Schlagwort: Alles Lebendige aber braucht eine schützende Atmosphäre einen geheimnisvollen Dunstkreis und umhüllenden Wahn

[Irrationalismus und das Romantische Erbe #3 … ]

“ … Alles Lebendige aber braucht eine schützende Atmosphäre, einen geheimnisvollen Dunstkreis und umhüllenden Wahn. Ein durch Wissenschaft beherrschtes Leben ist viel weniger Leben als eines, das nicht durch Wissen, sondern durch Instinkte und kräftige Wahnbilder beherrscht wird … So weit ich sehe, sind es zwei Irrtümer, die das denken Nietzsches verstören und ihm verhängnisvoll werden. Der erste ist eine völlige, man muss annehmen: geflissentliche Verkennung des Machtverhältnisses zwischen Instinkt und Intellekt auf erden, so, als sei dieser das gefährlich Dominierende, und höchste Notzeit sei es, den Instinkt von ihm zu retten. Wenn man bedenkt, wie völlig bei der großen Mehrzahl der Menschen der Wille, der Trieb, das Interesse den Intellekt, die Vernunft, das Rechtsgefühl beherrschen und niederhalten, so gewinnt die Meinung etwas Absurdes, man müsse den Intellekt überwinden durch den Instinkt. Nur historisch, aus einer philosophischen Augenblickssituation, als Korrektur rationalistischer Saturiertheit, ist diese Meinung zu erklären, und sofort bedarf sie der Gegenkorrektur. Als ob es nötig wäre, das Leben gegen den Geist zu verteidigen! Als ob die geringste Gefahr bestünde, dass es je zu geistig zugehen könnte auf Erden! Die einfachste Generosität sollte dazu anhalten, das schwache Flämmchen der Vernunft, des Geistes, der Gerechtigkeit zu hüten und zu schützen, statt sich auf die Seite der Macht und des instinkthaften Lebens zu schlagen und sich in einer korybantischen [ausgelassen, wild, zügellos] Überschätzung seiner „verneinten “ Seiten, des Verbrechens zu gefallen, – dessen Schwachsinn wir heutigen [1948] erlebt haben. … Der zweite von Nietzsches Irrtümern ist das ganz und gar falsche Verhältnis, in das er Leben und Moral zueinander bringt, wenn er sie als Gegensätze behandelt. Die Wahrheit ist, dass sie zusammengehören. … Nietzsche, fern allem Rassen-Antisemitismus, sieht allerdings im Judentum die Wiege des Christentums und in diesem mit Recht, aber mit Abscheu, dem Keim der Demokratie, der Französischen Revolution und der verhassten „modernen Ideen“, die sein schmetterndes Wort als Herdentier-Moral brandmarkt. „Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andere Demokraten“, sagt er, denn den Ursprung der „modernen Ideen“ sieht er in England (die Franzosen, meint er, wären nur Soldaten), und was er an diesen Ideen verachtet und verflucht, ist ihr Utilitarismus und Eudämonismus [ein Begriff der antiken Philosophie, der auf ein ausgeglichenes Gemüt durch Befolgung philosophischer Prinzipien der Ethik zielt], ihre Erhebung von Frieden und Erdenglück zu höchsten Wünschbarkeiten,- während auf solche gemeinen weichlichen werte der vornehme, der tragische, der heroische Mensch doch mit Füßen tritt. Dieser ist notwendig ein Krieger, hart gegen sich und andere, bereit zur Opferung seiner selbst und anderer. Was er dem Christentum vor allem zum Vorwurf macht, ist, dass er das Individuum zu solcher Wichtigkeit erhob, dass man es nicht mehr opfern konnte. Aber, sagt er, die Gattung bestehe nur durch Menschenopfer, und Christentum sei das Gegenprinzip gegen die Selektion. Es hat tatsächlich die Kraft, die Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern, heruntergebracht und abgeschwächt und für Jahrtausende, bis zu Nietzsche hin, die Entstehung jener Energie der Größe verhindert, welche „durch Züchtung und andererseits durch Vernichtung von Millionen Missratener den zukünftigen Menschen gestaltet und nicht zugrunde geht an dem nie dagewesenen Leid, das er schafft.“ – Wer hat jüngst die Kraft zu dieser Verantwortung besessen, diese Größe frech sich zugemutet und die hohe Pflicht, Menschen hekatombenweise [Als Hekatombe bezeichnete man im antiken Griechenland ursprünglich ein Opfer von 100 Rindern.] zu opfern, ohne wanken erfüllt? Eine Crapule größenwahnsinniger Kleinbürger, bei deren Anblick Nietzsche sofort von schweren Migräne mit allen ihren Begleiterscheinungen befallen worden wäre. Er hat es nicht erlebt. …“ — Aus: „Thomas Mann / Vortrag – Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung“ (1948), Suhrkamp Verlag (Seite 23 u.ff.)