[Die Rotwein Episode in Paris… ]

Ich nenne ihn den Physiker. Bei den ersten gemeinsamen Fahrten ist er mir kaum aufgefallen. Aber seit er mir früh am morgen, vor dem ersten Becher Kaffee, mit leicht krächzender Stimmlage mit einer Theorie über die Krümmung von Raum und Zeit kam, blieb er mir als ein besonderer Fahrgast in Erinnerung. Im Mittelgang, die Augen waren auf die Welt da draußen gerichtet, wurde ich zufällige Mithörer einer kurzen Linienbusunterhaltung. Der Physiker erzählte jemanden seine kleine pariser Rotwein Episode. Es trug sich zu, das er vor Jahren eben in Paris, in einem chinesischen Restaurant frustriert über das Essen war. Nein, es schmeckte ihm wirklich nicht. Aus einem ihm unerklärlichen Affekt heraus trank er deshalb kurzfristig eine Flasche Rotwein. Für einen Augenblick hatte ihn seine sonst so dominant rationaler Charakter im Stich gelassen. Dieser Rotwein war für den Magen des Physikers völlig ungewohnt, denn er merkte noch an, das er in seinem Leben durchaus nur dieses eine mal „besoffen“ gewesen war. Er musste dann ein wenig später schnell aus einem Linienbus springen, um irgendwo in Paris „über seine Stiefel kotzen“ zu können. Aus den Augenwinkeln sehe ich dann den Physiker auf dem Gehsteig stehen, wie er sich unnachahmlich verlangsamt eine Zigarette aus der Schachtel zieht. Ich bewundere ihn – ohne ihn auch nur annähernd zu kennen, oder kennen zu wollen. Die Fahrt geht weiter. Liegt es am November? – Mir kommt es vor, als wären wir besonders im November alle traurige Clowns. Auf der einen Seite hege ich ausufernde Faszination für Mikromomente. Wahllos herausgegriffen sind mir Situationen dann äußerst intensiv – jedoch nur für den Bruchteile einer Sekunde. Dann laufe ich wieder schlingernd der Weltbühne hinterher. Ich fühle dann teilhaftig wie ein Kind, das mit baumelnden Füßen auf dem Rücksitz eines Autos sitzt, das Auto fährt zu schnell durch die Nacht und ich sehe durch die regentropfen-fluchtende Frontscheibe. Die roten Rücklichter der Fahrzeuge wackeln und verschwimmen.

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