[Das widerspenstige Selbst… ]

[…] Der mittelalterliche Mensch war [ ] noch fest in eine hierarchisierte Wertwelt und dieser zugeordnete Wahrheiten eingebunden, die seine Authentizität nicht wert machte, von einer Person zu künden, die in der Heteronomie untergeordnet, aber auch in göttlicher Ordnung eingeordnet war. Einzelpersönlichkeiten waren den mittelalterlichen Physiognomen individualpsychologisch nicht faßbar. Authentizität leitete sich von fremder Auslegungsherrschaft ab. Im Decretum Gratiani (um 1140 n.Chr.) etwa definierte sich Ketzertum als intellektuelle Überheblichkeit, weil der Ketzer seine eigene Meinung der Meinung jener vorzog, die alleine autorisiert waren, sich zu religösen Angelegenheiten authentisch zu äußern. Excommunicatio bedeutete nicht nur sakrale Ächtung, sondern zugleich gesellschaftlichen Kommunikationsausschluß. Das widerspenstige Selbst wurde annulliert, weil es schuldig geworden war, nicht in eine vorgegebene Ordnung einzugehen, sich autonom, d.h. unmittelbar zu gerieren, wo nur Inklusivität das rechte Maß seiner Selbstvermittlung war.
[…] Das neuzeitliche Subjekt will sich machtvoll aus fremdbestimmten Vermittlungen lösen und steht plötzlich da, wo es steht und kann angeblich nicht anders. Aber steht es wirklich? Wer nicht wie Luther in historisch glücklichen Konstellationen auf konsensfähigen Diskursen und machtbesetzten Differenzen steht, verflüchtigt sich auf dem Scheiterhaufen, der seine Authentizität von einer logischen Sekunde auf die andere zugleich ratifiziert wie vernichtet. „Und sie bewegt sich doch“ wagten wenige zu sagen, wenn der Bannfluch der allmächtigen Kurie drohte. Giordano Bruno wurde noch zu Beginn der Aufklärung 1600 als Ketzer verbrannt, weil er es gewagt hatte, Gott kurzerhand mit dem Weltganzen gleichzusetzen.

Aus: „Zur Kritik der medialen Vernunft — Teil 3
von Goedart Palm (parapluie)
Quelle: http://parapluie.de/archiv/generation/vernunft/

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