"Im Reich der Gier" Yanis Varoufakis | Ausgabe 35/2018
Mythos - Der Kapitalismus ist entzaubert und bringt uns das größte Faschismusproblem seit den Dreißigern. ... Die meisten meiner deutschen Freunde können es bis heute nicht verstehen: Wie konnte es passieren, dass die Deutsche Bank und der Rest der deutschen Banken 2008 praktisch pleitegingen? Wie kann eine Branche innerhalb von 24 Stunden vom Jonglieren mit Milliarden in die Insolvenz abstürzen, sodass die Steuerzahler sie retten müssen? Die Antwort ist so einfach wie niederschmetternd.
Nehmen wir die deutschen Banken und Exporteure im Sommer 2007: Deutschlands volkswirtschaftliche Gesamtrechnung weist einen großen Überschuss im Handel mit den USA aus. Genauer gesagt, liegt Deutschlands Export-Einkommen durch den Verkauf von Mercedes-Benz-Autos und ähnlichen Waren an amerikanische Verbraucher im August 2007 bei entspannten fünf Milliarden Dollar. Was die deutsche volkswirtschaftliche Gesamtrechnung aber nicht zeigt, ist das wahre Drama hinter den Kulissen: das, was wirklich vor sich ging.
Zwischen Anfang der 1990er und 2007 hatten Wall-Street-Banker Unmengen toxischer Quasi-Geld-Derivate zusammengeschustert und es geschafft, dass deren Marktpreise stark anstiegen. Die Banker in Frankfurt am Main wiederum waren scharf darauf, diese lukrativen Derivate zu kaufen. Sie taten das mit Dollars, die sie sich dafür ausliehen, und zwar von – der Wall Street.
Im August 2007 dann begann das Horrorjahr der Wall Street, das im September 2008 mit der Lehman-Pleite seinen Höhepunkt erreichte. Wie es unvermeidlich gewesen war, begann der Preis der Derivate zu fallen. Die deutschen Banker traf der Schlag, als ihre in Panik verfallenen New Yorker Kollegen ihre Dollarschulden einzutreiben begannen. Die deutschen Banker brauchten sehr schnell Dollars, aber niemand wollte den Berg an toxischen US-Derivaten, den sie gekauft hatten, haben.
Das ist der Grund dafür, dass die deutschen Banken, die auf dem Papier über Gewinne im Überfluss verfügten, von einem Augenblick zum anderen dringend Geld in einer Währung benötigten, die sie nicht besaßen. Hätten sie nicht US-Dollars von Deutschlands Exporteuren leihen können, um ihre Dollar-Obligationen zu erfüllen?
Sicher, nur reichte das bei Weitem nicht aus: Was konnten die fünf Milliarden US-Dollar aus Exporten im August helfen, wo die Außenstände der deutschen Banker bei der Wall Street doch mehr als 1.000 Milliarden US-Dollar betrugen?
Man könnte das, was hier im globalen Maßstab vor sich ging, so zusammenfassen: Einseitigen, in US-Dollar denominierten Finanzströmen, die ursprünglich aufgrund des US-Handelsdefizits gewachsen waren, „gelang“ es, sich von den sie ermöglichenden wirtschaftlichen Werten und Handelsvolumen zu lösen. Die Banker hatten toxische, in US-Dollar notierte Papiere erfunden und diese dann in ihre eigenen Bilanzen geschrieben. Dieses Vorgehen beschleunigten sie derart, dass sie die Schwerkraft fast schon überwunden hatten und ins All hochgeschossen waren – nur um 2008 dann dramatisch abzustürzen.
Von diesem Augenblick an setzten die Politiker alles daran, die Verluste von den Verursachern, den Bankern, auf unschuldige Dritte abzuwälzen: Mittelschicht-Schuldner, lohnabhängige Arbeiter und Angestellte, Erwerbslose, Menschen mit Behinderung und Steuerzahler, die es sich nicht leisten konnten, Depots in Steueroasen zu unterhalten. Vor allem in Europa wurde ein Land gegen das andere aufgehetzt – und zwar von politischen Eliten, die entschlossen waren, die Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Aus einer von Bankern in Nord und Süd verursachten Krise machten sie einen Konflikt zwischen arbeitsscheuen Südländern und hart arbeitenden Nordeuropäern, oder eine Krise von angeblich allzu großzügigen Wohlfahrtssystemen in Deutschland, Italien oder Griechenland. Man muss kein Genie sein, um die Puzzleteile zusammenzusetzen und zu verstehen, warum – angesichts des Fehlens einer ernsthaften, wirkungsvollen, mit einer Stimme sprechenden Linken – in den USA und vor allem in Europa Nationalismus, Rassismus und eine allgemeine Menschenfeindlichkeit triumphieren.
... Wir sind an einem Punkt angelangt, der für unsere Generation den 1930er Jahren entspricht – kurz nach dem Crash, im Angesicht eines faschistischen Momentums. Die für diese Generation drängende Frage ist hart. Aber auch wenn kein junger Mensch es verdient hat, mit solch einer harten Frage konfrontiert zu werden, so haben wir alle doch kein Recht, uns ihrer Beantwortung zu entziehen: Wann und wie werden wir gegen die nationalistische Internationale aufstehen, die im gesamten Westen durch den hirnverbrannten Umgang der Technostruktur mit ihrer unvermeidlichen Krise entstanden ist?
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/im-reich-der-gierQuerlenker | Community
... Jedoch, was hat das alles ursächlich mit dem Lehmann Crash von 2008 zu tun?
Sägerei | Community
@ Querlenker
Geschichtsschreibung, Schuldzuweisung, Erklärungen, die nicht an den Herrschaftsstrukturen kratzen. Keine Zinsen mehr zu bekommen ist für die deutsche Mittelschicht die schmerzhafteste Folge von 2018, wie Mr. Varufakis ausführte. Das bleibt so bis zur nächsten Nachkriegszeit. Kapital ist jetzt wieder etwas für professionelle Kapitalisten. Für Kleinbürger auf der Suche nach dem finanziellen Perpetuum Mobile ist das Thema verbrannt. Wir sollen gefälligst arbeiten, unsere privaten Versicherungspolicen und Konsumentenkredite bezahlen. Mit dem erwirtschafteten Mehrwert sollen wir die Realwirtschaft am Laufen halten, uns aber aus dem Kapitalmarkt weitgehend heraushalten. Selbstständig machen? Nur wenn Du über Sicherheiten verfügst, die Deinen Investitionskredit doppelt und dreifach absichern. Komm, geh arbeiten und überlass die Investitionslenkung anderen.
Zu der Regulierungskrise, die Mr. Varufakis beschreibt kommt ja noch die ökologische Krise und die massive Überbevölkerung (jedenfals gemessen an unserem Lebenswandel). Auch hier punkten die Faschisten. Einerseits leugnen sie das alles aus machtstrategischen Gründen komplett, andrerseits bereiten sich die radikalsten unter ihnen auf den Tag vor, an dem die Supermärkte nicht mehr beliefert werden (sog. Prepper). Seit 40 Jahren raunt die urgrüne Weissagung der Hopi in unseren Schädeln ("wenn der letzte Fisch gefangen..."), und es spricht wirklich sehr viel dafür, dass wir mit China und Indien im selben Boot einen Punkt ohne Widerkehr überschritten haben. Für diejenigen, die individuell überleben wollen ist das Preppen ein sinnvolles Hobby. Für diejenigen, die kollektiv überleben wollen ist die Aufrechterhaltung von Ordnung das entscheidende Argument pro Faschismus. Ich glaube, dass Geheimdienste ganz ähnliche Perspektiven aus ihren Erkenntnissen ableiten. Anarchie unter Millionen von lebensuntüchtigen Wohlstandszombies (mich eingeschlossen) mag ich mir auch nicht ausmalen.
Die liberale Fraktion scheint das Thema ebenfalls aus machtstrategischen Gründen auszublenden. Bei deren federführenden Vertretern habe ich den Eindruck, dass sie komplett der US-Ostküstenelite folgen, einerseits wegen des unbeschränkten Kapitals (s. Artikel), andererseits weil dort die größte Expertise in modernem Zivilisationsmanagment zu finden ist. Diese "progressiven" Kräfte wollen alles tun was technisch und kulturell möglich ist, um ohne Zivilisationsbruch so viele Menschen wie möglich durchzubringen (aber wohin?). Mit Trump und Co. bricht ihnen sowohl das Kapital als auch die Regulierungsfähigkeit weg. Der Neofeudalismus, der da auf uns zurollt braucht keine Lösungen für irgendwas zu entwickeln. Er muss nur seine Gefolgschaft unter Kontrolle halten und alle anderen ihrem Schicksal zu überlassen.
iDog | Community
@ Madame Fu
"Und Politik ist dazu da Ökonomie und Gesellschaft auszubalancieren, was aber leider nicht praktiziert wird - aus Unfähigkeit oder Mutwilligkeit oder beidem..."
Es ist weder Unfähigkeit noch Mutwilligkeit im eigentlich Sinne. Man kann es natürlich so interpretieren , verfehlt aber den entscheidenen Punkt dabei. Diese Interpretation entstammt eher einer überholten Auffassung von Politik.
Tatsächlich mag es in manchen Perioden zumindest scheinbar oder oberflächlich betrachtet einen gewissen Ausgleich zwischen Ökonomie und Gesellschaft über die Politik als Mittelsmann gegeben haben. Man macht sich heute aber nicht mal mehr die Mühe die offensichtliche Komplizenschaft zwischen Großinduntrie und staatlicher Dienstleistung zu kaschieren. An sich aber ist Politik = Wirtschaft.
Die historischen herleitung , bzw. Kausalkette spar ich uns jetzt mal, aber der mehr oder wenihger bekannte Status Quo ist bemerkenswert: Die Monopolisierung der globalen Wirtschaft ist in den letzten Jahrzehnten so rasant zugenommen, dass die 500 größten Firmen der Welt etwa 53 % des globalen Bruttosozialprodukts kontrollierten, die 85 Reichsten Personen der Welt besitzen 50% des Weltvermögens (Oxfam). Ein Investmentmanagment Firma wie BlackRock (das ist keine Bank udn unterlegt daher auch keiner Regel) hat mittlerweile das Verwaltungsvolumen von 6000 Millarden überschritten und ist damit praktisch Regierungsmacht in sehr vielen industrialisierten Ländern der Welt, weil sie bedeutende Anteile an jeder globalen Firma halten, Anteile an zB jeder deutschen Dax notieretn Firma, an jeder französischen CAC 40 notierten Firma usw usf.. Im Vergleich dazu das Jahresbudget Frankreichs oder Deutschland um die 360 Milliraden. Mit anderen Worten , die haben über die Finanzmacht einen viel größeren Einfluss auf alles als jede einzelne Regierung, können Regierungen im Standortwettkampf gegeneindander ausspielen, befördern ungehindert die weiter Monopolisierung und Machtakkumulation (zB. Bayer und Monsanto waren beides Firmen dis starkt von BlackRock beeinflusst und nun von BlackRock zusammengeleget wurden)....
Kurz , was früher vielleicht Unfähigkeit oder Mutwilligkeit, Opportunismus oder Korruption war oder genannt wurde, ist heute ganz offensichtlich und einfach nur noch pure Machtlosigkeit. Der Staat und seine "Politik" fallen weitfgehend unter Servicleistungen für die Großindustrie - siehe Entscheidungen zu Glyphosat, Energiepolitik etc. oder zur Steuerpolitik. Da braucht einen die Personalauswahl in der Politik nicht weiter wundern, oder?
tbc