[Denn Erinnerungen sind aktiv und passiv zugleich… ]

// “ … 1914 hatte sich Ludwig freiwillig für den Kriegseinsatz gemeldet. Nach der Kriegserklärung der USA schrieb [Hermine Wittgenstein] ihm: „Es ist doch eine Art Krankheit die die Menschen ergriffen hat, eine Sucht sich und Andere zu vernichten, ich bin ganz sicher dass darin die Begründung dafür liegt dass jedes Volk seinen Krieg haben muss! Es liegt eine Art Wollust darin – wenigstens für eine Zeit – Entbehrungen zu dulden und zu zerstören.“ Ludwig antwortete: „Ich glaube wohl nicht daß das Umsichgreifen des Krieges den Grund hat den Du angibst. Hier handelt es sich – glaube ich – um einen vollständigen Sieg des Materialismus, und den Untergang jedes Empfindens für Gut und Böse.“
Während Ludwig an der Front war, engagierte sich Hermine in einem Krankenhaus und arbeitete bis Frühjahr 1919 in der chirurgischen Ambulanz. Als diese Tätigkeit zu Ende war, kam ein Gefühl der Öde über sie und die erschreckende Klarheit, dass „ich mein Leben, das vor dem Krieg mit Malerei und allerlei kleinen Pflichten ausgefüllt war, von Grund auf ändern müsse“. Sie gründete nun eine „Knabenbeschäftigungsanstalt“ und führte diese von 1921 bis 1938. Dann musste sie diese von einem Tag auf den anderen an die Hitlerjugend abtreten.
Ludwig und Hermine standen einander besonders nahe. Ludwig, so schreibt sie, besitze ein großes Herz, „und das ist das Schönste, was man von einem Menschen sagen kann“. … Im November 1918 notiert Hermine: „Es ist dem Menschen ganz unmöglich die Welt zu erkennen denn er kann aus der Welt nicht heraus. Könnte er sie wirklich erkennen, dann wäre er Gott.“ Dabei kommt sie auf ihren Bruder zu sprechen: „Ludwig sagt selbst, dass gewisse Fragen mit dem Verstand nicht zu fassen sind. Wenn sie mit dem Verstand zu fassen wären so wären sie eben auch von dieser Welt.“ Ludwig, so notiert sie, kenne keinen äußeren Gott. „Der gewisse Gott von dem ich nicht loskomme der handelt, der die Welt erschaffen hat, der in irgend einem Himmel wohnt und uns in diesen hineinlässt existiert für ihn nicht.“ …“ (information-philosophie.de, Datum ?) | Quelle: http://www.information-philosophie.de/?a=1&t=4434&n=2&y=1&c=50

// [ … („Band 11 – Ludwig sagt … Die Aufzeichnungen der Hermine Wittgenstein“): „… Die … Aufzeichnungen von Hermine Wittgenstein (1874 -1950) … In ihrer Ursprünglichkeit gestatten diese Notate aus den Jahren 1916 bis 1940 einen unverstellten Einblick in das geistige Klima des Hauses Wittgenstein. …“ ] | http://www.wittgensteiniana.de/uber-die-reihe/book/band-11/

// “ … So gibt es Ereignisse, die sich einer Beschreibung entziehen, weil sie als zu bedrohlich empfunden werden. Solche „mächtige[n] Erfahrungen“, wie sie Heinz Bude nennt, sind oft nicht erzählbar, weil sie keine „schöne Geschichte“ ergeben, „Bilder, Wünsche, „Deckerinnerungen“ (Freud), die sich übereinander schieben“. Oft werden solche Erfahrungen nur verkürzt auf ein Schlagwort mitgeteilt. In der Wittgenstein’schen Chronik ist vom Umbruch die Rede als Synonym für die negativen Erfahrungen im Kontext des „Anschlusses“.

… Zusammenhänge zwischen dem Wie (erinnert wird) und dem Was (erinnert wird), zu verstehen, lässt Neuinterpretationen vom Schweigen in der Herausbildung eines Familiengedächtnisses zu.

… Es bleibt eine Herausforderung, in der biographischen Forschung, Schweigen im Familiengedächtnis zu thematisieren, ohne daraus zu eindeutige psychologisierende Interpretationen abzuleiten und damit Familienmitglieder oder die Familie auf einzelne traumatisierende Charakteristika zu reduzieren. Schweigen gilt … in der gängigen Freud’schen Lesart stets als verdächtig, assoziiert mit etwas (un)bewusst Verdrängtem. Dabei wird dem Schweigen zumeist ein traumatischer oder auch strategischer Charakter zugeordnet. Michel Foucault hat Schweigen mit Blick auf eine Machtdimension interpretiert. Statt durch Äußerungen eine bestimmte Realität zu schaffen, sei Schweigen auch eine Strategie, um sich (Handlungs)Spielräume offen zu halten.

… Doch Schweigen ist auch, wie eben gezeigt, ein soziales Phänomen. Es ist auch die Macht der Kontexte, die bestimmt, was gesagt oder nicht gesagt werden kann. So braucht es bestimmte „social frames“ (Maurice Halbwachs), um bestimmte Geschichten aktivieren und erzählen zu können. Denn Erinnerungen sind aktiv und passiv zugleich, sie werden von gewissen „fields of force“ (Edward P. Thompson) geformt, aber zugleich tragen sie zu der Ausformung von Kräfte- und Machtverhältnissen bei.

… Doch gerade [im] Bereich der Ethik sind der Sprache bzw. dem Sagbaren Grenzen gesetzt: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen„, heißt der berühmte Schlusssatz des Tractatus logico-philosophicus mit dem Wittgenstein auf Themen weist, die sich nicht in der Rede sagen, sondern nur zeigen lassen. In diesem Geiste verweist Hermine Wittgenstein mit der Nennung eines Erzählbruchs indirekt auf das, was sich nicht sagen lässt. Darin äußert sich die innere Erschütterung angesichts des Geschwisterstreits, aber auch die Sprachlosigkeit des Augenblicks, die in der Nachfolge-Generation in der Perzeption als imaginiertes (Ver)Schweigen das Familiengedächtnis wesentlich mit konstituiert.

… Wittgensteins Idee des Denkstils, die von der Ludwig Flecks verschieden ist, hat die Bedeutung der Form für den Inhalt jedweder schriftlicher Darstellung akzentuiert, und damit die Grenzen des Sagbaren formaliter verortet. Andererseits verweist er auf die Grenze des Sagbaren dort, wo sich die Inhalte selbst der Formulierung verwehren. Beides wirft ein neues Licht auf die Komplementarität zwischen Erinnern, Vergessen und (Ver)Schweigen. …“

Aus: „Jenseits des beredten Schweigens – Neue Perspektiven auf den sprachlosen Augenblick – Schweigen im Familiengedächtnis, Zur nicht-motivischen Tradierung familiärer Codes in Hermine Wittgensteins Familienerinnerungen“ von Nicole L. Immler (2013)
Quelle: Schweigen_im_Familiengedaechtnis.Immler.pdf
// –> #2 …Familienerinnerungen_von_Hermine_Wittgenstein_Eine_Chronik_und_ihre_Narrative_als…
// –> #3 http://www.freytagberndt.com/shop/9783709972007-hermine-wittgenstein-die-familienerinnerungen/
// —> #4 http://www.wittgensteiniana.de/uber-die-reihe/book/band-11/

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