohnungen. Weitere 114.000 wurden zu möblierten Apartments für Touristen umgebaut. Auch die stehen in der Pandemie leer.

Auf der anderen Seite des Spektrums liegt Berlin. In der europäischen Hauptstadt der Selbstverwirklichung, wo 83 Prozent zur Miete wohnen, galt der Erwerb einer eigenen Wohnung lange als unlukrativ, unnötig oder zumindest spießig. Mit steigendem Durchschnittseinkommen wird auch Berlin zur Eigentümerstadt, argumentieren viele. So, wie es in Dublin, Madrid oder Oslo schon seit Generationen normal ist. Doch eine europaweite Recherche zeigt: Das könnte ein Trugschluss sein.

... Möglicherweise sind nicht Madrid und Oslo die Vorboten für Berlin, sondern umgekehrt. Berlin mit seinen Wohnungskonzernen, gescheitertem Deckel und dem wütenden Volksbegehren ist kein Relikt, sondern ein erster Vorgeschmack auf das, was kommt: ein europäischer Wohnungsmarkt, eine europäische Wohnungskrise – weitreichend verknüpft mit dem Finanzmarkt. Berlin ist das Labor dafür. Und das hat etwas mit den leeren Wohnungen in London und den leeren Büros in Paris zu tun.

In den letzten sieben Monaten hat ein Rechercheverbund die Wohnungsmärkte in 16 europäischen Städten verglichen. Wir wollten wissen, welches jeweils die größten privaten Wohnungsfirmen der Stadt sind, ob ähnliche Entwicklungen erkennbar werden und ob es Firmen gibt, die bereits europaweit agieren. Das Rechercheprojekt namens ,,Cities for Rent" wird koordiniert unter dem Dach von ,,Stichting Arena for Journalism in Europe" und gefördert vom Investigative Journalism Fund for Europe.

Das Ergebnis: Zwar zeigt sich, dass der Wohnungsmarkt in jeder teilnehmenden Stadt weit unterschiedlicher strukturiert ist als zunächst angenommen. Doch auch wenn es europaweite Megakonzerne für Wohnungen bisher noch nicht gibt: Es bilden sich gerade die ersten heraus. Ihr Vorgehen ist in den verschiedenen Städten ähnlich. Und die Politik ist in allen Städten ähnlich ratlos. Die Marktkräfte, die dahinterstecken, sind überall dieselben. Und sie werden durch die Pandemie beschleunigt.

... Erstens wächst in allen 16 Städten die Bevölkerung in den letzten Jahren – teils sehr stark. Einzige Ausnahme: Athen. Zweitens: In allen Städten steigen die Mieten, selbst im schrumpfenden Athen. Laut Eurostat-Index lagen die Mieten europaweit 2020 um 14 Prozent höher als 2010, die Kaufpreise um 26 Prozent.

Im selben Zeitraum sind zwar auch die mittleren Einkommen gestiegen, in vielen Metropolen aber weniger als im Rest des Landes, während die Wohnungskosten hier stärker steigen. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung beträgt die Mietsteigerungen in Berlin 64 Prozent von 2010 auf 2019 bei Bestands- und 51 Prozent bei Neubauten. In Neukölln wurden laut Immoscout24 von 2007 und 2018 sogar 146 Prozent Steigerung bei den Angebotsmieten verzeichnet.

... Einen europaweiten Städtevergleich bei den Mieten gibt es kaum. Denn es gibt kein europäisches Vorgehen. Das höchste statistische Amt Eurostat kann nichts weiter tun, als die Städte um freiwillige Meldung zu bitten. Das tun wenige. So sind die einzigen Vergleichszahlen meist Investment-Berichte, das Wissen über den Markt ist exklusiv. Selbst EU-Parlamentarier berichten, dass auch keine genauen Informationen haben, welche Konzerne wo in Europa wie aktiv auf dem Wohnungsmarkt sind.

Dazu kommt drittens, dass der Anteil der Haushalte, die zur Miete wohnen in den 16 Städten weit über dem nationalen Durchschnitt liegt. Einzige Ausnahme ist Dublin, wo gerade einmal 23,9 Prozent der Bevölkerung zur Miete wohnen. Doch auch dort wird es immer schwerer zu kaufen. Nur noch 15 Prozent der Bevölkerung in Dublin geben in einer Eurostat-Umfrage an, es sei gut möglich, eine Wohnung zu finden. Damit liegen die Eigentumsstadt Dublin und die Mietstadt Berlin fast gleichauf. Die Tatsache, dass viele Menschen sich immer größere Wohnungen wünschen, verschärft das Problem.

... Real Capital Analytics, eine der wichtigsten globalen Analysefirmen für Immobilientransaktionen, sammelt weltweit Informationen zu großen Wohnungskäufen. Das Unternehmen hat für diese Recherche alle großen Immobiliendeals in den 16 Städten ausgewertet.

2007 lag die Summe der großen Käufe (mindestens zehn Wohneinheiten pro Kauf) bei 17,3 Milliarden Euro. 2009 fielen die Investitionen während der Finanzkrise auf knapp acht Milliarden. Seither explodieren sie. 2019 wurden 66,9 Milliarden Euro in Mietwohnungen investiert. Selbst im Corona-Jahr 2020 gingen die Investitionen nur leicht zurück. Platz eins bei den Investitionen: Berlin.

... Insgesamt 42 Milliarden Euro wurden von 2007 bis 2020 für große Wohnungsdeals in Berlin und Umland ausgegeben, mehr als in Paris und London zusammen. Im Gegensatz zu London kam der Großteil der Investitionen in Berlin noch aus dem Inland. Die Analyse der Herkunftsländer grenzüberschreitender Investitionen zeigt jedoch: Die Investitionen globalisieren sich langsam. Platz eins belegen die USA. Aber auch Deutschland, Frankreich, England und Schweden investieren viel grenzüberschreitend. Katar und Russland sind auch mit dabei. Und je mehr mitbieten, desto höher steigen die Preise.

... ,,Ich glaube, inzwischen ist es absolut eindeutig, dass die Wohnungskrise alle in Europa betrifft, nicht nur eine kleine Gruppe von Menschen", sagt Kim van Sparrentak, Mitglied des EU-Parlaments für die niederländischen Grünen. Sie hat an einem Bericht zur Wohnungssituation mitgearbeitet. Die Krise sei das Ergebnis einer europäischen Politik, die immer nur gefragt habe, wie sich der Markt stärken lasse, sagt sie. Tom Leahy, Senior Analyst für Immobilientransaktionen bei Real Capital Analytics seziert die Situation weit nüchterner: Dem wirklich großen Anlagekapital gehen die wichtigsten Anlageoptionen aus.

Er sagt, der Immobilienmarkt nach der globalen Finanzkrise sei ein völlig anderer als der davor. Wenn man wirklich hohe Mengen von Geld anlegen müsse, beispielsweise als milliardenschwerer Pensionsfonds, kann man nicht das ganze Geld in Aktien oder Währungen investieren. Zu hoch die Schwankungen, zu groß das Risiko. Ein wichtiger Teil des Geldes von Pensionsfonds, Vermögensverwaltungen und reichen Family Offices wurde daher klassischerweise in risikoarme Staatsanleihen investiert. Da die Europäische Zentralbank die Finanzkrise allerdings letztlich damit beendete, den Leitzins auf null zu setzen, gibt es für viele Staatsanleihen nur noch minimale Zinsen, oft sogar Negativzinsen. So werden Investitionen in Immobilien noch attraktiver.

... Wohnungen waren für diese Anlageformen lange nicht so beliebt, sagt der Analyst: ,,Wenn du vorhast, in den nächsten zwei Jahren 600 Millionen Euro für europäische Wohnungen auszugeben, musst du sehr viele kaufen." Gewerbeimmobilien, Büros oder Shoppingcenter waren deshalb das Investitionsobjekt der Wahl. Doch der Zuwachs beim Onlineshopping führt zu leer stehenden Läden, Homeoffice stellt die Bürowüsten infrage. Eine Wohnung hingegen brauchen alle. Und trotz Krise würden 90 Prozent der Mieten weiterhin bezahlt, sagt der Analyst, gestützt von staatlichen Hilfsprogrammen. Damit leisten Wohnungen als Investition: regelmäßige, sichere Rendite.

Die Popularität der Städte und das häufigere Umziehen führt auch dazu, dass Leute durchschnittlich längere Zeit in ihrem Leben mieten, erzählt Tom Leahy, der seine erste eigene Wohnung einige Tage nach dem Interview kaufen wollte. Er hat sich kürzlich die Käufe der 50 größten Investment Manager weltweit angeschaut, Blackstone, Allianz und Generali zum Beispiel. Letztes Jahr gingen demnach 30 Prozent ihrer Immobilieninvestitionen in den Wohnungsmarkt, 2007 waren es nur um die zehn Prozent. Aus Leahys Sicht ist Deutschland deswegen ein reifer Markt. Dem andere folgen werden.

... Der Geldstrom in den Wohnungsmarkt wird zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung. Weil die Wohnungspreise steigen, können sich weniger Leute eine leisten. Die, die es noch können, werden aus Angst vor hohen Mieten trotzdem versuchen, eine zu kaufen, was den Preis noch weiter steigert. Also wohnen langfristig wahrscheinlich eher mehr Leute zur Miete. Und das macht Wohnungen aus Investmentsicht noch rentabler.

Das ist die Sicht von oben. Am Boden, bei den Leuten, wo die Wohnungen nicht Investment heißen, sondern Zuhause, führt die Kapitalverschiebung zu tiefen Rissen im Stadtleben. Denn bevor Wohnungen erst zu Paketen von Hunderten, dann Tausenden geschnürt, renoviert, vermietet und weitergehandelt werden können, sind oft diejenigen im Weg, die darin wohnen.



Aus: "Mietmarktlabor Berlin: Wie internationale Investments den Wohnungs­markt umwälzen" (28. April 2021)
Benedikt Brandhofer, José Miguel Catalatayud, Sidney Gennies, Adriana Homolova, Hendrik Lehmann,
Manuel Kostrzynski, David Meidinger, Moritz Wienert, Helena Wittlich, Nikolas Zöller
Quelle: https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/mietmarktlabor-berlin-wie-internationales-investment-den-mietmarkt-veraendert/ (https://interaktiv.tagesspiegel.de/lab/mietmarktlabor-berlin-wie-internationales-investment-den-mietmarkt-veraendert/)
Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on May 26, 2021, 10:28:12 PM
Quote[...] Sie wird einmal viele Millionen erben. Das weiß Marlene Engelhorn seit zwei Jahren. Damals teilte ihre mittlerweile 94-jährige Großmutter ihre Erbschaftspläne mit. Seither überlegt die Enkelin, wie sie 90 Prozent ihres Anteils loswird: Sie will fast ihr gesamtes Erbe spenden, "weil in Österreich Vermögen und damit Macht und Lebenschancen wahnsinnig ungerecht verteilt sind", sagte die Wiener Germanistikstudentin unlängst in der ORF-Sendung Aktuell nach eins: "Ein Prozent der Bevölkerung hält 40 Prozent des Vermögens. Ich werde dazugehören – und ich habe dafür nicht arbeiten müssen." Sie trage "die Verantwortung, dies radikal zu ändern und einen Beitrag zu leisten, der sinnvoll ist".

Es geht, wie der Falter schreibt, um einen zweistelligen Millionenbetrag. Das Vermögen von Erblasserin Traudl Engelhorn-Vechiatto, die in der Schweiz lebt, beläuft sich laut Forbes aktuell auf 4,2 Milliarden Dollar. Die aus Wien stammende Witwe des 1991 verstorbenen Peter Engelhorn, der Gesellschafter des Pharmaunternehmens Boehringer Mannheim (heute Roche) war, ist selbst aktive Mäzenin, die sich mit ihren vier Töchtern massiv für Kultur und Wissenschaft, da vor allem im Bereich Biotechnologie und Life-Sciences, engagiert.

Enkelin Marlene sieht in dem Anteil, der davon an sie gehen wird, einen "riesigen Handlungsspielraum", den ihr ihre Oma eröffne, der aber auch auf "schierem Geburtenglück" basiere, weshalb sie "radikal teilen" will. Eigentlich sollte der Staat "das oberste Prozent in die Pflicht nehmen".

Dafür kämpft sie mit gleichgesinnten jungen Reichen sowie mit den Millionaires for Humanity, die höhere Steuern für ihresgleichen fordern. Sie sagt dort: "Wir brauchen eine Umverteilung von Reichtum, Land und Macht, und wir brauchen einen transparenten und demokratischen Prozess – für mich bedeutet das: Vermögenssteuern."

Bei der in Berlin angesiedelten Guerrilla Foundation, die Initiativen unterstützt, "die auf einen umfassenden systemischen Wandel in ganz Europa hinarbeiten", wird die angehende Philanthropin als "intrepid intern" (unerschrockene Praktikantin) geführt, die neben der Uni Sprachunterricht gibt und in Schulen LGBTQI+-Workshops abhielt.

Zudem hilft sie als Obfrau des 2014 gegründeten Vereins Holzkiste in der Republik Moldau Menschen mit weniger Geburtsglück: 260 Familien konnte die Gruppe mit Brennholz, Kleidung und Winterschuhen buchstäblich "Wärme spenden". 150 Euro "reichen" für Holz für einen ganzen Winter. (Lisa Nimmervoll, 29.4.2021)


Aus: "Marlene Engelhorn: Von einer, die ihr Millionenerbe teilen will" Lisa Nimmervoll (29. April 2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000126244498/marlene-engelhorn-die-ihr-millionenerbe-teilen-will (https://www.derstandard.at/story/2000126244498/marlene-engelhorn-die-ihr-millionenerbe-teilen-will)

Quote
Denk_Mal 29. April 2021, 07:18:39

Ich finde diese Entscheidung hat Respekt verdient und ist ein Zeichen dafür, dass Menschen ihre Verantwortung in einer ungleichen Gesellschaft erkennen können. Ich hoffe sie bleibt bei ihrer Entscheidung wenn es soweit ist.


...

Quote[...] Die 29-jährige Wienerin erklärt, warum sie mindestens 90 Prozent ihres Erbes spenden und keinesfalls als Philanthrokapitalistin à la Gates und Co enden will

Interview: Lisa Nimmervoll (23. Mai 2021)

STANDARD: Sie werden einmal sehr viel Geld erben – und sagen schon jetzt: Will ich nicht, so viel brauche ich nicht, ich will fast alles spenden. Warum?

Engelhorn: Das ist in meinen Augen keine Frage des Wollens, sondern eine Frage der Fairness. Ich habe nichts getan für dieses Erbe. Das ist pures Glück im Geburtslotto und reiner Zufall. Die Menschen, die das eigentlich erarbeitet haben, hatten in der Regel wohl nicht sehr viel davon. Es kommt somit eigentlich aus der Gesellschaft, und dorthin soll es zurück. Als die Ankündigung kam, habe ich gemerkt, ich kann mich nicht so recht freuen, und ich habe mir gedacht: Etwas stimmt nicht, es muss was passieren! Mir fällt da immer Bertolt Brecht ein: "Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich." Dann habe ich begonnen, mich ernsthaft damit zu beschäftigen. Das reichste Prozent der österreichischen Haushalte besitzt fast 40 Prozent des gesamten Vermögens. Individueller Reichtum ist in unseren Gesellschaften strukturell mit kollektiver Armut verknüpft. Da wollte ich nicht mitmachen.

STANDARD: Dieses Vermögen Ihrer Familie bildet ja doch auch in gewisser Weise zumindest ein Stück weit auch die Leistung Ihrer Vorfahren ab, die etwas gegründet und viele Arbeitsplätze geschaffen haben. Können Sie das irgendwie auch anerkennen oder sagen Sie: Die Relationen stimmen einfach nicht. Es ist einfach zu viel, was den Eigentümern geblieben ist, und zu wenig, was die arbeitenden Menschen davon bekommen haben?

Engelhorn: Mein voraussichtliches Erbe spiegelt in keinster Weise wider, was eine Einzelperson geleistet haben mag oder nicht. Da kann ein Manager in seinem Büro die besten Entscheidungen treffen, auf ihn allein kommt's nicht an. Wenn es niemanden gibt, der die Produkte erfindet, erarbeitet, rumtüftelt, verkauft, dann gibt's keinen Gewinn. Wir arbeiten in unserer Gesellschaft arbeitsteilig, anders würde es gar nicht funktionieren, und dass einige so viel erwirtschaften können, wie andere durch Erwerbsarbeit niemals bekommen, spiegelt nur wider, dass wir manche Arbeiten als wertvoller erachten. In der Regel ist das die Arbeit von jenen, die ohnehin schon reich sind, und von sich behaupten, ihre Arbeit sei wichtiger. Dann liegt das Geld meist seit Jahren in Anlagen herum und wird von alleine mehr, da muss man nur warten, während andere Menschen jeden Tag arbeiten und besteuert werden.

Wer 11.000 Euro Nettoeinkommen pro Jahr hat, zahlt 20 Prozent Steuern – und dann bekomme ich wahrscheinlich ein Vermögen von mehreren Millionen und muss nichts dafür zahlen. Dabei habe ich nichts dafür getan. Und das soll richtig sein so? Ich bin wahnsinnig privilegiert, ich bin dafür dankbar, ich bekomme dadurch auch viel Freiheit. Auch die Freiheit, mir die Zeit zu nehmen, mich damit auseinanderzusetzen. Das ist ein Riesenluxus, aber auch eine Verantwortungsfrage, und meine Verantwortung ist, dass ich der Gesellschaft etwas zurückgebe. Wenn der Status quo ist, dass man mit Eigentum machen kann, was man will, fast alles, dann darf ich das auch – und ich will es teilen, weil ich mich als Teil der Gesellschaft sehe.

STANDARD: Was sagt eigentlich Ihre Großmutter dazu, dass Sie öffentlich verkünden, Ihr Erbe zu verschenken, noch bevor Sie es überhaupt bekommen haben?

Engelhorn: Meine Großmutter eröffnet mir damit einen riesigen Handlungsfreiraum, den ich jetzt nutzen möchte, um den einen öffentlichen Diskurs ein wenig aufzumachen: Ich habe für das Geld keinen Tag gearbeitet und zahle für den Erhalt keinen Cent Steuer. Das kann es doch nicht sein. Besteuert mich endlich! Salopp formuliert: Wenn's bis dahin keine Erbschafts- oder Vermögenssteuer gibt, mache ich mir halt selber eine. Und wenn das dabei hilft, viele Menschen für gerechtere Steuern zu begeistern, war es jeden Cent wert.

Mir wäre wichtig, dass man das Thema einmal an einem Beispiel ausdiskutieren kann, und mein Beispiel bietet sich an: Wenn Reiche immer im Verborgenen bleiben, dann bleibt eben auch die himmelschreiende Ungerechtigkeit abstrakt. Auch stellvertretend für viele andere in meiner Lage, die selber nicht in die Öffentlichkeit wollen, von denen ich aber viel Zuspruch erhalte.

STANDARD: Dieser Schritt in die Öffentlichkeit hat ja auch einen Preis. Nicht umsonst legen viele Reiche größten Wert auf Anonymität und Privatsphäre. Wie gehen Sie mit Neid oder sonstigen Angriffen, aber auch "Bettelbriefen", die Sie sicher bekommen, um?

Engelhorn: Ich lebe trotzdem sehr bequem. Wenn Vermögen gerecht verteilt wäre, hätten wir das Problem in der Form gar nicht, dann gäbe es keine "überreichen" Menschen, die systematisch einen Teil der eigenen Identität verbergen.

Ganz wichtig: Ich bekomme keine "Bettelbriefe". Mir schreiben Menschen in unglaublich schwierigen Lebenssituationen, die sich ein Herz fassen und sich an mich wenden. Diese Bitten um Unterstützung sind voller Respekt, und auch wenn es mir leid tut, dass ich ihnen Absagen schicke, es sind auch viel zu viele, so ist der Punkt doch der: Es sollte nicht meine Aufgabe sein. Menschen sollten sich nicht meinem Willen oder Wohlwollen ausliefern müssen. Irgendwer hat diese Menschen mit ihren Sorgen und Nöten alleingelassen. Ich würde sagen, die Gesellschaft, die Politik, die das nicht anders geregelt hat, wäre da in die Verantwortung zu nehmen. Wobei da auch die Frage ist: Wer macht die Politik und wer kann sich Einfluss auf sie kaufen? Das können Menschen wie ich.

STANDARD: Wie?

Engelhorn: Ich könnte ja auch nicht in die Öffentlichkeit gehen mit meinen Anliegen für mehr Steuergerechtigkeit, sondern in ein Hinterzimmer laden. Ich könnte es mir ganz leicht machen und mit großzügigen Spenden dafür sorgen, dass eine Partei tut, was mir wichtig ist. Da wäre ich bei weitem nicht die Erste, und solange wir diese Praxis nicht abstellen, ist klar: Meine Stimme ist mehr wert als ihre. Mit Demokratie hat das aber nichts mehr zu tun. Das ist neofeudalistisch. Wer das akzeptiert, sogar gut findet, jedenfalls aber an der extremen Vermögenskonzentration nichts ändern will, ist im Kern kein echter Demokrat. Für mich geht es aber genau um diese demokratische Verantwortung und gesellschaftliche Verbundenheit. Es ist banal: Wir müssen füreinander da sein in einer Gesellschaft, weil sonst sind wir keine Gesellschaft.

STANDARD: Sie sind beim internationalen Netzwerk "Millionaires for Humanity", das im Vorjahr in einem offenen Brief die Regierungen um höhere Steuern für ihresgleichen gebeten hat: "So please. Tax us. Tax us. Tax us. It is the right choice. It is the only choice. Humanity is more important than our money." Wie viel sollte man den Reichen über Vermögenssteuern wegnehmen?

Engelhorn: Mit Wegnehmen hat das nichts zu tun. Wieso fragen wir nicht, wo das Geld herkommt? Wer hat es erwirtschaftet? Ein Mensch ganz allein? Alexandria Ocasio-Ortez, demokratische US-Kongressabgeordnete, hat es wunderbar gesagt: "Every billionaire is a policy failure." Jeder Milliardär ist ein politisches Versagen. Es ist eine gesellschaftspolitische Aufgabe, herauszufinden, wie wir das regeln. Die Konzepte müssen wir als Gesellschaft diskutieren. Es gibt ja Expertinnen und Experten dafür. Thomas Piketty etwa, der französische Ökonom, meint, fünf Prozent des Staatshaushalts sollten aus Vermögens- und Erbschaftssteuern lukriert werden, und daraus sollte jede Person zum 25. Geburtstag 120.000 Euro als kollektives Erbe erhalten.

STANDARD: Pikettys Modell sähe eine extreme Steuerprogression vor. Für Vermögen oder Erbschaften in Höhe des 10.000-Fachen vom Durchschnittsvermögen wären 90 Prozent Steuern zu entrichten. Mit 200 Millionen von einem Zwei-Milliarden-Vermögen lasse sich immer noch gut leben, sagt er.

Engelhorn: Da hat Piketty verdammt recht. Sein Vorschlag hat im Blick, dass Geld eben mehr ist als die Möglichkeit, Dinge zu kaufen. Mit Geld kommt Handlungsfreiheit: Mit so einer Rücklage traut man sich eher, ein Unternehmen zu gründen oder Kunst zu machen. Oder aber man kann es sich locker leisten, eine Partei über Spenden zu finanzieren oder kauft sich die größte Zeitung eines Landes. Es geht immer um Lebenschancen, aber am Ende ist es eben auch eine Machtfrage.

Wieso ist es der Alleinerzieherin mit Teilzeitjob zumutbar, dass sie auf ihr geringes Einkommen mindestens 20 Prozent Steuern zahlt, und jemand wie ich bekommt ein Vermögen geschenkt? Einfach so. Null Prozent Steuern. Das ist unfair. Man kann auch teilen, und das tut gut. Es hat mit Verantwortung und Respekt zu tun, und, ein kitschiges Wort, das mir aber am Herzen liegt: Nächstenliebe. Ich wünsche mir, dass es auch meinem Nachbarn gut geht, einfach so, weil er ein Mensch ist.

STANDARD: Sie bereiten sich jetzt systematisch darauf vor, wie Sie Ihr angekündigtes Erbe am besten oder am "sinnvollsten" teilen können. Wie wollen Sie das machen und welche Kriterien sind für Sie dabei wichtig?

Engelhorn: Hier fängt das Problem an. Ich darf mir das ganz allein überlegen, was mit dem Geld passiert. Die Gesellschaft sollte sich aber nicht darauf verlassen müssen, dass einzelne Superreiche ihr gegenüber wohlwollend eingestellt sind, das ist Neofeudalismus: gönnerhaft von oben herab spenden. Ich tausche mich mit anderen aus, lerne, so viel ich kann, schaue mir an, was funktioniert und was nicht. Für mich ist der Einsatz für Steuergerechtigkeit sehr wichtig, denn die Frage, wie wir Reichtum und damit Macht verteilen, berührt das Herz der Demokratie.

STANDARD: Inwiefern?

Engelhorn: Jede Demokratie kann extrem konzentrierten Reichtum nur bis zu einem gewissen Punkt ertragen. Die Frage, wie wir damit umgehen, dass manche Menschen zu reich sind, wie etwa auch in meinem Fall, also nicht nur über Vermögen, sondern potenziell über extrem viel Macht verfügen, ist doch eine, die nicht verschwindet, nur weil wir sie nicht stellen.

Noch bin ich nicht reich, ich würde mir wünschen, dass es nicht meine Entscheidung ist, wie viel ich abgebe. Mein Wunsch wäre, dass wir das dann als demokratische Gesellschaft transparent ausverhandelt haben und dass wir uns das holen, was zu viel ist. Nicht im Sinne von Wegnehmen, sondern weil wir uns einig sind, wie viel zu viel ist in einer und für eine Demokratie. Und wie wir es teilen wollen, weil wir wissen, wo es gebraucht wird.

Wir können ja an dieser Demokratie weiterbasteln. Es gibt gute Ideen wie etwa die Bürgerräte in Irland zur Abtreibungsgesetzgebung oder zur gleichgeschlechtlichen Ehe oder den Klimakonvent in Frankreich. Partizipativer wäre auch wichtig, weil unsere repräsentative Demokratie so designt ist, dass in der Regel mittelalte bis alte weiße Herren mit akademischem Abschluss im Parlament sitzen. Im Parlament sitzt ein einziger Arbeiter, obwohl jeder vierte Beschäftigte in Österreich Arbeiter oder Arbeiterin ist. Welches Volk wird da vertreten? Auch da sollten wir ansetzen, damit diese Macht breit zugänglich wird und alle mitentscheiden dürfen, wie die Gesetze gemacht werden, nach denen wir regiert werden. Dann hätten wir wahrscheinlich auch andere Gesetze und andere Verteilungsfragen.

STANDARD: Ein Weg für Menschen, die sich selbst als "zu reich" empfinden, ist Philanthropie, was "allgemeine Menschenliebe" bedeutet. Sind Menschen wie Bill und Melinda Gates, die mit 46,8 Milliarden Dollar die größte Privatstiftung der Welt verwalten und sich etwa der Bekämpfung von Malaria und Kinderlähmung widmen, oder MacKenzie Scott, Exfrau von Amazon-Gründer Jeff Bezos, die im Corona-Jahr 4,2 Milliarden Dollar an 384 Hilfsorganisationen gespendet hat, Vorbilder für Sie?

Engelhorn: Philanthropie als Übergangsphase, bis wir bei der Vermögenssteuer sind. (lacht) Nein, auf gar keinen Fall. Davon will ich mich ganz dringend distanzieren. Wenn Privatpersonen so viel geopolitische Macht bündeln, ist das hochproblematisch, undemokratisch und brandgefährlich. MacKenzie Scott hat in kürzester Zeit das, was sie so großzügig hergegeben hat, über ihre Kapitalerträge aus ihren Amazon-Anteilen wieder erwirtschaftet, und Amazon, wissen wir, beutet Menschen und Klima systematisch aus. Das ist total unehrlich.

Es kann nicht sein, dass man zuerst weltweit an allen Ecken und Enden Steuern spart und dann demonstrativ wohltätig wird und einen Bruchteil des Vermögens spendet. Ganz oft sind diese Stiftungen nichts anderes als eine Möglichkeit, Vermögen zu verschleiern. Da wird mit einem winzigen Teil des Kapitals ein bisschen wiedergutgemacht, was diese großen Anlagen an Mist verbocken. Das ist Philantrokapitalismus. Es ist einfach nicht in Ordnung, dass wir abhängig sind vom Wohlwollen der Superreichen.

STANDARD: Von Fjodor Dostojewski stammt der Satz: "Geld ist geprägte Freiheit." Was löst er bei Ihnen aus?

Engelhorn: Ja, mit Geld kann man sich Freiheiten erkaufen, man ist frei von Hunger oder Not, zumindest für eine kleine Weile. Aber Dostojewski hat das in den "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus" geschrieben, er war selbst politischer Häftling in einem sibirischen Lager, wo er Zwangsarbeit verrichten musste. Was er gemeint hat, hat nichts mit dem zu tun, was meine finanzielle Lage darstellt. Der Satz, der besser zu mir passt, ist: "Niemand kann frei sein, solange es nicht alle sind."

STANDARD: Er stammt vom anarchistischen deutschen Schriftsteller Erich Mühsam, der 1934 im KZ Oranienburg ermordet wurde. Aber was bedeutet Geld an sich für Sie?

Engelhorn: Ich will nicht leugnen, dass Geld notwendig und hilfreich sein kann, sonst würde ich ja auch die Macht von Geld leugnen, wenn es in unvorstellbarer Größenordnung da ist. Sie wissen, eine Münze hat zwei Seiten. Welche ist die richtige: Kopf oder Zahl? Mir bedeuten Menschen einfach grundsätzlich mehr als Geld, darum will ich es teilen.

STANDARD: Wo ziehen Sie für sich persönlich die Grenze, wo Sie sagen, bis da erfüllt Geld auch für mich die Funktion, mir gewisse Freiheiten und ein gutes, materiell nicht prekäres Leben zu ermöglichen? Wie viel gestehen Sie sich selbst zu?

Engelhorn: Ich will mindestens 90 Prozent abgeben. Wie viel ist genug? Was ist das gute Leben für alle? Das sind wichtige Fragen, vor allem politische Aufgaben. Ich persönlich bin schon abgesichert, und ich bin mir auch nicht zu schade, zu arbeiten. Momentan stecke ich alles, was ich an Arbeitskraft habe, in die Auseinandersetzung mit diesem Thema und den Einsatz für Steuergerechtigkeit und hoffe, dass das irgendwann gegessen ist, weil die Politik auf ihren Souverän hört: Umfragen zeigen uns ja, die Mehrheit der Menschen findet die Idee, Superreiche zu besteuern, gar nicht schlecht. (lacht) Und wenn das geschafft ist, gehe ich arbeiten. Das wird vielleicht nicht superleicht sein, weil ich dann eine Lücke im Lebenslauf habe. Aber es ist mir wichtig, dass ich mir mein Geld erarbeite wie jeder andere auch.

STANDARD: Glauben Sie, dass Sie ohne Geld oder mit viel weniger Geld freier und/oder glücklicher wären? Oder ist das der romantisch-stilisierte Selbsttrost derer, die nicht reich sind?

Engelhorn: Geld allein macht weder meine Freiheit noch mein Glück aus. Ich brauche natürlich auch Geld, um abgesichert zu sein, um meine Ausgaben zu decken, um ein angenehmes Leben zu haben. Aber das Wichtigste ist: Geld kauft mir keine ehrlichen Beziehungen und keinen Respekt. Das muss ich mir als Mensch erarbeiten, und das will ich auch. Und ich will nicht, dass mir da Geld im Weg steht, quasi als Mauer zwischen mir und den anderen, und ich ihnen deshalb nicht nah sein kann in anderen Belangen.

STANDARD: Was, wenn Sie Ihren großen Erbverzicht in ein paar Jahren vielleicht bereuen und sagen: "Ach, hätte ich doch damals nicht ..."?

Engelhorn: Ich habe das für mich persönlich konsequent zu Ende gedacht. Ich setze mich dafür ein, dass ich als Teil der Gesellschaft einen Beitrag leisten darf. Ich will teilen. Punkt.

STANDARD: Zum Schluss noch Frage Nummer fünf aus Max Frischs Fragebogen zum Thema Geld: "Wie viel Geld möchten Sie besitzen?"

Engelhorn: Gerade so viel, dass ich meine Grundbedürfnisse gut abdecken kann und die eine oder andere Freude.

Marlene Engelhorn (29) studiert Germanistik an der Uni Wien, konzentriert sich derzeit aber vor allem darauf, sich inhaltlich und strukturell darauf vorzubereiten, ihr künftiges Erbe einmal fast zur Gänze möglichst sinnvoll umzuverteilen. Dazu vernetzt sie sich mit gleichgesinnten Vermögenden und jungen Erbinnen und Erben, die sich für eine gerechte Verteilung von Reichtum und Macht einsetzen, etwa die Millionaires for Humanity. Aktuell arbeitet sie als Volontärin bei der Guerrilla Foundation mit Sitz in Berlin, die Initiativen unterstützt, die auf einen umfassenden systemischen Wandel in Europa hinarbeiten.


Aus: "Millionenerbin Marlene Engelhorn: "Besteuert mich endlich!"" Lisa Nimmervoll (23.5.2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000126792517/millionenerbin-marlene-engelhorn-besteuert-mich-endlich (https://www.derstandard.at/story/2000126792517/millionenerbin-marlene-engelhorn-besteuert-mich-endlich)

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Gerhard_L

Sie nervt - Sie kann doch einfach anonym spenden. Warum muss sie uns mit ihrer offensichtlichen Geltungssucht nerven?


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XredrumX

Haben Sie das Gelesene nicht verstanden, oder habens das Interview erst garnicht gelesen?


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Fehlfarbe

solche postings wie ihres nerven. weil sie nicht kapieren worum es geht. es geht darum politische forderungen sichtbar zu machen. eine andere art von gesellschaft zur diskussion zu stellen. das tut man für gewöhnlich nicht im stillen kämmerlein.



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inDubeo
23. Mai 2021, 07:28:18

... Ich kann gar nicht glauben, dass ich das gerade gelesen habe. Die Einstellung im teilweise vermögenden Freundeskreis ist eher..."naja die sind ja selber Schuld dass nix ham..bin ja nicht die Caritas" Oder "Warum soll ich Steuern zahlen, da hat ja schon mal wer Steuern gezahlt"


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Atlantico1

Was ich nicht verstehe, sie redet über ein Vermögen, über das sie heute noch nicht verfügt.


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Isegrim1

So sind die Linken.


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senf & co

Zu dieser zukünftigen Erbin war doch erst kürzlich ein Artikel im Standard.
Solange die Frau M.E. noch gar nichts geerbt hat, weil die Erblasserin noch lebt und es sich ja auch noch anders überlegen könnte, ist alles nur Effekthascherei und leeres Gerede. Selbstinszenierung. Mal sehen, wenn es soweit ist, falls sie tatsächlich nennenswerte Werte erbt und was sie dann wirklich macht.
Sie könnte aber auch Verantwortung übernehmen und die Vermögenswerte positiv administrieren, anlegen, Projekte gestalten - was halt alles Arbeit bedeutet.


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die guten waren schon weg

Sie hat eine Debatte angestossen. Haben sie schon mehr zu dieser Thematik beigetragen?


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praetor vertigo

Seriously? Die hat keine Debatte angestoßen, die gab es schon lange vor ihrer eigenen Geburt.


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die guten waren schon weg

Und, haben sie vor einer Woche mit jemandem darüber diskutiert?


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praetor vertigo

Letzte Woche glaube ich nicht (könnte aber trotzdem sein), aber heuer schon mindestens 10-12 mal. Die Argumente wiederholen sich ohnehin.


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die guten waren schon weg

Wenn sie nichts neues beitragen können müssen sie sich ja nicht beteiligen. Aber werfen sie nicht jemand anderem vor, dass er sich für ein wichtiges Thema engagiert.


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praetor vertigo

Wenn für Sie eines der Argumente neu ist, dann haben Sie eben die letzten Jahre verschlafen oder sich schlichtweg nicht für das Thema interessiert. Aber werfen Sie nicht jemand anderem vor, das er die Leier schon hundert mal gehört hat und verkaufen Sie das Vorbringen selbiger Argumente zum tausendsten Mal nicht als relevante Leistung.


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die guten waren schon weg

Sie hatten nichts zu sagen ausser dass sie von der Debatte gelangweilt sind. Und das ist halt für alle anderen belanglos.


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Ehlogisch

Österreich funktioniert eben so - Das Land ist klein, die wirtschaftliche und politische Elite sind recht schnell auf Du und Du und wenn es auch noch eine Regierungspartei gibt, die alles für die Reichen tut, geht alles klar. Lukas Resetarits nennt ja die ÖVP zurecht Milliardärsgewerkschaft.


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ETRO

Sie erklärt gut das Problem mit den Philantropen. Wird leider sehr oft nicht verstanden.


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Retusche

Die Tragödie ist, dass man zwar ihr Geld besteuern kann,
Es wäre aber noch schöner wenn auch von ihren Gedanken etwas auf fruchtbaren Boden fallen würde.
Für mich ist das einer der "politisch reifsten" Menschen von denen ich je gelesen habe.


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Linker Träumer

Wieviel haben ihr die linken Träumer für das Interview gezahlt?


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DrHugo_Z_Hackenbush

Na, nicht kreativ genug Gutmensch zu
verwenden? Immerhin ist linker Träumer Ihr Profilname.


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DerPhilo

Meine Tochter sagt mir, dass ihr Sweatshirt auch nicht gerade von H+M stammt. Was kostet so ein Nobelshirt? 150 oder 200 Euro???? Sachdienliche hinweise.....


Quote
Retusche

Es scheint mir dass sich ihre Tochter ganz offensichtlich intellektuell nicht ganz mit Frau Engelhorn messen kann.


Quote
Warumbloß

Wie kindisch kann man eigentlich noch sein? Wollen Sie nicht lieber ins Krone-Forum wechseln ...


Quote
weizard


Möglicherweise nur als Denkanstoss gemeint...

Die Kommentare mancher Poster wirken überheblich, neidisch, gehässig und werden auch persönlich angriffig . Als grundsätzliche Überlegung gelten die Aussagen von Frau Engelhorn allemal, wenn man bedenkt, wie rasch heutzutage Reichtum ohne *harte Arbeit* entstehen kann! Siehe z. B. Börsenspekulation, absurde Unternehmensbewertungen, fiktive Währungen etc.


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DerGorg

Faszinierend- die Frau sollte Politikerin werden, da sie Intelligenz, Bildung und Integrität mitbringen dürfte und ein unglaublich gutes Vorbild darstellt, auch wenn es leider äusserst unwarscheinlich erscheint, dass unser oberstes Prozent sich ihrem Besispiel anschließen wird.


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Gerd 5775

Mein Gott, wo sind die Politiker, die Frau Engelhorns Ansichten mit Herzblut vertreten?


Quoten--n

Dass ich sowas heutzutage in Österreich lesen darf, das berührt mich jetzt tatsächlich.


...

Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on August 26, 2021, 01:18:09 PM
Quote[...] Der Sainsbury's-Supermarkt im Nordlondoner Stadtbezirk Harringay an einem ganz normalen Werktag zur Mittagszeit: In den Regalen klaffen Lücken allerorten. Egal ob frische Milch, gekühlte Fertiggerichte oder monatelang haltbare Nudeln – überall ist die bunte Vielfalt der Konsumenten stark eingeschränkt.

Die Momentaufnahme vom Mittwoch dieser Woche wiederholt sich seit Wochen allerorten auf der Insel. Tankstellen bleiben geschlossen, in Supermarktregalen herrscht gähnende Leere. Die Fastfoodkette Nando's sah sich zur zeitweiligen Schließung von 45 Filialen gezwungen, weil das Hauptnahrungsmittel Hähnchenflügel nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung steht. Diese Woche machte McDonald's Schlagzeilen: Wegen "vorübergehender Lieferprobleme" muss die durstige Kundschaft bis auf weiteres auf ihre angestammten Milkshakes verzichten.

Wegen der andauernden Versorgungsschwierigkeiten schlagen jetzt Firmen und Lobbyverbände wie der Industrieverband CBI Alarm: Der Lagerbestand im Einzelhandel befindet sich auf dem niedrigsten Niveau seit fast vier Jahrzehnten. Sogar EU-feindliche Medien müssen einräumen: Der Brexit gehört zu den wichtigsten Gründen für die mittlerweile dramatischen Engpässe. "Das lässt sich nicht mehr als kurzzeitiges Problem abtun", warnt Andrew Sentance von der Beratungsfirma Cambridge Econometrics. "Diese Situation könnte länger andauern, als die Leute meinen."

... Das für Einwanderung zuständige Ministerium hat [ ] gering Qualifizierte zu unerwünschten Personen erklärt. Gerade diese aber seien "für die Aufrechterhaltung der Ernährung im Land ungemein wichtig", erläutern die Züchter.

Verbrauchermärkte, die Bauindustrie, Obst- und Gemüsebauern, die Gastronomie – allerorten fehlen seit Jahresbeginn günstige Arbeitskräfte. Die Brexit-Regierung unter Premier Boris Johnson hat nach Kräften versucht, das Problem kleinzureden oder der Pandemie in die Schuhe zu schieben. Immer klarer aber kristallisiert sich als Hauptgrund der EU-Austritt heraus: Mit dem endgültigen Verlassen von Binnenmarkt und Zollunion haben EU-Bürger seit 1. Jänner die Freizügigkeit auf der Insel verloren.

Nun fehlen der polnische Klempner und die rumänische Altenpflegerin, die spanische Kellnerin und der belgische Putzmann. Über die vergangenen Jahrzehnte haben Millionen vor allem junger Kontinentaleuropäer auf der Insel die schlecht bezahlten Jobs gemacht, zu denen die einheimische Bevölkerung nicht zu überreden ist.


Aus: "Versorgungsengpass: Briten stehen immer öfter vor leeren Regalen" Sebastian Borger aus London (25. August 2021)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000129171487/versorgungsengpass-briten-stehen-immer-oefter-vor-leeren-regalen (https://www.derstandard.at/story/2000129171487/versorgungsengpass-briten-stehen-immer-oefter-vor-leeren-regalen)

Quote
Polly Esther

Aber der Johnson hat doch gesagt, dass ...


Quote
Grünweisse Grinsekatze

Es ist halt auffällig, dass immer jene Branchen "händeringend" suchen, in denen am schlechtesten gezahlt wird oder die Zustände sonst irgendwie übel sind.


Quote
Green Pepper
25. August 2021, 19:01:02

Das Ende der Fahnenstange ist erreicht

In den oberen Einkommensklassen wissen manche nicht wohin mit dem Geld und hinterlassen mit ihrem Lebensstil einen übergroßen CO2-Abdruck. Die unteren haben mit ihrem Einkommen kein Auskommen. Europa 2021.

Danke an die Konservativen.


Quote
Aplantea

Jetzt kommt bei mir sowas wie Schadenfreude auf. Obwohl das irgendwie auch zu kurz gedacht ist. Irgendwie ist es nämlich auch erschreckend, wie schnell unser Wirtschaftssystem zusammenbricht, sobald die schlecht bezahlten und oft ausgebeuteten Arbeitskräfte fehlen.


Quote
Montgomery McFerryn

Lohndumping hat also in GB ein Ende, das sind doch gute Nachrichten. Die Wirtschaft jammert natürlich aber endlich bekommen die Leute ein Gehalt von dem sie leben können.


Quote
Braffin 25. August 2021, 18:27:15

"Über die vergangenen Jahrzehnte haben Millionen vor allem junger Kontinentaleuropäer auf der Insel die schlecht bezahlten Jobs gemacht, zu denen die einheimische Bevölkerung nicht zu überreden ist."

Da davon auszugehen ist, dass das glorreiche Empire eine neoliberale Lösung des Problems anstrebt (alles andere wäre immerhin nicht britisch), bietet es sich an in den nächsten Jahren den weiteren Fortgang der Entwicklung zu betrachten.

Wir haben hier wirklich eine schöne, regional begrenzte, kleine Modellregion zu Studienzwecken :)

Mit etwas Glück lernen wir dabei sogar, dass das derzeitige Missverhältnis zwischen Lohn und Leistung zwingend korrigiert werden muss, um die gesellschaftliche Stabilität zu erhalten.


Quote
Warumauchned

Play stupid games, win stupid prices..


Quote
belladonna43

Österreich, du hast es besser!
Bei uns kann man die importierten Landarbeiter immer noch mit 6 Euro abspeisen und die Putzfrau ist mit ein paar Netsch zufrieden.

Teile der Bevölkerung haben sich der Ansicht der Regierung angeschlossen
In deren Augen sind das ohnehin nur Pöbel und Tiere.

Die Entwicklung in England scheint natürlich bedrohlich. Da soll schwere Arbeit tatsächlich besser bezahlt werden.


Quote
Stormtrooper87

Keine billigen Helfer, die die Drecksarbeit machen die keiner sonst auch nur in erwägungziehen würde

Schon blöd, da müssen die Unternehmer ihren Angestellten vernünftige Löhne zahlen und auch noch für anständige Arbeitsbedingungen sorgen.


Quote
Alkolix

Das ist merkwürdig

In UK ist gerade eine Situation die dafür sorgt, dass Hungerlohnjobs aufgewertet werden.
Selbst das berüchtigte Amazon kann dort mit seinen Beschäftigen nicht mehr so umspringen. In Deutschland fliegen sie einfach billige Arbeitskräfte ein wenn gestreikt wird.
Und hier meinen die Leute, dass es den Briten so schlecht geht weil gerade nicht die Auswahl in den Supermärkten eingeschränkt ist?


Quote
alsoz

Capitalism in a nutshell...

Das zeigt ja eigentlich sehr deutlich das Kernproblem unserer Gesellschaft (läuft bei uns ja nicht anders): Der Wohlstand einiger - immer weniger - ist immer noch abhängig von der Masse "billiger" und gering ausgebildeter Arbeitskräfte. Ist das wirklich nachhaltig? Wollen wir das wirklich als Gesellschaft? Die Parteien, die dieses System vertreten, meist nationalistisch-konservative Populisten, egal ob in UK, Polen, Ungarn, Österreich, etc. haben es perfektioniert, genau diese Menschen in den unteren Einkommensschichten für sich zu gewinnen. Denn die lassen sich am besten durch Angst mobilisieren. Und wenn einer "die Grenzen dicht macht", ist das für 90% der Wähler egal, welche Wirtschaftspolitik danach kommt...


Quote
Rohling

Moderner globaler Kapitalismus benötigt den freien Nachschub an Ressourcen, die durch freie Konkurrenz immer billiger werden.
Wir danken GB für den Versuch, wie es auch anders gehen kann, oder eben nicht.


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Title: Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?)
Post by: Link on September 23, 2021, 05:28:58 PM
Quote[...] Millenials In Großbritannien wünschen sich zwei Drittel der Menschen unter 35 die Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Was ist los mit der jungen Generation?

Owen Jones ist Kolumnist der Tageszeitung The Guardian
Übersetzung: Carola Torti



... Laut einem im Juli publizierten Bericht der rechten Denkfabrik Institute for Economic Affairs (IEA) ist unter den Jüngeren in Großbritannien ein klarer Linksruck zu verzeichnen. Fast 80 Prozent machen den Kapitalismus für die Wohnungsnot verantwortlich, 75 Prozent halten die Klimakrise für ,,speziell ein Problem des Kapitalismus" und 72 Prozent sind für eine weitreichende Verstaatlichung. Alles in allem wollen 67 Prozent der Befragten gern in einem sozialistischen Wirtschaftssystem leben.

Angesichts einer – nach der Überwindung des Corbynismus – scheinbar hegemonialen Konservativen Partei im Höhenflug sei die Umfrage ein ,,Weckruf" für Unterstützer des Marktkapitalismus, warnt das IEA. ,,Die Ablehnung des Kapitalismus ist vielleicht nur ein abstrakter Wunsch. Aber das war der Brexit auch." Das gleiche auffällige Phänomen eins Linksrucks zeigt sich übrigens auch auf der anderen Seite des Atlantiks: Laut einer Studie der Harvard University im Jahr 2016 lehnten mehr als 50 Prozent der jungen Leute im wichtigsten Land der Laissez-Faire-Wirtschaft den Kapitalismus ab. Und 2018 ergab eine Gallup-Umfrage, dass nur noch 45 Prozent der jungen Amerikaner Kapitalismus positiv bewerteten, während das 2010 noch 68 Prozent taten.

Der 33-jährige Jack Foster, der in Salford für eine Bank arbeitet, ist ein Beispiel dafür, wie gelebte Erfahrung die Enttäuschung über den Kapitalismus verstärkt hat. Nachdem er sein Studium abgebrochen und in einem Callcenter – ein ,,schrecklicher Job" – gearbeitet hatte, beeinflusste, wie bei vielen, in seiner Generation der Finanzcrash seine politische Einstellung. Dabei war das Thema Wohnen von besonders großer Bedeutung. ,,Ich lebte in einer Mietwohnung und dachte: ,Wie soll ich mir je ein eigenes Haus leisten können?'", erzählt er . ,,Meine Mutter war Reinigungskraft, mein Vater hatte eine Behinderung, und alle Leute, die ich kannte und die sich ein Haus leisten konnten, wurden von ihren Eltern unterstützt. Es war keine Frage von Arbeiten und Sparen; man musste Geld erben."

... Wie die Linken erklärt auch er die wachsende Attraktivität durch die enorme Wohnungskrise. ,,Ob man Vertreter des freien Marktes, Konservative, Vertreter der Mitte oder Mitte-links oder Sozialisten fragt, alle sind sich einig, dass Großbritannien in einer Wohnungskrise steckt und das ein enormes Problem ist. Nur haben alle unterschiedlichen Antworten auf die Frage nach den Ursachen und was sich dagegen tun lässt", erklärt er. ,,Wenn Leute abgezockt werden und glauben, dass der Markt gegen sie arbeitet, ist es eine mögliche Reaktion, zu verallgemeinern: ,So ist der Kapitalismus – so ist der Markt', und dann stärker mit sozialistischen Ideen zu sympathisieren."

... statt der vom Thatcherismus versprochenen ,,Wohneigentumsdemokratie" sieht es in Großbritannien eher nach einem Paradies für Vermieter aus. Im Jahr 2017 waren 40 Prozent der im Rahmen des Ankaufsrechts veräußerten Wohnungen im Besitz von privaten Vermietern, die das Doppelte an Miete im Vergleich zu Sozialwohnungen verlangen. Tatsächlich ist innerhalb von zwei Jahrzehnten die Chance eines jungen Erwachsenen mit mittlerem Einkommen nur noch halb so groß, ein eigenes Haus zu besitzen. Diese jungen Menschen werden als ,,Generation Rent", Generation Miete, bezeichnet, weil rund die Hälfte der unter 35-jährigen in England auf einem freien Markt mietet, der häufig von Wuchermieten und Unsicherheit geprägt ist. Die Miete kostet in England annähernd die Hälfte des Nettoeinkommens der Mieter, in London sogar krasse 74,8 Prozent, ein Anstieg um ein Drittel seit Beginn des Jahrhunderts. Und wenn Millennials für den Hauskauf auf ein elterliches Rettungsboot setzen, winkt Enttäuschung: Die meisten erben erst im Alter zwischen 55 und 64 Jahren. Zudem liegt das Median-Erbe bei 11.000 britischen Pfund (knapp 12.800 Euro), was bedeutet, dass die Hälfte der Erben weniger erhält.

Es gibt einfach keinen rationalen Grund für junge Leute, dieses Wirtschaftssystem zu verteidigen. Laut Umfrage der Kinder-Hilfsorganisation Barnardo's im Jahr 2019 gehen Zwei Drittel der Unter-25-jährigen davon aus, dass es ihrer Generation schlechter gehen wird als ihren Eltern. Dieser Pessimismus ist neu, sagt Keir Milburn, Wissenschaftler und Autor des Buches Generation Left, in dem er argumentiert, breite linke Sympathien unter jungen Menschen seien ein modernes, von den ökonomischen Bedingungen gefördertes Phänomen. ,,Für jemanden, der in den 60er-Jahren geboren und dann erwachsen wurde, gab es ein Gefühl von Optimismus, also dass die Lage besser wird", erklärt er. ,,Es ist die aus der Zeit der Aufklärung stammende, modernistische Haltung, dass die Lage sich verbessert, dass die Gesellschaft, allgemein gesagt, immer Fortschritt verzeichnet. Jetzt denkt das nur noch Steven Pinker" (ein US-amerikanischer Psychologe und Autor des Buches Enlightenment Now – Aufklärung jetzt).

Für den 30-jährigen David Horner, der in London für eine Wohltätigkeitsorganisation arbeitet, begann die Desillusionierung angesichts des herrschenden Systems schon im Studium. Jetzt bekommt er bald ein Kind und sorgt sich darum, in welche Welt er es hineinsetzt. Beim Blick auf seine Arbeit mit Jugendlichen aus ärmeren Verhältnissen und die Erfahrungen von Freunden, die in krisengeschüttelten Gesundheits- und Bildungseinrichtungen arbeiten, liegt für ihn das Problem auf der Hand. ,,Dabei erzählt man uns, das gegenwärtige sei das beste volkswirtschaftliche System, das wir kriegen können. Jede Alternative – selbst wenn sie scheinbar nicht sehr radikal ist – wird einfach abgelehnt, weil es angeblich so sein muss, wie es ist", klagt er. ,,Mit zunehmendem Alter beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Ich will nicht mehr alles einfach hinnehmen. Aber es geht um viel Macht: Da sind die Konzerne und Leute mit Eigeninteresse am Kapitalismus und der Art und Weise, wie die Wirtschaft im Moment funktioniert."

Einer ganzen Generation wurde gesagt, es sei wichtig zu studieren, um ein Gehalt zu haben, von dem man leben kann. Doch das Einkommensgefälle zwischen Studierten und Nicht-Studierten hat sich erheblich verringert. Und obwohl Englands Hochschulabsolventen im Jahr 2020 Schulden in Höhe von fast 47.000 Euro angehäuft hatten, arbeitet mehr als ein Drittel der Hochschulabsolventen in Jobs, die keinen solchen Abschluss erfordern.

In den Jahren nach dem Finanzcrash und der folgenden Sparpolitik waren es die Gehälter und Löhne der jungen Arbeitnehmer, die in einer beispiellosen Senkung des Lebensstandards am stärksten zurückgingen. Formale Bildung plus wirtschaftliche Unsicherheit sind eine riskante Mischung. Aber das ist nicht das einzige Phänomen, das eine Rolle spielt. Zusätzlich wurden nicht-akademische Wege zu einem gesicherten Lebensstandard gestrichen, wie die qualifizierten Lehrstellen, von denen so viele 16-jährige Schulabgänger zuvor profitierten. Junge Wähler aus der Arbeiterklasse stimmten 2017 mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit für Labour als ihre Altersgenossen aus der Mittelschicht.

Aber auch eine wichtige existenzielle Frage führt dazu, dass viele junge Leute das ganze Wirtschaftssystem kritisch sehen. ,,Vor kurzem las ich einen Post auf Instagram mit der Frage, ob man lieber hundert Jahre in die Vergangenheit oder hundert Jahre in die Zukunft reisen würde. Und alle Kommentare fragten: ,Wird es in hundert Jahren überhaupt noch Menschen geben?'", erzählt der 22-jährige Uni-Absolvent Haroon Faqir. ,,Das fasst die Leute in meinem Alter und ihre Einstellung zu den Problemen, die in einem kapitalistischen System vor uns liegen, gut zusammen."

Die 20-jährige Studentin Emily Harris aus London sagt, ihre größte Sorge sei, dass ,,es dann nicht einmal einen Planeten mehr gibt: Wir haben Jeff Bezos, der sich selbst in den Weltraum schickt, während in Las Vegas das Wasser ausgeht und die halbe Welt brennt. Wenn diese Milliardäre aufhören würden, Geld zu machen, könnten sie alle Probleme lösen und immer noch Milliarden auf der Bank haben."

Während die Mainstream-Medien wenig Sympathien für die Unsicherheiten und Wünsche der jüngeren Briten aufbringen, ist im Internet politische Bildung zu finden. Die Journalistin Chanté Joseph ist 25, was sie in der Grenzregion zwischen Millennial und Zoomer ansiedelt. ,,[Die Mikro-Blogging-Seite] Tumblr hat mich radikalisiert", erzählt sie. ,,Ich las dort über Rassismus, Identität und Klasse und dachte: ,Das ist alles verrückt.' Es hat mir die Augen geöffnet."

Viele in ihrer Generation seien zu Twitter und TikTok abgewandert, ,,wo junge Leute eine Menge politische Inhalte teilen, die wirklich persönlich und nachvollziehbar sind. Das ist der Grund, warum viele jüngere Leute sich radikaler fühlen – es scheint normaler zu sein, wenn diese Ideen auf eine Art und Weise erklärt werden, bei der man denkt: ,Wie kann man da anderer Meinung sein?'"

Mehr als ein Drittel der Arbeitnehmer mit Null-Stunden-Verträgen – die häufig von Woche zu Woche nicht wissen, wie viel Geld sie verdienen werden – sind unter 25. Viele andere sind ,,scheinselbständig", während sie doch einen Vertrag mit einem Arbeitgeber haben, nur dass ihnen Rechte wie Mindestlohn oder bezahlten Urlaub vorenthalten werden. Versprochen wurde ihnen, dass der freie Markt ihnen Freiheit bringt; tatsächlich geliefert wurde Unsicherheit.

Durch die Opfer, die viele junge Leute während der Pandemie gebracht haben, kristallisierte sich noch stärker ein Gefühl von Ungerechtigkeit heraus. Die 22-jährige Studentin Hannah Baird ist in Rotherham aufgewachsen und haderte schon immer mit dem Status Quo. Ihre Angst vor der Klimakrise und kritische Meinungen auf den Sozialen Medien verstärkten ihre Unzufriedenheit. ,,Während der Pandemie bekam man den Eindruck, dass junge Leute sehr stark für die Fallzahlen verantwortlich gemacht werden", erzählt sie. ,,Dabei zahle ich weiter die gleichen Studiengebühren, kriege dafür aber seit eineinhalb Jahren nur Online-Lehre. Das fühlt sich an wie eine Ohrfeige. Bei Lockerungsplänen scheinen die Unis auch immer als Letzte erwähnt zu werden. Generell kriegt man den Eindruck, die Regierung kümmert unsere Generation wenig, so als ob man uns vergessen würde."

Das bedeutet nicht, dass die junge Generation sich in überzeugte revolutionäre Sozialisten verwandelt hat. Aber von den Millennials, die Karl Marx kennen, sehen ihn die Hälfte positiv, im Vergleich zu 40 Prozent der Generation X und nur 20 Prozent der Babyboomer.

Auch in Schöne Welt. Wo bist du? – Millennial-Autorin Sally Rooneys neuestem Buch – ist nicht nur der Sex sexy. Einer der Charaktere im Buch denkt darüber nach, dass neuerdings alle über Kommunismus sprechen. ,,Als ich früher Marxismus ins Gespräch warf, wurde ich ausgelacht. Heute stehen alle darauf." Wahrscheinlich ist Marxismus nicht das Rückgrat der Sprüche in den neu belebten Nachtclubs in Newcastle oder Cardiff. Aber ohne Zweifel ist die Post-Kalter-Krieg-Jugend viel offener für diese von vielen rundweg abgelehnte Philosophie des 19. Jahrhunderts. Viele Jüngere hatten für die Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme Hoffnungen auf Jeremy Corbyn als Labour-Chef gesetzt; jüngste Umfragen zeigen, dass jüngere Labour-Wähler fast doppelt so wahrscheinlich glauben, dass er ein besserer Parteichef gewesen wäre als Keir Starmer.

Die meisten jungen Leute lesen keine radikale Literatur. Aber politisierte Zoomer und Millennials hinterlassen einen ideologischen Fußabdruck in ihren Freundeskreisen. Das heißt nicht, dass die Linke die beiden heranwachsenden Generationen als selbstverständlich nehmen und darauf warten sollte, dass die Demographie irgendwann automatisch den bisher nicht erreichten politischen Sieg bringt. Wie der Wirtschaftswissenschaftler James Meadway kürzlich in einem Artikel mit dem Titel ,,Die Generation Links ist vielleicht gar nicht so links" warnte, könnten sich auch rechtspopulistische Antworten auf die Desillusionierung der Jugend durchsetzen. In Frankreich etwa sind viele junge Menschen nach rechts gerückt. In Großbritannien sind auch nur wenige in der Altersgruppe Mitglied in einer der Gewerkschaften, die in der Vergangenheit dazu beitrugen, eine antikapitalistische Einstellung zu entwickeln. Zudem gibt es das Phänomen, dass sich bei vielen jungen Menschen mit linken Haltungen parallel auch einige traditionell rechte Einstellungen finden.

Die Reichen – in der Pandemie noch reicher geworden – wird keiner essen. Aber junge Leute sehen auch keinen rationalen Grund, ein System zu unterstützen, dass wenig mehr als Unsicherheit und Krise zu bieten scheint.



Aus: "Esst die Reichen!" (23.09.2021)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/esst-die-reichen-kapitalismus-sozialismus-millenials (https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/esst-die-reichen-kapitalismus-sozialismus-millenials)

Quote
Holger Braun | Community

Klar die Leute unter 35 haben Nullahnung wie scheisse Sozialismus ist. Handy heute bezahlen und in 5 Jahren geliefert bekommen. Ich denke dann hat die Begeisterung schnell ein Ende. Ah, ich vergaß das war der falsche, real existierende Sozialismus, im richtigen wird das alles anders und besser. Aber mit dem richtigen Sozialismus ist es wie mit Godot.


Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on March 21, 2022, 11:43:47 AM
Quote[...] Welcher Berufstätige hat nicht schon einmal davon geträumt, mit einem "Ich kündige!" seinen Job einfach hinzuschmeißen? Immer mehr Amerikaner träumen nicht nur davon, sondern verlassen tatsächlich den regulären Arbeitsmarkt. Seit dem Frühjahr 2021 haben mehr als 33 Millionen freiwillig ihre Kündigung eingereicht, ein Phänomen, das hier als "Great Resignation" bekannt wurde. Viele suchen sich einen neuen, besseren Job. Denn die Wirtschaft in den USA ist trotz der hochansteckenden Virusvarianten Delta und Omikron seit dem vergangenen Herbst auf Erholungskurs und Arbeitgeber suchen dringend nach Bewerbern. Die Arbeitslosenquote lag im vergangenen Monat bei 3,8 Prozent – im Februar 2020, bevor die Pandemie die USA in eine Rezession schickte, hatte sie bei 3,5 Prozent gelegen.

Kaum ein Restaurant, Laden oder Fabriktor, an dem nicht ein "Help-Wanted"-Schild hängt. Auch in Schulen, Kindertagesstätten, bei Speditionen und in Lagerhallen – quer durch alle Branchen fehlt Personal wie nie zuvor. Die Zahl der offenen Stellen im Januar belief sich laut dem Bureau of Labor Statistics auf 11,3 Millionen, so viele wie noch nie. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ein Teil der Aussteiger offenbar keine Lust mehr auf eine reguläre feste Stelle hat. Ein Blick auf die Entwicklung der Erwerbsquote zeigt das, sie misst den Anteil der Erwerbstätigen und derjenigen, die eine Erwerbstätigkeit suchen, an der Bevölkerung im Alter über 16 Jahre. Sie ist um 1,1 Prozent geschrumpft. Demnach sind trotz des heiß gelaufenen Arbeitsmarkts immer noch 1,8 Millionen US-Bürger weniger in einem Angestelltenverhältnis als noch vor der Pandemie.

Ein großer Teil des Rückgangs der Erwerbsquote ist auf die über 65-Jährigen zurückzuführen. In den USA wollen oder müssen viele Ältere weiter arbeiten, doch angesichts von Covid-19, das vor allem für diese Altersgruppe gefährlich ist, bleiben viele offenbar lieber zu Hause.

Schwerer zu erklären ist der ebenfalls statistisch messbare Rückzug der Arbeitnehmer zwischen 45 und 54 Jahren und der jungen Generation zwischen 25 und 34 Jahren. Die "Great Resignation" verblüfft Ökonomen, Personalabteilungen und Medien. Bis vor Kurzem gehörte die Frage nach dem Job zu den wenigen Themen, die beim Smalltalk noch unproblematisch waren. "Hard working" zu sein, war ein großes Lob und etwas, dass Amerikaner anspornte. Doch jetzt erfreuen sich Internetforen wie der Subreddit "Antiwork" wachsender Beliebtheit. Das Motto des Forums lautet: "Arbeitslosigkeit für alle, nicht nur für die Reichen". Im Oktober waren dort 180.000 Nutzer gemeldet, heute sind es über 1,8 Millionen.

In ihren Beiträgen berichten Teilnehmer oft von ausbeuterischen und ungerechten Vorgesetzten. Etwa der Reddit-Forist, der sich ChknShtOutfit nennt, der für wochenlange Überstunden und Mehreinsatz als Belohnung eine Pizza spendiert bekam. Oder die Kellnerin, die schildert, wie der Restaurantmanager den einzigen Mann im Team befördert, der erst wenige Wochen dabei ist, statt eine der zwölf langjährigen weiblichen Angestellten. Zwar spielt die Bezahlung nach wie vor die größte Rolle bei Kündigungen. Doch die Gefühle, keine Chance auf Weiterentwicklung zu haben und schlecht behandelt zu werden, sind fast ebenso so wichtig, wie eine Umfrage des Pew Research Center ergab. Sogenannte "Idler" erklären in dem Forum, wie sie zwar immer noch angestellt sind, jedoch ihren Job im Leerlauf absolvieren und tatsächlich nur das Mindeste leisten, um nicht gefeuert zu werden.

Andere Foristen setzen statt eines festen Gehalts auf gig work – kurze Projekte oder Tätigkeiten als Selbständige und Subunternehmer. Es ist sicher kein Zufall, dass die Zahl der Selbständigen im Land 10 Millionen erreicht hat – rund 400.000 mehr als noch vor Covid-19. Die "Post Paycheck Economy", nannte das Wall Street Journal den massenhaften Abschied vom Gehaltsscheck kürzlich.

Doreen Ford, eine Pionierin der "Antiwork"-Bewegung, arbeitete jahrelang im Einzelhandel, bis die heute 30-Jährige sich entschied, stattdessen ihre Liebe zu Hunden auszuleben und ihren Lebensunterhalt als dog walkerin zu verdienen. Ford war eine der prominentesten Moderatorinnen des Subreddit "Antiwork" – bis sie im Januar dieses Jahres Fox News ein Interview gab, das der reaktionäre Sender unter der Schlagzeile "Der Krieg gegen Arbeit" laufen ließ.

Selbst Zuschauer, die Fords Einstellungen teilen, beschrieben das Livegespräch als einen "car crash", einen medialen Unfall. Ford, die sich selbst als autistisch bezeichnet, erschien schlecht ausgeleuchtet und nicht zurechtgemacht vor ihrer Computerkamera in ihrem unaufgeräumten Zimmer. Ihr Gegner – als Interviewpartner kann man den Fox-Moderator Jesse Watters wohl kaum bezeichnen – brauchte drei Minuten und 23 Sekunden, um sie auf die Karikatur einer faulen, einfältigen Vertreterin der Millennial-Generation zu reduzieren. Ihre Reddit-Gemeinde fühlte sich von ihr verraten und sie verlor ihre Rolle als Moderatorin. Das Forum wurde sogar kurze Zeit für die Öffentlichkeit gesperrt und war nur noch Mitgliedern zugänglich.

Doch Populisten wie Watters übersehen in ihrer Schadenfreude, dass
hinter Ford und anderen "Antiwork"-Teilnehmern ernstzunehmende Fragen an das herrschende Wirtschaftssystem stehen. So populär ist die "Antiwork"-Bewegung inzwischen, dass die Investmentbank Goldman Sachs in einer Analyse davor warnte, der Arbeitsmarkt könnte langfristige Folgen davon tragen. Zumal die Sinnkrise schon lange vor dem Ausbruch von Covid-19 begonnen hat. In seinem Buch Bullshit Jobs kritisierte der Anthropologe David Graeber 2018, bei einem Großteil der heutigen beruflichen Tätigkeiten handle es sich um sinnentleerte Beschäftigungen, die psychologisch schädlich seien. Graeber, der 2020 starb, war einer der Mitinitiatoren der "Occupy-Wall-Street"-Aktionen, die oberflächlich ohne langfristige gesellschaftliche Wirkung blieben. Vielleicht geht der Wunsch vieler Unternehmer, konservativer Politiker und Ökonomen in Erfüllung, dass mit der Pandemie auch die Revolte der amerikanischen Beschäftigten wieder einschläft. Aber es besteht die Chance, dass vor allem die Jüngeren sich nicht mit ein paar Dollar abspeisen lassen. Dass sie einen ganz anderen American Dream von Selbstbestimmung träumen.   



Aus: "Sie kündigen in Massen" Eine Kolumne von Heike Buchter, New York (21. März 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-03/anti-work-kuendigungen-usa-arbeitsmarkt-doreen-ford (https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-03/anti-work-kuendigungen-usa-arbeitsmarkt-doreen-ford)

QuoteÜlkü #4

"bei einem Großteil der heutigen beruflichen Tätigkeiten handle es sich um sinnentleerte Beschäftigungen"

Gerade die Pandemie hat gezeigt, worauf man alles verzichten kann. ...


QuoteKabeljau #23

Sinnentleerten Tätigkeiten und A*löchern als Vorgesetzte wollen immer mehr entfliehen.

Beides gab es früher auch schon, aber eine Gesellschaft der die Ziele anhanden gekommen sind fällt es schwer eine Begründung zu liefern, warum man das aushalten sollte.


Quoteherold69 #4.12

"Ein System, das auf einem unrealistischen Wachstumsmantra basiert und nur dann funktioniert, wenn andauernd neuer Schrott unter mehr oder weniger prekären Bedingungen produziert und konsumiert wird, ist langfristig eine Sackgasse."

Deshalb versucht man ja besonders in den USA dauernd mit disruptiven, skalierbaren Ideen noch ein bisschen was rauszukitzeln.
Aber irgendwann sind allen Dingen Grenzen gesetzt. Das wird nur immer wieder gerne verdrängt.



QuoteDarth Nihilus #5

Bei uns sind 15% der US Stellen unbesetzt. Das wird wirklich zum Problem. Wenn jemand neu kommt, ist er nach zwei Wochen wieder weg, weil die Konkurrenz 30% mehr Lohn bietet oder ein sattes Startgeld oder Fahrzeug, etc.
Unsere Nicht-US-Angestellten müssen Reallohnverluste hinnehmen und den US Kollegen zahlen wir 5% mehr. Leider ist der durchschnittliche Lohnanstieg in der Branche 9%. Da können mir nicht mithalten.

Und da unsere Konkurrenten bis zu 10x grösser sind (Boeing, GM, etc.) können wir auch kaum mit den immensen Investitionen in die Arbeitsplätze und Kultur mithalten. Beste Bürolagen, Armeen von Coaches und Freizeitaktivitäten.

Hier bildet sich gerade eine Mehrklassengesellschaft in der Wirtschaft heraus.


QuoteKaffebohne #5.1


Bei Hochqualifzierten ist das in der Tat so. Die sind rar und können sich aussuchen wohin sie gehen. Um die ging es im Artikel eher weniger. Der bezieht sich auf Geringverdienerjobs.


QuoteSalix babylonica #12

Ich habe als Selbständiger vor der Pandemie das dreifache verdient, aber auch dreimal soviel ausgegeben. Die 6-Tage-Woche war eigentlich der Standard, jetzt bin ich von Freitag bis Sonntag auf dem Land zum gärtnern. Ich fühle mich zehn Jahre jünger und viele gesundheitliche Probleme haben sich in Luft aufgelöst. Warum soll ich mich wieder ins Hamsterrad begeben, für das Finanzamt?


Quote________ #20

- "Arbeitslosigkeit für alle, nicht nur für die Reichen". (Zitat)

Das ist soziale Gerechtigkeit.


Quotedasisnichlinksdasislogisch #25

Antiwork und great resignation als begriffe zeigen schon, welches narrativ hier aufgebaut wird bzw der kapitalismus schon seit jahrhunderten in den usa pflegt ... die leute gehen einfach dahin wo es bessere arbeitsbedingungen gibt und ansatzweise faires gehalt gibt ...


Quotedasisnichlinksdasislogisch #25.1

aber einen sehr guten einblick vor allem in die arbeitswelt in den Usa gibt es hier:
https://www.reddit.com/r/antiwork/ (https://www.reddit.com/r/antiwork/)


QuoteResponsibleGambling #32

Man nehme einen neuen fetzigen Name und tue das gleiche wie vor 50 Jahren.
Siehe Kommunenbewegung der Hippies in den 70ern.


QuoteBananenkönig #35

Ich denke nicht, dass es hier im den American dream geht. Die Leute kündigen nicht weil sie reich werden wollen oder endlich das Haus haben wollen was ihnen immer versprochen wurde. Diese Resigmation ist nicht von Gier nach mehr oder Neid auf die Reichen getrieben sondern was die Menschen vor allem wollen, ist wenigstens nicht ärmer werden. Ob und wie ein Aufstieg möglich ist hat mit der Lebensrealität der meisten Leute nichts zu tun, denn die sind erstmal voll damit beschäftigt nicht ab zu steigen. Mit der Frustration niemals reich zu werden kan man leben. Die Frustration trotz Arbeitsverdichtung, zusätzlicher Jobs usw. trotzdem immer weniger Geld, geschweigedenn Vermögen, zur Verfügung zu haben ist hingegen auf Dauer nicht hinnehmbar.


QuoteAlbert Einhorn #36


»Die "Great Resignation" verblüfft Ökonomen, Personalabteilungen und Medien.«

Mich verblüfft daran lediglich, dass es so lange gedauert hat.
Auch die Reaktion der tankrabattierten Sektenangehörigen des Heiligen Wachstums™ vermag mich nicht zu verblüffen.

Exakt das meinten die US-Republikaner, als sie sagten, Menschen fürs 'Nichtstun' besser zu bezahlen, sei gefährlich und kommunistisch.

»Menschen gewöhnen sich daran, nicht zu arbeiten.« - Friedrich Merz
Die ganze Panik der Nutznießer von Millionen Bullshitjobs in einem Satz.
Autos zu Hunderttausenden auf Halde zu bauen ist zum Beipiel auch einer. Aber das merken die Betreffenden auch bald.


QuoteChapoloco #37

Reddit-Foren unterliegen oftmals einer Art Evolution. So auch das subreddit "Antiwork".
Ursprünglich war es wirklich dazu gedacht, Tipps zu geben, wie man mit möglichst wenig Arbeit ein gutes Leben führen kann.
Der heutige Tenor der User ist jedoch: Wir wollen Arbeiten, aber bitte nicht zu menschenverachtenden Bedingungen.
Die besagte Doreen ist eine Anhängerin der Ursprungsphilosophie, welche mit der aktuellen Bewegung nichts mehr zu tun hat.


...
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on May 09, 2022, 03:14:10 PM
Quote[...] Die Debatte über die Frage, wie sinnvoll eine Gewinnabschöpfung bei staatsnahen Energiekonzernen ist, ist voll entbrannt. Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat sie mit der Ansage, bei Konzernen wie Verbund oder OMV die durch die Energiekrise entstandenen Zusatzgewinne abschöpfen zu wollen, in Gang gebracht. Nehammers Argument: "Zufallsgewinne bei Unternehmen mit staatlicher Beteiligung gehören dem Volk und nicht dem Unternehmen allein."

Von "fatalen Signalen" für künftige Investitionen aller Unternehmen in diesem Land spricht Eco-Austria-Chefin Monika Köppl-Turyna auf Twitter. Auch (teil)staatliche Unternehmen müssten "im Sinne der Eigentümer bzw. gewinnorientiert agieren". Auch die deutsche Wirtschaftswissenschafterin Dominika Langenmayr führt dort Argumente ins Treffen. Eines davon: "Fängt man einmal an, in Sondersituationen neue Steuern auf erfolgreiche Marktteilnehmer einzuführen, zerstört man das Vertrauen ins Steuersystem."

Solange den Unternehmen der in den Vorjahren übliche Gewinn bleibe und ganz klar sei, dass die Gewinnabschöpfung aus dieser einmaligen, außerordentlichen Situation hergeleitet werde, sehe er ökonomisch keine Probleme, sagt hingegen IHS-Ökonom Christian Kimmich zur APA. Juristische Probleme könnte es geben, wenn teilstaatliche Unternehmen anders behandelt werden als rein private, gibt Kimmich zu bedenken.

Am Kapitalmarkt herrscht hingegen Verwunderung bis Entsetzen. Von "brutal toxisch" bis "Vertrauen schwer beschädigt" ist bei vielen kapitalmarktnahen Personen die Rede – und von schwerem Schaden für den Finanzplatz Wien, sollte dies so umgesetzt werden. Schon am Tag der Ankündigung wollten viele Investoren nur noch raus aus den betroffenen Aktien, um jeden Preis.

Am stärksten betroffen war der Verbund, dessen Börsenwert sich binnen Minuten bei sehr hohen Handelsumsätzen wegen eines 13-prozentigen Kurssturzes um bis zu fünf Milliarden Euro verringerte.

Im Vorjahr betrug der Verbund-Gewinn 874 Millionen Euro. Heuer könnte er dank der Zusatzgewinne, auch "windfall profits" genannt, auf bis zu zwei Milliarden steigen. Warum? Der Stromerzeugung über die Wasserkraftwerke kostet nicht mehr, obwohl die Konsumentenpreise stark gestiegen sind. Das führt zu hohen Gewinnspannen. Allerdings übertrifft der durch die Kanzleraussage um fünf Milliarden verringerte Marktwert des Verbunds die abzuschöpfenden Erträge um ein Vielfaches – kein gutes Geschäft für das Volk. Der Verbund gehört zu 51 Prozent der Republik, inklusive der Beteiligungen an den Landesversorgern EVN, Wiener Stadtwerke und Tiwag sind etwa 80 Prozent im Eigentum der öffentlichen Hand.

Als "sehr negativ" und "irritierend" bezeichnet Alois Wögerbauer, Geschäftsführer der Fondsgesellschaft 3 Banken-Generali, den Vorstoß Nehammers. Dessen Ansicht, die Zusatzgewinne gehörten dem Volk, teilt Wögerbauer nicht: "Das stimmt so nicht." Man könne über vieles diskutieren, es gebe auch andere Möglichkeiten. Der Staat als Mehrheitsaktionär des Verbunds könne diese Gewinne auch über normale Ausschüttungen erhalten.

Der Großteil der Verbund-Dividenden bleibt ohnedies im Inland, 80 Prozent des Versorgers gehören der öffentlichen Hand. Vom 20-prozentigen Streubesitz dürften ein Viertel bis ein Drittel von inländischen Aktionären gehalten werden.

Wögerbauer sieht Nehammers Aussagen vorerst pragmatisch. "Wenn da nichts mehr kommt, ist das in drei Wochen Geschichte." Bei einer Umsetzung der Gewinnabschöpfung sei dies anders. "Dann wird es bei Unternehmen zu einem deutlichen Bewertungsabschlag führen, an denen der österreichische Staat beteiligt ist", warnt Wögerbauer.

"Solche politischen Ansätze sollten in ein Gesamtkonzept einfließen und ausdiskutiert werden", sagt Andreas Zakostelsky, Obmann des Fachverbands der Pensions- und Vorsorgekassen. "Ansonsten könnte dies den heimischen Kapitalmarkt viel an Vertrauen kosten und würde nicht dazu beitragen, den Finanzplatz Österreich für institutionelle Anleger wie uns attraktiv zu gestalten." Ihm zufolge veranlagen die heimischen Pensions- und Vorsorgekassen für rund fünf Millionen Menschen in Österreich rund 44 Milliarden Euro an Sozialkapital.

Lob erntete Nehammer vom Arbeiterkammer-Experten Markus Marterbauer: "Unerwartet, aber sehr erfreulich" sei der Kurswechsel des Kanzlers. Die Verlierer der Situation, die Energiekonsumenten, gehören seiner Ansicht nach entschädigt und im Gegenzug die Zusatzgewinne abgeschöpft – und zwar nicht nur bei Unternehmen mit staatlicher Beteiligung, sondern bei allen.


Aus: "Wem Zusatzgewinne gehören: "Brutal toxisch": Nehammers Gewinnabschöpfung für Energiekonzerne sorgt weiter für Debatten" Alexander Hahn, Regina Bruckner (9.5.2022)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000135536238/brutal-toxisch-nehammers-gewinnabschoepfung-fuer-energiekonzerne-sorgt-fuer-debatten (https://www.derstandard.at/story/2000135536238/brutal-toxisch-nehammers-gewinnabschoepfung-fuer-energiekonzerne-sorgt-fuer-debatten)

Quote
NewSea, 8. Mai 2022, 21:32:07


Nur ja nicht armen Großkapitalisten etwas wegnehmen


Quote
garfield11111

Blablabla.....

Welche Menschen interessiert das Gesülze um völlig imaginäre Unternehmens-Aktien-Werte, wenn sie plötzlich Probleme haben, die gesalzene Stromrechnung zu bezahlen?
Und dann noch dazu erfahren müssen, dass die Höhe der Rechnung, gerade in Österreich, eigentlich auf aus der Luft gegriffenen Regeln basiert.

Das ist nur Pfründensicherung in einem bereits völlig ausser Rand und Band geratenem Wirtschaftssystem, daß immer mehr zugunsten der Reichen ausgerichtet ist.


Quote
Swiffer

Wie wäre es denn, wenn die lieben Kritiker hier, einfach selbst Aktionäre werden? ...


Quote
jeff5

Die Energiekonzerne kommen unverdient auf Kosten der Konsumenten zu Milliardenextragewinnen und man soll darüber nicht nachdenken, was man tun soll?


Quote
fizzzzzz

Der Stromerzeugung über die Wasserkraftwerke kostet nicht mehr, obwohl die Konsumentenpreise stark gestiegen sind.
Auf welcher Argumentation basiert dann die Preiserhöhung? Weils woanders auch teurer geworden ist?


Quote
Vorstadt

Ein Windhauch von etwas mehr Gerechtigkeit kommt in Form einer Ankündigung auf und schon ist von Kommunismus die Rede. Und das wird auch noch der ÖVP unterstellt. Man lernt nie aus.


Quote
sociovation

Toxisch ist vor allem die Propagandamacht der Konzerne

Auch aus diesem Artikel zu erkennen. Dabei ist wirtschaftwissenschaftlich längst belegt dass das hier betriebene "Rent-seeking" gesamtwirtschaftlich dysfunktional ist und nur der Vermögensmaximierung einer verschwindenden Minderheit dient. Mangels einer demokratisch wirksamen Medienlandschaft werden sie damit Erfolg haben und Wirtschaft und Demokratie im Sinne des Gemeinwohls sukzessive zerstören. Klima und Umwelt sowieso. Außer die 99% Mehrheit lernt sich zu wehren.


Quote
mx_

Verluste verstaatlichen
Gewinne privatisieren.
Was ist daran neu?


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Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on June 05, 2022, 10:03:51 AM
Quote[...] 1,7 Milliarden Euro Gewinn hat Deutschlands – und auch Berlins – größter Vermieter Vonovia im vergangenen Jahr erzielt. Das freute insbesondere die Aktionäre, die sich über eine Rekorddividende von insgesamt fast 1,3 Milliarden Euro freuen konnten. Umgerechnet auf die 565.000 Wohnungen, die der Konzern besitzt, zahlte je­de:r Mie­te­r:in monatlich 190 Euro direkt an die Aktionäre. Quasi zum Dank hat der Konzern nun Mieterhöhungen in Aussicht gestellt.

Begründet hat Vonovia-Chef Rolf Buch das Vorhaben mit der Inflation. Liege diese ,,dauerhaft bei vier Prozent" – momentan ist es etwa doppelt so viel – ,,müssen Mieten dementsprechend ansteigen", so Buch.

... Die Mieten müssen nicht wegen der Inflation steigen, sondern werden angehoben einzig aufgrund des Strebens des Konzerns nach Maximalprofit – wie es einem Börsenunternehmen inhärent ist. Man kann das mit einem Schulterzucken quittieren oder als Beweis dafür sehen, dass wichtige Lebensbereiche nicht dem Kapitalismus überlassen werden dürfen.

...


Aus: "Politisches Versagen und Mietenwahnsinn: Bitte nicht, liebe Konzerne" Kommentar von Erik Peter (5.6.2022)
Quelle: https://taz.de/Politisches-Versagen-und-Mietenwahnsinn/!5858861/ (https://taz.de/Politisches-Versagen-und-Mietenwahnsinn/!5858861/)

Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on September 08, 2022, 11:36:58 AM
Quote[...] In ihrem kürzlich erschienenen Buch Frei – Erwachsen werden am Ende der Geschichte beschreibt die heute in London lehrende Politikwissenschaftlerin Lea Ypi so das Einkaufserlebnis im sozialistischen Albanien der Achtzigerjahre. Millionen Deutschen, die in der DDR aufgewachsen sind, dürfte das bekannt vorkommen. Vieles gab es gar nicht, anderes oft nur mit Wartezeit. Bei einem Trabant konnten schon mal 15 Jahre vergehen.

Dementsprechend gehörten die vollen Regale des Westens zu den größten Trümpfen während der Blockkonfrontation. Im Gegensatz zur Planwirtschaft lieferte die Marktwirtschaft zuverlässig ab und aus. Das hatte zwar buchstäblich seinen Preis, benötigte aber keine privaten Beziehungen. Brauchte es im Sozialismus allzu oft Vitamin B, gilt im Kapitalismus die Faustformel: Was man mit Geld nicht kaufen kann, kann man mit viel Geld kaufen.

Als Systemsiegerin über die sozialistische Mangelwirtschaft besteht das Kernversprechen der Marktwirtschaft deshalb vor allem in einem: volle Verfügbarkeit. Folglich kratzen Lücken im Sortiment aber auch an ihrem Ruf. Und derlei Lücken gab es in den letzten Jahren immer mehr. Wurde durch die Pandemie zunächst das Klopapier knapp, brachen sodann globale Lieferketten, iPhones kamen plötzlich nicht mehr so schnell bei den Käufern an, wie die es gewohnt waren. Die aktuelle Energiekrise könnte zu noch größeren Verwerfungen führen. Brauereien oder Papierhersteller fürchten Engpässe, schlimmstenfalls könnte mancherorts das Licht ausgehen und die Heizung kalt bleiben.

Das wäre zuvorderst ein existenzielles Problem für die Betroffenen. Es würde aber auch an den Grundfesten der Marktwirtschaft rütteln. Denn in ihr soll Mangel stets eine Sache individueller Verantwortung bleiben: Wenn du dir was nicht leisten kannst, musst du eben sparen oder mehr verdienen. Selbst wenn man diesen Mechanismus nicht als Ausweis von Leistungsgerechtigkeit sieht, sondern darin die große neoliberale "You can get it if you really want"–Lüge erkennt, muss man zumindest zugestehen: Sie funktioniert.   

In dem Moment jedoch, in dem der Mangel objektiv wird, die Produktion also selbst nicht hinterherkommt, avancieren leere Regale und Gasspeicher aus liberaler Warte zu Lücken, die der Teufel lässt. Denn dann kommt der Markt als Verteilungsmechanismus an seine massenpsychologischen Grenzen. Angesichts drohender "Jahre der Knappheit" (Christian Lindner) ließe sich theoretisch zwar fordern: Gas, Strom und Bier im Zweifelsfall nur für jene, die sich's leisten können. Doch wissen selbst Die-Hard-Liberale, dass sich das praktisch nicht mehr als Leistungsgerechtigkeit verkaufen ließe.

Das wiederum führt insbesondere die FDP in ein ideologisches Dilemma. Lehnt man dort die beiden alternativen Steuerungsmechanismen – dirigistische Eingriffe des Staates einerseits, moralische Appelle zur individuellen Verhaltensregulierung andererseits – doch gleichermaßen ab. Sie hat in den letzten Jahren die Warnung vor einer vermeintlichen Moraldiktatur medial so hochgejazzt, dass sie sich über Habecks Duschempfehlungen oder Kretschmanns Waschlappen-Lob geradezu zwangsläufig empören muss.

So haben sich Kubicki und Co. den aus liberaler Sicht eigentlich verträglicheren Weg verbaut, mit dem Mangel ideologisch umzugehen. Weil man moralische Verzichtsappelle ablehnt, muss man nun die einzig verbleibende Alternative, staatsdirigistische Eingriffe, mittragen. Das ist die paradoxe Pointe. Auch Liberale stimmen jetzt für das Heizverbot von privaten Schwimmbädern. Dass man sich auch mit viel Geld nicht mal mehr einen warmen Swimmingpool kaufen kann, dürften Teile der FDP-Kernklientel indes fast als Planwirtschaft empfinden. Aber so lange die Liberalen keine andere Antwort auf den Mangel haben, werden sie das bisschen Sozialismus wohl ertragen müssen. 


Aus: "Das Ende der Leistungsgerechtigkeit" Nils Markwardt (2. September 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-09/energiekrise-inflation-entlastungspakete-marktwirtschaft (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-09/energiekrise-inflation-entlastungspakete-marktwirtschaft)

QuoteKenan79 #31

Was sagen eigentlich die zusammengerechnet drei Milliarden Chinesen und Inder sowie die eine Milliarde Afrikaner zu den Luxusproblemen der Deutschen?
Sicher werden die keine Hilfspakete schnüren. Die werden doch aber sicher Mitleid äußern.


Quotejjkoeln #31.1

Klassisches "What about ..."


QuoteClimateJustice #2

Zum Problem generell: "In Deutschland ist der Ressourcenverbrauch laut UNICEF zu hoch: Für die dortige Lebensweise würden im Weltmaßstab 2,9 Erden benötigt."
https://www.tagesschau.de/ausland/unicef-ressourcen-verbrauch-101.html (https://www.tagesschau.de/ausland/unicef-ressourcen-verbrauch-101.html)

Der deutschlandspezifische Overshoot Day war in diesem Jahr der 4. Mai:
https://www.umweltbundesamt.de/themen/erdueberlastungstag-ressourcen-fuer-2022-verbraucht (https://www.umweltbundesamt.de/themen/erdueberlastungstag-ressourcen-fuer-2022-verbraucht)


QuoteTatamei #2.5

... Der Ressourcenverbrauch steigt proportional mit dem Einkommen.


Quotedifferenziert #3

"Als Systemsiegerin über die sozialistische Mangelwirtschaft besteht das Kernversprechen der Marktwirtschaft deshalb vor allem in einem: volle Verfügbarkeit. Deshalb kratzen Lücken im Sortiment aber auch an ihrem Ruf. Und derlei Lücken gab es in den letzten Jahren immer mehr. Wurde durch die Pandemie zunächst das Klopapier knapp, brachen sodann globale Lieferketten, iPhones kamen plötzlich nicht mehr so schnell bei den Käufern an, wie die es gewohnt waren. "

Unter anderem nicht zu vergessen das Thema Babymilchpulver in den USA.
Ein so reiches Land kann/ konnte seine Säuglinge (jene die darauf angewiesen sind) nicht ernähren, aufgrund von monopolisierten Marktstrukturen. Wenn es nicht so traurig wäre... irre komisch. Analytisch gesehen als Symptom hoch interessant, aber keine Überraschung.


QuoteM.Aurelius #6

"Durch die Energiekrise drohen hierzulande immer mehr Knappheiten. Das rüttelt auch an den psychologischen Grundfesten der Marktwirtschaft."

Den Begriff "Markt" in einem Zusammenhang mit "Energie" zu erwähnen, zeugt von der Idealkombination aus Ignoranz und Inkompetenz. Ein Markt ohne hinreichende Konkurrenz hat so viel Substanz wie eine Fata Morgana und der Energiemarkt ist ungefähr so transparent wie London im Nebel.


QuoteKarmakarl #8

Die Mär vom ewigen Wachstum. Einst Verheißung, jetzt wohl eher Untergang.


Quoteschulzholger #15

Dies ist kein Artikel über Marktwirtschaft, dies ist eine Abrechnung des Autors mit der FDP.

Immerhin interessant, das er damit eigentlich implizit erklärt, das ausser der FDP keine andere Partei offen für die Marktwirtschaft ist.

In einer Marktwirtschaft bilden sich die Preise durch Angebot und Nachfrage. Die Idee dahinter ist das höhere Preise Menschen dazu motivieren ein Gut herzustellen oder Ersatzgüter anzubieten. Und umgekehrt, das Menschen wenn etwas zu teuer wird anfangen nach Ersatzprodukten zu suchen.


Quotemwasaa #17

"Leistungsgerechtigkeit" ist eh ein Witz. "Ungerechtigkeit durch Erben und Netzwerke" beschreibt die Realität viel besser.
Beispiel: meine Großeltern haben ihr Leben lang geschuftet, als Vertriebene und dann DDR-Bürger, aber vergleichsweise Pech gehabt und waren mütterlicherseits stolz darauf, sich die eigene Beerdigung bezahlen zu können, väterlicherseits dasselbe + ein etwas baufälliges Haus als finanzielle Lebensbilanz. Gleichalte auf der anderen Seite der Mauer erwarben durch eine ähnliche Leistung Haus, Auto(s), Auslandsurlaube und Pipapo + in einigen Fällen Unternehmen und Netzwerke, von denen dann die nach ihnen kommenden Familienmitglieder zehrten und zehren. Mit verschiedenem Ausmaß von Leistung hat das alles gar nichts zu tun.


QuotePI Circle #20

Im Vergleich zu den heutigen Marktskeptikern hatten die Sozialisten der Vergangenheit wengistens eine ausgearbeitete ökonomische Theorie - hat trotzdem nicht funktioniert.


QuoteEinfacher Bürger #36

Neo-Liberalismus stolpert nicht über eine temporäre Knappheit von Toiletten-Papier. Das ist Wunschdenken.

Der Neo-Liberalismus, der in großen Teilen der Welt längst zum Neo-Feudalismus mutiert ist, wird noch für lange Zeit gar nicht stolpern.

Warum?

Weil der Neo-Liberalismus in Wahrheit der Kampf "Reich gegen Arm" ist. Ganz bewußt in dieser Reihenfolge. Muss man ein Linker sein, um es so zu sehen? Definitiv nicht. Es reicht, die Welt nüchtern zu betrachten, wie z. B. der Multimilliardär Warren Bufett.

"There's class warfare, all right, but it's my class, the rich class, that's making war, and we're winning."

Frei übersetzt: Es läuft längst ein Klassenkampf, den wir Reichen begonnen haben - und wir werden gewinnen.

Warum hat er dummerweise recht? Weil die Politik, die eigentlich das gesamte Volk vertreten soll, nicht die Kraft (oder den Mut, oder das Interesse) sich mit diesen Leuten anzulegen. Als Stichworte seien nur mal Dinge genannt wie höherer Spitzensteuersatz für Höchstverdiener, Vermögensteuer, Übergewinnsteuer, Schließen von Steuerlücken und Trockenlegen von Steueroasen.

Nichts davon geschieht (wirklich). Ein bisschen Flickschusterei hier, ein bisschen Kosmetik da, aber nichts Substanzielles.

Der Neo-Liberalismus an sich ist also noch lange nicht in Gefahr, erst recht nicht global, aber die FDP als deren Speerspitze in Deutschland sehr wohl. Die 5%-Marke rückt immer näher. Nur, selbst wenn sie rausfliegt, bleibt immer noch die Union.


QuoteFliesenFriese #36.1

Neo-Liberalismus...
ist erstens ein Kampfbegriff der Linken.
Und zweitens ein Kompliment, wenn man mal nachdenkt.


QuoteEinfacher Bürger #36.2

Neo-Feudalismus ist Ihnen lieber?

Mir auch, denn er beschreibt viel treffender die Realität.

Neo-Liberalismus hat völlig zu Unrecht die Konnotation von "Freiheitskampf", dabei ist in Wirklichkeit nur die Freiheit der Reichen und Mächtigen gemeint, die anderen 99% der Menschheit, also auch Sie und mich, auszulutschen.

Wie das eben im Feudalismus auch war.


QuoteHerr-Bert #36.3

Nun Neoliberalismus ist eigentlich eine moderate Alternative zum Liberalismus – so wie er im 19. Jahrhundert praktiziert wurde. Leider gilt heute nur noch die Lehre von Friedman als die Wurzel des Neoliberalismus. Also die Denkschule, die hier in Deutschland immer noch maßgeblich unsere Wirtschaftspolitik beeinflusst, hat was gegen Monopole und feudale Strukturen. Sicher ist das nicht perfekt gelöst vielleicht noch nicht mal gut. Einiges sollte auch mal wieder in die Spur gebracht werden – aber einen Systemwechsel ? Alle anderen Systeme haben bisher augenscheinlich schlechter funktioniert.


QuoteFliesenFriese #36.4

Sorry - Ich lese auch aus Ihrem Nachfolge-Kommentar lediglich linken Hass, Leistungsneid und sozialistischen Populismus heraus.

Somit gibt es - zumindest bei diesem Thema - nicht zwischen uns zu diskutieren.


QuoteSerail #36.7

"Neo-Liberalismus ist erstens ein Kampfbegriff der Linken."

"Kampfbegriff" ist auch ein Kampfbegriff!

Wechselseitige Denunziationsformeln sind zwar Demarkationen politischer Gegner, entfalten aber sicher nicht den "zwanglosen Zwang des besseren Arguments" (Jürgen Habermas).


Quotedifferenziert #36.5

"Neo-Liberalismus ist erstens ein Kampfbegriff der Linken. Und zweitens ein Kompliment, wenn man mal nachdenkt."

Beides richtig, jedoch wird die neue Deutung des Begriffes immer mehr angenommen und verstanden.
Beschreiben wir ""Neo-Liberalismus" mit anderen Begriffen würde ich sagen: Radikaler Wirtschaftsliberalismus.


QuoteBirnenpflücker #38

Der Autor des Artikels hat eindeutig keine Ahnung, wenn er von Schlangen stehen in Albanien oder damaligen DDR spricht, vor allem, wenn er sagt; ,,das bisschen Sozialismus müssen nun alle ertragen". Daran erkennt man, dass er höchstwahrscheinlich nie in so einem System gelebt hat (außer darüber etwas gelesen). Es klingt so etwa nach dem Motto: ,,endlich können wir es den Kapitalisten zeigen! kein warmes Wasser im Pool! ...


...
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on October 13, 2022, 02:43:37 PM
"IT-Business - Vorwurf: Amazon vernichtet weiterhin tonnenweise zurückgeschickte Neuwaren" (13. Oktober 2022)
Neue Untersuchung zeigt altbekannte Probleme. Greenpeace: An der Praxis hat sich seit Jahren wenig geändert – der Vorgang werde jetzt anders benannt ... Ob Laptop oder neue Schuhe, all das kann man bei vielen Anbietern bestellen und bei Nichtgefallen einfach wieder zurückschicken – und zwar kostenlos. Eine Praxis, die aber eine äußerst unerfreuliche Schattenseite hat: Viele dieser zurückgesendeten Produkte landen nämlich einfach im Müll. Das hat über die Jahre für viel Kritik gesorgt, allen voran am Branchenprimus Amazon. Also folgten Versprechen, dass Produkte, bei denen ein Weiterverkauf nicht möglich ist, gespendet oder recycelt werden sollen. In einzelnen Ländern gibt es mittlerweile gar Gesetze, die die massenhafte Vernichtung von neuwertiger Ware verhindern sollen – darunter auch in Deutschland. An der Realität scheint das aber wenig geändert zu haben. ...
https://www.derstandard.at/story/2000139922972/vorwurf-amazon-vernichtet-weiterhin-tonnenweise-zurueckgeschickte-neuwaren (https://www.derstandard.at/story/2000139922972/vorwurf-amazon-vernichtet-weiterhin-tonnenweise-zurueckgeschickte-neuwaren)

Quotebella_e_saggia

Wenn Vernichtung billiger ist als anderweitig zu verwerten oder zu spenden, dann wird vernichtet. Amazon ist schließlich ein börsennotierter Konzern und keine Wohlfahrtsorganisation. ...


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Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on October 26, 2022, 01:17:18 PM
Quote[...] Spätestens seit der Finanzkrise ist der Neoliberalismus zum Kampfbegriff geworden, mit dem wirtschaftliche und politische Fehlentwicklungen gebrandmarkt werden. Als er in den späten 1930er-Jahren entstand, sollte er totalitären Systemen entgegenwirken.


Januar 2021, Berlin-Moabit: Auf dem Carl-von-Ossietzky Platz haben sich etwa hundert Menschen für eine Demonstration versammelt. Sie wollen ihren Unmut gegen die Corona-Politik äußern. Neoliberal sei diese. ,,Ich gehe gegen Neoliberalismus auf die Straße, weil es für mich ein kapitalistisches System ist und eine ideologische Denkstruktur, die den Profit von großen wirtschaftlichen Unternehmen über das Wohl von Menschen stellt", sagt einer der Demonstranten. Außerdem stehe Neoliberalismus ,,für eine Individualisierung und Privatisierung, für mehr Polizei, für mehr Militär" und erhalte damit ,,kapitalistische, patriarchale und rassistische Strukturen" tagtäglich aufrecht. Darunter würden alle leiden.
,,Als neoliberal wird ja alles – in Anführungsstrichen – kritisiert, was Vorteile von Märkten betont, oder als neoliberal werden Dinge bezeichnet, die eigentlich Missstände sind und überhaupt nichts mit Marktwirtschaft zu tun haben – der Missbrauch von Marktmacht von irgendwelchen Konzernen in Schwellenländern und ähnliches mehr", sagt Clemens Fuest. Er berät als Leiter des ifo Instituts in München die Bundesregierung. ,,Natürlich ist das ahistorisch und das Ganze diskreditiert natürlich den Begriff liberal und Marktwirtschaft und Wettbewerb."
Fuest wird immer wieder als Neoliberaler bezeichnet und empfindet den Begriff als leer und nichts aussagend. ,,Für mich hat der historische Neoliberalismus in der Tat versucht, die Stärken des klassischen Liberalismus mitzunehmen, aber etwas zu lernen." Neoliberalismus im heutigen Sprachgebrauch als Kampfbegriff habe dagegen eine völlig andere Bedeutung. Es gibt politische Kampfbegriffe, die Gegner denunzieren sollen – aber die Überzeugten stehen dazu: ,,Kommunist!" Da sagen überzeugte Kommunistinnen und Kommunisten: Ja, das bin ich. Aber: ,,Neoliberaler!" – so will sich niemand bezeichnen lassen. Nicht einmal Friedrich Merz vom Wirtschaftsflügel der CDU.

,,Ich habe mich nie als Neoliberaler empfunden", betont er auch einer Pressekonferenz im Oktober 2018. ,,Das ist ein politischer Kampfbegriff geworden. Anders, als er ursprünglich mal von denen, die den Liberalismus in Deutschland formuliert haben, gedacht war. Deswegen habe ich mich von diesem Begriff auch immer distanziert."


Rückblick: Die Welt in den 1930er-Jahren. Hitler. Mussolini. Stalin. Franco. Salazar. Faschismus. Kommunismus. Diktaturen in fast allen europäischen Ländern. Die westlichen Demokratien sind in der Defensive.
In dieser Zeit versucht eine kleine Gruppe, eine Minderheit von Intellektuellen, den Liberalismus, der im 19. Jahrhundert eine so starke politische und gesellschaftliche Strömung war, wiederzubeleben, zur Überwindung des Totalitarismus ihrer Zeit. Sie setzen auf einen neuen, den Neo-Liberalismus.
Paris, August 1938: Auf Einladung des Ökonomie-Professors Louis Rougier treffen sich 26 Männer in Paris, im Institut International de Coopération Intellectuelle. In Sakkos und Anzügen sitzen sie in einem holzvertäfelten Raum mit langen, schweren Vorhängen vor den Fenstern.


Die Herren kommen aus verschiedenen europäischen Ländern und den USA. Krieg liegt in der Luft: Hitlerdeutschlands aggressive Politik bedroht den Weltfrieden. Die in Paris versammelten Herren sind überzeugt, dass nach der katastrophalen Weltwirtschaftskrise die Rückkehr zu einem echten Liberalismus die einzige Chance ist, um den Lebensstandard der breiten Masse zu verbessern und den Frieden zwischen den Nationen zu sichern. Dies ist die Geburtsstunde des Neoliberalismus.
,,Die Idee zu dem Kolloquium, das uns heute zusammenkommen lässt, entstand unter Freunden von Walter Lippmann aus einem gemeinsamen Gefühl der überragenden, ja der entscheidenden Bedeutung seines Buches ,The Good Society'." Mit diesen Worten begrüßt der französische Philosophieprofessor Louis Rougier die Gäste. Der amerikanische Journalist Walter Lippmann greift in seinem neuen Buch ,,The Good Society" Ideen auf, die zur selben Zeit auch in anderen Werken verbreitet werden. Die Pariser Zusammenkunft im Sommer 1938 ist als Walter-Lippman-Colloquium in die Geschichte eingegangen.


,,Das Buch von Walter Lippmann beweist auf überzeugende Weise, dass Sozialismus und Faschismus zwei Sorten derselben Spezies sind", schreibt dazu Louis Rougier. ,,Beide gehen sie von der verbreiteten Überzeugung aus, dass es möglich ist, eine gerechtere, sittlichere und wohlhabendere Gesellschaft zu schaffen, wenn die auf Privateigentum und dem Markt-Preis-Mechanismus basierende Marktwirtschaft ersetzt wird durch eine Planwirtschaft."
Sowohl Sozialismus als auch Faschismus, so Louis Rougier, würden das Gesetz von Angebot und Nachfrage und den Besitz privater Produktionsmittel durch eine staatliche Planwirtschaft ersetzen wollen. Eine Planwirtschaft führe aber zu Zwangsarbeit und Mangel und könne einer Gesellschaft keinen hohen Lebensstandard ermöglichen. Stattdessen brauche es den Liberalismus, nicht Kollektivismus und Planwirtschaft.


Der Kollektivismus ist für Rougier entscheidend, die Unterschiede zwischen Sozialismus und Faschismus spielen für ihn keine Rolle. ,,Weit entfernt davon, sittlicher und vernünftiger zu sein, kann eine solche Volkswirtschaft nur eine blinde, willkürliche und tyrannische Wirtschaft sein, die zu einer riesigen Verschwendung wirtschaftlicher Güter und einer Verschlechterung des Lebensstandards der Massen führt", schreibt er. Statt Planwirtschaft brauche es Marktwirtschaft. Und die funktioniert über die Preisbildung. Der Markt-Preis-Mechanismus ist ein zentrales Thema, über das beim Lippmann-Kolloquium debattiert wird.
Katrin Hirte ist Soziologin an der Universität Linz. Sie erklärt den Kerngedanken der Ökonomen, die im Sommer 1938 in Paris dem Liberalismus neues Leben einhauchten: die Idee, dass sich Käufer und Verkäufer auf Märkten treffen und dort auf Preise reagieren. ,,Die Preise sind das Signal. Das kann man sich auch sehr gut vorstellen. Wenn jemand in den Medien sagen würde, morgen oder übermorgen gibt es keine Butter mehr, würden alle Butter kaufen. Die Butter wäre alle und in dem Moment, wo sie alle ist, die Nachfrage sehr intensiv und sehr hoch ist, würde dann faktisch der Anbieter der Butter reagieren können."
Die Anbieter würden aufgrund der hohen Nachfrage die Preise der Butter erhöhen. Nicht der Staat legt nach neoliberaler Vorstellung die Preise fest, sondern der Markt bestimmt durch Angebot und Nachfrage die Preise. Mit der Knappheit steigt oder fällt der Preis. ,,Und dadurch wird auch entschieden, was produziert wird und wieviel produziert wird und auch für wen", erläutert Hirte. ,,Das ergibt sich faktisch wie von alleine."

Der Staat soll nicht künstlich einen niedrigen Butterpreis erzwingen, damit sich auch arme Menschen Butter leisten können. Stattdessen entscheidet der Markt, welchen Preis die Butter hat. Wenn die Nachfrage hoch ist, dann steigt auch das Angebot, und der Preis sinkt wieder. So sorgt der Markt dafür, dass ein bestimmtes Produkt vermehrt produziert wird, weil es knapp und teuer ist. So reagiere die liberale Marktwirtschaft viel besser auf die Bedürfnisse in der Bevölkerung als jede Planwirtschaft. Das ist das Credo der Ökonomen beim Walter Lippmann-Kolloquium 1938 in Paris. Wie weit dieses ökonomische Prinzip in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens anwendbar ist: Diese Frage spielt in der Geburtsstunde des Neoliberalismus noch keine Rolle.
,,Neoliberales Denken bedeutet aber auch die Vorstellung, die kam aber auch erst dann in den Siebzigerjahren auf, dass alles so funktionieren könnte", so Hirte. ,,Auch unsere Krankenhäuser könnten so funktionieren, unsere Schulen könnten so funktionieren, die Polizei könnte so funktionieren. Das ist dann schon wirklich radikaler Neoliberalismus."


So weit gehen die Vordenker des Neoliberalismus 1938 nicht. Im Gegenteil: Der Staat hat für sie eine wichtige Funktion. Er soll garantieren, dass es einen freien Markt gibt, auf dem sich Käufer und Verkäufer überhaupt erst treffen können, um nach den Prinzipien von Angebot und Nachfrage Preise auszuhandeln.
Damit dieser Wettbewerb entstehen kann, muss Eigentum geschützt werden, Verträge müssen eingehalten und Währungen stabilisiert werden. All das sind Aufgaben des Staates. Auf dem Lippmann-Kolloquium unterstreicht der französische Philosoph Louis Rougier diesen Aspekt. ,,Das zweite Verdienst von Walter Lippmanns Buch ist es, gezeigt zu haben, dass das liberale System nicht bloß das Ergebnis einer natürlichen, spontan entstehenden Ordnung ist", so Rougier. ,,Sondern, dass es ebenso das Ergebnis einer Rechtsordnung ist, die einen gesetzlichen Interventionismus des Staates voraussetzt. Das Wirtschaftsleben entfaltet sich innerhalb eines rechtlichen Rahmens, der das System von Eigentum, Verträgen, Währung- und Bankwesen etabliert."
Die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er-Jahre hatte zu hoher Arbeitslosigkeit und sozialem Elend geführt. Ohne ausreichende Sozialversicherung waren viele Arbeitslose auf sich selbst gestellt. Die Idee des sogenannten Laissez-faire-Liberalismus, in dem der Markt ohne staatliche Regulierung zu einer erfolgreichen Gesellschaft führt, war gescheitert, und viele kehrten dem Liberalismus den Rücken.

1938 versuchen die Intellektuellen des Lippmann-Kolloquiums den Liberalismus neu – neo – zu definieren und von einem nicht-regulierten Laissez-faire-Liberalismus abzugrenzen. Dieser neue Liberalismus zeichnet sich nach Rougier und Lippmann durch ein klares staatliches Regelwerk aus, innerhalb dessen der Markt frei agieren kann. ,,Liberal zu sein bedeutet nicht, wie beim ,Manchester'-Liberalismus, Autos in alle Richtungen fahren zu lassen, wie sie wollen, was zu Staus und unendlich vielen Unfällen führen würde", betont Rougier. ,,Es bedeutet nicht, wie ein ,Planer' für jedes Auto seine Startzeit und seinen Weg vorzuschreiben. Vielmehr bedeutet es, einen Code de la Route vorzuschreiben und dabei anzuerkennen, dass ein solches Regelwerk im Zeitalter schneller Transportmittel nicht zwangsläufig so aussehen wird wie zur Zeit der Postkutschen."


Der Staat soll die Wirtschaft nicht planen, nicht aktiv in die Wirtschaft eingreifen, er soll nur den Rahmen festsetzen. Der Staat bestimmt die Verkehrsregeln, sodass alle Autos frei fahren können. Er bestimmt das Regelwerk des freien Marktes. ,,Das Bild, das hier immer wieder Verwendung findet, ist das Bild vom Schiedsrichter", sagt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher. ,,Ein Schiedsrichter, der nicht selbst aktiv ins Spielgeschehen eingreift und auch nicht eingreifen darf natürlich, der aber eben unparteilich und geradezu stoisch eben die Regeln durchsetzt, die für die Märkte gelten sollen."
Eine entscheidende Frage ist: Wie entstehen die Regeln? Der Schiedsrichter habe damit natürlich wenig zu tun, sagt Biebricher. ,,Das wirft ein bezeichnendes Licht auf das neoliberale Denken. Die sich nämlich dafür sehr wenig interessieren, also inwieweit das auf demokratische Weise zustande kommt, dieses Regelwerk. Was denn überhaupt passiert, wenn die Spieler auf dem Spielfeld sagen: Die Regeln passen uns aber eigentlich gar nicht. Dann würde man bei einem normalen Spiel einfach aufhören zu spielen." Aber das gehe eben nicht so einfach. Der Staat soll durch Regeln und Gesetze einen Rahmen definieren, innerhalb dessen Wettbewerb funktioniert. Es ist die Ironie der Geschichte, dass mit Neoliberalismus heute oftmals Deregulierung verbunden wird, während der Ausgangsgedanke die staatliche Durchsetzung von Regeln war.


Das Kolloquium in Paris ist die Geburtsstunde des Neoliberalismus. Weitere Treffen sind angesetzt. Doch dann erschüttert der Zweite Weltkrieg die Welt. Erst im April 1947, neun Jahre nach Paris, gibt es in der Schweiz ein Wiedersehen.
Dieses Mal lädt der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek ein. Hayek wird eine Schlüsselfigur in der Entwicklung des Neoliberalismus. Trotz der Wirren des Krieges hatte er viele Kontakte behalten und Netzwerke aufgebaut.
36 Wissenschaftler kommen 1947 zusammen und gründen an dem Schweizer Berg Mont Pelerin die Mont Pelerin Society. Es ist die zweite Geburt des Neoliberalismus. ,,Die Mont Pelerin Society versuchte, einerseits das Projekt, das mit den Worten des Lippmann-Kolloquiums begonnen hatte, fortzuführen, eine Vernetzung von internationalen liberalen Kräften und intellektuellen Denkern und auch durchaus Politikern", sagt Thomas Biebricher. Das sei auch vor dem Hintergrund der Sorge geschehen, ,,dass es in der Nachkriegszeit großen Auftrieb für im weitesten Sinne sozialistische, sozialdemokratische Vorstellungen in Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt".


Während Intellektuelle wie Friedrich August von Hayek, Ludwig von Mises oder Wilhelm Röpke bereits beim Lippmann Kolloquium 1938 dabei waren, kommen andere neu dazu – wie der US-amerikanische Ökonom Milton Friedman. ,,Es war das erste Mal, dass ich in Übersee war, das erste Mal, dass ich Ökonomen und andere Wissenschaftler aus anderen Ländern traf", erinnert er sich später. ,,Das Treffen wurde organisiert, weil zu diesem Zeitpunkt die Zahl der Menschen auf der ganzen Welt, die Anhänger der Freiheit und einer klassischen liberalen Sichtweise der menschlichen Gesellschaft waren, sehr gering war und sie überall als kleine Minderheit belagert wurden." Das ist das Gefühl der Neoliberalen 1947. Die Mont Pelerin Society ist eine geschlossene Gesellschaft. Mitglieder werden eingeladen und vorgeschlagen.
Aus diesem Gefühl, einer wissenden Elite anzugehören, ziehen sie Kraft, erklärt die Ökonomin Katrin Hirte. ,,Es war eine Gesellschaft der Vordenker, so verstand man sich, wortwörtlich sogar: der besseren Bürger, die ihr Denken in die Welt tragen, die von vornherein davon überzeugt sind, dass sie das bessere Denken haben, und das bessere Denken war genau dies: Gesellschaften nach diesem Marktmechanismus zu organisieren mit der Vorstellung, dass man damit faktisch neu die Gesellschaft infizieren muss mit diesem Denken."


Der strategische Kopf ist Friedrich August von Hayek. Er habe etwa 20 bis 30 Jahre dafür veranschlagt, dass sich erste Erfolge einstellen, so Hirte. Dafür sollten ganz gezielt Organisationen und Netzwerke aufgebaut werden. ,,Man nennt das Denkfabriken, indem man gezielt an dieser Vision arbeitet, diese ausformuliert und gute Argumente findet, um eben die anderen zu überzeugen – und dieses Wissen dann zu streuen in die sogenannten Second Hand Dealers, die dann dieses Wissen weiterverbreiten." Zum Beispiel Journalisten, Wissenschaftler, Politiker. ,,Das war das Grundkonzept von Hayek."
Aber selbst Hayek scheut davor zurück, sich selbst als Neoliberaler zu bezeichnen. ,,In der Anfangszeit in den 40er-, 50er-Jahren hängt es auch damit zusammen, dass es eine Zurückhaltung gibt, sich überhaupt als liberal zu bezeichnen", betont Biebricher. Denn in der Nachkriegszeit habe insgesamt eine skeptische Stimmung gegenüber Kapitalismus, Marktwirtschaft und Wirtschaftsliberalismus geherrscht.


Die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Sowjetkommunismus mit seiner Planwirtschaft als Gegenmodell zum liberalen Kapitalismus breitet sich in Europa aus, und im Westen hat die Idee eines starken Sozialstaats Konjunktur, der Keynesianismus, benannt nach dem britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Nach ihm soll der Staat in die Wirtschaft eingreifen, um das erklärte Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen. Besonders in Krisenzeiten soll der Staat die Nachfrage ankurbeln, indem er Geld in die Hand nimmt und investiert. ,,Was die Mont Pelerin Society eint schon zu Beginn und auch darüber hinaus, ist sicherlich das ganz klare Bekenntnis zu marktwirtschaftlichen Vorstellungen im weitesten Sinne, eben auch gerade in Frontstellung gegenüber dem Sowjetkommunismus, aber auch zunehmend Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit, Keynesianismus", so Biebricher. ,,Da ist man schon sehr stark auf einer Linie."
Doch bei dem Treffen 1947 kommt man nur zu einer sehr vage gehaltenen gemeinsamen Abschlusserklärung. Die schon im Lippmann-Kolloquium 1938 erkennbaren unterschiedlichen Positionen werden noch stärker sichtbar. Wie stark soll der Staat eingreifen, um Wettbewerb zu garantieren?


Beginn habe es noch diese Vorstellung gegeben, dass es eben eine Wettbewerbsordnung braucht und allgemeine Ordnungen für die Märkte, meint Biebricher. ,,Aber die amerikanischen und britischen Kollegen werden es über die Jahre hinweg immer weniger so sehen. Da zeigt sich dann doch ein sehr deutlicher Konflikt über die Zeit hinweg." Nach Ansicht von Katrin Hirte geht es um mehr als nur um wirtschaftswissenschaftliche Konzepte. Die Diskussionen spielen sich auf einer philosophischen Ebene ab. Es gehe um die Kernfrage, ob ein Mensch per Vernunft die Vielfalt aller ökonomischen Vorgänge beeinflussen könne oder nicht. ,,Das ist die Kernfrage gewesen und da unterscheiden die sich. Also, wenn der Markt gut funktioniert, kommt der soziale Charakter des Marktes von allein. Das heißt, es gibt keine Krisen, es gibt keine Überhänge, es gibt keine Arbeitslosen. Und das ist die Sozialität des Marktes, die die Ordoliberalen im Visier hatten und nicht einen Ausgleich auf ökonomische Prozesse und ihre unintendierten Folgen, also nicht gewollten Folgen, wie zum Beispiel eben Arbeitslosigkeit."
In Abgrenzung zu ihren angelsächsischen Kollegen nennen sich seit der Nachkriegszeit die westdeutschen Neoliberalen: Ordoliberale. Die Ordoliberalen versammeln sich in der Freiburger Schule um Walter Eucken und um Alfred Müller-Armack, dem Erfinder der Sozialen Marktwirtschaft. Zu den wichtigsten politischen Vertretern gehört Ludwig Erhard, der westdeutsche Wirtschaftsminister der Nachkriegsjahre. Bei einem Treffen mit Hayek soll er den berühmten Satz gesagt haben: "Ich hoffe, dass Sie mich nicht missverstehen, wenn ich von einer Sozialen Marktwirtschaft spreche. Ich meine damit, dass die Marktwirtschaft als solche sozial ist, nicht, dass sie sozial gemacht werden muss."


Der Markt als solcher ist sozial. Wenn er richtig funktioniert, braucht es keinen sozialen Ausgleich. Ist das die Position der deutschen Ordoliberalen? Brigitte Young widerspricht. Ihrer Meinung nach gibt es zwar eine gewisse Naivität der frühen deutschen Neoliberalen, aber sowohl Walter Eucken als auch Alfred Müller-Armack wollten den sozialen Ausgleich. ,,Da war einerseits diese Gläubigkeit, also eine naive Gläubigkeit, wenn man diesen Rahmen hat und einen freien Wettbewerb hat, dass man dann auch die sozialen Probleme lösen könnte." Gleichzeitig hätten aber beide gesagt, ,,es kann zu Verwerfungen kommen und da braucht man das Soziale".
Es ist umstritten, was genau mit dem Sozialen in der Sozialen Marktwirtschaft und der Vorstellung der deutschen Neoliberalen, der Ordoliberalen, gemeint ist. Es gibt zum einen die These, dass der durch eine Wettbewerbsordnung regulierte Markt schon sozial ist. Gleichzeitig sprechen sich Walter Eucken und andere Ordoliberale für bestimmte sozialstaatliche Instrumente wie etwa ein Versicherungswesen aus, das in der Marktwirtschaft Risiken der Menschen absichert. Die Grundlinie aber bleibt: Das wichtigste sind funktionierende Märkte.


Ein Konflikt besteht laut Thomas Biebricher vor allem in der Frage nach Monopolen. Vor allem hierfür bräuchte es die Wettbewerbsordnung, um Marktmacht zu verhindern – auf der Seite von Unternehmen und von Gewerkschaften.  ,,Und da muss der Staat eingreifen und ist eigentlich beständig aufgefordert, das im Blick zu haben und einzuschreiten in dem Moment, wo diese Machtzusammenballung entsteht." Das sehe man im amerikanischen Neoliberalismus ,,sehr, sehr, sehr anders".
Zwischen einigen Ordoliberalen und Hayek kommt es in den 1960er-Jahren zum Streit. Gründungsmitglieder wie Wilhelm Röpke verlassen die Mont Pelerin Society. Brigitte Young vertritt deshalb die Position, dass es zwei Neoliberalismen gebe. Der Neoliberalismus des Walter-Lippmann-Kolloquiums 1938 habe sich von der Vorstellung eines nicht regulierten, freien Marktes des 19. Jahrhunderts abgegrenzt und eine staatliche Ordnung gefordert, die Monopole und Marktmacht verhindert und soziale Grundsicherungen zur Verfügung stellt.
An dieses ursprüngliche Konzept des Neoliberalismus hätten vor allem die deutschen Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft angeknüpft. Demgegenüber befürworte der angelsächsische Neoliberalismus einen nicht-regulierten, freien Markt wie im 19. Jahrhundert.  ,,Der 30er-Jahre-Neoliberalismus hat sich nicht durchgesetzt. Und die Mont Pelerin Society ist vielmehr dann zurückgegangen, obwohl sie den Begriff Neoliberalismus verwendet haben, ist das eigentlich ein Begriff, der viel mehr zu tun hat mit dem Manchesterkapitalismus, mit dem Laissez-faire. Das ist das wichtige daran! Deshalb: Es gibt zwei Neoliberalismen."
Den regulierten Neoliberalismus der Gelehrten auf dem Lippmann-Kolloquium 1938 und den später vorherrschenden Neoliberalismus, der systematisch gegen Regulierungen vorgeht. Katrin Hirte und Thomas Biebricher dagegen sprechen von unterschiedlichen neoliberalen Spielarten mit einem gemeinsamen Kern: Neoliberalismus zeichne sich demnach, erstens, durch das klare Bekenntnis zu einer Marktwirtschaft aus, in der durch Wettbewerb Preise festgelegt werden. Zweitens, durch einen Staat, der in Gesetzen und Verfassungen die Grundlage für Wettbewerb schafft, ohne dass der Staat aktiv in die Wirtschaft eingreift und drittens seien die gemeinsamen Gegner des Neoliberalismus Kollektivismus und ein umfangreicher Wohlfahrtsstaat.


In den 1950er- und 1960er -Jahren sind die Neoliberalen Außenseiter. International vorherrschend ist die keynesianische Idee eines intervenierenden Staates, der für Vollbeschäftigung und wirtschaftlichen Aufschwung sorgen soll. Doch die neoliberalen Theoretiker kämpfen darum, dass sich ihre Ideen verbreiten.
In den 50er- und 60er -Jahre sei die Vernetzungsarbeit des internationalen Neoliberalismus weitergetrieben worden, sagt Biebricher. Insbesondere der britische Unternehmer Anthony Fisher, Mitglied der Mont Pelerin Society und glühender Verehrer von Hayek, macht es sich in den 1960er-Jahren zur Aufgabe, liberale Institute zu gründen: das Institute of Economic Affairs, 1955, das Fraser Institut in Vancouver, das International Center of Economic Policy Studies in New York, das Pazifik Institut für Public Policy in San Francisco. ,,Und so geht es dann immer weiter", meint Katrin Hirte.
Anfang der 1980er-Jahre gründet Fisher die Atlas Economic Research Foundation. Ihre Aufgabe ist es, weitere liberale Denkfabriken zu gründen und zu vernetzen. Nach eigenen Angaben unterstützt die Atlas Foundation heute rund 500 marktliberale Thinktanks. Durch die Veröffentlichung von Analysen, Artikeln und Statements tragen diese Denkfabriken ihre Positionen in die Öffentlichkeit.
Die Neoliberalen wissen in den 1950er- und 1960erJahren, so Thomas Biebricher: ,,Im Moment ist unsere Zeit noch nicht gekommen. Aber wenn sie dann eben kommt, dann müssen wir bereit sein. Und diese Arbeit, diese Vorbereitungszeit, diese Vorbereitungsarbeit muss jetzt getan werden."


Dieser Moment kommt, als 1973 die Allende-Regierung in Chile gestürzt wird. Mit Hilfe des US-Amerikanischen Geheimdienstes CIA stürzen Militärs den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende.
Unter der Militärherrschaft wird Chile das erste Land, in dem der Neoliberalismus als realpolitisches Projekt ausprobiert wird, nach Konzepten von Schülern Milton Friedmans von der University of Chicago, den sogenannten Chicago Boys. ,,Die allgemeine Stoßrichtung ist eine radikale Privatisierung all dessen, was der Staat besitzt", betont Biebricher. Grundsätzlich. ,,Aber auch von sozialstaatlichen Leistungen, also Privatisierung von Rentensystem beispielsweise, im Bildungsbereich, massive Privatisierungsmaßnahmen und damit verknüpft eben auch eine wirklich sehr repressive Haltung gegenüber Gewerkschaften, wo es wirklich Verfolgung einfach und Ermordung von vielen Menschen, aber eben auch gerade von Angehörigen von Gewerkschaften gibt, die da eben als Hindernis gesehen werden. Und von daher wirklich ein sehr repressiver und sehr autoritärer logischerweise Neoliberalismus, der sich da vollzieht."
Die Reformen werden in einer neuen Verfassung festgehalten. Die neue Verfassung, erstellt in einer brutalen Militärdiktatur, wird ironischerweise ,,Verfassung der Freiheit" genannt – 1960 hatte Hayek ein Buch mit eben diesem Titel veröffentlicht. Die Folge der Wirtschaftspolitik ist eine steigende Ungleichheit im Land.  ,,Die Rolle von Chile kann man schon so definieren, dass es hier ein Experiment gibt", so Thomas Biebricher. ,,Man könnte sagen, wenn es auch leicht menschenverachtend klingt, das ist sicher so eine Art Laborversuch, inwieweit es wirklich möglich ist, diese Art von radikalen Reformen durchzuziehen – und wie die Wirkung aussehen wird."


,,Es könnte durchaus sein, dass künftige Historiker die Jahre 1978 bis 1980 als einen revolutionären Wendepunkt in der globalen Wirtschafts- und Sozialgeschichte interpretieren", schreibt der Sozialtheoretiker David Harvey 2007 in seinem Buch ,,Die kleine Geschichte des Neoliberalismus".  1978 unternimmt Deng Xiaoping in China die ersten Schritte zur Liberalisierung der kommunistischen Volkswirtschaft. 1979 wird Margaret Thatcher in Großbritannien zur Premierministerin gewählt, ein Jahr später Ronald Reagan in den USA zum Präsidenten.
Die Zeit der hohen Wachstumsraten der Nachkriegsjahre ist vorbei. Das abnehmende Wirtschaftswachstum und hohe Inflationsraten – in Großbritannien 17 Prozent im Dezember 1979 – führen dazu, dass neue politische Antworten gesucht werden.


,,Wir sprechen von Thatcherism und wir sprechen von Reaganomics oder Reagan-Revolution", sagt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher, der sich intensiv mit dem Neoliberalismus auseinandergesetzt hat. ,,Tatsächlich ist es so, dass es etwas unterschiedliche Strategien in beiden Fällen gibt, aber die doch eine ganz klare neoliberale Handschrift zeigen."
Während zuvor nur eine kleine Minderheit von Intellektuellen neoliberale Ideen vertrat, erlangen diese Ende der 1970er-Jahre politische Bedeutung. ,,Die Inflation stieg. Das heißt, wenn die Inflation steigt, wird das Geld weniger wert und man kann sozusagen weniger dafür kaufen", sagt Julia Rischbieter. Die Historikerin und Juniorprofessorin forscht an der Universität Konstanz zu Inflation und Schulden. ,,Und unter diesen Bedingungen geriet der Keynesianismus in die Kritik, weil diese Nachfragepolitik hier keinerlei Erfolg hatte."


Nachfragepolitik: Vorher hatte der Staat versucht, die Wirtschaft durch immer höhere Löhne und staatliche Konjunkturprogramme anzukurbeln. Doch statt zu weiterem Wachstum kommt es jetzt zu steigender Inflation. Zwar widersprechen Anhängerinnen und Anhänger des Keynesianismus, dass die Nachfragepolitik allein für die Inflation verantwortlich ist und verweisen auf steigende Preise etwa durch die Ölkrisen. Fakt ist: Der Keynesianismus gerät Anfang der 1970er-Jahre in eine Krise.
Damit öffnet sich ein Möglichkeitsfenster für Theorien, die bis dahin politisch kaum beachtet worden waren. Die Gelehrten, die 1938 in Paris den Liberalismus durch einen Neoliberalismus neu beleben wollten und 1947 mit der Mont Pelerin Society einen neuen Anlauf unternahmen, haben Netzwerke in der Wissenschaft und Publizistik gesponnen. Politisch aber haben sie bisher nur Experimentierfelder erobert – Chile, Argentinien, Militärdiktaturen. Nun aber schlägt ihre Stunde, die Stunde des Neoliberalismus.
Kernelemente sind Steuersenkungen, die vor allem Wohlhabenden zugutekommen, geringe Sozialstaatsausgaben und: unabhängige Zentralbanken. Zentralbanken sind dafür verantwortlich, für Staaten Geld zu drucken und einen Überblick über die Geldmenge zu behalten, die im Umlauf ist. Umstritten ist, wie viel Einfluss die Politik auf die Zentralbank nehmen soll. Während nach keynesianischer Auffassung Zentralbanken, wenn es politisch gewollt ist, mehr oder weniger Geld zur Verfügung stellen können, widersprechen neoliberale Ökonominnen und Ökonomen.


Zentralbanken sollen nach ihrer Vorstellung politisch unabhängig sein. Sie sind allein für eine geringe Inflation, also stabile Preise und Zinsen zuständig – unabhängig von politischen Wünschen, oder, wie Milton Friedman es ausdrückt: den ,,täglichen Launen politischer Autoritäten". Wenn dabei die Arbeitslosigkeit steigt, wird das als notwendiges Übel verstanden, um die Ökonomie auf einen langfristigen Wachstumskurs zu bringen. ,,Und diese Zentralbank sollte darüber, dass sie eine bestimmte Geldpolitik macht, sozusagen im Hintergrund die Wirtschaft lenken", so Rischbieter. Sie sollten politisch unabhängig sein.
1979 wird Paul Volcker Vorsitzender der US-Amerikanischen Zentralbank, der Federal Reserve. Er habe sich an Milton Friedman orientiert, sagt die Ökonomin Rischbieter. Als Mittel gegen die hohe Inflation erhöht die amerikanische Zentralbank die Zinsen. Plötzlich können sich Unternehmen nicht mehr so einfach Geld leihen wie zuvor. Es wird weniger produziert, weniger gebaut, weniger gekauft, es kommt zu einer Rezession. Die Inflation ist gebändigt, aber die zuvor schon hohen Arbeitslosenzahlen steigen weiter an.

Das keynesianische Rezept wäre nun gewesen, Staatsschulden aufzunehmen und Konjunkturprogramme aufzulegen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Nach 1979 jedoch etabliert sich ein neues Narrativ.  ,,Die Rhetorik ist erst einmal, dass Schulden etwas Schlechtes sind und minimiert werden müssen, Steuern gesenkt werden müssen", sagt Rischbieter. ,,Das ist das zweite große Ziel. Weniger Steuern, weniger Steuern, vor allem für die Reichen und die Ausgaben des Staates senken und damit auch die Staatsverschuldung."

1975 liegt der Spitzensteuersatz in Großbritannien noch bei 83 Prozent. Im Laufe der Amtszeit von Magaret Thatcher wird er um mehr als die Hälfte gesenkt und liegt 1989 bei nur noch 40 Prozent. Stattdessen werden indirekte Steuern wie die Mehrwertsteuer erhöht, die alle zahlen müssen, was besonders die unteren Einkommensgruppen trifft.


,,Wenn ich von Steuersenkungen spreche, denke ich daran, dass jede größere Steuersenkung in diesem Jahrhundert die Wirtschaft gestärkt, neue Produktivität erzeugt und am Ende neue Einnahmen für die Regierung gebracht hat, indem sie neue Investitionen, neue Arbeitsplätze und mehr Handel unter den Menschen geschaffen hat", sagt Ronald Reagan in seiner Antrittsrede nach der Wahl zum US-Präsidenten 1980. In den USA wird der Spitzensteuersatz von rund 70 Prozent auf 28 Prozent gesenkt – dem niedrigsten Steuersatz in den Industrieländern zu dieser Zeit.
Gleichzeitig kommt es zu Kürzungen im Sozialstaatsbereich – mit einer Begründung, die breite Schichten weißer Amerikaner ansprechen soll. ,,Eine Figur, die hier besonders hervorsticht, ist die sogenannte Welfare-Queen, die immer wieder mobilisiert wird, von Reagan und von der gesamten Administration", sagt der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher. ,,Um darauf hinzuweisen, dass insbesondere afroamerikanische Frauen eben nicht bereit seien zu arbeiten, eher Kinder kriegen würden und sich dann vom Staat aushalten lassen. ,,Diese Figur sei ,,wahnsinnig wirkmächtig" gewesen, ,,zur Rechtfertigung von einer Politik, wo es um das Zurückfahren von Sozialstaatlichkeit geht".



Die Anti-Wohlfahrtspolitik benötigt eine spezielle PR, um auch bei denen zu verfangen, die von den Leistungskürzungen betroffen sind: dazu dient die Ausgrenzung marginalisierter Bevölkerungsgruppen. Das Staatsverständnis verändert sich. ,,Man kann die Frage, wie sich Staatlichkeit transformiert unter dem Neoliberalismus, so beantworten, dass es praktisch zwei Arme des Staates gibt: Es gibt einen fürsorglichen Staat und es gibt die harte Hand, den repressiven Arm des Staates, und dieser repressive Arm wird tendenziell ausgebaut, und da gibt es auch genug Geld", so Biebricher. ,,Der fürsorgliche Arm wird tendenziell eben zurückgefahren."
Als US-Präsident Reagan die neuen Leitideen für Politik und Wirtschaft verkündet, zahlt sich in den angelsächsischen Ländern die Netzwerk-Arbeit aus, die neoliberale Thinktanks seit der Mont-Pelerin-Konferenz 1947 geleistet haben.
,,In London ist es zum Beispiel das Centre for Policy Studies. Da war Magaret Thatcher, das ist ganz interessant, 1974 schon integriert", sagt Katrin Hirte, Autorin des Buches ,,Netzwerke des Marktes". ,,Das heißt also, sie war in diesem Thinktank und aktiv, bevor sie die Wahl gewann." Schon vor ihrer Amtszeit hat Thatcher das Centre for Policy Studies gegründet, ein zur neoliberalen Atlas Foundation gehörendes Institut, eng verbunden mit der Mont Pelerin Society.
Das Center for Policy Studies schreibt explizit auf seiner Website, dass sie regelmäßig Studien veröffentlichen – mit dem Ziel, die politische Debatte zu beeinflussen. Laut Thatcher ist es der Ort, an dem die ,,konservative Revolution" begann. Auf der Website heißt es: ,,Die Zähmung der galoppierenden Inflation, die Eindämmung der Macht der Gewerkschaften, die Privatisierungsrevolution, die Schrumpfung des Staates und Großbritanniens Umarmung des Unternehmertums – all das begann beim Centre for Policy Studies."


Während in den USA die Transformation des Staates relativ geräuschlos verläuft, wird in Großbritannien der Bergarbeiterstreik 1984/85 zum Schlachtfeld im Kampf um die Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik.
Die staatliche Organisation für Kohlebergbau, the National Coal Board, hatte verkündet, 20 Zechen schließen zu wollen, mit dem Verlust von ungefähr 20.000 Arbeitsplätzen. Von März 1984 bis März 1985 gehen Hunderttausende Bergarbeiter auf die Straße.

,,Sie sind die Feinde der Demokratie, sie sind nicht interessiert an der Zukunft der Demokratie, sie töten Demokratie für ihre eigenen Zwecke", sagt Thatcher, bleibt hart und setzt sich durch. 25 Zechen werden geschlossen. Nach einem Jahr Streik ist die Macht der Gewerkschaft gebrochen. Außerdem wird das Streikrecht eingeschränkt.
Im Kampf gegen die Gewerkschaften geht es nicht nur um Löhne und Arbeitsplätze, sondern auch ein anderes Thema: Die Privatisierung von Staatseigentum ist zentral für die Politik Reagans und Thatchers. Es ist die Vorstellung, dass private Unternehmen im marktwirtschaftlichen Wettbewerb einer Gesellschaft eher zu Wohlstand verhelfen als staatliche Unternehmen. Denn der Staat sei kein guter Unternehmer. Dieser Gedanke hatte schon 1938 in Paris eine Rolle gespielt. Jetzt wird er zu einer mächtigen Triebkraft in der Politik.
Die Wasserwerke sollten privatisiert werden. In England und den USA seien außerdem das Telefon privatisiert worden, sagt die politische Ökonomin Brigitte Young. In den Jahren zwischen 1984 und 1990 werden in Großbritannien die British Steel, British Airways, British Telecom, British Gas und weitere staatliche Betriebe privatisiert – Betriebe, die für die öffentliche Infrastruktur wichtig sind und traditionell als hoheitliche Aufgaben eines Staates gelten. Dem britischen Staat, der unter einer hohen Staatsverschuldung leidet, verschafft die Privatisierungsstrategie kurzfristig hohe Staatseinnahmen.

,,Sicherlich hätten Thatcher und Reagan gesagt, aber in der langen Perspektive machen wir jetzt alles, damit dann vielleicht der Staat sozusagen weniger Einfluss hat", sagt die Historikerin Julia Rischbieter. Aber kurzfristig seien das natürlich starke dirigistische Eingriffe, in die Sozialpolitik, in die Rentenpolitik, in die Arbeitsmarktsituation. ,,Und ironischerweise hat das auch alles viel Geld gekostet."
Nach den neoliberalen Konzepten soll der Staat weniger Geld ausgeben und seine Schulden senken. In der politischen Realität steigen jedoch in der Ära Reagan die Staatsausgaben und die Schulden. Der Staat, der schlanker werden soll, investiert große Summen in Sicherheit und Rüstung.
Zur Privatisierung staatlicher Wirtschaftsbereiche kommt die Deregulierung und Liberalisierung der Finanzmärkte. 1986 dereguliert Thatcher schlagartig den britischen Finanzmarkt. Ausländische Banken lassen sich in London nieder. Die Revolution in der Mikroelektronik ermöglicht, dass der traditionelle, persönliche Handel auf elektronischen Handel umgestellt wird, Computer erhalten Einzug in die Finanzwelt und digitalisieren die Finanzindustrie.
Es ist der ,,Big Bang", London wird zum internationalen Finanzzentrum, weil hier die Entfesselung der Kapitalmärkte spekulatives Wirtschaften und spekulative Kapitalanlagen in ganz neuen Dimensionen ermöglicht.

Mit der Deregulierung gibt der Staat nicht nur Aufsichts- und Gestaltungsmacht im Finanz- und Bankenwesen ab. Er gerät auch unter Druck, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren und den Gesetzmäßigkeiten des freien Marktes zu überlassen, wie im Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts. Hintergrund ist die Globalisierung des Wirtschaftens, bei der nationale Regelungen, etwa gewerkschaftliche Errungenschaften im Arbeitsrecht, hinderlich sind. Die Liberalisierung, das bedeutete: die Öffnung der Märkte. ,,Dass eben ein Staat nicht mehr Kontrolle hatte über die eigenen nationalen Regeln", so Brigitte Young. ,,Die Märkte wurden geöffnet und es gab eben durch die WTO diese internationalen Regeln. Schutz für Klima oder Schutz für Arbeiter und Arbeiterinnen wurde dann als Tarifhemmnis eingestuft."

Die Leitidee ist: angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. Es ist die Vorstellung, dass Unternehmen durch geringere Steuern, geringere Auflagen im Arbeits- und Umweltschutz effizienter, ungehemmter und mehr produzieren können und dies dann zu höherem Wirtschaftswachstum und damit zu mehr Wohlstand führt.
Mit dieser Vorstellung setzt sich der Gegenentwurf zur keynesianischen Nachfragepolitik durch – die davon ausgeht, dass nicht Unternehmen gestärkt werden müssen, sondern Konsumentinnen und Konsumenten und ihre Kaufkraft, um die Wirtschaft anzukurbeln.
In der neoliberal ausgerichteten Politik verschieben sich die Gewichte zwischen Kapital und Arbeit zugunsten des Kapitals. Die nachlassende Gestaltungsmacht der Gewerkschaften ist ein systemimmanenter Teil dieser Politik. Mit statistisch ablesbaren Folgen: etwa beim Anstieg ökonomischer Ungleichheit in den Gesellschaften. Während 1986 die reichsten zehn Prozent in den USA 63 Prozent des gesamten privaten Vermögens besitzen, sind es 2012 77 Prozent.

In einem Interview sagt Margaret Thatcher 1987 einen Satz, der Berühmtheit erlangt hat, weil er das Gesellschaftsbild offenlegt, das der neoliberalen Wende in der Wirtschaftspolitik zugrunde liegt: ,,So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht", sagt sie. ,,Es gibt nur einzelne Männer und Frauen und ihre Familien, und keine Regierung kann irgendetwas tun, außer durch Menschen, und Menschen müssen sich zuerst um sich selbst kümmern."
Das Individuum sei zentral für eine neoliberale Ordnung, sagt Thomas Biebricher. ,,Das Individuum soll von seiner individuellen Freiheit produktiven Gebrauch machen, sich in Märkte, in Wettbewerbe einbringen. Aber das entwickelt sich eben in gewisser Weise dann auch zu einem Zwang, von dieser Freiheit diese Art von Gebrauch zu machen. Von daher ist es halt nicht so, dass man mit dieser Freiheit anfangen kann, was man will, sondern man muss in Konkurrenz treten mit anderen."

Zur Entfesselung der Kapitalmärkte in der Wirtschaft kommt auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die Ökonomisierung allen gesellschaftlichen Lebens. ,,Dass wir dazu angehalten werden, eigentlich uns immer weiter zu optimieren, uns immer zu verbessern, nie stillzustehen, immer Ausschau zu halten nach neuen Möglichkeiten, um uns selbst zu verwirklichen oder um Profit einzustreichen", erläutert Biebricher.  ,,Diese Vorstellung, dass es nie einen Ruhepunkt geben kann und darf, dass es immer weitergehen muss, dass Stillstehen schon Zurückfallen heißt, das ist einer der ganz großen sozialpsychologischen und individualpsychologischen Effekte des Neoliberalismus."
Wie ein Unternehmen zu denken: effizient, kostensparend und profitorientiert, das ist ein universeller Anspruch an alle – an Bürgerinnen und Bürger, an den Staat und seine gesellschaftlichen Einrichtungen, an Krankenhäuser, Schulen, Universitäten, die Wohnungs- oder die Wasserversorgung.


Dass diese Ideen verinnerlicht werden, liegt auch an der medialen Begleitmusik zur neoliberalen Politik. ,,Free to Choose": So heißt eine zehnteilige Serie, die Milton Friedman, Gründungsmitglied der Mont Pèlerin Society und ökonomischer Berater von Thatcher und Reagan, 1980 im US-Fernsehen startet.
Eine Textilfabrik in New York. Schummriges Licht. Dutzende Frauen sitzen an kleinen Tischen und arbeiten in Akkordarbeit an ihren Nähmaschinen. In der Mitte steht Milton Friedman. Die meisten Arbeiterinnen der Fabrik seien in die USA immigriert, erzählt er, sie würden hier aber nicht lange bleiben. Die Fabrik gibt ihnen die Möglichkeit, in den USA anzukommen, sich hochzuarbeiten, eigenen Wohlstand aufzubauen. Ohne einen freien Markt wäre das nicht möglich.
Diese Fabrik verletzt alle Arbeitsrechte. Sie ist überfüllt, schlecht belüftet und es gibt keinen Mindestlohn. Aber wem würde es nützen, würde die Fabrik geschlossen werden, fragt eine Stimme aus dem Off. Sicherlich nicht den Frauen, so die Stimme, sie bauen den Wohlstand für die nächsten Generationen auf. "Im Gegenteil. Sie und ihre Kinder werden ein besseres Leben haben, da sie die Möglichkeiten, die Ihnen ein freier Markt gibt, zum Vorteil machen", betont Friedman.
,,Free to Choose" bezeichnet der Historiker Sören Brandes als ,,neoliberalen Populismus". Er hat in seiner Doktorarbeit Milton Friedmans Serie analysiert. ,,ImKern geht es darum, dass es immer ein Narrativ ist, wo auf der einen Seite wir stehen, also die normalen Menschen, und auf der anderen Seite steht der Staat, Big Gouvernement." Der neoliberale Rahmen dabei sei. ,,Der Markt kann alles, der Markt ist gut, der Markt ist das, was uns nicht nur befreien wird, sondern was uns halt auch mehr irgendwie ökonomischen Wohlstand beschert."
,,Free to Choose" ist ein Erfolg. Bei der Erstausstrahlung schalten pro Folge rund drei Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner ein. Die Sendung wird nicht nur in den USA ausgestrahlt, sondern in vielen Ländern auf der Welt, unter anderem auch im Bayrischen Rundfunk, sie trägt so zu einem gesellschaftlichen Narrativ bei: Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied. Wer will und sich anstrengt, kann sich Wohlstand erarbeiten.
Diese Verheißung ist das Fundament, auf dem die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsphilosophie aufbaut. Wer arbeitslos ist, trägt selbst Verantwortung für sein Schicksal beziehungsweise für das, was aus ihm wird. Strukturelle Ungleichheit spielt in diesem Gesellschaftsbild, das ganz auf die Individuen setzt, keine Rolle.

Die neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik hat weltweite Konsequenzen, vor allem auch für den Globalen Süden, angefangen mit der Verschuldungskrise. ,,Diese Verschuldungskrise der 80er-Jahre war dann auch eine Situation, wo neoliberale Konzepte im Rahmen der Strukturanpassungsprogramme in die Welt gebracht wurden", sagt Julia Rischbieter von der Uni Konstanz. ,,In der internationalen Verschuldungskrise der 80er-Jahre sind ungefähr 47 Länder bankrottgegangen."


Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank folgen dem Dreiklang aus Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung. Doch all diese Länder konnten, auch wenn sie die Maßnahmen ergriffen haben, ihre Schulden kaum reduzieren, ,,hatten verschiedenste Wirtschaftskrisen, Finanzkrisen, Währungskrisen, neben noch ganz massiven anderen sozialen Kosten für die Bevölkerung, Kindersterblichkeit und so weiter und so fort".
In diesem Zusammenhang spielt auch das Ende des Kolonialismus ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine Rolle, als die ehemaligen Kolonien dafür kämpften, souveräne Nationalstaaten zu werden.
Ein Kartell aus Ölstaaten, die OPEC-Staaten, demonstriert in den 1970er-Jahren ihre neue Macht. Der kanadische Historiker Quinn Slobodian, hat hierzu intensiv geforscht. ,,Die Ölkrise in den 1970er-Jahren war ein wichtiger Moment", betont er. ,,Es war das erste Mal, dass die Länder des globalen Südens in der Lage waren, eine Art Einfluss und Druckmittel auf die reicheren Nationen Europas und Nordamerikas auszuüben. Es machte den Vereinigten Staaten klar, dass sie auf andere Teile der Welt als ihr eigenes Territorium angewiesen waren."
Die wichtigste Erkenntnis: die Entstehung souveräner Staaten bedroht Kapitalinteressen. Deshalb wird es, laut Slobodian, zum zentralen Anliegen der Neoliberalen, einen supranationalen Rechtsrahmen zu entwerfen, der international Privateigentum gegen Enteignung und radikale Umverteilung schützen kann.

Das Ende des Kalten Krieges eröffnet neue Möglichkeiten. 1995 wird die Welthandelsorganisation gegründet. Nach Slobodian die Krönung neoliberaler Bemühungen. ,,Was sie wirklich hofften, was sie versuchten zu fördern, war, eine Welt in der die Staaten mit ihren Institutionen es als extrem wichtig ansehen würden, Eigentumsrechte zu schützen, egal wo auf der Welt sie sich befinden, und die Welthandelsorganisation ist in gewisser Weise ein schönes Beispiel dafür in Aktion."
Laut Quinn Slobodian verkörpert die WTO die neoliberale Idee, die sich seit seinen Anfängen in den 1930er-Jahren durchzieht: Es ist die Idee, dass es einen gesetzlichen Rahmen braucht, der den Markt schützt. Ein gesetzlicher Rahmen, der ökonomische Ziele festschreibt und sie dem staatlichen und damit dem Einfluss von Bevölkerungen entzieht. Gesetze, die Kapitalinteressen schützen.
Dagegen formiert sich allerdings eine so starke Widerstandsbewegung, dass eine WTO-Konferenz in Seattle 1999 abgesagt werden muss. In den führenden westlichen Ländern setzt sich das neoliberale Denken dennoch in Wirtschaft und Politik immer weiter durch.

Um die Jahrtausendwende regiert in den USA der Demokrat Bill Clinton, Tony Blair in Großbritannien, die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder in Deutschland. Sie alle folgen in ihrer Politik neoliberalen Ideen. Nun zeigt sich, so Thomas Biebricher, ,,dass in diesen für diese Entwicklungen zentralen Ländern, Großbritannien und USA, die politische Konkurrenz von links der Mitte, letztendlich die zentralen Vorstellungen von Reagan und Thatcher übernimmt. Das zeigt eben, dass der Neoliberalismus in der Phase wirklich so etwas wie eine hegemoniale Stellung hat, wenn die politische Konkurrenz die Ideen übernimmt, dann muss man sagen: Das ist hegemonial. Und dann mit einer kleinen Verzögerung findet sich das auch in Deutschland." Dabei laute das Stichwort Hartz IV. Darüber hinaus ,,haben wir es mit einer Deregulierung des Arbeitsmarktes zu tun, die Einführung von atypischen Beschäftigungsverhältnissen, ein riesiger Niedriglohnsektor, der hier entsteht – nach manchen Messungen der größte in Europa. Das sind auf jeden Fall die zentralen neoliberalen Pfeiler dieser Politik."


2008 folgt die Weltfinanzkrise. Eine Zäsur, meint Biebricher, die darin bestehe, ,,dass sich ein Bild von Kapitalismus zeigt, wo eigentlich gar keine Güter oder gar nichts Nützliches mehr produziert wird, sondern wo es einfach eine Geldvermehrungsmaschine gibt". Um einen Zusammenbruch der Weltwirtschaft zu verhindern, greift der Staat massiv in die Wirtschaft ein.
Staaten knüpfen Rettungspakete, retten Banken und Unternehmen und regulieren Teile der Finanzmärkte. Der Staat als Retter in der Not. Der Mythos vom sich selbst regulierenden Markt scheint enttarnt. Doch trifft das den Kern des Neoliberalismus? ,,Möglicherweise ist das eben ein Missverständnis", wendet Thomas Biebricher ein. ,,Weil Neoliberalismus gar nicht zentraler Weise die Idee beinhaltet, dass es um selbst regulierende Märkte geht."


Als Ende der 1970er neoliberales Denken hegemonial wird, dominiert ein verengter Freiheitsbegriff: in dem die Freiheit des Einzelnen vor allem als wirtschaftliche Freiheit verstanden wird. Der Mensch ist Teil eines Wettbewerbssystems, dem man sich nicht wie in einem Spiel entziehen kann. Der Staat soll nach neoliberaler Vorstellung kein fürsorglicher, kein Wohlfahrtsstaat sein. Letztlich soll er die gesamte Daseinsvorsorge an die Privatwirtschaft abgeben – Krankenhäuser, Schulen, Wohnen, Wasser. Doch in der Weltfinanzkrise gibt es nur einen, der die Weltwirtschaft retten kann: der Staat.
,,Ich denke, einer der größten Fehler, den die Leute machen, wenn sie versuchen, den Neoliberalismus als Philosophie zu verstehen, ist, dass sie ihn als einen Versuch sehen, den Staat abzuschaffen oder den Staat zurückzudrängen oder die Rolle des Staates im Wirtschaftsleben zu reduzieren", meint der kanadische Historiker Quinn Slobodian und bringt damit eine Lebenslüge neoliberaler Denkmuster zum Ausdruck. Auch im Neoliberalismus wird der Staat gebraucht, um den Markt, Privateigentum und Wettbewerb zu schützen.
Offen ist seit 2008, wie sich die Weltfinanzkrise auf den Neoliberalismus, seine Theorien und seinen politischen Einfluss auswirkt. Die zweite und dritte Frage sind: ob mit der Klimakrise und der Pandemie die neoliberalen Aufbrüche von 1938 und 1947 an ihr Ende kommen.


Aus: "Geschichte des Neoliberalismus - Ein Gespenst geht um in der Welt" Kristin Langen, Regie: Giuseppe Maio, Redaktion: Winfried Sträter (28.12.2021)
Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-geschichte-des-neoliberalismus-100.html (https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-geschichte-des-neoliberalismus-100.html)
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on November 02, 2022, 04:18:02 PM
Quote[...] Liz Truss vergöttert Margaret Thatcher – und scheiterte als britische Premierministerin ausgerechnet an den Folgen der Politik ihres Idols. Der Neoliberalismus stösst weltweit an seine eigenen Grenzen.

Die Episode muss bürgerlichen Politiker:innen auch hierzulande zu denken geben: Liz Truss wollte als neue britische Premierministerin das Werk ihres Idols Margaret Thatcher weiterführen, die ab 1979 von Grossbritannien aus die globale neoliberale Revolution eingeläutet hatte – und beendete damit ihre Politkarriere schneller, als ein Salat verwelkt, wie das Finanzblatt «The Economist» böse bemerkte.

Anders als vielerorts behauptet, waren es jedoch nicht allein die Investor:innen, die Truss stürzten, indem sie die Finanzmärkte auf die Achterbahn schickten. Auch die britische Zentralbank hatte ihre Finger mit im Spiel.

Truss, die sich unlängst in der Ukraine wie Thatcher während des Falklandkriegs auf einem Kampfpanzer ablichten liess, hatte nach ihrer Amtsübernahme Anfang September die grösste Steuersenkung seit einem halben Jahrhundert angekündigt: Stempelsteuern sollten gestrichen, ein Deckel für Boni abgeschafft und die Spitzensteuersätze für Reiche von 45 auf 40 Prozent gestutzt werden. Sie verfolge damit drei Prioritäten, rief Truss ihrer Partei zu: «Wachstum, Wachstum, Wachstum!»

Damals, als Thatcher das Ruder übernahm, steuerte die Wirtschaft wie heute auf eine Rezession zu, während die Inflation nach oben schoss, wird sich Truss gesagt haben. Und was tat ihr Idol? Die Steuern für Reiche senken (wobei sie auch die Mehrwertsteuer anhob), während sie den Kampf gegen die Inflation der Bank of England überliess. So wie es US-Ökonom und Prediger Milton Friedman riet.

Nach Bekanntgabe von Truss' Plänen sackte das Pfund in die Tiefe, während die Zinsen für den verschuldeten Staat senkrecht in die Höhe schossen. Die Investor:innen zweifelten, dass der Staat für seine Schulden würde geradestehen können. Dies jedoch nur deshalb, weil Zentralbankchef Andrew Bailey die Zügel seit Sommer wie kaum ein anderer Amtskollege angezogen und den Leitzins auf 2,25 Prozent hochgeschraubt hatte. Zwar schritt er kurz ein, um den grossen Crash zu verhindern; von seinem grundsätzlichen Kurs liess er sich jedoch nicht abbringen.

Als Thatcher 1979 ihre Revolution einläutete, hatten Europa und die USA dreissig üppige Jahre hinter sich. Dies mit einem Wirtschaftssystem, das heute vielen bereits als linksextrem gelten würde, obwohl es nach dem Krieg auch von Rechten mit aufgebaut worden war: Wichtige Betriebe waren verstaatlicht, die Steuern erhöht und der Sozialstaat stark ausgebaut worden. Mächtige Gewerkschaften sorgten für steigende Löhne. All dies trieb den Konsum und damit das Wachstum an – so wie es der liberale britische Ökonom und Vordenker John Maynard Keynes vorgesehen hatte.

Dreissig Jahre nach dem Krieg waren die Staaten so wenig verschuldet wie kaum je zuvor. Auch untere soziale Schichten sassen im Lift nach oben. Dies bot Thatcher oder dem kurz nach ihr gewählten US-Präsidenten Ronald Reagan viel Platz, um sich auszutoben: Tiefe Schulden ermöglichten nicht nur Steuersenkungen für Reiche und Konzerne, sondern auch höhere Zinsen – je tiefer die Schuld, desto höhere Zinsen können sich Staaten leisten. Nach dreissig goldigen Jahren – die auch die Inflation antrieben – war es zudem einfacher, Härte zu fordern: Im Rausch von Friedmans Wirtschaftsdoktrin schraubte US-Notenbankchef Paul Volcker die Zinsen auf rund zwanzig Prozent. Damit schickten die Zentralbanken weltweit Millionen Arbeiter:innen in die Arbeitslosigkeit – und halfen so, die von ihnen gewonnene wirtschaftliche Macht zu zerschlagen.

1985 liess Thatcher zudem den Streik der Bergarbeiter mit Polizeiknüppeln beenden. Seither jagt in allen Ländern eine Deregulierung des Arbeitsrechts die nächste. Die Arbeitsmärkte wurden so umgekrempelt, schrieb die Bank für Internationalen Zahlungsverkehr (BIZ) kürzlich, dass die «Macht der Arbeit, Preise zu setzen», entschieden geschwächt worden ist.

Die Welt, die Truss bei Amtsantritt vorfand, ist trotz äusserlicher Ähnlichkeiten mit den siebziger Jahren nicht mehr dieselbe. Die Politik der letzten vierzig Jahre hat die Ungleichheit in den Industrieländern drastisch verschärft, wie unzählige Studien belegen, was zu einem steilen Anstieg der Schulden geführt hat: Da die sinkenden Löhne der unteren Schichten den Konsum und damit das Wachstum gefährdeten, kompensierten die Staaten dies unter anderem mit Sozialleistungen. Weil sie jedoch gleichzeitig die Steuern senkten, mussten sie dafür Schulden aufnehmen. Statt Reiche zu besteuern, lieh man sich nun das Geld lieber bei ihnen.

Insbesondere Grossbritannien kurbelte den Konsum an, indem es den Leuten durch die Deregulierung der Banken erlaubte, sich selber zu verschulden. Als diese Schuldenblase 2008 in der Finanzkrise platzte, lud sich die Regierung zur Rettung der Banken einen Teil der Schulden auf die eigenen Schultern, sodass die Staatsschuld innert Kürze von 42 auf 87 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sprang. Weltweit sind die Schulden von Staaten und Privathaushalten laut Internationalem Währungsfonds von rund 60 auf heute 160 Prozent geklettert.

Damit die Leute und die Staaten ihre Schulden stemmen konnten, senkten die Zentralbanken die Zinsen ab den achtziger Jahren wieder allmählich – bis sie nach 2008 auf null fielen. Mit der schuldengetriebenen Nachfrage wurde lediglich die Nachfrage ersetzt, die durch den sozialen Kahlschlag weggefallen war. Entsprechend blieb die Inflation tief.

Die Welt, die Truss bei Amtsantritt vorfand, ist trotz äusserlicher Ähnlichkeiten mit den siebziger Jahren nicht mehr dieselbe. Die Politik der letzten vierzig Jahre hat die Ungleichheit in den Industrieländern drastisch verschärft, wie unzählige Studien belegen, was zu einem steilen Anstieg der Schulden geführt hat: Da die sinkenden Löhne der unteren Schichten den Konsum und damit das Wachstum gefährdeten, kompensierten die Staaten dies unter anderem mit Sozialleistungen. Weil sie jedoch gleichzeitig die Steuern senkten, mussten sie dafür Schulden aufnehmen. Statt Reiche zu besteuern, lieh man sich nun das Geld lieber bei ihnen.

Insbesondere Grossbritannien kurbelte den Konsum an, indem es den Leuten durch die Deregulierung der Banken erlaubte, sich selber zu verschulden. Als diese Schuldenblase 2008 in der Finanzkrise platzte, lud sich die Regierung zur Rettung der Banken einen Teil der Schulden auf die eigenen Schultern, sodass die Staatsschuld innert Kürze von 42 auf 87 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) sprang. Weltweit sind die Schulden von Staaten und Privathaushalten laut Internationalem Währungsfonds von rund 60 auf heute 160 Prozent geklettert.

Damit die Leute und die Staaten ihre Schulden stemmen konnten, senkten die Zentralbanken die Zinsen ab den achtziger Jahren wieder allmählich – bis sie nach 2008 auf null fielen. Mit der schuldengetriebenen Nachfrage wurde lediglich die Nachfrage ersetzt, die durch den sozialen Kahlschlag weggefallen war. Entsprechend blieb die Inflation tief.

Mit einer Staatsschuld von heute über 100 Prozent des BIP im Nacken blieben Truss' Steuersenkungspläne chancenlos. Dies zumindest vor dem aktuellen Hintergrund, wo die Zentralbanken die Zinsen erhöhen wollen, um die Inflation zu senken. Wobei die Inflation gerade den Banken als Vorwand dient, um nach fünfzehn Jahren Nullzinspolitik endlich wieder höhere Zinsen zu fordern: Je höher die Zinsen, desto mehr Geld lässt sich verdienen.

Seit 2008 sind unter der Nullzinspolitik die britischen Schulden um über sechzig Prozent des BIP angestiegen, ohne dass dies ein:e Regierungschef:in bisher den Kopf gekostet hätte: Solange die Banken bei der Zentralbank gratis Geld erhielten, waren sie bereit, dem Staat immer weiter Geld zu leihen; umso mehr, als die Zentralbank ihnen die Schuldpapiere abkaufte. Truss stürzte jetzt, weil Zentralbankchef Bailey die Zügel angezogen hat. Sie wurde Opfer einer Zentralbank, die nicht nur unabhängig und mächtig ist, wie vom Thatcherismus angestrebt, sondern eine ebenso eiserne Politik verfolgt. Die britische Politik befinde sich an einem «dunklen Ort», twitterte die eher linke Wirtschaftsprofessorin Daniela Gabor.

Nach vierzig Jahren, in denen die Ungleichheit stetig zugenommen hat, leben derzeit zwanzig Prozent der Brit:innen in Armut, und die rasche Teuerung treibt Millionen auf die Strasse zum Protest. So war es für Truss anders als für Thatcher auch nahezu unmöglich, ihre Steuersenkung mit Sparmassnahmen zu kompensieren. Sie sah sich vielmehr gezwungen, sich für die Subventionierung von Erdgas zu entscheiden. Auch Truss' Nachfolger Rishi Sunak wird es mit seinen Sparplänen nicht leicht haben.

An eine Grenze geraten schliesslich auch die Zinserhöhungen der Zentralbanken: Mit einer globalen Schuld bei Privathaushalten und Staaten von 160 Prozent des BIP steigt die Gefahr von Insolvenzen, die sich zu einer Finanzkrise ausdehnen. Die Uno spricht von einer «gefährlichen Wette» der Zentralbanken, die eine «Kaskade von Insolvenzen» zur Folge haben könnten. Es drohe ein Crash.

Kommt hinzu: Anders als in den siebziger Jahren, als die Inflation – neben den hohen Ölpreisen – stark durch die steigenden Löhne angetrieben wurde, ist zumindest in Europa der Hauptgrund heute das verknappte Angebot, wie in Studien der Europäischen Zentralbank nachzulesen ist. Je knapper Rohstoffe und andere Güter wegen Lockdowns in China oder des Kriegs gegen die Ukraine sind, desto stärker steigen die Preise. Das bedeutet: Mit den Zinserhöhungen soll nicht eine steigende Nachfrage gebremst werden, die das Angebot übertrifft und so zu Inflation führt. Die Nachfrage soll vielmehr auf ein geschrumpftes Angebot runtergestutzt werden, indem Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben werden.

Kurz: Zur Bekämpfung der Inflation sollen die Leute nicht langsamer reich werden, sie sollen ärmer werden. Inzwischen warnt selbst der eher rechte US-Ökonom Gregory Mankiw die US-Notenbank vor «Übertreibung».

Die Nachfrage könnte im Kampf gegen die Inflation auch anders gestutzt werden. Und zwar indem Vermögende höher besteuert werden. Sie stossen durch ihren übermässigen Konsum ohnehin zu viel CO₂ aus: So produzieren die reichsten zehn Prozent der Europäer:innen laut einer im «Nature»-Magazin publizierten Studie jährlich rund 29 Tonnen CO₂ pro Kopf, die untere Hälfte dagegen nur 5 Tonnen. Mit höheren Steuern für Reiche liessen sich auch die erdrückenden Schulden der Privathaushalte und der Staaten reduzieren – ihre Schulden sind die Vermögen der Begüterten. Mit der Hälfte der 211 Billionen US-Dollar, die das weltweit reichste Prozent laut Credit Suisse besitzt, liessen sich sämtliche Staatsschulden auf einen Schlag tilgen.

Truss meint, dass die Reichen mehr investierten, wenn man ihnen mehr in der Tasche lässt. Fakt ist: Obwohl seit 1979 die Unternehmenssteuern von über 50 auf unter 20 Prozent gekürzt wurden, sind die Investitionen laut Weltbank von 25 auf 17 Prozent des BIP geplumpst. Ein Bild, das sich in nahezu allen Industriestaaten zeigt. Das Geld landete vielmehr an der Börse, wo es die Preise der Wertpapiere in die Höhe trieb.

Dass einige noch immer daran glaubten, der Reichtum einiger weniger nütze am Ende allen, mache ihn «krank und müde», twitterte US-Präsident Joe Biden just einen Tag, bevor er Truss vor einem Monat in New York traf. Das sei «Voodoo-Ökonomie», meinte der spätere US-Präsident George Bush senior bereits 1980. Nach vierzig Jahren scheint dieser Voodoo an seine eigenen Grenzen zu stossen.


Aus: "Weltwirtschaft in der Krise: Thatchers Schuld" Yves Wegelin (Nr.  43 – 27. Oktober 2022)
Quelle: https://www.woz.ch/2243/weltwirtschaft-in-der-krise/weltwirtschaft-in-der-krise-thatchers-schuld/%21PXX7M0Y0MMV2 (https://www.woz.ch/2243/weltwirtschaft-in-der-krise/weltwirtschaft-in-der-krise-thatchers-schuld/%21PXX7M0Y0MMV2)

https://de.wikipedia.org/wiki/Margaret_Thatcher (https://de.wikipedia.org/wiki/Margaret_Thatcher)
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on November 15, 2022, 11:52:22 AM
Quote[...] Die Gehälter der Topmanagerinnen und -manager in Deutschland sind im Jahr 2021 deutlich gestiegen. Die Vorstandsmitglieder von Spitzenkonzernen verdienten im Schnitt 469.000 Euro mehr als im Vorjahr, wie die Beratungsfirma EY mitteilte. Das ist ein Anstieg um 24 Prozent auf einen neuen Höchststand von im Schnitt 2,4 Millionen Euro. Die durchschnittliche Gesamtvergütung der Vorstandsvorsitzenden nahm demnach um 23 Prozent auf 3,3 Millionen Euro zu.

Frauen sind zwar deutlich seltener in den Vorständen vertreten, sie verdienten in vergleichbaren Positionen aber das siebte Jahr in Folge mehr als ihre männlichen Kollegen. Dadurch, dass die Vergütung weiblicher Vorstandsmitglieder im vergangenen Jahr im Schnitt weniger stark (17 Prozent) stieg als die der männlichen Vorstände (25 Prozent), reduzierte sich der Gehaltsvorsprung laut EY auf 348.000 Euro. Er lag damit auf dem Niveau von 2017.

Generell verdienten Frauen in Deutschland im vergangenen Jahr im Schnitt 18 Prozent weniger pro Stunde als Männer. Der Großteil des Unterschieds hat allerdings strukturelle Gründe: Frauen arbeiten zum Beispiel häufiger als Männer in Branchen und Berufen, in denen schlechter bezahlt wird und in denen sie seltener Führungspositionen erreichen. Außerdem haben Frauen häufiger als Männer Teilzeitstellen oder Minijobs.

Bei den Vorstandsvorsitzenden erübrigt sich der Geschlechtervergleich, da es kaum Frauen in diesen Positionen gibt. Unter den DAX-Unternehmen wird lediglich der Chemiekonzern Merck mit Bélen Garijo von einer Frau geführt. Sie verdiente im Jahr 2021 mit sechs Millionen Euro deutlich mehr als der Durchschnitt.


Aus: "Gehälter deutscher Vorstände sind deutlich gestiegen" (14. November 2022)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-11/lohn-gehaelter-vorstand-frauen (https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-11/lohn-gehaelter-vorstand-frauen)

QuoteEinfacher Bürger #5

"Im Vergleich zum Vorjahr haben Topmanager im Schnitt 469.000 Euro mehr verdient."

Na, da freuen wir uns doch mal.


Quotedoc_seltsam #32

Ach wie schön, dass zumindest für einige Wenige eine existenzebrohende finanzielle Schieflage abgewendet werden konnte! ...



Quotebarbos222 #36

Da kann ich ja ruhig schlafen, dass es wenigstens den DAX Vorständen gut geht.

Denen ist die "Lohn-Preis-Spirale" ja auch herzlich egal.


QuoteEarl Byrd #45

Die Spaltung der Gesellschaft, hier ist sie vollzogen. Von Menschen, die entweder unfähig sind, die Wirkung ihres Tuns zu beurteilen - oder denen das komplett egal ist. ...


QuoteZwischenmensch #53

Es demotiviert und demoralisiert Gesellschaften, wenn die Unterschiede immer krasser werden - es wird sich auch auf demokratische Prozesse auswirken, denn Geld ist halt Macht, und viel Geld ist viel Macht. ...


Quoteperson1.net #54

Eat the rich.


Quotesvebert #56

Warum bekommen Vorstände 25% mehr und Arbeitnehmer werden mit 3-10% abgespeist? Ist das die Vorbildfunktion und das Teamwork, von dem die Manager so reden?


Quotebarbos222 #56.1

Nein, hier geht es darum, wer sich selbst das Gehalt auf Kosten anderer festlegen darf.


...
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on March 01, 2023, 11:21:16 AM
Quote[...] Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben 2022 real zum dritten Mal in Folge weniger verdient als im Jahr davor. Die Bruttomonatsverdienste einschließlich Sonderzahlungen seien zwar um 3,5 Prozent gestiegen, die Verbraucherpreise mit 6,9 Prozent aber deutlich stärker, teilte das Statistische Bundesamt mit. Damit sanken die Reallöhne im Rekordtempo von 3,1 Prozent. Eine frühere Schätzung hatte sogar ein Minus von 4,1 Prozent ergeben, wurde aber nun deutlich nach unten korrigiert.

Das wurde notwendig, weil die Inflationsrate für das vergangene Jahr neu berechnet wurde. Der zur Preisermittlung herangezogene Warenkorb wurde auf die Konsumgewohnheiten aus dem Jahr 2020 umgestellt, bislang diente 2015 als Basis. Dadurch wurde die Inflationsrate deutlich nach unten korrigiert, nämlich von 7,9 auf 6,9 Prozent.

"Nach wie vor handelt es sich um den höchsten Anstieg der Nominallöhne bei gleichzeitig stärksten Reallohnverlust für die Beschäftigten, der seit Beginn der Zeitreihe 2008 in Deutschland gemessen wurde", teilten die Statistikerinnen mit. Während 2020 insbesondere der vermehrte Einsatz von Kurzarbeit wegen der Corona-Pandemie zur negativen Nominal- und Reallohnentwicklung beigetragen hat, zehrte 2021 und 2022 die hohe Inflation den Nominallohnanstieg auf. Zuletzt fiel die Entwicklung ebenfalls negativ aus: Im vierten Quartal 2022 sanken die Reallöhne um 3,7 Prozent.


Aus: "Inflation: Reallöhne das dritte Jahr in Folge gesunken" (1. März 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/realloehne-inflation-statistisches-bundesamt (https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-03/realloehne-inflation-statistisches-bundesamt)

QuoteJaguarCat #1

Läuft also für die Reichen.


...

Quote[...] Jeder fünfte vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer in Deutschland muss mit einem Bruttogehalt von 2.500 Euro oder weniger auskommen. Das geht aus der Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine Anfrage von Linksfraktionschef Dietmar Bartsch hervor, die der Neuen Osnabrücker Zeitung (NOZ) vorliegt. 2021 lagen 4,7 Millionen Vollzeitbeschäftigte in Deutschland unter dieser Lohngrenze von 2.500 Euro brutto. Das entspricht 21,9 Prozent.

Linkenfraktionschef Dietmar Bartsch nannte die Zahlen "ein Armutszeugnis für unser Land". Er forderte: "Wir brauchen höhere Löhne in Deutschland." Eine Familie lasse sich damit kaum ernähren, zudem sei massenhafte Altersarmut programmiert. Schlechte Löhne seien auch eine Ursache für den grassierenden Fachkräftemangel. "Wir brauchen eine Lohnoffensive in Deutschland, die die Inflation zumindest ausgleicht." Die Forderungen der Gewerkschaften seien gerechtfertigt, sagte Bartsch.

Der Verdienst fällt von West nach Ost steil ab. Während in den westlichen Bundesländern 2021 nur 19,6 Prozent der Beschäftigten weniger als 2.500 Euro brutto bekamen, war es im Osten fast jeder Dritte (31,9 Prozent), wie aus der Tabelle des Ministeriums hervorgeht.

Nach dem von der EU gesetzten Standard gilt eine Person als armutsgefährdet, wenn sie über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Für einen Einpersonenhaushalt waren das 2021 1.148 Euro netto im Monat. Für eine alleinerziehende Person mit einem Kind unter 14 Jahren waren es 1.492 Euro.

Mehrere Gewerkschaften streiken derzeit und fordern mehr Gehalt. Im Tarifkonflikt des öffentlichen Diensts in Bund und Ländern hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di für Freitag Warnstreiks im öffentlichen Nahverkehr in sechs Bundesländern angekündigt. 


Aus: "Jeder Fünfte verdient trotz Vollzeit weniger als 2.500 Euro brutto" (1. März 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/arbeit/2023-03/einkommen-vollzeitjob-2500-euro-loehne (https://www.zeit.de/arbeit/2023-03/einkommen-vollzeitjob-2500-euro-loehne)

QuoteÖrkelchen #2

So ist das letzten Endes ja auch gedacht, könnte man meinen.


Quote-Palomino- #2.1

Könnte man nicht meinen, ist so, nennt sich Kapitalismus.


QuoteKiwimann #2.2

Stimmt, weil die Geschichte gezeigt hat, dass die Menschen in anderen Wirtschaftsformen so viel besser da stehen. [Wenn jemand pauschal den Kapitalismus kritisiert, kann ich ihn auch pauschal verteidigen.]


QuoteBlaubeerchen #2.5

In der Kritik des Kapitalismus sind sich in der Regel alle einig, aber bisher konnte niemand eine bessere Wirtschaftsform präsentieren, bei der am Ende der gemeine Pleb langfristig nicht sogar noch schlechter dastand.

Selbst China hat die Idee der ewigen kommunistischen Revolution alá Mao aufgegeben und sich einem Staatskapitalismus zugewandt als man erkannt hat, dass die roten Träume nicht funktionieren und erst recht keinen Wohlstand schaffen.


QuoteTwixoderRaider #2.9

Ja es ist schon erstaunlich und es wird auch kaum auf eine entscheidende Ursache medial eingegangen. Im Artikel wird z.B. einerseits das gewaltige Niedriglohnprekariat benannt (welches auf 40% anwachsen würde würde man die Grenze bei gut 3000€ brutto festlegen) am Ende kommt aber die vermeintliche Trostmeldung: 'Mehrere Gewerkschaften streiken derzeit und fordern mehr Gehalt. Im Tarifkonflikt des öffentlichen Diensts in Bund und Ländern hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di für Freitag Warnstreiks im öffentlichen Nahverkehr in sechs Bundesländern angekündigt'
Nur, der weit überwiegende Teil der schlecht bezahlten Billiglöhner in unserem Land ist nicht tariflich gebunden. Deutschland hat die niedrigste Tarifbindungsquote aller größeren EU-Staaten. Sie ist von 63% 1998 auf unter 43% in 2021 gesunken und fällt weiter. Die Brüsseler Zielsetzung von 80% Tarifbindung verfehlt Deutschland weit.
Profitieren von durch Streiks erstrittenen Gehaltssteigerungen werden daher nur die, die sowieso schon mindestens durchschnittlich bis überdurchschnittlich verdienen. Die Schere wird immer größer. Und nicht der Mindestlohn stabilisiert das Lohnsystem entscheidend nach unten sondern Tarifbindung.


QuoteTordenskjold #2.10

"- nennen Sie mir die konkreten Punkte, die Sie kritikwürdig finden."

Wenn Familien vom Vollzeitjob des Vaters ohne staatliche Unterstürtzung nicht mehr leben (wohnen, heizen etc.) können? Und wenn die staatliche Unterstützung vom Steuerzahler kommt und so die Arbeitgeber indirekt subventioniert werden?

Wenn die Eliten sich reproduzieren und die soziale Mobilität gegen Null tendiert? Wer studiert? Kinder von Akademikern...

Wenn Susanne Klatten, Milliarden Dividendenausschüttung bekommt und davon kaum Steuern bezahlen muss?

Wenn Privatpatienten sofort einen Termin beim Facharzt bekommen und der Rest monatelang (und manchmal komplett vergeblich) auf einen Termin warten muss?

Wenn Löhne und Gehälter stagnieren, die Kaufkraft des unteren Drittels der Gesellschaft kontinuierlich sinkt, während Managementgehälter inzwischen durch die Decke gehen und die Zahl der Armen und die Zahl der Millionäre immer mehr zunimmt?

Das sind so vier spontane Dinge, die mir einfallen...


QuoteDas denke ich #7

"Wir brauchen eine Lohnoffensive in Deutschland, die die Inflation zumindest ausgleicht. Die Forderungen der Gewerkschaften sind gerechtfertigt."

Was dabei am Ende herauskommt ist eine Verstärkung der Inflation, die letztlich auch den Geringverdienern schadet.


QuoteJinx Powder #7.1

,,Was dabei am Ende herauskommt ist eine Verstärkung der Inflation, die letztlich auch den Geringverdienern schadet."

Was kommt denn dabei raus wenn man flächendeckend prekäre Lebensumstände zementiert und Geringverdiener in Armut stürzt und die Sozialsysteme überfordert?


QuoteDas denke ich #7.2

Genau deshalb ist eine hohe Inflation schädlich, weil sie letztlich dazu führt, dass soziale Sicherungssysteme überfordert werden, Lebensumstände zementiert und Geringverdiener in Armut stürzt.


QuoteEarl Byrd #7.3

Sie wollen also die Inflation bremsen, indem Sie die gering Verdienenden als Prellbock benutzen? Gestern kam im Radio die Meldung, dass die Zahl der Überschuldungen rasant steigt. Anspruchslos lebende Menschen können ihr Dasein in Deutschland nicht mehr mit Arbeit finanzieren. Und das ist okay für Sie? ...


QuoteSmoove13 #8

Es ist der 01.03.2023 und im Artikel geht es um Zahlen für das Jahr 2021.
In der Zwischenzeit wurde der Mindestlohn deutlich angehoben, Hartz IV ersetzt durch Bürgergeld und im Zuge von einem Krieg innerhalb Europas eine Energiekrise ausgelöst.
Die Zahlen von 2021 beinhalten zudem noch diverse Schließungen im Rahmen von corona. Da gab es mit Sicherheit noch einige Vollzeitstellen mit Kurzarbeitergeld.
Unsere Datenlage zwei Monate nach Ende des Jahres 2022 ist offensichtlich so schlecht, dass wir für eine solche Diskussion auf veraltete und überholte Daten zugreifen müssen.
Und hier begehen Foristen den Fehler die Daten aus 2021 mit den Kosten aus 2023 zu vergleichen.


QuoteDagehtnochwas #8.1

,,Und hier begehen Foristen den Fehler die Daten aus 2021 mit den Kosten aus 2023 zu vergleichen"

Die grundlegenden Fakten haben sich doch nicht verändert, hier verdienen viel zuviele Menschen zu wenig. Und zwar meist die, deren Jobs den Laden am Laufen halten.


QuoteSmoove13 #8.2

2021: Mindestlohn 9,50€/9,60€ 1. HJ/2. HJ

Oktober 2022: Mindestlohn 12€ Steigerung von 25%
Sie sagen also, dass sich nichts verändert hat seit 2021?


QuoteOkidastova #8.3

Na ja. Inflation von 10% frisst das halt wieder auf.


QuoteEarl Byrd #10

Die Spanne zwischen Top- und Kleinstverdienern im selben Unternehmen ist um ein Vielfaches größer als früher. Es gibt keine Arbeit, die wirklich 60mal soviel wert ist wie eine andere. Wenn die Kleinlöhne angepasst werden, darf das nicht jedesmal dazu führen, dass die Steigerung (womöglich noch überproportional) nach oben durchgereicht wird. Wir haben eindeutig ein Gier- und Neidproblem. Neidisch sind aber die Reichen auf die Armen, und gönnen ihnen nicht das Hemd auf dem Leib. Zu erkennen an den hier auch wieder zu lesenden Sprüchen wie "Warum soll der mehr bekommen? Der kann doch nichts!" Damit lässt sich jede Ausbeutung perfekt rechtfertigen. Umgekehrt: Die "Führungselite" ist oft genug die Personalschicht ohne fachliche Qualifikation, welt- und sachfremd BWL-verseucht. "Nieten in Nadelstreifen", kennt das noch jemand?


QuoteBüffelmozzarella #10.2

""Warum soll der mehr bekommen? Der kann doch nichts!""

Traurig ist dass. Arbeit sollte immer geschätzt werden und vor allem anständig entlohnt werden. Auf Baustelle gibt es auch ungelernte Handlanger die dem Maurer zum Beispiel zu arbeiten. Die bewegen tagtäglich mehrere Tonnen an Material. Verdienen aber meistens nur Mindestlohn. Ohne diese Menschen würde es aber teilweise nicht laufen.

...


QuoteTwixoderRaider #40

Würde man die Grenze bei 3.000 brutto setzen würden fast 40% der Arbeitnehmer darunter fallen. Das ist skandalös. Was mir dann besonders übel aufstösst aber zeigt wie weit viele Medien wohl von den Verhältnissen des Normalbürgers entfernt sind ist die Rubrik 'Kontoauszug' hier bei Zeitonline.
Reihenweise werden dort Arbeitnehmer vorgestellt die 7.000, 10.000 oder 14.000€ im.Monat verdienen, drei, fünf oder 10 Immobilien besitzen oder 1.000, 2.000 oder mehr Euro im Monat für Hobbys, Reisen oder Investitionen ausgeben. Ist das die Welt wie sie ZON Redakteure erleben und die irgendwie repräsentativ sein soll? Das würde viel erklären.


QuoteEinfach Mensch #40.1

"..Reihenweise werden dort Arbeitnehmer vorgestellt die 7.000, 10.000 oder 14.000€ im.Monat verdienen, drei, fünf oder 10 Immobilien besitzen oder 1.000, 2.000 oder mehr Euro im Monat für Hobbys, Reisen oder Investitionen ausgeben. ..."

Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Schön wäre es, wenn dort einmal andere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu Wort kommen würden. Die Reinigungskraft mit zwei Jobs zum Beispiel, der Handwerksgeselle, die/der "kleine" Sachbearbeiter im mittelständischen Unternehmen, der ungelernte Zeitarbeiter etc. Die Ergebnisse dieser Interviews könnten gewisse Leute allerdings stark verunsichern...



QuoteMistral_2000 #46

Die sind halt alle zu faul.
So hat man mir das damals 2004 erklärt.
Agenda 2010 sag ich da mal.
Ausbau des Niedriglohnsektors
Leiharbeit
Ausstieg aus den Manteltarifverträgen (SPD in Berlin) Etc etc etc

Wenn man jetzt die Mittelstandsverortung von Herrn Merz zum Maßstab nimmt ? Was man ja dringend tun sollte, weil der Mann hat ja ,,Ahnung von Wirtschaft ,,,
dann wären all die Arbeitnehmer mit 2500 Euro brutto jetzt WAS genau im sozialen Ranking ?
Also 2500 Euro brutto. Davon gehen im Schnitt (und der ist jetzt optimistisch) 800 Euro für Miete drauf, Versicherungen , Lebensmittel , Transport , etc.
Vom Rest kauft man sich natürlich ne Eigentumswohnung und investiert in die Aktienrente. Wir leben halt in einer LEISTUNGSGESELLSCHAFT!
So jedenfalls propagieren es und die Politiker, die dann eben auch mit ihren ,, überdurchschnittlichen Leistungen" als gutes Beispiel unser Land anführen.
Na Hauptsache es gibt genug Hartz 4 Empfänger denen man dann seine ganze Verachtung schenken kann, spätestens an DER Grenze sind dann viele in Deutschland wieder gleich .
Auch irgendwie ne Form des ,, sozialen Ausgleichs ,,


QuoteFTzFL #54

So ist es eben, wenn Dividenden wichtiger sind als tatsächliche Arbeits und Lebensleistung!


...
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on March 28, 2023, 05:11:09 PM
Quote[..] Die globalen Banken stehen vor der größten Krise seit 2008, nachdem zwei US-Kreditinstitute zusammengebrochen sind, die Schweizer Credit Suisse eine Rettungsaktion der Regierung angestrebt hat und Amerikas Top-Banken sich auf ein 30-Milliarden-Dollar-Rettungspaket geeinigt haben - alles innerhalb von 10 Tagen. ...


Aus: "Wie sich die Bankenkrise 2023 entwickelt hat" (24.03.2023)
Quelle: https://de.marketscreener.com/kurs/aktie/DEUTSCHE-BANK-AG-56358396/news/Wie-sich-die-Bankenkrise-2023-entwickelt-hat-43332732/ (https://de.marketscreener.com/kurs/aktie/DEUTSCHE-BANK-AG-56358396/news/Wie-sich-die-Bankenkrise-2023-entwickelt-hat-43332732/)

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Quote[...] Unsere kapitalistische Wirtschaft wird in Konzern-Medien, Schule, Ausbildung und Studium als bestes Wirtschaftssystem dargestellt. Es würde nicht nur "Leistung" belohnen, sondern sei auch noch ,,gerecht", denn letztendlich würde auf dem ,,freien Markt" der ,,Bessere gewinnen". Und wer zu groß wird, dem drohe das ,,Kartellamt" und die ,,Regulierung".

Alles schöne Worte, die mit der Realität nichts zu tun haben. Die derzeitige Bankenkrise hat einige derartiger Lebenslügen des Kapitalismus mal wieder vor aller Welt entlarvt. Hier sind vier davon:
1. ,,Der Unternehmer trägt das Risiko" – tatsächlich rettet der Staat

Am 8. März wird deutlich, dass die "Silicon Valley Bank" (SVB) aus Kalifornien instabil ist. Kurz darauf ziehen einige Superreiche ihre Gelder von der Bank ab, es kommt zu einem ,,Bankrun" innerhalb der Tech-Szene. Nur 3.600 Kunden hatte die Regionalbank, und doch wurden innerhalb kurzer Zeit 42 Milliarden US-$ von der Bank weg woandershin verschoben. Das konnten aber nur die superreichen Investor:innen – die weiteren Kund:innen, großteils Start-Up-Unternehmer:innen und angehende Multimillionär:innen – kamen teilweise nicht mehr an ihr Geld.

Das änderte sich erst, als der amerikanische Staat rund 72 Stunden nach dem Bankrun verkündete, nicht nur Gelder bis zur Grenze von 250.000 Dollar (wie ursprünglich abgemacht) zu sichern, sondern alle Einlagen auch darüber hinaus. Gezahlt werden solle dies aus einem Fonds, in den anderen Banken einzahlen würden, der Steuerzahler müsse keinen Cent abdrücken.

Doch ganz so einfach ist das nicht: Tatsächlich geraten die Steuerzahler:innen noch tiefer ins Risiko.

Denn seit dem Bankrun auf die SVB wird auch von anderen Regionalbanken Geld abgezogen und auf eine Handvoll amerikanischer Superbanken transferiert. Diese aber sind absolut ,,to big to fail" – hier ist eine staatliche Rettung im Falle des Falles quasi gesichert, damit aber auch das Risiko für Steuerzahler:innen, in Zukunft für gigantische Rettungsaktionen zahlen zu müssen.

Mit der Übernahme aller Einlagen über 250.000 Dollar bei dieser einen Regionalbank hat der amerikanische Staat schon deutlich gemacht: im Zweifel sichern wir alles – und die systemrelevanten Banken sowieso. Eine regelrechte Einladung an solche Banken, nun erst recht besonders abstrus loszuzocken.

2. ,,Fehlende Regulierung ist schuld" – ja, warum wird dann dereguliert?

Als Ursache der Bankenkrise wird derzeit oftmals eine Reform unter Donald Trump angeführt: Dieser hatte 2018 die Grenze, ab der Banken besonders genau geprüft werden, von einer Bilanzsumme von 50 Milliarden US-Dollar auf 250 Milliarden US-Dollar anheben lassen.

Nun versuchen verschiedene ,,demokratische" Politiker:innen und Kommentator:innen, die Krise Herrn Trump in die Schuhe zu schieben. Und tatsächlich zeigt sich darin durchaus der Lobbyismus bei den Regionalbanken und Trumps Pro-Konzern-Politik. Doch der Erfinder der Bankenregulierung nach 2007/2008 war ein Demokrat und hatte dies selber vorgeschlagen! Man tut so, aber ist selbst nicht besser.

Im Zuge der damaligen Regulierungen wurde zudem festgehalten, dass die Banken nicht mehr wie früher teilweise nur 2-3% ihrer Einlagen selber als Sicherheit vorweisen, sondern die Eigenkapitalquoten erhöht werden müssen. Und tatsächlich sind sie heute höher, dennoch halten die Banken noch immer gerade mal nur bis zu 7-8% der Gelder, die sie verwalten. Einem ausgewachsenen ,,Bankrun" kann auch das nicht standhalten.

3. ,,Der Staat verhindert Kartelle" – tatsächlich schafft er sich Mega-Banken, die ihn erpressen können

Nachdem die SVB und zwei weitere amerikanische Banken in Turbulenzen gerieten, stand schnell die schweizerische "Credit Suisse" im internationalen Fokus. Die Bank hatte in den letzten Jahren Schlagzeilen mit Geldwäsche für die bulgarische Mafia, Beschattungen in der Führungsriege und Managementfehlern gemacht.

Über das vergangene Wochenende kam es dann zur Heirat der zweitgrößten Schweizer Bank Credit Suisse mit der größten Bank der Schweiz, der "UBS", zu einer Mega-Bank. UBS zahlte dafür einen Schnäppchenpreis von 3 Milliarden Franken für das 167 Jahre alte Geldhaus.

Die Bilanzsumme der UBS ist nun im Endeffekt größer als das gesamte Bruttoinlandsprodukt der Schweiz – eindeutig eine Mega-Bank, die partout nicht pleite gehen darf und nun in der Position ist, dem schweizerischen Staat alles abpressen zu können. Das Absurde dabei: es waren gerade der Schweizer Staat und dessen Notenbank, die alles dafür taten, den Deal einzufädeln!

4. ,,Das Finanzsystem ist stabil" – aber die nächste Krise kommt bestimmt

Der Zusammenbruch einer kleineren amerikanischen Regionalbank bestimmte also schnell die gesamte Weltpresse. Dabei wird oftmals gefragt: ,,Wie konnte es dazu kommen?"

Seit langem wird vor einer neuen Finanz- und Wirtschaftskrise gewarnt. Ein wichtiger Grund dafür ist das massive Aufblähen der Geldmenge, mit der international versucht wurde, die Auswirkungen der letzten Weltwirtschaftskrise von 2007/2008 zu überwinden, ohne dabei eine Reihe an großen Konzernen wirklich bankrott gehen zu lassen.

Diese Politik des ,,billigen Geldes" sah so aus, dass die Notenbanken der westlichen Großmächte Geld zu kleinsten Zinsen an die einzelnen Banken verliehen, das diese wiederum in den Wirtschaftskreislauf einspeisten. Unternehmen konnten sich damit quasi unbegrenzt verschulden.

Doch Ende 2021 zog die Inflation kräftig an, mit dem imperialistischen Stellvertreterkrieg in der Ukraine wurde sie weiter verschärft. Die Notenbanken sahen sich daraufhin gezwungen, ihre Zinsen anzuheben, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Mit Beginn der Anhebung ihrer ,,Leitzinsen" war klar, dass es irgendwann zu solch einer Situation wie der jetzigen Bankenkrise kommen würde.

Bei der SVB sah dies konkret so aus, dass sie einen großen Satz an eigentlich sicheren Staatsanleihen zu einem geringeren Preis abstoßen musste, da sie im Zuge der Zinserhöhungen an Wert verloren hatten. Dies führte letztendlich zum Zusammenbruch der Bank.

Wie gefährlich die Situation, die darauf folgte, tatsächlich war, zeigte sich sowohl in der Reaktion des amerikanischen Staats, die gesamten Spareinlagen zu garantieren, als auch mit dem Auftritt Joe Bidens, der das Ganze noch einmal persönlich allen Amerikaner:innen versicherte. Olaf Scholz tat es ihm in Deutschland gleich. Das Ganze in betonter Gelassenheit. Doch allein der Umstand, dass sie sich zu diesen Statements genötigt sahen, spricht Bände.

Man erinnere sich: Als das internationale Finanzsystem 2007/2008 vor dem Zusammenbruch stand, agierten die Politiker:innen ähnlich. So etwa der damalige Finanzminister Peer Steinbrück zusammen mit Angela Merkel, die beschworen, dass die deutschen Spareinlagen ,,sicher" seien. Später posaunte Steinbrück dann heraus, dass zu diesem Zeitpunkt in Wirklichkeit überhaupt nichts sicher war und es nur darum ging, einen Bankrun zu verhindern.

Dass auch jetzt die Notenbanken einen Crash fürchten, zeigt sich an der Art, wie sie mit weiteren Zinserhöhungen umgehen. Am Mittwoch erhöhte die amerikanische Federal Reserve Bank (FED) den Leitzins nur um 0,25 Prozent. Das ist ausgesprochen wenig, dafür, dass zuvor dessen Kopf Jerome Powell noch erklärt hatte, weiter hart gegen die Inflation vorgehen zu wollen.

Doch gar keine Zinserhöhung hätte wahrscheinlich noch mehr Panik ausgelöst, weil dies ein Ausdruck für massive Verunsicherung innerhalb der FED selbst gewesen wäre. Auch die EZB erhöhte zuletzt den Leitzins zwar um 0,5 Prozent, hinkt damit jedoch weiterhin der FED hinterher. Außerdem wurde auch bei ihr diese Erhöhung nicht wie sonst einstimmig beschlossen.

Die Aktienkurse haben sich mittlerweile teilweise beruhigt. Der DAX etwa stieg bereits wieder über 15.000 Punkte. Doch die Krise ist nicht vorbei. Tatsächlich beginnt nun die Phase des aktiven ,,Lauerns". Es wird fleißig geschaut, welches Geldhaus, welches Unternehmen als nächstes in Folge der steigenden Zinsen zusammenbrechen könnte, und auf dessen Absturz hin wird gezockt.

Es ist das absurde Spiel des Kapitalismus und seinen Protagonist:innen, die sich zwar keinen Deut für die Menschen, aber um so mehr dafür interessieren, aus der nächsten Krise als großer Gewinner hervorzugehen. Verlierer werden dabei die hart arbeitenden Steuerzahler:innen sein und die Arbeiter:innen, die sich dann zu Millionen auf der Straße wiederfinden könnten.

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Aus: "Wie die aktuelle Bankenkrise vier Lebenslügen des Kapitalismus widerlegt" Tim Losowsky (24.03.2023)
Quelle: https://perspektive-online.net/2023/03/wie-die-aktuelle-bankenkrise-vier-lebensluegen-des-kapitalismus-widerlegt/ (https://perspektive-online.net/2023/03/wie-die-aktuelle-bankenkrise-vier-lebensluegen-des-kapitalismus-widerlegt/)

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Kontext:

Weltfinanzkrise 2007–2008
https://de.wikipedia.org/wiki/Weltfinanzkrise_2007%E2%80%932008 (https://de.wikipedia.org/wiki/Weltfinanzkrise_2007%E2%80%932008)
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on April 05, 2023, 07:39:17 PM
Quote[...] The five biggest corporations together earned more than the income of the poorest two billion people – or nearly a quarter of the world's population. And a single corporation, Walmart, earned more than half a trillion dollars or at least $1.5bn every day, while Apple's profits rocketed to $95bn. The reason is the growing concentration of corporate power. In many sectors, a handful of massive companies have cornered the market, meaning they are free to set prices, whatever the circumstances.

Recent analysis by Harvard University, The University of Chicago and the Leibniz Institute for Financial Research found the top 1% of US corporations account for an astonishing 81% of business sales and 97% of business assets. The top 0.1% alone account for 88% of corporate assets and 66% of sales.

Between 1995 and 2015, 60 US pharmaceutical companies merged and became just 10. Some 25 years ago, 10 corporations controlled 40% of the global seed market; today it is just two.

Google enjoys an 85% share of the global search engine market, while Amazon, Microsoft and Google together have 65% of cloud infrastructure services. Here in the UK, just three companies own 90% of the national newspaper market, up from 71% in 2015.

This has been exacerbated by a new aristocracy of finance, with the largest shareholders in all major transnational corporations increasingly made up of the same enormous investment funds. Just three of them – BlackRock, Vanguard and State Street – are the largest shareholder in 495 of the 500 largest US corporations.

In an economy where access to capital is the highest priority, these corporations have enormous power. As Farhad Manjoo says in The New York Times: "Their rise has come at the cost of intense concentration in corporate ownership [...] in the future, about a dozen people at investment firms will hold power over most American companies". All of this doesn't simply mean we pay higher prices. Rather, democracy itself is eroded by monopoly capitalism.

We've been told that we live in a gigantic marketplace, where no central authority gets to make decisions and everyone can express their deepest desires by buying things. In reality, leaving major decisions 'to the market' means leaving them to big business. But these decisions are deeply political in nature: what should society make, for whom and how? Who should get these products and services and on what terms?

...


From: "Breaking corporate monopolies is the only way to save democracy" Nick Dearden (22 March 2023)
Source: https://www.opendemocracy.net/en/oureconomy/corporate-monopolies-are-threat-to-democracy-public-interest/ (https://www.opendemocracy.net/en/oureconomy/corporate-monopolies-are-threat-to-democracy-public-interest/)

Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on May 20, 2023, 12:51:24 PM
Quote[...] Im Streit über eine Anhebung der Schuldenobergrenze in den USA ist am Freitagabend eine weitere Verhandlungsrunde zwischen der Regierung von Präsident Joe Biden und Republikanern, die im Repräsentantenhaus die Mehrheit haben und für eine Zustimmung massive Ausgabenkürzungen fordern, ergebnislos zu Ende gegangen.

,,Wir hatten ein sehr, sehr offenes Gespräch darüber, wo wir stehen und wo wir hin müssen", sagte der republikanische Abgeordnete Garret Graves nach dem Treffen in Washington. Verhandlungen seien das aber nicht gewesen. Es seien keine Fortschritte erzielt worden.

,,Wir haben ernsthafte Differenzen", räumte auch die Sprecherin der US-Regierungszentrale, Karine Jean-Pierre, am Samstag am Rande des G7-Gipfels im japanischen Hiroshima ein. US-Präsident Joe Biden sei aber zuversichtlich, dass es einen Weg nach vorne gebe und eine Lösung möglich sei. Biden sei auch während seiner Teilnahme am G7-Gipfel eng in die Verhandlungen eingebunden.

,,Ich glaube immer noch, dass wir einen Zahlungsausfall vermeiden können und etwas Anständiges zustande bringen werden", sagte Biden in Hiroshima. Auf die Frage, wie besorgt er über die Verhandlungslage sei, entgegnete er: ,,Überhaupt nicht." Es handele sich um Verhandlungen, da gebe es immer verschiedene Phasen.

Etwas gereizt reagierte Biden dabei auf Zwischenrufe eines Journalisten. ,,Seien Sie still", fuhr der Präsident den Reporter an. Biden und der republikanische Vorsitzende des Repräsentantenhauses, Kevin McCarthy, haben eigentlich eine Einigung bis Sonntag angepeilt. Dann soll der Präsident vom G7-Gipfel zurückkehren.

Noch aber offenbart sich die Lage als verfahren. Zwischenzeitlich waren die zähen Verhandlungen am Freitagabend sogar unterbrochen worden - nachdem beide Seiten zuvor ermutigende Signale ausgesendet hatten. Die republikanischen Unterhändler verließen die Gespräche nur etwa eine Stunde nach Beginn, wie US-Medien berichteten.

Am Abend seien die Parteien dann wieder an den Verhandlungstisch zurückgekehrt. Der leitende Berater der Weißen Hauses, Steve Ricchetti, verließ am Freitagabend den Sitzungssaal und sagte Reportern, er wolle die Gespräche nicht beurteilen. Wann die Gespräche fortgesetzt werden sollen, ist ungewiss.

Der republikanische Unterhändler Patrick McHenry sagte, er sei nicht zuversichtlich, dass beiden Seiten an diesem Wochenende eine Einigung erzielen, die dann in den kommenden Tagen dem Kongress zur Verabschiedung vorgelegt werden könnte.

Gestritten wird in Washington über eine Anhebung der Schuldenobergrenze des Bundes von 31,4 Billionen Dollar. Sollte keine Einigung zustande kommen, droht den USA schon Anfang Juni die Zahlungsunfähigkeit. Ein Zahlungsausfall der weltgrößten Volkswirtschaft könnte eine globale Finanzkrise und einen wirtschaftlichen Abschwung auslösen.

Ein Streit über die Schuldenobergrenze ist in den USA zwar vergleichweise häufig und oft kam es zu Einigungen erst in letzter Minute. In den USA legt das Parlament in unregelmäßigen Abständen eine solche Grenze fest und bestimmt, wie viel Geld sich der Staat leihen darf.

Diesmal ist das Prozedere ausgeartet in erbittertes parteipolitisches Gezerre zwischen Bidens Demokraten und den oppositionellen Republikanern. Die Republikaner fordern massive Ausgabenkürzungen, Ausgabenobergrenzen und überdies Arbeitsanforderungen für Bürger zu schaffen, die bestimmte staatliche Sozialleistungen beziehen. Biden und seine Demokraten wehren sich dagegen, dass es vor allem bei Bildung und Sozialleistungen zu Kürzungen kommt.

Wegen des innenpolitischen Streits hatte Bidens Teilnahme am G7-Gipfel in Japan zeitweise sogar auf der Kippe gestanden. Er sagte schließlich den zweiten Teil seiner Auslandsreise - einen Besuch in Papua-Neuguinea und Australien - ab, um am Sonntag direkt nach den Beratungen in Hiroshima nach Washington zurückzukehren.

Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan sagte, der Schulden-Streit komme auch bei den Gesprächen des Präsidenten in Hiroshima zur Sprache. ,,Es ist definitiv ein Thema von Interesse hier auf dem G7-Gipfel", sagte Sullivan. Andere Länder wollten wissen, wie die Verhandlungen liefen. ,,Und der Präsident hat seine Zuversicht zum Ausdruck gebracht, dass er glaubt, dass man zu einem Ergebnis kommt, das einen Zahlungsausfall verhindert." Das Thema löse beim G7-Gipfel allerdings ,,keinen Alarm" aus, betonte er. (Reuters, dpa)


Aus: "Weißes Haus spricht von ,,ernsthaften Differenzen": Weitere Verhandlungsrunde im US-Schuldenstreit geplatzt" (20.05.2023)
Quelle: https://www.tagesspiegel.de/internationales/weisses-haus-spricht-von-ernsthaften-differenzen-weitere-verhandlungsrunde-im-us-schuldenstreit-geplatzt-9849260.html (https://www.tagesspiegel.de/internationales/weisses-haus-spricht-von-ernsthaften-differenzen-weitere-verhandlungsrunde-im-us-schuldenstreit-geplatzt-9849260.html)

QuotePaul_Kalbautzke, 20.05.23 09:48

    31,4 Billionen Dollar

Entspricht immerhin 100.000 Dolllar Schulden pro US Staatsbürger. Vierköpfige Familie = 400.000 Dollar Schulden.

...

Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on July 01, 2023, 03:43:06 PM
"Vermögenssteuer: "Viele finden die Konzentration von Vermögen legitim""
In Deutschland werden die Superreichen immer reicher. Doch eine Vermögenssteuer wollen selbst ärmere Menschen oft nicht. Warum, erklärt der Soziologe Patrick Sachweh.
Interview: Tina Groll, 1. Juli 2023
https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-06/vermoegenssteuer-soziale-ungleichheit-lobbyismus-patrick-sachweh/ (https://www.zeit.de/wirtschaft/2023-06/vermoegenssteuer-soziale-ungleichheit-lobbyismus-patrick-sachweh/)

Quoteullibulli

,,Doch eine Vermögenssteuer wollen selbst ärmere Menschen oft nicht. "

Wer behauptet so einen Schwachsinn?


QuoteMessier51

Fragen Sie mal die 30% AfD Wähler im Osten. Knabbern am Existenzminimum, empfinden aber Sozialpolitik als Beleidigung.


Quote
Homeofficenerd

Repräsentative Umfragen kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass selbst die untere Mittelschicht mehrheitlich gegen Vermögenssteuern oder Erbschaftssteuern ist. Scheinbar glauben diese Schichten immer noch, es aus eigener Kraft ganz nach oben schaffen zu können. Der Neoliberalismus hat es verstanden, ein Narrativ zu entwickeln, diesen Menschen einzuflüstern, es liege am Staat, an den Steuern und Abgaben, an Gesetzen, dass sie es noch nicht geschafft haben. Währenddessen stößeln die Superreichen mit Champagner an und denken ,,Arme Irre. Will they ever learn?" Und wählen FDP.


QuoteAnt-Ant

Es gibt möglicherweise einen weiteren psychologischen Effekt.

Leute, die existenziellen finanziellen Stress erleben oder erlebt haben, nehmen eine Vermögenssteuer nicht als Entlastung wahr, sondern als zusätzliche, nie endende Bedrohung ihrer -- möglichen zukünftigen, in Wahrheit vergleichsweise bescheidenen -- Rücklagen. ...


QuoteShirase

Die Konzentration von Vermögen ist [ ] legitim, immerhin eine der größten Antriebsfedern von Innovation und Fortschritt. Ob davon dann aber noch Kinder und Kindes Kinder über die Maßen profitieren sollten, ist ein anderes Thema...


QuoteEinTollerName

Das genau ist der Punkt. Vermögen aufbauen zu können und zu dürfen ist eine wesentliche Antriebsfeder in jeder Aufsteigergesellschaft.
Hohes Vermögen qua Geburt ohne jede eigene Leistung ist hingegen das Gegenteil davon.

Es führt zu einer Gesellschaft wie einst mit dem Adel: Macht und Privilegien alleine aufgrund der Herkunft. Es führt auch dazu, dass diejenigen, die die Macht innehaben, nicht betroffen sind von einen Abbau des Gemeinwesens, von immer geringeren realen Chancen, durch Bildung aufzusteigen, von ...

Ergo kümmert es sie nicht.


Quote_annoyed
Antwort auf @Shirase

... Fast alle großen Fortschritte der Menschheit verdanken wir der staatlichen Grundlagenforschung. LED, Microchip, mp3, GPS, CRISPR... nichts davon wurde von den Oligarchen entwickelt, deren extremes Vermögen Ihrer Meinung nach Triebfeder sein sollte, sondern in staatlichen Universitäten und Instituten von Forschern, die irgendwo zwischen 2000 und 8000€ im Monat verdienen und allzu oft von einer Befristung in die nächste rutschen.

Und natürlich würden mehr Menschen in Forschung und Entwicklung gehen, wenn man da bessere Arbeitsbedingungen hätte und mehr verdienen könnte. Aber das verhindert ja gerade die Anhäufung der großen Vermögen. Denn wer macht denn ein Vermögen mit guten Ideen? Die, die sie haben? Oder die, die sie klauen und dann, weil sie erheblich mehr Geld zur Verfügung haben, schneller ausführen können und damit die eigentlichen Erfinder verdrängen? Siehe z.B. Rocket Internet und die Samwer Brüder.

Wenn wir mehr Innovationen wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass Forscher und Entwickler besser geschützt werden, und ihre Ideen leichter kapitalisieren können, und gleichzeitig verhindern, dass Superreiche alle anderen, und damit auch Forscher und Entwickler, ausbeuten. Und dabei helfen höhere Steuern auf große Vermögen, Gewinne und Erbschaften natürlich ungemein.


QuoteFuckTheBullshit

Wer das Glück hatte, in Zeiten Reichtum anzuhäufen, als das Prinzip der Leistungsgesellschaft (in meinen Augen immerhin der Knackpunkt einer dauerhaft befriedeten marktwirtschaftlich orientierten Gesellschaft!) noch galt, mag hier leichtfertig gegen eine Vermögensteuer argumentieren. Zudem scheint sich aus einem teilweise klar überzogenen Selbst- und Weltbild dieser "Erfolgs-Menschen" ein gewisser Reaktionismus gegenüber allen staatlichen Steuerungsmechanismen zu ergeben. Es geht hier allerdings nicht weniger als um die Frage der Gerechtigkeit (und die kongruiert nicht immer mit geltendem Recht - dies nur in Verweis auf das hier oft zitierte Urteil des Bundesverfassungsgericht bzgl. der Vermögensteuer)! Man kann weiterhin auf dieser Logik beharren. Dann schauen Sie bitte ganz aktuell nach Frankreich - viel Spaß...! In Zeiten wie heute, in denen man nur noch an einem Leben im Wohlstand zu partizipieren können scheint, wenn man entweder früh viel geerbt hat und/oder (oft geht das einher!) in einem sinnentleerten oder gar schädlichen Bullshit-Job seinen Weg geht, sollte der Staat Wege finden, um den Groll der für ihr Leben wirklich arbeitenden und der Gesellschaft dienenden Bürgerinnen und Bürger nicht eskalieren zu lassen. Ich kenne Ärzte-Paare, die in kleinen Wohnungen wohnen und nicht mal ein passendes Reihenhaus (!) für sich und ihre Kinder im Großraum München finden, während Erben solche Objekte grinsend bar bezahlen. Das Märchen der Leistungsgesellschaft ist am Ende!


QuoteErrinnertEuch

In Frankreich geht es ganz aktuell um was ganz anderes, nämlich Polizeigewalt.


Quote_annoyed

Und es ist ja noch schlimmer: Die Erben solcher Häuser zahlen dann oft auf den Gesamtwert gerechnet nur 5% Steuern. Wohlgemerkt auf ein komplett leistungslos erworbenes Vermögen.
Diejenigen, die sich ein vergleichbares Haus von erarbeitetem Einkommen kaufen, haben zuvor auf dieses erarbeitete Einkommen rund 50% Steuern und Abgaben bezahlt.

Entsprechend unsinnig sind dann auch Formulierungen wie "Aber erreicht man wirklich mehr soziale Gerechtigkeit, wenn man den einen etwas wegnimmt?"

Man nimmt doch bereits allen etwas weg. Die Frage ist nur: Warum soll es ok sein, denen, die hier alles am Laufen halten, den Krankenpflegern, Ingenieuren, Facharbeitern, Handwerkern u.s.w. um die 50% wegzunehmen, den Erben wohlhabender Eltern 10%, und den Erben superreicher Eltern 1%?

Warum nicht umgekehrt? Warum nicht der arbeitenden Bevölkerung nur 20% wegnehmen, den kleineren Erben* 40%, und den Milliardenerben 80%?

Milliardenerben müssten ja auch bei einer Erbschaftsteuer von 80% auf sehr hohe Vermögen nie auch nur einen Tag in ihrem Leben arbeiten, und könnten trotzdem in einem Luxus leben, von dem ein Arbeiter, egal ob Paketbote oder Ingenieur, trotz 45h-Woche nur träumen kann.

...


Quotegeebuu

Ich sehe das ganz einfach so: Entweder, das Gemeinwesen schafft es, den Wohlstand halbwegs richtig zu verteilen (was zu einer ,,relativen" Zufriedenheit führen dürfte) oder das Gemeinwesen schafft es nicht. Letzteres führt (über kurz oder lang) automatisch zum Systemversagen. Die teilanonyme Gesellschaft wird Modalitäten finden müssen, dieses Problem der (automatisch wuchernden) Kapital-Akkumulation zu lösen. Ich halte dieses Problem für ein technisches Problem, kein soziales. Hier brauchen wir ein anderes Denken.


Quote
RLib

Die Wortwahl entblößt die politische Agenda des Professoren.

Ungleichheit ist der Normzustand in der Natur. Ungleichheit im finanziellen Sinne hat es immer schon gegeben, übrigens viel mehr als heutzugtage. Historisch war das Vermögen auf noch viel weniger Menschen konzentriert gewesen, sie Möglichkeit aus eigener Leistung reich zu werden war bis zur Nachkriegszeit fast nonexistent.

Die Möglichkeit, reich zu werden ist im Übrigen ein Treiber für Unternehmertum und Innovation und somit die Grundlage für unseren heutigen Wohlstand. Produktivität wurde noch nie aus Idealismus geschaffen.

Wieso weniger vermögende Menschen das Grundrecht auf Eigentum in Frage stellen sollten erklärt sich mir auch nicht. Im Übrigen wurde nach meinem Kenntnisstand die Vermögenssteuer für verfassungswidrig erklärt.

Was wir beobachten können ist, dass in Deutschland ein relativ großer Anteil der Supperreichen einen großen Anteil oder zumindest die Grundlage ihrer Vermögen geerbt haben, verhältnismäßig wenige ihre Unternehmen selber gegründet haben. Genau diese Menschen werden durch Sonderregelungen bei der Erbschaftssteuer geschont, bei der Besteuerung von Einkommen hingegen, und den gesellschaftlichen und bürokratischen Hürden für Gründer ist Deutschland Spitzenreiter.


QuoteKlaviermann

"Ungleichheit ist der Normzustand in der Natur."

Das kann wohl nicht bezweifelt werden. Zivilisation ist allerdings ein menschengemachter Zustand, in dem der Mensch Normen und Kriterien für das zusammenleben und für das Funktionieren von Gesellschaften formuliert. ...


QuoteAlles-eine-Frage-der-Perspektive

"Ungleichheit ist der Normzustand der Natur" - Nö, die ersten Menschen lebten nach heutigem Erkenntnis-Stand wahrscheinlich in relativ gleichberechtigten Jäger und Sammler-Gruppen. Und selbst wenn nicht: Geld ist unnatürlich, Berufe sind unnatürlich, Aktien sind unnatürlich, Erben ist unnatürlich. Hat alles der Mensch erfunden, das nennt man Kultur. Ausgerechnet bei Finanzen mit der "Aber die Natur"-Keule zu kommen, ist absurd.

Und das Ideologie noch nie zu Produktivität geführt hätte - was denken Sie, was Ehrenamt ist?!


QuoteBuckaroo

Sehr ärgerlich, dass hier behauptet wird, dass eine Mehrheit keine Vermögenssteuer will. Es stimmt einfach nicht.

Inzwischen wird Vermögen immer häufiger vererbt. Eigene Arbeit kann einen gewissen Wohlstand bringen. Reich wird man aber nur durch die Arbeit anderer.

Und nur, weil Reiche ihr Geld durch Investitionen vermehren, heißt das noch lange nicht, dass sie damit Gutes tun oder gar etwas leisten. Auf der Suche nach der höchsten Rendite wird nämlich auch ein Druck ausgeübt, der am Ende dazu führt, dass gut laufende Unternehmen Mitarbeiter rauswerfen oder Verwerfliches tun, um diese Rendite zu steigern. Übrigens fehlt diese Rendite dann auch im Unternehmen, weshalb nicht investiert wird. Am Ende werden Reiche, Anlageberater etc. alle von denjenigen mitgefüttert, die dem Gemeinwohl zuträgliche Arbeit leisten. Und das BREMST Innovation und Fortschritt und fördert Billiglöhne, bei denen die eigene Arbeit kaum für ein anständiges Leben oder gar eine Familie reicht.

In Frankreich sehen wir, wohin eine Gesellschaft unterwegs ist, in der das Gleichgewicht zwischen Wohlstand und Armut zu weit aus dem Ruder läuft. Das sollte mit aller Kraft vermieden werden. ...


QuoteTordenskjold

"Ärmere Menschen" sind gegen eine Vermögenssteuer, weil sie nach jahrzehntelanger neoliberaler Einflüsterung glauben, dass sie auch profitieren, wenn es "denen da oben" besser geht. Wenn man die Reichen zu stark zur Kasse bittet, dann gehen die ins Ausland und dann schaffen die keine Arbeitsplätze und dann verelenden wir alle. Da haben der "Bund der Steuerzahler" und die FDP und die Arbeitegeberverbände und Springer und Burda und Typen wie Merz und Weidel ganze Arbeit geleistet. Der Staat ist böse und bürokratisch und er soll sich möglichts wenig einmischen. Dann regelt der Markt alles und dann sind alle happy.

Die "ärmeren Menschen" wählen entsprechend solcher Glaubenssätze auch gerne gegen ihre eigenen Interessen. Es bleibt mir ein Rätsel, warum man als einkommensschwacher Bürger Parteien wie FDP und CDU wählt. Und am wenigsten verstehe ich die einkommensschwachen Wähler, die sich für die AfD entscheiden. Die AfD ist gegen Mindestlöhne. Alice Weidel predigt einen Neoliberalismus, der am ehesten mit Sozialdarwinismus umschrieben werden kann.

Das Ergebnis der neoliberalen Einflußnahme sehen wir auf dem Wohnungsmarkt und am Zustand der Schulen. Die Reichen haben keine Probleme Wohnraum zu finden und ihre Kinder schicken sie auf Privatschulen.

Susanne Klatten besitzt ca. 30 Milliarden Euro und bekommt Dividendenausschüttungen in Höhe von ca. 1,4 Milliarden. Wenn sie etwas stärker beteiligt wird an unserer "Solidar"-Gemeinschaft, dann würde sie es nicht einmal merken.


Quotezeno_cosini

Sie beteiligt sich regelmäßig. 50.000 Euro gehen an entsprechende Parteien jährlich.

;-)

Quote
differenziert

"Es bleibt mir ein Rätsel, warum man als einkommensschwacher Bürger Parteien wie FDP und CDU wählt. Und am wenigsten verstehe ich die einkommensschwachen Wähler, die sich für die AfD entscheiden."

Weil diese Wahlentscheidungen zum großen Teil keine rationalen Entscheidungen mehr sind, sondern oft emotional gelenkte, u.a. durch verlogene Informationen verpackt in Populismus. (Eigentlich schon nach 12:00)
Die politische Depatten-Kultur prägt sehr stark die Entscheidungskultur und Soziale Kultur in einer Gesellschaft mit.


QuoteBerglauer Prenz

Früher haben CDU und CSU die Kleinbürger und Geringverdiener über die Religion gewonnen, nach dem Motto "Ein guter Christ wählt eine christliche Partei", heute versuchen die C-Parteien mit Angst vor Überfremdung und "deutscher Leitkultur" zu punkten.


QuoteKapaster d.J.

Reichtum ist obszön. Leider ist das den Reichen nur in seltenen Fällen bewusst.


QuoteTordenskjold

Im Gegenteil, manche sind stolz. Selbst auf Dinge, die man sich gar nicht erarbeitet hat. Man ist stolz auf Zufälle - wie den Zufall, dass man in eine reiche Familie geboren worden zu sein. Stolz geerbt zu haben.
An dieser Stelle frage ich mich, warum die Erbschaftssteuer bei der FDP verpönt ist. Leistung soll sich doch lohnen. Welche "Leistung" hat der Erbe erbracht. Was hat Susanne Klatten getan, um BMW-Erbin zu werden?


QuoteMartyMcFligh

Es würde mich schon hart treffen, von meinem Milliardevermögen jährlich 1% abtreten zu müssen. Bei aktuell 2-3% in konservativen Anlagen wird mir mein Grundstock schmelzen wie Butter in der Sonne, ich sehe mich schon in der Gosse und im ÖPNV. Da werde ich meinen ganzen Lebenswandel nicht mehr finanzieren können. Da wandere ich sofort aus, klare Sache.


QuoteKay-Ner

Wenn man den Kaviar im Aldi kaufen muss, dann ist die Welt verloren.

Ach was sage ich, das ich Gomorrah. Das Abendland ginge unter, ohne Billionäre, Milliardäre und Millionäre. Denn ohne diese müsste man sich ja selbst mal die Sinnfrage stellen, anstatt Anzustreben, in eine diese Vermögensklasen aufzusteigen. ... Sry, da lief bei mir das einzige unversteuerte Familienerbe etwas über: der Sarksamsus.


QuoteWodkaLemon

Es wäre eine sehr solidarische und die Gesellschaft zusammenführende Aktion, wenn die Hochvermögenden von ihren 3600 Mrd für die aktuell dringendendsten geschaftlichen Aufgaben wie Wohnkosten, Inflationsdämpfung, Bildung, Rente, Gesundheitswesen Sondervermögen schaffen würden, die umgehend helfen würden. Finanzierung von Mietdeckeln, Senkung von Mehrwertsteuer auf lebensnotwendige Ausgaben, Mindestrente, Senkung von Studiengebühren usw.

Was würde das für den gesellschaftlichen Zusammenhalt tun. Der Kritik der AFD gegen "die da oben" wäre viel Gewicht genommen.

Es fehlt aktuell nicht an Geld, sondern an Solidarität.

Und es gibt leider zu viele, die dieses schädliche Defizit an Solidarität aus Eigennutz weiter organisieren... AFD, FDP, CDU.

Schaut man sich die segensreichen Wirkungen des Lastenausgleichs nach dem 2.Weltkrieg an, dann sieht man dass das keine weltfremde Idee ist, sondern wirklich funktioniert hat.


...
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on July 01, 2023, 09:46:32 PM
Quote[...] Als Gerhard Schröder 2003 die Hartz-Gesetze einführte, hätte es fast einen Mindestlohn gegeben. Die SPD wollte, die Gewerkschaften wollten nicht – Lohnpolitik sei ihre Sache. Sie fürchteten, entmachtet zu werden. Das war eine katastrophale Fehleinschätzung. Hartz IV ohne Lohnregulierung führte zu einem extrem großen Niedriglohnsektor und einer dramatischen Entwertung von Arbeit. Das sei eben Marktwirtschaft, befand die FDP. Doch wenn viele (vor allem Frauen, vor allem im Osten) weniger als 4 oder 5 Euro in der Stunde verdienen, während in der Finanzkrise Steuerzahler Banken mit Hunderten Milliarden stützen müssen, ist Marktwirtschaft vielleicht doch keine so gute Idee. ...


Aus: "Wo bleibt die Aufregung?" Stefan Reinecke (1.7.2023)
Quelle: https://taz.de/Erhoehung-des-Mindestlohns-um-41-Cent/!5941553/ (https://taz.de/Erhoehung-des-Mindestlohns-um-41-Cent/!5941553/)

Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on July 04, 2023, 11:13:05 AM
Quote[...] Nicht nur der größte britische Wasserversorger Thames Water steckt in einer Krise. Die Unternehmen haben Schuldenberge angehäuft, dennoch sind ihre Leitungen marode. Wie es so weit kommen konnte.

London Die anhaltende Krise des britischen Wasserversorgers Thames Water hat in Großbritannien eine heftige Debatte über die Privatisierung des Sektors in den späten 1980er-Jahren ausgelöst. Kritiker werfen den privaten Eigentümern – oft Pensionsfonds und Private-Equity-Gesellschaften – vor, enorme Schulden aufgenommen und zu wenig in die Infrastruktur investiert zu haben – während gleichzeitig hohe Dividenden an die Aktionäre ausgeschüttet wurden. Wirtschaftsvertreter warnen dagegen, dass eine erneute Verstaatlichung ausländische Investoren abschrecken könnte.

Im Kreuzfeuer steht auch die britische Regulierungsbehörde Ofwat. Zu lange hätten die Aufseher versucht, den Anstieg der Wassergebühren zu bremsen und damit die notwendigen Investitionen in die von zahlreichen Leckagen beeinträchtigte Infrastruktur verhindert, bemängeln Kritiker.

Die Behörde habe beschlossen, ,,dass die Bilanzen am besten den Unternehmen überlassen werden sollten, und – was noch schlimmer war – sie setzte positive Anreize zur Kreditaufnahme die durch die Vermögenswerte abgesichert wurde", kritisierte Dieter Helm, Wirtschaftsprofessor an der Universität Oxford. Die Erlöse seien an die Anleger geflossen. In Zeiten niedriger Realzinsen hätten sich die Unternehmen so immer weiter verschuldet.

Im Mittelpunkt der Krise steht der mit rund 15 Millionen Kunden größte britische Wasserversorger Thames Water, der seit der vergangenen Woche in finanziellen Schwierigkeiten steckt und dem zwischenzeitlich die staatliche Zwangsverwaltung drohte. Grund dafür ist ein Schuldenberg von 14 Milliarden Pfund (umgerechnet etwa 16,2 Milliarden Euro). Das Unternehmen hatte seine Aktionäre im vergangenen Jahr um 1,5 Milliarden Pfund neues Kapital gebeten, bislang aber dem Vernehmen nach nur 500 Millionen Pfund erhalten.

Am Wochenende erklärte der britische Pensionsfonds Universities Superannuation Scheme (USS), dass er eine Rekapitalisierung unterstützen wolle. USS ist mit einem Anteil von knapp 20 Prozent nach dem kanadischen Pensionsfonds Omers mit knapp 32 Prozent der zweitgrößte Anteilseigner von Thames Water. Das britische Unternehmen gehörte lange zur RWE, die den Wasserversorger jedoch 2006 an den australischen Finanzinvestor Macquarie verkaufte. Seitdem ging es mit dem Unternehmen bergab: Die Schulden stiegen und die Ausschüttungen an die neuen Eigentümer auch.

Die vergangene Woche zurückgetretene Thames-Water-Chefin Sarah Bentley sprach hinterher von ,,Jahren der Unterinvestition und der schlechten Entscheidungsfindung, die kritische Fähigkeiten (des Unternehmens) ausgehöhlt" hätten. Oxford-Ökonom Helm macht für die Fehlentwicklung aber auch das Versagen der staatlichen Aufseher verantwortlich.

Thames Water ist nämlich nicht der einzige Wasserversorger, der nach der Privatisierung in Misskredit geriet. Die Aufsichtsbehörde Ofwat sorgt sich um die Finanzen von insgesamt fünf Betrieben. Bilanzanalysen zeigen, dass die Branche seit 1989 einen Schuldenberg von 60 Milliarden Pfund angehäuft und zugleich Dividenden von mehr als 72 Milliarden Pfund ausgeschüttet hat.

In den vergangenen Jahren gerieten die Unternehmen wegen zahlreicher Leckagen und der Verschmutzung von Flüssen durch Abwässer in die Kritik. Die privaten Wasserfirmen investierten nach der Privatisierung zwar fast 200 Milliarden Pfund in die Infrastruktur, schraubten dann jedoch sukzessive ihr Engagement zurück.

Allein Thames Water verliert deshalb immer noch mehr als 600 Millionen Liter Wasser jeden Tag durch undichte Rohre. Nach Angaben der britischen Umweltbehörde gab es im vergangenen Jahr mehr als 300.000 Vorfälle, bei denen Abwässer unkontrolliert ausliefen. Der Branchenverband Water UK musste sich für die Verschmutzung von Flüssen und Stränden entschuldigen. Kein Wunder, dass nach Meinungsumfragen rund zwei Drittel der Briten eine erneute Verstaatlichung der Wasserversorger befürworten.

,,Die Rufe nach dem Staat schaden jedoch dem Image Großbritanniens bei internationalen Investoren", warnte Jackie Bowie, Managing Partner beim britischen Finanzberater Chatham Financial. Die konservative Regierung in London fürchtet eine ,,Risikoprämie" für den Standort Großbritannien. Insbesondere, da um Investoren in die öffentliche Infrastruktur ein harter Standortwettbewerb entbrannt ist, seitdem US-Präsident Joe Biden mit Hunderten Milliarden Dollar Kapital für die grüne Transformation der amerikanischen Wirtschaft ins Land lockt.

Hinzu kommt, dass die Aufsichtsbehörde Ofwat mittlerweile mehr Möglichkeiten hat, Dividendenausschüttungen zu begrenzen, falls die Wasserversorger in finanzielle Schwierigkeiten geraten oder ihre Umweltauflagen nicht erfüllen. Was angesichts der Missstände in der Vergangenheit sinnvoll erscheint, dürfte potenzielle Investoren eher abschrecken, wenn sie anderswo höhere Renditen erwirtschaften können.

Für Thames Water geht es zunächst ums nackte Überleben. Selbst wenn die kurzfristige Rekapitalisierung gelingen sollte, ist das Unternehmen noch nicht gerettet. Für mehr als die Hälfte der angehäuften Schulden ist der Zinssatz an die Inflation gebunden, und die ist in Großbritannien mit zuletzt 8,7 Prozent noch sehr hoch. Die Aufsichtsbehörde Ofwat macht denn auch die Auswirkungen der hohen Inflation auf die indexgebundenen Schulden für die brenzlige Finanzlage in der Wasserbranche mitverantwortlich.


Aus: "Warum die britischen Wasserversorger ein Sanierungsfall sind" Torsten Riecke (04.07.2023)
Quelle: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/dienstleister/grossbritannien-warum-die-britischen-wasserversorger-ein-sanierungsfall-sind/29236196.html (https://www.handelsblatt.com/unternehmen/dienstleister/grossbritannien-warum-die-britischen-wasserversorger-ein-sanierungsfall-sind/29236196.html)
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on August 23, 2023, 10:55:12 AM
... Umverteilungswirkungen ...

Quote[...] Wer sein Geld bei der Bank einlegt, bekommt aktuell kaum Zinsen. Zugleich profitieren Geschäftsbanken davon, dass ihnen die EZB Milliarden an Zinsen zahlt. ... Es klingt paradox. Bürgerinnen und Bürger, die ihr Geld zur Bank tragen und dort einlegen, bekommen aktuell nur ganz niedrige Zinsen. Wenn die Kreditinstitute das Gleiche tun und ihr Geld bei der Europäischen Zentralbank (EZB) anlegen, verdienen sie dabei prächtig. Allein heuer dürften deutlich mehr als 100 Milliarden Euro von der Europäischen Zentralbank zu den Geschäftsbanken in der Eurozone abfließen. Das ist ein enormer Transfer, der rund einem Prozent der Wirtschaftsleistung des Euroraums entspricht, wie der Ökonom Paul de Grauwe von der London School of Economics vor kurzem vorrechnete. Weil die Banken zuletzt sogar mehr Zinsen kassierten, schätzt er, dass allein zwischen Juni 2023 und Juni 2024 gut 152 Milliarden Euro an die Geschäftsbanken fließen werden. Und die Institute verdienen dieses Geld völlig risikolos.

Diese Zinszahlungen der Euro-Notenbank in Frankfurt sind aktuell eine wesentliche Ursache dafür, dass die Gewinne der Kreditinstitute so stark gestiegen sind. Die Entwicklung hat auch politische Debatten entzündet: SPÖ und FPÖ fordern eine Übergewinnsteuer für Banken, die Sozialdemokraten wollen den Kreditinstituten vorschreiben, wie viel Zinsen sie zahlen und mindestens bieten müssen. Die Debatte über die Umverteilungswirkungen der schönen neuen Zinswelt tobt auch in Italien und inzwischen in Deutschland.

Aber wie kommt diese öffentliche Subventionierung der Geldhäuser – nichts anderes geschieht hier – überhaupt zustande?

Die EZB hebt seit Monaten den Leitzins Schritt für Schritt an, um damit die Inflation einzubremsen. Der Leitzins ist der Preis, zu dem sich Banken Geld bei der EZB für längere Zeit ausleihen können. Ein höherer Leitzins bedeutet teurere Kredite für Banken. Sie müssen daher ihrerseits Kredite teurer vergeben. Das soll es Häuselbauern und Unternehmen erschweren, an Darlehen zu kommen. Weniger Nachfrage bedeutet weniger Inflation, so die Hoffnung der Notenbank.

Aber die EZB verfügt nicht nur über einen Leitzinssatz, sie hat noch zwei weitere Zinssätze in ihrem Werkzeugkasten. Der hier relevante ist jener, den die Zentralbank Kreditinstituten zahlt, die bei ihr Geld anlegen. Auch Geschäftsbanken haben Konten bei der EZB, genauso wie Bankkunden. Aktuell zahlt die EZB Banken 3,75 Prozent Zins für deren Einlagen. Warum? Weil sonst die Geldpolitik nicht funktioniert. Aktuell ist nämlich der Leitzins vermutlich gar nicht so relevant. Die EZB hat in den vergangenen Jahren unglaublich viel Geld aus dem Nichts geschaffen und damit vor allem Staatsanleihen der Euroländer gekauft.

Die Strategie diente dazu, die Zinsen zu senken und die Inflation, die lange zu niedrig war, anzufachen. Jedes Mal, wenn die Notenbanker Staatsanleihen kauften, pumpten sie Geld zu den Geschäftsbanken, die ihr diese Anleihen verkaufen. Rund 4,9 Billionen Euro an solchen Staatsanleihen hält die EZB aktuell. Die Banken haben im Gegenzug unglaublich viel Zentralbankgeld. Das verzinst die EZB, damit die Banken – vereinfacht gesagt – mit dem Geld nichts anderes tun. Diese überschüssigen Reserven, wie Experten sagen, belaufen sich aktuell auf 3,7 Billionen Euro. Würden die Institute keine Zinsen bekommen und mit dem Geld Staatsanleihen kaufen, würde diese Nachfrage den Börsenkurs der Papiere nach oben treiben und damit die Zinsen dafür nach unten. Aber die EZB will aktuell ja hohe Zinsen.

Die höheren Zinszahlungen sind also geldpolitisch notwendig, schaffen aber eine Umverteilung in Richtung Banken. Das arbeitnehmernahe Momentum-Institut schätzt, dass allein die heimischen Institute durch die hohen Zinszahlungen bisher 1,6 Milliarden Euro an Gewinn eingefahren haben, weil sie gleichzeitig ihren Kunden weniger Zinsen auf Einlagen bieten. Momentum fordert deshalb eine Übergewinnsteuer. Hinter der Euro-Zentralbank stehen ja die nationalen Notenbanken und damit die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.

Doch es gibt Gegenargumente. "Es war nicht die Intention der Banken, diese großen Überschussreserven anzuhäufen. Das ist vielmehr eine Folge der Geldpolitik der EZB", sagt der Finanzmarktexperte Peter Brezinschek. Ein Problem schaffen und dann auf Banken abwälzen sei billig. Dirk Ehnts, deutscher Ökonom und Autor zahlreicher Bücher zu Geldpolitik, sieht zudem ein Problem darin, hohe Reserven als Basis für eine Steuer heranzuziehen: Auch hohe Kundeneinlagen führen dazu, dass Banken mehr Reserven bei der EZB vorhalten.

Die EZB könnte das Problem tatsächlich selbst rasch lösen, indem sie ihre Staatsanleihen verkauft – die Banken würden mit ihren Reserven die Papiere kaufen, der Berg der Einlagen wäre dahin. Das Problem daran: Wirft EZB so viele Papiere auf den Markt, würde der Preis einbrechen – und die Zinsen damit für Staatsschuldscheine steigen. Im Endeffekt würden Südländer wie Italien oder Spanien mehr für ihre Schulden zahlen, sie kämen unter Druck.

Ein Dilemma, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt. Der Ökonom de Grauwe hat eine andere Idee, um Transfers zu den Banken zu begrenzen. Sie müssen auf ihren Konten bei der EZB Geld haben, das mindestens einem Prozent jener Gelder entspricht, die Kunden bei ihnen angelegt haben. Grund dafür ist, dass Banken ihre EZB-Guthaben für Bargeld eintauschen können müssen. Das soll Sicherheit bieten. De Grauwe schlägt vor, diese Mindestreserveanforderungen zu erhöhen. Für diesen Teil der Bankengelder bei der EZB gibt es keine Zinsen. Der Effekt von de Grauwes Vorschlag: Die Reserven wären begehrter. Banken verleihen sich diese Reserven mitunter auch untereinander – und dafür würde eben der Zins steigen. Ganz so, wie es die EZB will. Bleibt alles, wie es ist, würden über die kommenden zehn Jahre laut einer Schätzung de Grauwes gut eine Billion Euro an die Geschäftsbanken fließen.


Aus: "Wie es kommt, dass die EZB den Banken 150 Milliarden Euro an Zinsen überweist" (András Szigetvari, 23.8.2023)
Quelle: https://www.derstandard.at/story/3000000183919/wie-es-kommt-dass-die-ezb-den-banken-150-milliarden-euro-an-zinsen-ueberweist (https://www.derstandard.at/story/3000000183919/wie-es-kommt-dass-die-ezb-den-banken-150-milliarden-euro-an-zinsen-ueberweist)

Quotetröttröt

Eigentlich ist es ganz einfach, in einem kapitalistischen System muss man für sein Rechte kämpfen. Leider lassen sich Menschen gerne ablenken. Die kämpfen für oder gegen Sachen, die sie kaum betreffen, keine Rolle spielen. Wer gendert wo, wer geht auf welche Toilette, selbst wenn man nie jemals irgendwie betroffen war, lassen viele ihre Entscheidungen darauf zurück führen.
Dabei ist die Welt nicht weniger, als das was wir daraus machen. Im Grunde haben wir alle das Heft in der Hand. Die größte Macht ist es uns glauben zu lassen, dass es nicht so ist.


Quoteh1as

Im Kapitalismus kann man für seine Rechte kämpfen

schauen sie mal wie das in anderen System so läuft...


Quotethanks for all the fish!

... Und nicht unterschlagen sollte an dieser Stelle die Rolle der Medien werden, die mit den von Ihnen genannten Strohfeuer-Themen den Mob bei Laune halten, anstatt gesellschaftlich wirklich Relevantes ausreichend zu thematisieren.


Quotekiwi100

... Was für ein Casino! Der Schlüsselsatz lautet ,,Die EZB hat in den vergangenen Jahren unglaublich viel Geld aus dem Nichts geschaffen und damit vor allem Staatsanleihen der Euroländer gekauft." ...


QuoteDr. Österreicher

Wir werden enteignet

Inflation bei 10%
Sparzinsen in Ö bei 2%

--> wir werden großflächig enteignet.

Wer profitiert?
x Reiche mit Krediten (Kredit wird weniger wert durch Inflation)
x Banken

Und wir akzeptieren das alle Schulter zuckend.


QuotePicodella

Ich versuche ehrlich zu sein: Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit Geldtheorie und Geldpolitik beschäftigt, durchschaue aber trotzdem die oben erläuterten Zusammenhänge nicht wirklich und kann mir (noch) kein vernünftiges Urteil bilden (Übergewinnsteuer auf Zinsgewinne auf Reserven ja/nein?). Ich habe den Verdacht, dass viele nicht checken, wie kompliziert unser real existierendes Geldsystem ist (Zentralbankreserven sind kein Steuergeld usw.), und sich zu leicht ein Urteil bilden. Diese bestehende Undurchschaubarkeit ist für eine Demokratie natürlich verheerend, denn wie viel ökonomische Bildung muss man haben, um hier als verantwortungsvoller Bürger eine Meinung haben zu können?


QuoteeinWkZwangsmitglied

Der Bildungsgrad wäre dann irrelevant, wenn wir Vertreter wählen könnten die sich den Menschen mehr verpflichtet fühlen als Konzernen und dem Geldadel.
Vertrauen reicht dann. Das wäre auch die Idee einer Demokratie.


QuoteH0rus

Banken in a nutshell

Banken machen Gewinn = "Das ist UNSER Gewinn!"
Banken machen Verluste = "Das sind EUERE Verluste!"


Quote777anton

Und was sprich dagegen, diese Zinsen 1:1 an Sparer weiterzugeben?


Quotezuter

Du linksextremer Kommunist!:-)


...
Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on October 15, 2023, 12:48:34 PM
Quote[...]  Wie der amerikanische Kapitalismus die Demokratie zerstört und warum davon ausgerechnet Donald Trump profitiert – ein Gespräch mit dem sozialistischen US-Senator Bernie Sanders.
Interview: Ileana Grabitz und Heinrich Wefing


DIE ZEIT: Herr Senator, Ihr neues Buch heißt im Original It's Okay to Be Angry About Capitalism. Erklären Sie uns: Warum ist es in Ordnung, auf den Kapitalismus wütend zu sein?

Bernie Sanders: Es ist okay, wütend zu sein, weil in den Vereinigten Staaten und in vielen Ländern der Welt die Kluft zwischen den sehr Reichen und Mächtigen und allen anderen größer ist als jemals zuvor. Dabei wären wir dank der neuen Technologien in der Lage, allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen. Doch leider sitzen in meiner Heimat einige wenige Superreiche auf mehr Vermögen als die gesamte untere Hälfte der amerikanischen Gesellschaft. 60 Prozent der Bevölkerung leben von der Hand in den Mund, mehr als eine halbe Million Menschen ist obdachlos. Es ist offenkundig ein System, das nicht funktioniert.

ZEIT: Was sind die politischen Folgen?

Sanders: Ein Großteil des Eigentums liegt konzentriert in den Händen einiger weniger Wall-Street-Unternehmen – die ihrerseits in fast jedem größeren Unternehmen des Landes mitmischen. Diese Unternehmen haben großen Einfluss auf die Politik. Wer in Amerika Milliarden hat, pusht den Kandidaten seiner Wahl eben mit so vielen Spenden wie nötig. Das Ergebnis ist ein US-Parlament, das vor allem Politik für die Superreichen macht.

ZEIT: Wie konnte es zu dieser Einkommens- und Vermögensungleichheit in den USA kommen?

Sanders: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, von dem viele profitierten: Reiche wurden reicher, die Mittelschicht wuchs, auch den armen Leuten ging es besser. Das ging so bis in die 1970er-Jahre. Die Probleme begannen, als die großen Unternehmen dank schrecklicher Handelsabkommen ihre Produktionsstätten in Amerika schließen und in Niedriglohnländer wie Mexiko oder China verlagern konnten. Hinzu kam, dass die Gewerkschaften an Einfluss verloren, auch aufgrund des gewerkschaftsfeindlichen Klimas in der Politik. Das wiederum führte dazu, dass die Unternehmer noch mehr Geld machen und ihren Einfluss auf die Politik noch weiter vergrößern konnten. Das ist die Situation, in der wir uns heute befinden.

ZEIT: Wie kann es angesichts dieser Lage sein, dass so viele Arbeiter die Republikaner wählen – ausgerechnet die Partei, die die Steuern für die Reichsten senkt und Sozialleistungen kürzt?

Sanders: Wenn ich die Antwort auf diese Frage wüsste ...! (lacht) In den Vierziger-, Fünfziger- und Sechzigerjahren waren die Demokraten die Partei der Arbeiterklasse. Leider nur hat die Demokratische Partei im Laufe der Jahre von den Republikanern gelernt, dass sie viel Geld von den Unternehmen und den Reichen einsammeln kann, um ihren Wahlkampf zu finanzieren. Zwar haben sich große Demokraten wie Franklin D. Roosevelt und Harry Truman sehr für die Rechte der Arbeiter starkgemacht, etwa indem sie einen Anspruch auf Gesundheitsversorgung als Menschenrecht deklariert haben. Das Problem ist nur: Sie kamen nicht so weit, ihre Versprechen zu erfüllen. Und so gibt es heute immer noch viel zu viele Amerikaner, die nicht oder nur unzureichend krankenversichert sind. Auch die Reallöhne sind gesunken.

ZEIT: Noch mal: Warum setzen so viele Menschen angesichts dieser Misere auf die Republikaner?

Sanders: Viele Arbeiter fühlen sich getäuscht. Viele von ihnen, deren Eltern und Großeltern noch für die Demokraten gestimmt haben, haben heute das Gefühl, sie seien schlechter dran als ihre Eltern früher. Hinzu kommt eine geschickte Taktik der Republikaner: Sie kämpfen zwar für Steuererleichterungen und Kürzungen der Sozialleistungen. Doch das kaschieren sie, indem sie die Kulturkämpfe unserer Zeit anheizen. Früher haben sie sich über Rassismus profiliert, heute bedienen sie frauenfeindliche Ressentiments, Sexismus, Homophobie und natürlich die Angst vor Migranten. Was leider oft gerade bei den Menschen ankommt, die sich zurückgelassen fühlen.

ZEIT: Und warum ist Donald Trump so populär – trotz aller Anklagen?

Sanders: Trump ist ein pathologischer Lügner, ein Gauner und ein Mann, der die Demokratie verrät. Aber seine simple Botschaft lautet: "Wenn ihr – wie ich – glaubt, dass das System euch im Stich lässt, dann bin ich auf eurer Seite." Und diese Botschaft verfängt. Das große Versäumnis der Demokraten besteht darin, all diesen Menschen, die nur 15 Dollar pro Stunde verdienen und sich davon weder Gesundheitsversorgung noch bezahlbaren Wohnraum leisten können, keine Perspektiven aufgezeigt zu haben.

ZEIT: Was sollten die Demokraten anders machen?

Sanders: Die Demokratische Partei muss endlich zu einer Partei der Arbeiterklasse werden, die den Mut aufbringt, sich gegen die mächtigen Sonderinteressen einiger weniger Superreicher zu stellen. Wer nicht über die Gier und die Übermacht der herrschenden Klasse spricht, die für so viele Probleme in unserem Land verantwortlich ist, hinterlässt ein gefährliches Vakuum – auch für jemanden wie Donald Trump. Aber Reden allein hilft nicht. Die Demokraten müssen endlich liefern. Wenn die Demokratische Partei morgen die Gesundheitsversorgung für jeden Mann, jede Frau und jedes Kind garantieren würde, wenn wir die hohen Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente senken und das Rentenprogramm verbessern könnten, ich verspreche Ihnen: Dann würden die Demokraten gewinnen.

ZEIT: Viele Trump-Wähler sagen, sie hätten für ihn gestimmt, weil er ihnen das Gefühl gebe, ihr Leben sei in Ordnung, so wie sie es leben: Fleisch essen, auf die Jagd gehen, Waffen besitzen, einen Pick-up fahren. Warum gelingt es den Demokraten nicht, ein ähnliches Gefühl zu vermitteln?

Sanders: Ein Grund ist wohl, dass viele Demokraten die Politik aus einer elitären Perspektive betrachten. So was spüren die Menschen. Vor allem Leute aus dem ländlichen Amerika fühlen sich von den Demokraten vernachlässigt.

ZEIT: Auch in Ihrem Buch kritisieren Sie, dass die Demokratische Partei zu einem elitären Zirkel verkommen sei, statt ein Zufluchtsort für alle zu sein. Was die Vielfalt betrifft, ruhten große Hoffnungen auf der Vizepräsidentin Kamala Harris. Hat sie ihre Chancen genutzt?

Sanders: Ich schätze Kamala sehr, aber sie ist Vizepräsidentin, und eine Vizepräsidentin arbeitet für den Präsidenten, ihr Einfluss ist begrenzt. Die eigentliche Frage ist also, ob die Regierung gute Antworten auf die Fragen der Arbeiterklasse gefunden hat. Und ich finde, die Bilanz ist nicht so schlecht: Zum ersten Mal in der US-Geschichte hatten wir zum Beispiel einen Präsidenten, der sich im großen Streik der Autoindustrie an die Seite der Arbeiter gestellt hat. Das ist ein großer Schritt nach vorn. Hat die Demokratische Partei im Allgemeinen allerdings die Sonderinteressen der Mächtigen wirklich mit aller Macht bekämpft? Nein, das hat sie nicht.

ZEIT: Es gibt Stimmen, auch innerhalb der Demokratischen Partei, die kritisieren, die Partei sei zu "woke" geworden. Was sagen Sie dazu?

Sanders: Nun, da ist etwas Wahres dran. Ich selbst komme aus der Arbeiterklasse, aus einem ländlichen Bundesstaat und bin ein bodenständiger Mensch. Mit woken Themen muss man vielen Leuten in meiner Heimat nicht kommen. Die Menschen dort treiben ganz andere Themen um. Sie wollen ihre Kinder anständig erziehen können, saubere Luft atmen, sie wollen angemessen bezahlte Jobs und eine ordentliche Gesundheitsversorgung. Darüber hat die Demokratische Partei vielleicht nicht genug gesprochen. Einige haben stattdessen gefordert, der Polizei die Mittel zu streichen, "defunding the police" hieß das. Es waren nicht viele, die das wollten, aber die Republikaner haben das erfolgreich zu einem Thema gemacht. Ich glaube, die Demokraten sind dann am stärksten, wenn sie sich auf die ökonomischen Interessen der Arbeiterklasse konzentrieren. Wir müssen klarmachen, dass wir keinen Rassismus tolerieren werden, keine Form des Sexismus oder der Homophobie. Aber auch das genügt nicht. Wenn es Versicherungsunternehmen oder Pharmafirmen gibt, die Jahr für Jahr Milliarden verdienen, während sich Millionen Menschen ihre Arzneimittel nicht leisten können – dann muss die Demokratische Partei dagegen vorgehen. Die Demokraten müssen sich wandeln, die Türen öffnen für junge Leute, für Menschen aus der Arbeiterklasse.

ZEIT: Sie schreiben: "Wir müssen das System ändern."

Sanders: Ja!

ZEIT: Aber Sie unterstützen die Kandidatur von Joe Biden. Wird er jemals "das System ändern"?

Sanders: Schauen Sie, ich bin zweimal gegen ihn angetreten. Natürlich haben wir unterschiedliche politische Ansichten. Und ich wünschte, Biden wäre mutiger. Ich wünschte, die Demokraten wären mutiger. Auf der anderen Seite muss man auch sagen, dass Biden als Präsident vehement das gewaltige Konjunkturprogramm, den American Rescue Plan, unterstützt hat, das ambitionierteste Gesetz, das seit Jahrzehnten in den USA beschlossen wurde. Ich kenne mich mit dem Gesetz aus, ich war Vorsitzender des Haushaltsausschusses, in dem es entworfen wurde. Das waren fast zwei Billionen Dollar, die Dinge bewirkt haben, die lange überfällig waren. Und Biden geht sehr weit beim Klimaschutz. Geht er so weit, wie ich mir das wünschen würde? Nein. Aber unter Bidens Führung wurde weit mehr Geld in den Umbau unseres Energiesystems investiert als jemals zuvor. Wir haben jetzt die Wahl zwischen Biden und einem Mann, der nicht an die amerikanische Demokratie glaubt, der die Bevölkerung zu spalten versucht. Da ist klar, auf wessen Seite ich stehe.

ZEIT: Sie haben zweimal versucht, Präsident zu werden, und zwar mit einigem Erfolg ...

Sanders: ... nicht erfolgreich genug!

ZEIT: Warum treten Sie nicht noch einmal an?

Sanders: Weil ich diesmal den Amtsinhaber herausfordern müsste, Präsident Biden, und das würde die Demokratische Partei spalten. Unser Ziel muss sein, Donald Trump zu besiegen, die Demokratische Partei neu aufzubauen, als Graswurzelpartei für die Arbeiterklasse.

ZEIT: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Trump wieder zum Präsidenten gewählt wird?

Sanders: Es ist eine reale Möglichkeit. Es gibt viele Menschen in Amerika, die abgestoßen sind von der Politik in Washington, und die Rechten sind sehr geschickt darin, den Demokraten die Schuld für die Missstände zuzuschieben. Wenn zu viele Menschen sich zurückgelassen fühlen, werden sie sich Demagogen zuwenden. Und dabei haben wir noch gar nicht über den Klimawandel gesprochen. Menschen wie Donald Trump haben gar keine Vorstellung von der Realität des Klimawandels. Trump zu wählen hieße, nichts zu unternehmen gegen extreme Trockenheit, gegen extremes Wetter, gegen Hitzewellen und Stürme. Das dürfen wir nicht zulassen. Wir müssen sehr aggressiv sein und die Demokratie neu beleben.

ZEIT: Sind Sie zuversichtlich, dass Trump eine Niederlage akzeptieren würde?

Sanders: Nein, absolut nicht. Wurde hier in Europa berichtet, wie Donald Trump vor Kurzem in einen Waffenladen gegangen ist und eine Waffe gekauft hat? Ich meine, er ist der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, er wird jederzeit von 16 gut bewaffneten Männern geschützt. Wozu braucht Trump eine Waffe? Das war eine Botschaft an seine Anhänger, eine Botschaft, dass er nichts gegen Gewalt hat. Wie würde er auf eine neuerliche Wahlniederlage reagieren? Ich weiß es nicht. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er sich anders verhalten würde als beim letzten Mal.

ZEIT: Es gibt Stimmen in den USA, die vor einem Bürgerkrieg warnen. Ist das übertrieben?

Sanders: Ich bete zu Gott, dass das nicht passieren wird. Aber wir haben erlebt, was am 6. Januar 2021 geschehen ist. Ein paar Tausend Rechtsextremisten haben mit Gewalt versucht, das Kapitol zu erobern und die Bestätigung von Bidens Wahlsieg zu verhindern. Könnte so etwas wieder geschehen? Ich sage nicht, dass das ausgeschlossen ist. Wir sind heute besser vorbereitet als in der Vergangenheit. Aber es gibt eine Menge Leute, die an Verschwörungstheorien glauben und Waffen haben. Sie sind eine Gefahr für die amerikanische Demokratie.

ZEIT: Unsere letzte Frage ist eine persönliche. Senator Sanders, wie blicken Sie als jüdischer amerikanischer Politiker auf die Terrorattacke in Israel?

Sanders: Meine persönlichen Gefühle tun nichts zur Sache. Aber politisch ist das ein Desaster, in doppelter Hinsicht. Zum einen wegen all der Menschen, die tot oder verletzt sind. Und zum anderen werden alle Menschen zurückgeworfen, die wie ich extrem besorgt waren wegen der Lage in Gaza und in den besetzten Gebieten und wegen des Rechtsrucks der Regierung Netanjahu. Denn nun werden die Extremisten in Israel sagen, das ist der Beweis, wir können den Palästinensern niemals trauen, wir können uns nie mit ihnen einigen, sie werden uns immer angreifen und töten wollen. Und die jungen Menschen in Gaza, von denen 70 oder 80 Prozent arbeitslos sind, werden den militärischen Erfolg der Hamas sehen und sagen, großartig, so müssen wir weitermachen. Die Extremisten in Israel werden dann noch radikaler, und junge Palästinenser werden sagen, seht her, Gewalt ist die Antwort. Es ist ein schrecklicher Rückschlag. Gaza war in einem furchtbaren Zustand vor diesem Angriff, und es wird nun noch schlimmer werden. Es ist unendlich traurig.


Bernie Sanders: Es ist okay, wütend auf den Kapitalismus zu sein; Klett-Cotta 2023


Aus: "Bernie Sanders: "Wir müssen sehr aggressiv sein"" (12. Oktober 2023)
Quelle: https://www.zeit.de/2023/43/bernie-sanders-kapitalismus-donald-trump-us-wahl (https://www.zeit.de/2023/43/bernie-sanders-kapitalismus-donald-trump-us-wahl)

Quote
kwsmuc

Ein hier nicht explizit angesprochenes Problem: Milliardäre können massiv Meinung kaufen und manipulieren. Es darf doch nicht in einer funktionierenden Demokratie, sein, dass man sich mit seinen Milliarden im Prinzip die ganze Medienlandschaft aneignen kann und dann gleichschaltet. Denken wir an Murdoch, an Berlusconi, an Elon Musk - alles Demokratiefeinde mit kruden Ideen. Dem sollte zuallererst einmal ein Riegel vorgeschoben werden. Medien müssen unabhängig bleiben, Meinung darf nicht käuflich sein.


QuoteHaruSosake

In jedem Armutsbericht den die Bundesregierung anfertigen lässt steht das reiche Menschen einen deutlich größeren Einfluss auf unsere Demokratie haben als ärmere und jede Bundesregierung lässt diesen Passus vor der Veröffentlichung rausstreichen. Kann man recht schnell finden wenn man danach im Internet sucht.

Der Begriff Demokratie hat wie Sanders zutreffend sagt seit den 70ziger Jahren keine Bedeutung mehr, ob in den USA oder Deutschland.

Und wie Sanders auch zutreffend sagt, er kennt keine Lösung, weil es keine gibt - der Zug ist längst weg.
Und nein, keine Partei hat mehr die Mittel das zu ändern, die Wirtschaft verlagert sich bei jeder Rebellion einfach ins Nachbarland und verschlimmert die Situation für die Bevölkerung.
Aber mit Heilsversprechen kann man überall auf Wählerfang gehen, wird ja königlich vergütet so eine vier jährige Amtszeit.
Will sagen, wir sind gescheitert, sich damit abzufinden macht das Leben weniger stressig.


Quote
hakufu

>>> Ein hier nicht explizit angesprochenes Problem: Milliardäre können massiv Meinung kaufen und manipulieren. <<<

Xi, Putin und andere Diktatoren und ihre Entourage brauchen sie nicht mal kaufen.


Quote
Vorwärtsundnichtvergessen

Leider ist alles falsch, was er sagt. Der Kapitalismus (im Kern das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln) hat den Menschen einen nie dagewesenen Wohlstand gebracht. Die Anzahl der unterernährten Menschen ist im letzten Jahrzehnt stark gesunken - parallel zu einer stärkeren Ungleichverteilung der Einkommen/Vermögen. Alle Versuche einer sozialistischen Gesellschaftsordnung sind gescheitert.


Quoteestern

Der Kapitalismus (im Kern das Recht auf Eigentum an Produktionsmitteln) hat den Menschen einen nie dagewesenen Wohlstand gebracht.

Richtig. Nur ist dieser Wohlstand sehr einseitig verteilt. Wenn in den westlichen Staaten - über den Daumen gepeilt - die reichsten 10 Prozent zwei Drittel des Vermögens halten und die ärmere Hälfte der Gesellschaft praktisch kein Vermögen aufbauen geschweige denn halten kann... dann hat die Politik schlicht versagt. Wie Sanders andeutet: nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA sehr prosperierend für alle Gesellschaftsschichten. Unter anderem war der Spitzensteuersatz vorübergehend bei 95 Prozent. Seit im Zuge des Neoliberalismus die Steuern massiv gesenkt wurden, serbeln die USA still vor sich hin. Den meisten europäischen Staaten geht es nicht anders. Das Problem ist, dass wir die Steuer zur Zeit gar nicht anheben können, weil die Reichen ihr Vermögen mit ein paar Mausklicks rasch in die Karibik oder andere Steueroasen (auch in Europa) verlegen können, weil wir der Freiheit des Kapitals zugestimmt haben - wohlgemerkt im Zuge der Globalisierung für einen Ausbau des Wohlstands. Vergessen haben wir dabei, Sicherungen für den Verbleib des Wohlstands einzubauen.


QuoteAnt-Ant

Leider alles wahr, was er sagt.

Bei der Buchvorstellung hat er das Beispiel genannt, dass Vorstände großer Unternehmen vor 50 bis 60 Jahren ca. das 40-fache des unternehmensweiten Durchschnittslohns erhalten haben, während es heute das 400-fache ist.
Die Entwicklung der Vermögens- und damit Machtschere ist eigentlich auch ein Thema für die politische Mitte in Deutschland; soweit ich weiß, haben wir keine Partei im Parlament, die sich "Kapitalismus-Exzess-Partei" nennt.
Trotzdem lassen wir es laufen, als wäre es unvermeidlich, alternativlos. Dabei haben die ersten Jahrzehnte nach dem 2. Weltkrieg gezeigt, dass es mit politischem Willen auch anders ginge.


QuoteCosmicus

,,Wie konnte es zu dieser Einkommens- und Vermögensungleichheit in den USA kommen?"

Und alle Antworten und Fragen kann man gern statt USA mit Deutschland ersetzen .... Probieren Sie es aus, ob die Antworten dann nicht auch die gleichen sind.
Wir sind um nichts besser und haben die gleichen Probleme. Die Wirtschaft bestimmt in diesem Land, was gemacht wird.
Sanders ist in kluger Mann, leider hat Klugheit und vorausschauendes Denken heute keinen Wert mehr.


QuoteMemetekel

Demokratie und Marktwirtschaft bedingen einander, wo die Menschen nicht frei sind, können sie auch nicht frei wirtschaften und wo man nicht frei wirtschaften kann, sich frei seinen Beruf aussuchen etc., gibt es auch keine persönliche Freiheit und damit auch keine Demokratie. Ist Bernie Sanders denn wirklich ein Sozialist? In den USA versteht man unter Sozialismus meine ich eher sowas wie die Sozialdemokratie, das wäre dann unglücklich übersetzt.


QuoteGarek1

ich bin er staunt über die Meinungen in diesem Forum. Es geht doch gar nicht um Kapitalismus und Sozialismus im Allgemeinen durchdekliniert anhand des ,,Sozialisten" Bernie Sanders. Selbst darum, dass Sanders in den USA als Sozialist bezeichnet wird, geht es nicht, sondern lediglich darum, dass Trump nicht wiedergewählt werden darf, und dass sich die Demokraten von der einstigen Arbeiterpartei zu einer intellektuell-elitären Akademikerpartei gewandelt haben. -durchaus vergleichbar mit der SPD.


QuoteTraumflug

Bis in die 1980er Jahre lief die Wirtschaft in den USA grossartig. Reiche Menschen haben 70% Steuern bezahlt. Unsere Wirtschaft übrigens auch, Spitzensteuersatz 56%, man nannte es sogar "Wirtschaftswunder".

Dann kamen Reagan und Thatcher um die Ecke. Zunächst ging das weiterhin gut, es war ja noch alles da. Dann ging es langsam bergab. Infrastruktur verfällt, neue Technologien werden verschlafen, Armut macht sich breit, Gewalt wächst. Man kann den Staat und die untere Bevölkerungsschicht eben nur einmal plündern.


Quoteinverter

Das Problem am Sozialismus ist, dass einem irgendwann das Geld anderer Leute ausgeht. Frei nach Margaret Thatcher. ...


Quotethiak

Stimmt, der Kapitalismus stielt sich immer wieder und immer mehr Geld anderer Leute.


Quotecinter

ist es nicht auch symptomatisch dass wenn jemand von einer allgemeinen gesundheitsgrundversorgung spricht sofort das gespenst vom sozialismus beschworen wird?


QuoteA.Beta

Die Armen (Deplorables soll man ja nicht sagen) wählen ihren Schlächter (Republikaner soll man sagen), weil der ihnen die Schuldigen nennt - Frauen, Mexikaner und natürlich die Demokraten (die übrigens früher mal die Stereotypen bedient haben).


QuoteSchimmerlos

Bei ihrer Wahlentscheidung fragen sich viele Lohnempfänger:innen, ob die Regierung gute Antworten auf die Fragen der Arbeiterklasse gefunden hat. Das ist bei uns und in anderen europäischen Ländern nicht viel anders als in den USA.


QuoteMancunianKraut

Das wage ich zu bezweifeln. Viele AfD Wähler peilen überhaupt nicht, dass sie ökonomisch vollkommen gegen ihre eigenen Interessen wählen!


QuoteSalzwasser-Sommelier

Viel Hoffnung hat man seinerzeit in New Labour mit Tony Blair, in die deutsche Sozialdemokratie unter Schröder und in den USA mit Bill Clinton gesetzt. Was haben sie gemacht? Die Finanzmärkte völlig entfesselt, in Deutschland mit Riester-Rente Herrn Maschmeyer und Konsorten reicher gemacht, die Tafeln etabliert und in GB kann sich nicht mal mehr ein Millionär in London eine Garage leisten. Vielleicht auch Grund warum Bürger ihr "Heil" jetzt bei der sog. AfD suchen.


QuoteStendhal

Ich mag zwar Sanders, halte ihn aber nicht für einen Sozialisten, allerhöchstens noch für einen Seeheimer.


QuoteTzaduk

Alles eine Frage der Perspektive. Aus Sicht von Marine Le Pen ist Macron ein Linker...


Quotebaude48

Seinen Traum ohne Kapitalismus ist vor seiner Tür in Venezuela und Kuba Realität. Habe ich auch in der DDR 40 Jahre miterlebt, nein DANKE.


Quote
_.-._

Bernie Sanders nennt nie die DDR oder Sowietunion als Vorbild, sondern die Sozialsysteme skandinavischer Länder, also mit die wohlhabendsten und demokratischsten Länder der Erde.


QuoteM.Aurelius

"Der Kapitalismus habe die Demokratie zerstört."

Den Kapitalismus für alle Fehlentwicklungen pauschal verantwortlich zu machen, ohne auf den eklatanten Etikettenschwindel aufmerksam zu machen, wird den Tatsachen nicht gerecht, denn seltsamerweise implementieren nominell kapitalistische System lediglich modale Märkte nach dem Marxschen Motto "wir haben eiserne Prinzipien. Wenn sie nicht gefallen, haben wir auch andere." (Groucho Marx) Der Marktmechanismen ist nur solange das Prinzip des Kapitalismus, solange er denen gefällt, die vom System profitieren. Wenn z.B. die Verursacher für Kosten zur Kasse nach dem Verantwortungsprinzip gebeten werden sollen bzw. müssten, wird er schnell ausgehebelt. So zeigt die Erfahrung eindeutig, dass marktliberale Oppositionspolitiker groß darin sind, einen drastischen Subventionsabbau lautstark zu fordern, aber als Regierungsmitglieder nicht nur keine Subventionen abbauen, sondern eine reine Klientelpolitik betreiben. Nicht nur im Fall von "too big to fail" wird Fehlverhalten und fehlende Verantwortung subventioniert, während fehlender Erfolg sanktioniert wird, ohne Erfolg und Leistung zu unterscheiden. Das Problem ist weniger der Kapitalismus, sondern die Schimäre die als Kapitalismus projiziert und verkauft wird.


QuoteFutility

Das Argument hört man oft. Es war nicht der "wahre" Kapitalismus, der implementiert wurde, sondern nur eine Chimäre. Würde man sich an die Prinzipien des "wahren" Kapitalismus halten, würden bald paradiesische Zustände ausbrechen. Merkwürdigerweise tritt dieser Fall nie ein. Angesichts des Klimawandels darf auch bezweifelt werden, ob ein System, das nur auf den schnellen Profit aus ist, überhaupt in der Lage ist, ein solch fundamentales Problem, das sich über längere Zeiträume auswirkt, zu lösen. Bisherige Lösungen innerhalb des kapitalistischen Systems (z.B. CO2 Zertifikate-Handel) stimmen nicht optimistisch.


QuoteChristoph_Kuhlmann

Die Demokraten haben die Arbeiter verloren. Das sagt alles über sie.


Quotehaternichtgesagt

Hätte, hätte, Fahrradkette: Jedesmal wenn ich Bernie Sanders Namen höre, werde ich wehmütig. Die Demokraten und westliche demokratische Strukturen als ganzes hatten damals noch eine Chance gegen Rechtsruck, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus gehabt, hätte sich Sanders gegen Clinton durchsetzen können und wäre US-Präsident geworden. Dem Westen und uns allen ginge es heute deutlich weniger schlecht, vermutlich wäre die afd auch ein wenig kleiner ausgefallen, als es heute der Fall ist.

Sanders trotz seiner Selbstbezeichnung aus deutscher Perspektive Sozialist zu nennen ist zumindest aus wirtschaftlicher Ebene immer für einen Schmunzler gut.


QuoteDagehtnochwas

Hätte Bush damals nicht Gore "geschlagen", sähe die Welt ganz anders aus.


Quotehaternichtgesagt
Antwort auf @Dagehtnochwas

Ja, das tut auch noch immer weh und sorgt für den ein oder anderen Stirnrunzler.


QuoteVito Corleone
Antwort auf @haternichtgesagt

Analog zu Thatcher und Reagan.


QuoteKabeljau

Ich denke, es ist ein allgemeines Problem linker Parteien im Westen. Sie haben den Kontakt zu ihren Wurzeln verloren, weil ihnen Quoten für Geschlechter und Ethnien wichtiger waren als die soziale Herkunft.

So wurde, bildlich gesprochen, auf allen Ebenen der Partei der Schlosser durch die Soziologin ersetzt.
Dadurch wurden sie von einer Arbeiter- zu einer Partei des gehobenen Dienstes im öffentlichen Dienst.




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Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on January 17, 2024, 11:36:13 AM
Quote[...] Der kanadische Historiker Quinn Slobodian zeigt, wie systematisch daran gearbeitet wird, die Welt in Steuerparadiese zu zerlegen.


Aus: "Lästige Limits" Lennart Laberenz (11. Januar 2024)
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/kultur/steueroasen-superreiche-quinn-slobodian-kapitalismus-ohne-demokratie-1.6331324 (https://www.sueddeutsche.de/kultur/steueroasen-superreiche-quinn-slobodian-kapitalismus-ohne-demokratie-1.6331324)

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Quote[...] Argentinien hat vor Kurzem einen selbsternannten Anarchokapitalisten zum nächsten Präsidenten gewählt. Die Kommentare und Reaktionen darauf lassen Javier Milei wie ein Ungeheuer erscheinen. In vielerlei Hinsicht hat der 53-jährige ehemalige Wirtschaftswissenschaftler diese Darstellung selbst befördert: Sein AC/DC-Haarschnitt, das Schwingen einer Kettensäge bei Kundgebungen und seine Pin-up-Freundin provozieren absichtlich die Normen der Mäßigung und des Anstands, die in manchen Kreisen von respektablen Politikern erwartet werden. Seine Auftritte als ,,Captain Ancap" auf Comic-Kongressen, in Trikots und mit einem Dreizack in der Hand, verstärken diesen Eindruck noch.

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Aus: "Javier Milei ist ein Monster des Mainstreams: Quinn Slobodian über Argentiniens Wahlsieger" Quinn Slobodian (2024)
Quelle: https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/quinn-slobodian-javier-milei-ist-ein-monster-des-mainstreams (https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/quinn-slobodian-javier-milei-ist-ein-monster-des-mainstreams)
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Quote[...] Mit dem Wahlsieg Javier Mileis in Argentinien ist ein erklärter Anarchokapitalist in einem der führenden Staaten Lateinamerikas an die Macht gekommen. Der Anarchokapitalist im Präsidentenamt ist so etwas wie ein halbseidener Insolvenzverwalter des Leviathans. Schließlich will diese Spielart des Neoliberalismus staatliche Herrschaft nicht auf die Rolle eines Garanten von freien Märkten reduzieren, sondern überhaupt zerschlagen und alle staatlichen Aufgaben bis hin zur Strafverfolgung ,,privatisieren", das heißt in monetarisierte Tauschbeziehungen verwandeln. Das anarchokapitalistische Utopia sind Privatstädte, souveräne Eigentümer, Steuerfreiheit und Kryptowährungen.

Quinn Slobodian, der vor einigen Jahren durch eine Ideengeschichte des Neoliberalismus bekannt geworden ist, erzählt in seinem neuen, jetzt auf Deutsch erschienenen Buch von der Entstehung der globalen anarchokapitalistischen Bewegung am Ende des sozialliberalen Zeitalters. Die späten Siebzigerjahre als Beginn des inneren Zerfalls der westlichen Demokratien und ihrer Sozialmodelle sind dabei kein neues Deutungsschema. Autoren wie Grégoire Chamayou, Philipp Ther, Philipp Sarasin oder Lutz Raphael haben über Aspekte dieser Epochenschwelle in den letzten Jahren viel beachtete Bücher geschrieben: die Formierung der Antigewerkschaftsbewegung, die Weltwirtschaftspolitik nach Bretton Woods und dem Ölpreisschock, die supranationale Garantie freier Märkte und das Ende des Arbeiters.

Der Aspekt, den Slobodian diesen Deutungen hinzufügt, betrifft die Raumordnung des globalen Kapitalismus. Aus dem Ende der Imperien ist nämlich keine Welt der Nationalstaaten hervorgegangen, sondern eine perforierte Heterotopie aus Staaten, Unternehmen und konkurrierenden Marktregeln, ein in Sonderwirtschaftszonen zersplitterter Kapitalismus, wie Slobodian das nennt.

In elf Fallstudien verfolgt Slobodian die intellektuelle Karriere einer marktradikalen Obsession. Ihr zufolge sind Massendemokratien nichts als Hindernisse wirtschaftlicher Freiheit. Allgemeines Wahlrecht heißt nämlich möglicherweise: höhere Unternehmensteuern, teure öffentliche Bildung, Sozialleistungen und Umweltstandards. Die Tragik dieses Marktradikalismus erwähnt Slobodian nicht: Wo sie Fuß fasste, wurde eine Politik für den Geschäftsklimaindex und gegen den Wohlfahrtsstaat tatsächlich mehrheitsfähig, aber in Massendemokratien und nicht ohne sie.

Den Crack-Up Capitalists – den schönen Begriff gibt der deutsche Titel leider nicht wieder – erschienen aber Sonderwirtschaftszonen und utopische Enklaven paradiesischer Unternehmerfreiheit stets zugleich als politische Lösung und als Imagination einer besseren Zukunft. Slobodians Geschichte beginnt bei der Faszination der Thatcheristen für die Sonderwirtschaftszone Hongkong, übrigens die erste Verfassung mit einer Schuldenbremse, und den Nachahmerprojekten in Großbritannien und den USA. Das ökonomische Prinzip dieser riesigen Business Improvement Districts ist immer dasselbe: steuerliche und regulatorische Privilegien sowie geringe Sozialstandards, dadurch billige, oft pendelnde Arbeitskräfte, dadurch Attraktion von Kapital und fulminante Grundstückspreise. In Rankings wie dem Freedom House Index, mit denen ökonomische Entfaltungsmöglichkeiten gemessen werden, geht es damit ebenso zuverlässig wie rasant auf Spitzenplätze.

[...] Vieles kennt man schon: Donald Trump tritt auf als Virtuose der Sonderwirtschaftszone, dessen Immobilienprojekte meistens auf der Einräumung von Steuervorteilen beruhten. Boris Johnson hing noch als Premier der Idee an, die britische Insel nach dem Brexit aufzusplittern und durch viele Freihäfen innere Offshore-Zonen zu errichten. Anekdotisch stark sind auch die bizarren Phantasien von Milton Friedmans Sohn David, der als Harvard-Student nicht nur vom Anarchokapitalismus träumte, sondern sich in Rollenspielen eines wohlhabenden Clubs eine mittelalterliche Welt der Privatfehden schuf.

An dem, was Slobodian eine Ideengeschichte der Ökonomie nennt, fällt allerdings zunächst einmal die vernachlässigte Ökonomiegeschichte auf. Sonderwirtschaftszonen gab es lange vor Hongkong und dem Neoliberalismus. Die Hansestadt Hamburg etwa verdankt ihrem Deal mit Bismarck beim Beitritt zum Deutschen Reich den Freihafen und mit ihm viel ihres Reichtums. Zieht man den Rahmen globaler, so ließe sich auch die Bundesrepublik des Wirtschaftswunders, die früher als alle anderen Staaten auf Niedrigsteuerpolitik, schwache makroökonomische Interventionen und eine harte Währung setzte und folgerichtig den Ordoliberalismus dogmatisierte, als Sonderwirtschaftszone des Westens verstehen.

Auch ist die historische Folie von Slobodians Verfallserzählung, das Zerrbild sozioökonomisch geschlossener Wohlfahrtsstaaten, in denen Demokratie und Kapitalismus koexistierten, eher fragwürdig. Das zeigen etwa Torben Iversens und David Soskices Untersuchungen zur Wahlverwandtschaft von Kapitalismus und Demokratie. Dass die Geschichte der Sonderwirtschaftszonen vor allem eine Geschichte transnationaler Unternehmen und ihrer Durchsetzung des Common-Law-Regimes aus Delaware, London oder New York gegenüber Staaten ist, liegt auf der Hand, wird aber nicht näher ausgeführt. Diese Unternehmen brauchen ihre heimatlichen Rechtsordnungen nicht, sie brauchen nur irgendeinen Staat oder Quasistaat, der ihnen durch internationales Recht eine vorteilhafte Stellung verschafft.

Überhaupt scheint es für Slobodian eigentlich gar keine Probleme gegeben zu haben, bevor die Marktradikalen welche schufen. Weder interessieren ihn die tatsächlichen Probleme des fordistischen Wachstumsmodells in den Siebzigerjahren noch die jeweils ganz andere Ausgangslage der ostasiatischen Länder, Somalias oder der Arabischen Halbinsel. Die Zonen der ehemaligen Kolonien waren schließlich keine Ausgrenzungen aus Staaten. Die Alternative staatlich regulierter Volkswirtschaften stand ihnen nicht zur Verfügung. Stimmen aus diesen Ländern kommen deswegen auch kaum vor.

[...] Im Anarchokapitalismus verabschiedet sich die politische Theorie des Kapitalismus vom Land und der Industriegesellschaft und bezieht den Standpunkt der Freihäfen und der Oligarchenyachten. Liam Campling und Alejandro Colás haben über Geschichte und Gegenwart dieser maritimen Seite des Kapitalismus vor Kurzem mit ,,Capitalism and the Sea" ein großartiges Buch geschrieben. Singapurs Außenminister wusste schon 1972: ,,Unser Hafen macht die Welt zu unserem Hinterland." Das Sonderrecht der Sonderwirtschaftszonen ist, so gesehen, nichts anderes als das imperiale Recht der See, das sich ein Stück weit auf das Land vorgerobbt hat, nachdem Eisenbahnen und Fabriken, die industrialisiertes Land und Meer verbanden, ihre Bedeutung verloren. An den Crack-up-Kapitalisten kann man dann zwar immer noch ihren primitiven Freiheitsbegriff und ihr Ressentiment gegen die Massendemokratie skandalisieren. Ihre frühe Einsicht in die globale Lage nach den Trente Glorieuses ist aber verblüffend.

["Les Trente Glorieuses (deutsch: die dreißig Glorreichen) waren die dreißig Jahre von 1945 bis 1975 nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Frankreich. Diese Periode fällt mit einem wirtschaftlichen Aufschwung und rasanten gesellschaftlichen Veränderungen zusammen, was ihre Charakterisierung als ein goldenes Zeitalter begründet. Der Begriff stammt von dem französischen Ökonomen Jean Fourastié und wurde 1979 von ihm erstmals in seinem Buch Les Trente Glorieuses, ou la révolution invisible de 1946 à 1975 benutzt, um die jüngere Vergangenheit zu beschreiben." | https://de.wikipedia.org/wiki/Trente_Glorieuses (https://de.wikipedia.org/wiki/Trente_Glorieuses)]

Zu: Quinn Slobodian: ,,Kapitalismus ohne Demokratie". Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 427 S.


Aus: "Das Wahnbild des freien Marktes" Florian Meinel (10.01.2024)
Quelle: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/studie-zu-kapitalismus-das-wahnbild-des-freien-marktes-19425381.html (https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/studie-zu-kapitalismus-das-wahnbild-des-freien-marktes-19425381.html)

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Quinn Slobodian: KAPITALISMUS OHNE DEMOKRATIE (2024)
Robert Misik im Gespräch mit Quinn Slobodian
Freiheit und Demokratie, so der Investor Peter Thiel 2009, seien nicht länger kompatibel. Wer die Freiheit liebe, müsse daher versuchen, der Politik in all ihren Formen zu entkommen. Zuflucht suchen könnten Libertäre im Cyberspace, im Weltraum und auf dem offenen Meer. Das mag verblasen klingen, steht aber in einer jahrzehntealten Tradition marktradikaler Ideen: Denker wie Milton Friedman begeisterten sich für das noch unter britischer Oberhoheit stehende Hongkong; Margaret Thatcher träumte von einem Singapur an der Themse.
In Globalisten befasste sich Quinn Slobodian mit Versuchen, ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung zu entziehen, etwa durch ihre Übertragung an internationale Organisationen. In Kapitalismus ohne Demokratie geht es nun um eine andere Lösung für das von Thiel beklagte Problem: die Zerschlagung der Welt in Steueroasen, Privatstädte oder Mikronationen. Slobodian nimmt uns mit auf eine faszinierende Reise durch die Welt der neoliberalen Utopien. Sie führt nach Dubai und Liechtenstein, ins vom Bürgerkrieg zerrüttete Somalia und zu Elon Musks texanischem Weltraumbahnhof. Und sie weitet den Blick auf eine mögliche Zukunft, die uns Sorgen machen sollte.
Das Gespräch findet in englischer Sprache statt.
Quinn Slobodian, geboren 1978 im kanadischen Edmonton, ist Associate Professor am Department of History des Wellesley College. Seine Spezialgebiete sind deutsche Geschichte, soziale Bewegungen und das Verhältnis zwischen den Industrieländern und dem globalen Süden.
Moderation: Robert Misik, Autor und Journalist
Quinn Slobodian:
Kapitalismus ohne Demokratie. Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen; Aus dem Englischen von Stephan Gebauer
Suhrkamp, November 2023, ISBN 978-3-518-43146-7,
Aufgezeichnet am 23. November 2023 im Kreisky Forum.
https://youtu.be/a9RhXBSSHaQ (https://youtu.be/a9RhXBSSHaQ)

Quinn E. Slobodian (* 1978 in Edmonton) ist ein kanadischer Historiker, der auf den Gebieten Zeitgeschichte und Globalisierung forscht und seit 2024 als Professor an der Boston University lehrt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Quinn_Slobodian (https://de.wikipedia.org/wiki/Quinn_Slobodian)

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Title: [Kapitalismus & Kapitalismuskritik (...?) ]
Post by: Link on January 17, 2024, 12:47:52 PM
Quote[...] Unbestreitbar schreibt sich neoliberales Denken in sämtliche Facetten unseres Lebens ein, gleichgültig, ob wir uns dessen bewusst sind oder es ablehnen. Patrick Schreiner untersucht in seinem aufschlussreichen Buch ,,Unterwerfung als Freiheit. Leben im Neoliberalismus" nicht den Neoliberalismus als wirtschafts- und gesellschaftspolitische Strömung, sondern seine alltäglichen Mechanismen, ,,durch die die Menschen diese Ansätze und Ideen als gut, als angemessen und als alternativlos kennenlernen" (S. 8). Die verheerenden sozialen und materiellen Folgen des Neoliberalismus für die arbeitende Bevölkerung sind dem Autor bewusst. Das Buch verfolgt hingegen das Ziel, neoliberale Ideologie und Herrschaft zu analysieren, indem die Untersuchung den Schwerpunkt auf die Entstehung neoliberaler Subjekte legt.

Der Begriff Neoliberalismus ist vielen vertraut, dennoch bleibt häufig unklar, welche Bedeutung sich dahinter genau verbirgt. Der Autor bietet einen grundlegenden Einstieg, indem er den Neoliberalismus allgemein betrachtet und definiert sowie seine historische Entwicklung darstellt. Dabei wird einerseits die Ideengeschichte mit zentralen Vordenkern und zum anderen die Um- und Durchsetzung mit ihren zentralen Entwicklungsschritten beschrieben.

Nach der Betrachtung der Pinochet-Diktatur in Chile zwischen 1973 und 1988, die zentral für die Durchsetzung des Neoliberalismus insgesamt war, räumt Schreiner mit einigen Mythen auf. Von einem schwachen Staat und gesellschaftlicher Freiheit, die oft mit dem Neoliberalismus in Verbindung gebracht werden, könne in der Militärdiktatur keine Rede sein. Der Neoliberalismus ist autoritär und repressiv in der Aufrechterhaltung und Durchsetzung der Marktordnung, was nicht zuletzt in linken und gewerkschaftlichen Kämpfen zu spüren ist.

Ein weiterer historischer Meilenstein des Neoliberalismus ist zugleich ein trauriger Tiefpunkt der Sozialdemokratie. Seit den 1990er und 2000er Jahren sind sozialdemokratische Parteien in den westlichen Industriestaaten federführend bei der Umsetzung neoliberaler Reformen. ,,Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen" (S. 16), sagte beispielsweise nicht der Posterboy der neoliberalen Vorzeigepartei, sondern der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im Bundestag 2003. Die SPD verabschiedet sich abschliessend von den letzten Resten ihrer linken Vergangenheit und verbleibt so bis heute.

Als Kern neoliberalen Denkens arbeitet der Autor idealisierte Vorstellungen von freien Märkten heraus, die nicht nur in Wirtschaft und Politik Einzug finden, sondern auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen werden. Unser gesellschaftliches Zusammenleben wird dadurch vielfach nach diesen Prinzipien strukturiert. Marktkonformes Verhalten zeige sich hierbei in der Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen, der Unterwerfung unter die Regeln des Marktes, dem aktiven Streben nach Erfolg und der Anpassungswilligkeit an immer neue Bedingungen. Für die einzelnen Subjekte ergibt sich dabei ein Dreischritt aus Selbstanalyse, Selbstoptimierung und Selbstdarstellung. Dass man bei diesen Schlagworten unweigerlich an Instagram und McFit denkt, verwundert nicht, denn Schreiner sieht darin Vehikel neoliberalen Denkens.

Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich mit solchen gesellschaftlichen Orten, an denen neoliberale Moral vermittelt und eingeübt wird. Einer der untersuchten Bereiche ist der Sport. Mit Blick auf die lange Tradition von Arbeiter*innensportvereinen wird deutlich, dass nicht alle Lebensbereiche per se neoliberal sind. Vorstellungen von Wettbewerb, individueller Leistung und attraktiven Körpern machen den Sport aber wie auch andere Bereiche oft anschlussfähig an neoliberales Denken. Gleiches gilt auch für verschiedene TV-Formate, in denen die Teilnehmer*innen um das Wohlwollen der Jury oder des Publikums ringen. Ziel ist die Selbstoptimierung und Unterwerfung unter die vorgegebenen Regeln, die oft proaktiv und reibungslos internalisiert werden. Kritisches Denken hat dabei weder im noch vor dem Fernseher Platz.

Der Blick auf Ratgeberliteratur und Esoterik macht deutlich, wie gesellschaftliche Fehlentwicklungen als individuelle Probleme dargestellt werden, die durch eine ,,positive Einstellung zu sich selbst" oder den Kauf der ,,richtigen" Produkte gelöst werden können. Dabei entstehen oft ganze Wirtschaftszweige, in denen viel Geld steckt. Eine wirkliche und ehrliche Auseinandersetzung mit den Problemen der Menschen sucht man hier jedoch vergeblich.

Der asketische Lebensstil einer ,,protestantischen Ethik", den Max Weber noch als zentrale Entstehungsbedingung des Kapitalismus beschrieb, hat sich spätestens in der Nachkriegszeit grundlegend gewandelt. Seither ist der Konsum zentraler Bestandteil und Motor des Kapitalismus, insbesondere in seiner neoliberalen Ausprägung. Auch Schreiner geht auf diesen zentralen Bestandteil des heutigen Lebens ein. Konsum dient dabei oft nicht der Befriedigung von Grundbedürfnissen. Vielmehr wird ein bestimmter ,,Lifestyle" angestrebt und inszeniert. Die Abgrenzung von den unteren Klassen durch Konsum war schon vor dem Neoliberalismus üblich, nun geht es auch um scheinbaren Individualismus, indem man sich innerhalb der eigenen Gruppe versucht, von den anderen abzuheben.

Insgesamt überzeugt die Argumentation des Autors, wobei die zahlreichen Praxisbeispiele einen anschaulichen Zugang bieten. Hierbei zeigt sich allerdings auch, dass das Buch schon einige Jahre alt ist und die jüngsten Entwicklungen der Pop-Kultur nicht berücksichtigt. Inzwischen ist nicht mehr der Fernseher das hiesige Leitmedium, sondern Netflix und TikTok. Die beschriebenen Mechanismen bleiben nichtsdestotrotz wirkmächtig.

Das Ausgreifen der Marktlogik auf neue Bereiche, wie den Gesundheits- und Bildungssektor, spüren wir bereits deutlich. Demgegenüber ist in den letzten Jahren auch eine Zunahme des Widerstands zu beobachten. Neben Streiks in Krankenhäusern und gewerkschaftlicher Organisierung an Universitäten gibt es starke und breite Initiativen gegen den privatisierten und enthemmten Wohnungsmarkt. Eine schlagkräftige Gegenstrategie gegen die Einübung neoliberalen Denkens ist hingegen bisher nicht zu beobachten.

Während Teile der Linken versuchen, sich in Landkommunen den Marktlogiken zu entziehen, geben sich andere den neoliberalen Angeboten hemmungslos hin. Neoliberale Herrschaft stellt uns vor ein Dilemma: Sie funktioniert oft nicht durch Zwang, sondern durch die Zustimmung des Einzelnen. Sie schafft Angebote, die viele Menschen mit relativer Zufriedenheit annehmen. ,,Freiheit" im Neoliberalismus bleibt ambivalent. Als negative Freiheit gedacht beschreibt sie die Freiheit vor staatlichen Eingriffen. Unterschlagen wird bei dieser Vorstellung die stetige abverlangte Unterwerfung unter die neoliberalen Marktmechanismen und entsprechenden Vorstellungen von Gesellschaft.

Wirkliche Freiheit ist das nicht, aber auch keine direkt erfahrbare Unfreiheit. Hier liegt die Schwierigkeit eines linken Auswegs, den auch der Autor nicht anbieten kann. Auch wenn die linke Strategieentwicklung noch einiges an Wegstrecke vor sich hat, ist mit den Einsichten durch Schreiners Band zumindest ein erster Schritt getan.

Patrick Schreiner: Unterwerfung als Freiheit. Leben im Neoliberalismus. PapyRossa Verlag, Köln 2020. 133 Seiten. ca. SFr. 16.00. ISBN: 978-3-89438-573-6.


Aus: "Unterwerfung als Freiheit – Dein Weg zur Knechtschaft" Untergrund-Blättle (17.01.24)
Quelle: https://www.pressenza.com/de/2024/01/unterwerfung-als-freiheit-dein-weg-zur-knechtschaft/ (https://www.pressenza.com/de/2024/01/unterwerfung-als-freiheit-dein-weg-zur-knechtschaft/)