Schlagwort: Ontologie verschachteln

[Unter der Balustrade… ]

Kiel. Kalter Regen und vereinzelt Schnee. Der schmilzt gleich wieder auf dem Gehsteig. Es ist dunkel auf nassen Straßen. Ein neues Jahr hat begonnen. Ich will noch eine Geschichte kopieren. Im Laden ist es warm. Der Laden hat ein paar Neonröhren an der Decke. Ich öffne die Klappe. Die Tür geht auf. Das Kopiergerät verstellt mir den Blick. Langsam versuche ich mich bodennah um 90 Grad zu drehen und zu fokussieren. Noch jemand muss hereingekommen sein. Für den lächelnden Ladeninhaber an der Ladentheke neben der Kasse müssten wir zwei Kunden sichtbar sein. Er kann alles sehen, wie bei einem beleuchteten Aquarium. Ich sehe immer noch nichts. Schriftzeichen von gesprochenen Worten fliegenden auf mich zu, ohne das ich die Ausmündung der Buchstaben zu Gesicht bekomme hätte. Jetzt kann ich einen Mund sehen. Da sind auch noch zwei Augen mit der Frau dazu. Was ist das für ein seltener Blick? Der Blick geleitet das weibliche Wesen als ganzes sanft wie einen Fisch durch das Wasser. Was ich sehe sind zwei wechselhafte und auch unterschiedliche Augen. Das bedeutet: das eine Auge schließt sich stärker und schneller als das andere beim sprechen. „Passiert es dir ganz von allein? – Weißt du etwas von der dynamischen Ausdrucksstärke deiner Augen? – Machst du es mit Berechnung?“ Sie schiebt den nun geschlossen Mund etwas nach rechts und macht eine kurze Pause: „Ja, das ist schon auch meine ungewollte Wirkung – ich habe das meistens beim Sprechen und beim Blinzeln – ich weiß davon, aber nicht immer.“ Und wieder, mitten in der Unterhaltung, sekundenlangsam bewegt sich der Lidschlag bei den Worten unterschiedlich. „Kann man so etwas üben? – Oder ist so etwas angeboren?“ Sie sagt: „Sieh genau hin!“ – Ihr Mund öffnet sich. Es tanzen weitere Sätze. Die Buchstabenkolonnen fluten taumelnd hinaus. Die Worte füllen zwar nur den oberen Rand meiner DIN A4 Seite, aber ich habe ihren Text immerhin abgefangen. Ich zeige ihr das Blatt Papier: „Wie findest du die Schrift?“ Jetzt bekomme ich eine Lächeln geschenkt. Es tropft und ich schäme mich für meine Haare, die wegen des Schneeregenwassers noch etwas triefen. Sie sagt: „Du hast zu sehr auf meinen Mund geachtet. Es geht aber auch um die Augen. Ich mache es noch ein mal, sieh genau hin!“ – Ich sehe jetzt die Letter direkt vor den unterschiedlich schnell herabfahrenden Augenlidern. Wäre ich ein A, ein B, oder ein C – oder ein Wort – ich wäre in Gefahr auseinander zu brechen. „Ich gebe auf. Ich verstehe es nicht. Warum können wir nicht zur Vereinfachung die Sexualität in der Ontologie verschachteln?“. Sie lacht mich mit geschlossenem Mund lautlos aus – und nickt dann langsam. „Du meinst die Dinge gesondert betrachten? – Du meinst das Reale? – Du meinst den unauflösbaren Rest, der in dem Imaginären und des Symbolischen nicht aufgeht? – Zwischen Mensch und Mensch?“ Ich betrachte den Kachelboden: „Zum Beispiel bleibt ein Teil vom realen Glänzen deiner Tränenflüssigkeit am Seienden ganz allgemein haften. Irgendwann werde ich eine Geschichte darüber schreiben, diese Geschichte hier, um mir diesen Glanz wieder aus dem Kopf zu jagen.“ Sie sagt: „Okay, versuchen wir es noch einmal – ich zeige dir meine Augenwelle noch einmal in Zeitlupe.“ Sie legt sich über den Fotokopierer und zeigt mir die unsymmetrische Wellenbewegung. Der Ladenbesitzer macht dabei eine kleine gelbe Dose auf, springt über die Theke, tanzt wie nichts über die Leitz Aktenordner, Radiergummis und Filzbuntstifte landet im Mittelgang und streut uns Fischfutter in die Luft.
Natürlich, das alles glaubt kein Mensch – aber die fliegend lachende Spöttertruppe, die himmelhochjauzende Lachbande mit ihren Instrumenten, die kennt so etwas. Sie flogen wärend der Geschichte gerade über den Vinetaplatz. Sie sahen abwechselnd durch die kleine Fensterluke des Copyshops. Dann suchten sie sich einen Balkon und drängten sich unter die Balustrade. Denn nicht mal die musikalischen Himmelsbanditen mögen den Kiel-Gaardener Schneeregen.