“ … Die Frage ist stets: Würden Natur, Technik und Kunst auch ohne Sprache „funktionieren“? Bei der Natur nehmen wir es gar als moralische Prämisse: Ökologisches Empfinden entsteht aufgrund des, nun ja, Dogmas: Die Natur kann ohne den Menschen auskommen, aber der Mensch nicht ohne Natur.
Bei der Technik genießen wir gelegentlich die Un-Sprachlichkeit ihrer Protagonisten, die Hilflosigkeit der Bedienungsanleitungen, den Kürzel-Jargon etc.
Bei der Kunst geraten wir, mit einer gewissen Wollust, an den Punkt, an dem man „eigentlich in Worten nicht mehr ausdrücken“ kann, was einen in Beziehung auf das Werk bewegt.
Was außerhalb der Sprache geschieht, will stets zugleich includiert und excludiert werden. Das heißt, zum Beispiel, die Technik kann nur durch Sprache „gezähmt“ werden, aber zugleich ist sie dieser Sprache voraus; die Kunst bedarf der Sprache (und es wird, spätestens seit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters) in gewaltiger Quantität über sie gesprochen, aber vor allem bedarf die Kunst der Sprache um in der Sprache selber auszudrücken, dass sie Mehr-als-Sprache ist. Die Kunst steht über der Sprache (so wie die Natur vor der Sprache war und die Technik vor der Sprache ist).
… In einer populären Denkfigur driften Kunst, Technik und Natur immer weiter auseinander. (Umso schärfer scheinen sie einander zu kommentieren.)
In der Katastrophe, in der Krise, im Skandal kommen sie, mit einem Schlag, mehr oder weniger, wieder zusammen.
Die Wirklichkeit, zweifellos, setzt sich aus Natur, Kunst und Technik zusammen (und aus noch einigem mehr). Das heißt, sie setzt sich aus Widersprüchen zusammen. Was diese Widersprüche überwinden soll, ist Mythos, Ideologie, Religion. Wirklichkeit ist ein unentwegter Kampf um die Hegemonie. …
Natur, Technik und Kunst sind nicht nur sprachlos, sondern erzeugen auch Sprachlosigkeit (in allem Geschwätz). Wer sagen soll, was Natur ist, gerät entweder ins Plappern oder an die Grenzen seiner Sprache. Wer der Kunst etwas sagen will, provoziert sie zu einem Verhalten, welches das Gesagte, das Sagbare sogleich überschreitet. Und es ist ein Wesenszug des Technischen, sich schneller zu entwickeln als das Sprachliche. …“
KL am 08 Aug 2012 um 07:59 Uhr: … Ob die „abendländische“ Kultur zu einem Bewußtsein kommen kann, das uns trotz technischer Beherrschung der von uns aus Substrat gemachten Apparate Respekt vor seiner Unbegreiflichkeit erlaubt?
Aus: „KUNST/ZEIT/SCHRIFT NR. 4/12“ von Georg Seeßlen
http://www.seesslen-blog.de/2012/08/02/kunstzeitschrift-nr-412/
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